Zum Inhalt springen

Die Gartenlaube (1881)/Heft 19

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1881
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[305]

No. 19.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Zum Gedenktage des Frankfurter Friedens.
(10. Mai 1871)

Das war ein Maitag, wie ihn nimmer
Ein deutsches Auge noch erschaut!
Welch blendend Meer von Blüthenschimmer,
Von lichtem Himmel überblaut!

5
Vom Main her scholl die Friedenskunde

Hinein in all das Lenzesweh’n;
Die Glocken priesen in der Runde
Des Deutschen Reiches Aufersteh’n.

Und heut? – Zehn Jahre Kampf und Streben –

10
Wie mühsam dünkt der Weg und weit!

Was aber gilt im Völkerleben
Solch winzig kurze Spanne Zeit?
Um künft’ge Früchte heißt es werben;
Und fiel auch mancher Blüthe Pracht,

15
So reicher Frühling kann nicht sterben

In einer einz’gen frost’gen Nacht.

O seht des Lenzes rastlos Walten!
Die ew’ge Sonne niederscheint –
Wie klein, mein Volk, was dich gespalten,

20
Wie groß, was dauernd dich vereint!

Der einstigen Begeist’rung Brände,
O wecke sie, Erinn’rungsgruß:
Die Schwerter fort! Reicht euch die Hände
Und feiert neuen Friedensschluß!

 Ernst Scherenberg.




Bruderpflicht.
Erzählung von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


Regina hatte einen Augenblick gedankenvoll geschwiegen „Sein Herz hatte Ludwig drüben in Amerika verloren,“ begann sie dann wieder, „an Ihre Schwester verloren, Lanken; er war, wie er sich ausdrückte, schneller als er selber gedacht, Bräutigam geworden, hatte Lily nach praktischer Yankee-Manier geheirathet, ohne die Einwilligung seines Vaters eingeholt zu haben, und sich vorgenommen, dies später, mündlich abzumachen, wenn er wieder daheim sei … dann war er endlich von seiner Reise zurückgekehrt und hatte sich nun dem neuen Grafenthum unseres Vaters als einer höchst niederschlagenden Ueberraschung gegenübergesehen, einem Grafenthum, das mit einer Fideicommiß-Errichtung verbunden war, welche seine Fähigkeit, der Erbe unseres Vermögens zu werden, von einer standesmäßigen Ehe abhängig machte. Und so verschloß er denn für’s erste sehr niedergeschlagen, aber auch sehr energielos sein Geheimniß in seiner Brust, vermied es sogar, seine freilich wider seinen Willen hierher ihm nachgekommene arme junge Frau zu sehen – bis plötzlich Ihr Vater, Lanken, hier auftauchte. Ludwig zog nun vor, dem drohenden Ausbruch des Sturmes auszuweichen, zu fliehen und sich in einen Winkel Steiermarks zu retten, um dort Gemsen zu schießen. Ist es nicht entsetzlich? O, entsetzlich war auch die kühle Feindseligkeit gegen mich, mit der er die Thatsache, daß er auch mir, seiner einzigen Schwester, dies Alles verschwiegen, damit erklärte, er habe in mir Ihre Freundin, Aurel, gesehen und mich gefürchtet. O mein Gott, welch ein Mensch ist er – mein Bruder! Und auch Ihre Schwester, Lanken – so rasch entschlossen, dem fremden Mann zu folgen, so unbekümmert um die Verhältnisse, den Familienkreis, in welchen dieser sie führt!“

„Mein Gott, Regina, sie haben sich geliebt und sind jung,“ antwortete schwermüthig lächelnd Aurel. „Aber führt Ludwig seinen Plan aus, oder haben Sie ihn bewogen …“

„Zu nichts habe ich ihn bewogen – das ist das Bitterste. An meiner Beredsamkeit hat es nicht gefehlt. Aber seine Angst vor dem Sturm war größer. Er läßt sich jetzt, während wir davon reden, vom Dampfroß nach Steiermark fortwirbeln; dorthin will er Ihre Schwester sich nachkommen lassen, und unterdeß, bis sie bei ihm anlangt, Gemsen schießen.“

„Dann,“ sagte Aurel, schmerzlich aufathmend, „liebt er auch meine Schwester nicht mehr; dann war seine Liebe ein Strohfeuer, das verflogen ist; er würde sonst hier an ihrer Seite stehen.“

Regina schüttelte den Kopf.

„Darüber – auch mir trat ja der Gedanke nahe – bin ich mir nicht klar geworden. Ich habe bei ihm danach getastet, geforscht – sein wahres Gefühl war immer schwer zu ergründen. Jedenfalls blieb mir nichts übrig, als sofort zurückzukehren. Ich habe die Tante Hedwig gar nicht einmal gesehen. Ich bin mit dem nächsten Zuge zurückgekehrt; ich mußte meinem Vater jetzt zur Seite stehen; ich mußte Sie sprechen, Lanken. O mein Gott, in welche Lage bringen uns dieser Bruder, diese Ihre Schwester! Unsere Hoffnungen, unsere Zukunft! Lassen Sie mich in dieser Stunde offen zu Ihnen sprechen, Aurel! Ich habe bis zu diesem Augenblicke fest und ohne an unserem Stern zu zweifeln, die Ueberzeugung gehegt, daß Ihre Zukunft auch die meine und umgekehrt meine die Ihrige sein werde, aber jetzt ist meine Hoffnung, meine Kraft, mein Lebensmuth zusammengebrochen – es ist hiermit Alles zu Ende, Alles Krieg, Alles unversöhnlicher Hader. Aurel, wir sind die Opfer des grauenhaften Leichtsinns dieser zwei Menschen; wir müssen uns opfern für Andere, welche weniger werth sind als Sie, und ich darf sagen: als ich.“

„Das ist des Weltlaufs Gesetz,“ sagte trübe Aurel.

„Was? Daß die des Glückes Würdigeren es opfern müssen um der Unwürdigeren willen?“

[306] „Ja – wohin Sie blicken im Leben, ist es so. Sehen Sie in die Familien! Der Sohn studirt, vergeudet, glänzt in der Gesellschaft und wird am Ende doch nichts Tüchtiges, während die braven Schwestern in enger Häuslichkeit daheim das sich abdarben, was er verzehrt. Dem stillen, arbeitsamen verdienten Beamten nimmt der Streber die Beförderung vorweg. Dem großen, seinem Genius treu schaffenden Künstler, dem idealen, hohen Gedanken lebenden Schriftsteller wendet die Menge den Rücken, um sich dem, was die Tagesmode ihr anpreist, gefangen zu geben – unser ganzes gesellschaftliches Leben ist nach dem Principe aufgebaut, daß der Erde Güter nicht an die Würdigen kommen, weil erst so viel Unwürdige damit ausgestattet werden müssen.“

Regina schwieg eine Weile.

„Was ist nun zu thun?“ fragte sie dann. „Mein Vater wird niemals einwilligen in Ludwig’s Ehe; er wird Himmel und Erde in Bewegung setzen dagegen – und Ludwig selbst? Ich bin über die Tragweite seiner Charakterstärke, über den Umfang seiner Widerstandskraft durchaus nicht im Klaren.“

„Das heißt, Sie zweifeln an Beiden, wie ich es thue. Und darum fällt die ganze Last des Kampfes auf mich, ganz allein auf mich. Ich muß meiner Schwester Recht, meiner Schwester Frauenehre schützen – ich muß sie vertheidigen mit allen Mitteln, die mir zu Gebote stehen. Es wird ein gerichtlicher Skandal werden, eine cause célèbre; die Journale werden sich der Sache ausführlichst bemächtigen – aber –“

„Aurel,“ unterbrach ihn hier lebhaft Regina – „Sie wollen sich unmittelbar an die Gerichte wenden?“

„Muß ich das nicht? Nach der Unterredung mit Ihrem Vater bleibt mir nichts übrig, als gegen ihn auf Anerkennung der Ehe meiner Schwester klagen zu lassen“

„Hören Sie, Aurel – darin liegt eine Hoffnung; der Widerwille gegen das Aufsehen, welches weit und breit die Sache machen würde, die Furcht vor dem Skandale, die schreckliche Lage, mit dem eigenen Sohne zu processiren – das Alles hat vielleicht die Macht, den Willen meines Vaters zu brechen. Es muß ihm nur richtig vorgestellt werden –“

„Und wollten Sie das thun, Regina?“

„Das will ich thun, versuchen“ versetzte sie lebhaft. „Von dieser Seite kommt uns eine Hoffnung friedlichen Austrages. Versprechen Sie mir, keine weiteren Schritte zu thun, bevor ich Sie wieder gesehen oder Sie einen Brief von mir haben! Ich kann Sie nicht wieder aufsuchen, Aurel, wie ich es heute gewagt habe, wo die Noth und die Erschütterung mich die Schranken der Sitte durchbrechen ließ. Sie können zu mir nicht kommen; wir sind“ – fügte sie schmerzlich lächelnd hinzu – „wie die armen Königskinder: ‚das Wasser war viel zu tief‘ – aber schreiben können wir uns – das ist ein Recht, für das wir alt genug sind, um es uns nicht anfechten zu lassen; ich werde Ihnen schreibe, und Sie, Sie warten –“

„Ich warte und stelle meine Hoffnung auf Sie, Regina, auf die Magie Ihres Wortes, Ihres Willens, Ihres Gemüthes, von dem ich nicht lasse, daß ihm etwas in der Welt widerstehen könne.“

Sie hatte ihm beide Hände zum Abschied gereicht; er zog sie zu sich hinan und hauchte einen Kuß auf ihre Stirn; sie lehnte diese Stirn an seine Brust und ließ sie wie in stiller Selbstverlorenheit da ruhen – dann riß sie sich los. Aurel sah bei dem raschen Aufschlag ihrer Lider, mit dem sie ihm tief in’s Auge blickte, zwei große Perlen an ihren Wimpern hängen, und im nächsten Augenblicke war sie entschwunden. Eine Minute später fuhr ihr Wagen unter dem Thorwege mit dumpfem Rollen davon,




8.


In den Nachmittagsstunden hatte Aurel Lanken Vortrag beim Herzog. Ein wenig gespannt – Regina hatte ja gesagt, daß ihr Vater beim Herzoge gewesen – schritt er im Residenzschlosse durch die weiten, kunstgeschmückten Vorgemächer. Die Hoheit empfing ihn wie gewöhnlich – vielleicht um eine Nüance kühler, doch darin konnte er sich ja täuschen – und winkte ihm, an dem für die Ministervorträge bestimmten Tische Platz zu nehmen, indem er sich ihm gegenüber setzte. Aurel öffnete sein Portefeuille und begann mit einer kurzen Auseinandersetzung von finanzieller Natur; er suchte den trockenen Stoff so concis wie möglich zu geben, und der Herzog dabei so viel Aufmerksamkeit, wie ihm möglich war, an den Tag zu legen, wobei es ihm nicht immer gelang, seine Augen vom Umherschweifen nach den Personen, die über den Schloßhof gingen, nach den Wagen, welche vorüberfuhren, abzuhalten. Der Herzog war ein großer, aristokratisch aussehender Herr mit blondem Vollbart; ein Ansatz zum Embonpoint machte ihn ein wenig älter aussehen, als er war, konnte aber nur den Eindruck von gutmüthig-behaglichem Wesen erhöhen, den er auf Jeden, der ihn sah und sprach, machen mußte; er war in bürgerlicher Tracht, wie fast immer, wo er der einzwängenden Uniform, die ihn jedesmal um eine starke Nüance gebieterischer und souveräner machte, nicht bedurfte. Aurel, der ihm seit längerer Zeit so nahe getreten, verehrte ihn nicht blos als den Fürsten; er liebte ihn auch als eine durchaus reine und wohlwollende, wenn auch vielleicht nicht tiefgründige Natur, die man nun einmal von einem solchen Herrn nicht immer verlangen dürfte.

„Ich bin mit dem allen einverstanden, Lanken,“ unterbrach er nach einer längeren Zeit den Minister; „geben Sie nur Ihre Verordnung her! Ich unterzeichne auch, ohne das Weitere gehört zu haben. Wir überschreiten damit das Budget nicht – das ist richtig; aber freilich hatte ich gehofft, gerade hier Ersparungen gemacht zu sehen und einen Fonds für ideale Zwecke aus diesem erhofften Ueberschusse bilden zu können; ich möchte so gern für das Theater mehr thun, Lanken – doch, was ist zu machen? Ich muß genehmigen, daß das Geld für – nöthigere Dinge, wie Ihr das nennt, ausgegeben werde. ‚Kein Mensch muß müssen‘, sagt Lessing – wahrhaftig, ein armer Fürst, wie ich, hat alle Tage Gelegenheit, seine Betrachtungen über diese seltsame Behauptung anzustellen.“

Aurel Lanken legte dem Herzoge die von ihm entworfene Verordnung, auf welche sein ganzer Vortrag hinauslief, vor.

„Unser Theaterdirector,“ sagte der Herzog, während er seinen Namen langsam und mit großen klaren Zügen unter das Document schrieb – „unser Theaterdirector war bei mir …“

„Der Aermste!“ meinte Aurel. „Haben Hoheit ihn mit einem Troste entlassen können?“

„Welchen Trost hätte ich ihm zu geben! Der Mann hat wirklich das beste, achtungswertheste Streben und den schönsten Eifer für die Ehre und Würde unseres ‚Hof- und Nationaltheaters‘; er treibt die Sache wirklich mit einem respectabeln sittlichen Ernst und redet über die Bedeutung der Schaubühne für den öffentlichen Geist und das, was er ‚die ethische Stimmung der Volksseele‘ nennt, wie ein Buch –“

„Sein Repertoire ist in der That im letzte Jahre überraschend gut gewesen,“ stimmte Aurel bei.

„Aber was hilft ihm das?“ fuhr der Herzog fort. „Das Haus bleibt unbesetzt; seine Casse bleibt leer; der Zuschuß, den ihm die Hofcasse bezahlt, füllt die Lücke nicht; das Publicum läuft zu niederträchtigen Possen in das ‚Apollotheater‘, das, wie er sagt, alle Abende bis zum Brechen gefüllt ist – wir verdanken ja unserer neuen, unbedingten Gewerbefreiheit dieses angenehme Concurrenz-Institut, das ich, wenn’s nach meinem Wille gegangen wäre, niemals concessionirt hätte. Da werden jämmerliche Schwänke, unsittliche Operetten aufgeführt, und dahin wälzt sich natürlich der große Haufe. Was ist zu machen? Unser Hoftheater steht vor einem Krach. Wissen Sie Rath? Ich weiß keinen. Die Sache wird wohl damit enden, daß einmal wieder das Gute vom Schlechteren verdorben wird, das Edle dem Unedlen weichen muß und der brave Director sich dem Gemeinen geopfert sieht; in die verlassene Räume des Hoftheaters wird die Apollotruppe triumphirend einziehen …“

„Und dort blühen, bis irgend eine Akrobatenbande kommt und auch sie auf’s Trockene legt,“ sagte Aurel bitter, eigenthümlich bewegt, daß nun auch der Herzog auf eine Gedankenreihe, welche ihn und Regina am Morgen so tief ergriffen, anknüpfte.

„Das ist der Welt Lauf!“ fuhr der Herzog fort. „Er ist nicht zu ändern. Wie manchem tüchtigen, strebsamen Menschen, der mit einem offenbaren Talente der Welt etwas leisten könnte, wenn man ihm die Sorge abnähme, habe ich nicht schon helfen wollen – und ich konnte es nicht, da Hof- und Schatullencasse genug zu thun hatten, die Gehalte für Nichtsthuer, die Pensionen für Staatsschmarotzer zu zahlen. Aber lassen wir das! Was haben Sie sonst noch?“

Aurel zog den ganzen Inhalt seines Portefeuilles hervor und [307] nannte die einzelnen Gegenstände, welche von den Ausarbeitungen seiner Räthe handelten.

„Kürzen wir das Verfahren ab!“ sagte der Herzog, „lassen Sie Alles hier! Ich will es durchsehen und mit meinen Unterschriften Ihnen zusenden. Ich möchte von etwas Anderem mit Ihnen reden, Lanken. Graf Gollheim“ – der Herzog betonte das Wort Graf ein wenig ironisch – „war am heutigen Morgen bei mir. Der Mann war außer sich. Er sprudelte die heftigsten Vorwürfe wider Sie aus, Lanken – um den Unglücklichen los zu werden, habe ich ihm versprechen müssen mit Ihnen zu reden.“

„Und wessen beschuldigt er mich, Hoheit?“ fragte Aurel.

„Zuerst, daß Sie seiner Tochter den Hof gemacht – was, wie er mir dann freilich zugab, kein Verbrechen sei, wohl aber, daß Sie an dem ehrgeizigen Wunsche, eine Gräfin Gollheim heimzuführen, noch festgehalten, als er bereits seine entschiedenste Mißbilligung dieses Verhältnisses ausgesprochen, und daß Sie dann so weit gegangen, um eine gründliche Bresche in sein Familien-Allerheiligstes zu legen und durch diese sich hineinzudrängen, seinen einzigen Sohn durch Ihre Schwester verführen zu lassen.“

„Das ist eine ganz neue Deutung des Geschehenen“ bemerkte Lanken betroffen, „eine Auslegung, auf die Graf Gollheim zwischen seiner Unterredung mit mir und der darauf folgenden mit Eurer Hoheit gekommen sein muß. Mir machte er nur den Vorwurf, ich wollte ihn mit unwahren Vorspiegelungen überlisten; die Verbindung meiner Schwester und seines Sohnes sei ein Schreckschuß; sie sei von mir ersonnen und, eiferte er dann, sie sei jedenfalls nichtig; er werde sie nie und nimmermehr anerkennen.“

„Nun ja – auch mir erklärte er das,“ fiel der Herzog ein. „Im Nothfall – das schimmerte deutlich durch seine Reden durch – hätte er ja mich. Ich würde eine solche Ehe für nichtig erklären. Welche Vorstellungen sich der Mann von meiner Fürstengewalt macht! Ich habe bon gré, mal gré ihn zum Grafen machen müssen – aber ihm zu Gefallen nun auch noch eine Ehe, welche die Gerichte anerkennen, nichtig erklären? Verrückte Zumuthung das! Was ist eigentlich an der ganzen Sache, Lanken? Wußten Sie darum? Hat man mit oder ohne Ihre Einwilligung gehandelt?“

„Nicht mit meiner Einwilligung, Hoheit; die leichtsinnige Handlungsweise Ludwig Gollheim’s hat mich sehr unglücklich gemacht; ich kann mich lebhaft in den Schmerz des Vaters versetzen. Aber was geschehen, ist geschehen, und ich bin gezwungen, meiner Schwester Recht zu vertreten. Documente, welche dieses Recht beweisen, liegen mir vor.“

„Gollheim’s Eifer,“ fuhr der Herzog fort, „riß ihn hin, zu behaupten, die Documente seien unmöglich da; oder sie seien von Ihrem Vater, dem leidigen alten Händelsucher, wie er ihn nannte, gefälscht, und was derartiges Alles noch aus dem halb unzurechnungsfähig gewordenen Gollheim hervorsprudelte. Nun ja –“ er hieß mit einer abwehrenden Handbewegung Aurel, der etwas erwidern wollte, schweigen – „Sie brauchen nichts darauf zu erwidern; wenn Sie die Documente geprüft und gültig befunden haben, ist es thöricht, sie anzufechten. Aber eine höchst fatale Sache bleibt es darum dennoch, die auch für mich persönlich eine unangenehme Seite hat. Am Ende kann Ludwig Gollheim geheirathet haben, wen er will – eine Fidschi-Insulanerin oder eine Chippewäer-Squaw meinethalb; das Verdrießliche bei der Sache ist, daß seine Heirath uns hier Ihren Vater herbringt, der ein unberechenbarer Mann sein soll und schwerlich hier stille sitzen wird, ohne für seine hirnverbrannten Principien Propaganda zu machen …“

„Ich glaube doch mich verbürgen zu können, Hoheit, daß dies nicht geschieht. Mein Vater fände, wenn er auch noch so voll des alten republikanischen Feuereifers steckte, kein Terrain zur Proselytenmacherei mehr. Die Welt ist, was sie nennt, fortgeschritten, und die Menschen, in deren Charakter das Bedürfniß der Zersetzung, der feindseligen Zerstörung liegt, sind bis zu einem Punkte gekommen, auf welchem mein biederer Vater mit seiner fixen Idee sie nicht mehr versteht und sich zum Schweigen verdammt sieht.“

„Mag sein! Wenn nur auch der Sturmfluth von Geschwätz, das sich über ihn erheben wird und dessen Wellen bis an meine Füße heranspülen werden, um da allerlei giftige und häßliche Stoffe abzulagern, Schweigen aufzuerlegen wäre! Ich sage Ihnen nichts Neues, Lanken, wenn ich Ihnen sage, daß Sie Feinde haben –“

„Ich weiß, Hoheit, bis in Ihrer nächsten Nähe!“

„Nun, mein Gott, ja – welcher Mann in Ihrer Stellung hätte das nicht? – und hier kommt nun noch die Gehässigkeit der Partei, mit deren Anschauungen ich brechen mußte, um, ohne auf meine eigenen Sympathien und Antipathien Rücksicht zu nehmen, Ihnen das Ruder zum Einlenken in die Strömung der Zeit zu überlassen, hinzu. Man wird jetzt Ihre Privatverhältnisse, Ihre Familienbeziehungen, die mitleidswürdige Lage, in die Gollheim durch das Zerwürfniß mit seinem Sohne versetzt worden, ausbeuten; man wird die Erinnerungen an die früheren hirnverbrannten Tollheiten Ihres Vaters auffrischen, wird Dinge und Behauptungen aus der Luft greifen –“

„Alles Das wird man thun, Hoheit,“ sagte Aurel; „es ist mir ein tiefer Kummer, daß ich nicht die geringste Hoffnung habe, Sie damit verschont zu sehen. Und wenn Sie sich der Ansicht zuneigen sollten, daß eine solche Lage als Mittelpunkt der gehässigsten Commentare, in welche man mich versetzen wird, sich nicht mit der Würde eines ersten Rathgebers des Herzogs verträgt, so bin ich ganz bereit –“

Aurel stockte einen Augenblick. Er war sich völlig bewußt, daß er im Begriffe war, ein Wort auszusprechen, welches, wenn es seine Lippen verlassen und bejahend erwidert war, den letzten Hoffnungsschimmer seiner Liebe zu Regina auslöschte – war er nicht mehr Minister, so war er in den Augen der Leute, neben welche bisher sein Rang ihn gestellt hatte, nichts mehr. Und dennoch sprach er weiter, wenn auch nicht mit dem festen und ruhigen Tone, mit dem er bisher gesprochen:

„So bin ich ganz bereit, Hoheit, Ihnen diese Würde wieder zu Füßen zu legen.“

Ein Schatten flog über des Herzogs Gesicht.

„Wen hätte ich dann, um sie ihm zu übertragen?“

„Es giebt doch noch andere Männer, die, wenn sie mich an treuer Ergebenheit für die Person meines Fürsten auch nicht übertreffen können, doch –“

„Reden wir nicht davon, Lanken! Werfen wir nicht so rasch die Flinte in’s Korn! Lassen wir Gollheim für’s Erste noch sich austoben – die Stunden werden ihm guten Rath bringen. Und dann – morgen schon – werde ich ihn rufen lassen, um selbst ihm Vernunft zu predigen. Senden Sie mir die Documente, von denen wir geredet haben! Im Angesicht derselben wird er eher geneigt sein, sich in’s Unvermeidliche zu fügen. Gewiß! Ich werde ihm scharf zureden; es wird mir gelingen, ihn davon abzuhalten, es auf einen Rechtsstreit ankommen zu lassen. Wenn das öffentliche Aergerniß solch eines Processes vermieden wird, ist ja der ganzen Affaire die Spitze abgebrochen –“

„Wenn Ihnen das gelänge, Hoheit, würden Sie auch der Wohlthäter meiner armen Schwester werden –“

„Die freilich bei der ganzen Sache in der bedauernswerthesten Lage ist; sie ist das Opfer des Leichtsinns dieses Weltfahrers, dieses thörichten Weltumseglers; ich bin gespannt, zu hören, was mein Officierscorps zu der Sache sagen wird; er wird am Ende den Dienst quittiren müssen – doch ich muß Sie jetzt entlassen, Lanken – senden Sie mir die Documente – morgen in den ersten Vormittagsstunden! Adieu!“

Er reichte Aurel flüchtig die Hand, und dieser schied mit einer tiefen Verbeugung.

Auf dem Rückwege, den Aurel von der Residenz zu seinem „alten Schlosse“ zu machen hatte, fuhr er in der bescheidenen Equipage, deren er sich mehr dem Herzoge zu Liebe, der es wünschte, daß seine Würdenträger sich Equipage hielten, als aus Bequemlichkeit bediente, an Graf Gollheim’s Hotel vorüber. Er sah gespannt zu den Fronten desselben hinauf – wie ausgestorben lag das stattliche Gebäude da; es lugte mit seinen geschlossenen Fenstern fast sphinxhaft auf ihn herab, kalt und feindlich das Räthsel seiner Zukunft hütend. Als er sodann in seiner Wohnung angekommen, fand er zu seiner Ueberraschung dort den Vater seiner harrend.

Der alte Thierarzt war in großer Aufregung. Er lag zurückgelehnt auf einem Divan, hatte die Beine auf eine Stuhllehne gestreckt und rauchte; sobald Aurel eintrat, begann er eine zornige Rede wider die „niederträchtige Menschenbande“, auf welche er in seiner alten Heimath gestoßen, auf dieses „in Grund und Boden demoralisirte Volk“, die allgemeine Hundegesinnung, welche nichts sei, als die Frucht der monarchischen Regierung, die seit Jahrhunderten auf dem Lande gelastet und alle Würde und allen Anstand hinausregiert habe. Aurel ward es schwer, aus dem [308] zornigen Flusse der Rede seines Vaters das Thatsächliche, den eigentlichen Gegenstand, der seinen theuren „Governor“ so in Aufregung versetzte, herauszuhören. Der alte Herr hatte einen heftigen Streit mit dem „Känguruh“ Schallmeyer gehabt, und dieser Streit war ausgebrochen über einen giftgeschwollenen, empörenden, „diabolischen“ Artikel, den die „Rothe Flagge“, das Partei-Organ Schallmeyer’s, aus der Feder des unaussprechlich widrigen „kriechenden Gewürms“, genannt Dr. Milchsieber, gebracht, dieses Gesellen, bei dessen Anblick man die Schaukelnarkose, zu deutsch: Seekrankheit auf dem festen Land bekomme. In diesem in socialdemokratischer Kraftsprache abgefaßten Artikel war ein „altes Fossil von Republikaner“ abgezeichnet, das „mit verknöcherten Redensarten, die vor einem Vierteljahrhundert gegolten“, die Forderungen der unterdeß „herangewachsenen“ Generation abgespeist wissen wolle, und ein schönes Pröbchen sei, was „diese einst gefeierten Biedermänner“ für die großen Gedanken der folgerichtigen Menschheitsentwickelung geleistet haben würden, wenn sie damals an’s Ruder gelangt wären: die Geschicke der Völker wären der „engherzigsten Ochlokratenbande“ in die Hände gefallen, bis der dahinschreitende Fuß der Geschichte ihnen dann bald auf die Schädel getreten wäre. Dieser schönen socialdemokratischen Rede waren allerlei Winke hinzugefügt, die sich auf die Privatzwecke Lanken’s bei seinem Erscheinen in der alten Heimath bezogen und, natürlich in verhüllten Andeutungen, zwischen den Zeilen lese ließen, daß sich mit der antiken Römergesinnung solch eines Biedermannes recht gut die sehr moderne „Smartneß“ des „ausgepichtesten“ Yankee vertrage, wenn dieser mit aller Irokesenschlauheit auf die Jagd ausziehe, um sich irgend ein schönes Stück Wild, einen kostbaren Pelz oder auch – einen reichen Schwiegersohn zu erjagen. Solche Unternehmungen gewährten jedoch, so beliebt sie auch drüben sein möchten, hier zu Lande wenig Aussicht, auch wenn sich hochgestellte Leute von der Regierung bei dieser Jagdpartie als Treiber benutzen ließen; die Stimme der öffentlichen Empörung werde sich laut genug vernehmen lassen und durch ihre Warnungsrufe das Wild scheuchen.

Aurel las diese geschmackvolle Stilübung, die sein Vater aus der Tasche zog, betroffen durch, und während der alte Herr sich in einem zornigen Geschimpf dagegen erging, fragte er sich erstaunt, wer in aller Welt dem Verfasser die Winke habe geben können; es könne nur Einer gewesen sein, der Thatsachen kenne, die bis zur Stunde in der Stadt noch völlig unbekannt sein müßten.

„Hast Du denn keine Mittel, diesen boshaften Burschen hängen zu lassen? Bist Du Minister hier im Lande, um Dir gefallen lassen zu müssen, daß Dir solch eine Schlange ihr Gift in’s Gesicht spritzt? Sende den Menschen auf Eure Landesfestung in’s unterste Verließ, wo Molch und Unke hausen! Dahin gehört das Gewürm.“

„Das sagst Du, der Republikaner, der doch als das erste Grundrecht Deines Volksstaats die unbedingte Freiheit, alles drucken zu lassen, was Dir einfällt, verlangen wird? Der doch drüben an solche Ausübung des freien Meinungsrechtes gewöhnt sein muß – Du, Vater?“

„Nun, ja freilich – drüben!“

„Die Presse, aber Vater, ist, wie Du weißt gleich dem Speer des Achill. Was er verwundete, heilte er auch wieder. Man hat’s ja tausendmal gesagt. Du kannst nun die Probe machen, nun, wo Du selber verwundet bist, und darfst warten, bis sie kommt und Deine Wunde heilt. Ich hege freilich leise Zweifel daran. Dieser Artikel ist sehr verhängnißvoll. Wir sind darin zwar nicht genannt, aber so deutlich bezeichnet worden, als ob wir genannt wären. Es ist von vornherein die öffentliche Meinung dadurch wider uns gehetzt; sie wird uns unsere Aufgabe furchtbar erschweren – auch in einem Gerichtsstreite kann die öffentliche Meinung sich sehr unheilvoll geltend machen. Wer kann diesen Artikel inspirirt, wer dem Milchsieber die Thatsachen dazu an die Hand gegeben haben? Graf Gollheim steht im Rufe, Mittel kleinlicher Intrigue, bei denen er seine Unterbeamten benutzt, nicht zu verschmähen, aber er selbst ist ja erst am heutigen Tage von mir aufgeklärt und mit dem Schritte seines Sohnes bekannt gemacht worden. Es bleibt nichts Anderes übrig, als anzunehmen, daß Dein Freund Schallmeyer, dem Du in voreiligem Vertrauen Dein Herz erschlossen haben mußt, Indiscretionen beging.“

„Dem Känguruh – Du glaubst, ich habe dem Känguruh Eröffnungen gemacht? Bin wahrhaftig nicht thöricht genug dazu.“

„Dann muß er Dich und Lily in Euern Unterredungen umschlichen und behorcht haben.“

„Er? Eher wär’s denkbar von der alten falschen Katze, der grauen Nachteule –“

„Wer ist die Nachteule – man kommt bei Dir aus dem zoologische Garten nicht heraus.“

„Schallmeyer’s Beschließerin – sie ist immer da, wo man sie nicht vermuthet, wozu aber beide Menschen, er wie sie, die Verräther wider uns gespielt hätten, das ist völlig unerfindlich. Als unser Wirth hat Schallmeyer allen Grund, uns sich gewogen und freundlich gesinnt zu erhalten.“

„Das ist richtig,“ sagte Aurel, „es wäre sehr thöricht von ihm, wider seine Gäste zu intriguiren.“

„Das Haus verlassen werde ich jetzt jedenfalls,“ fiel Lanken ein; „ich habe es Lily bereits angekündigt, die freilich dagegen ist und sich dawider sträubt.“

„Auch nach diesem Artikel noch, der es doch nothwendig macht, daß Ihr Beide Euch Eurer bisherigen Umgebung entzieht?“

„Auch nach diesem Artikel noch – mit ihrer Grasmücken-Caprice. Was thut’s? Wir werden darauf weiter keine Rücksicht nehmen – ich habe ein anderes freundliches und weit besser gelegenes Quartier schon ermittelt, ein Hotel garni, welches unendlich anständiger und comfortabler ist; ich werde noch an diesem Abend den Umzug bewerkstelligen und dabei Lily’s Namen auch dem neuen Wirth richtig angeben – das Mistreß Brown ist ganz überflüssig geworden.“

Aurel war damit einverstanden; er ließ sich das neue Quartier seines Vaters nennen und unterrichtete diesen dann von dem Inhalte seiner Unterredungen mit Gollheim und dem Herzog. Der alte Herr fand die Versicherungen des Herzogs, daß er versuchen werde, Gollheim zu einem friedliche Nachgeben zu bestimmen sehr verheißungsvoll. Vor dem Erscheinen des Milchsieber’schen Artikels hätte er sich aus einem Rechtsstreit so viel nicht gemacht; jetzt war ihm Alles daran gelegen, nicht durch einen Monat lang dauernden Proceß in dieser kleinstädtischen Welt zurückgehalten zu werden. Er wollte dann zuerst mit dem „kriechenden Preßgewürm“, der „Giftschlange“ persönlich abrechnen und ein wenig „in’s Gericht gehen“, und darauf seinen Sohn seiner Ministerherrlichkeit, seine Tochter ihrem jungen Eheglück und das „alte Nest“ dem Fortschreiten in der „Vermoderung und Versumpfung“, von der er täglich mehr Spuren wahrnahm, überlassen, um in’s „freie Land“ zurückzukehren, wo er doch allein nur noch existiren konnte. So sagte er denn bereitwillig Aurel zu, ihm am andern Morgen die Documente, die der Herzog Gollheim vorlegen wollte, zu bringen oder zu senden, und verabschiedete sich dann, um noch diesen Abend seinen Abzug aus der Höhle des „Känguruhs“ zu bewerkstelligen.


(Fortsetzung folgt.)




Immanuel Kant.
Zum hundertjährigen Jubiläum seiner „Kritik der reinen Vernunft“.[1]
Von Moritz Brasch.

Unter den Helden, Staatsmännern und Gelehrten, mit denen Rauch auf seinem berühmten Friedrich’s-Denkmal zu Berlin die zu Reiterstatue des großen preußischen Königs umgeben hat, sehen wir zwei Männer in bürgerlicher Tracht mit einander im Gespräch begriffen: der eine etwas jüngere, eine kräftige Gestalt, den schönen Kopf stolz erhoben, scheint an den Andern eine scharfe Frage gerichtet zu haben; dieser, eine zartere, fast schwächliche Erscheinung, das sinnende Haupt mit der mächtigen Stirn ein wenig seitwärts gewendet, ist wie in einen tiefen Gedanken verloren. Der Fragende ist der große Gotthold Ephraim Lessing, der Gefragte aber kein

[309]

Immanuel Kant.
Nach dem Oelgemälde von Becker auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

Geringerer als Immanuel Kant. Man hat das Unhistorische dieser Gruppirung sofort herausempfunden. Der Bahnbrecher der deutschen Literatur hat niemals weder in persönlichem noch brieflichem Verkehr mit dem Reformator der neueren Philosophie gestanden. Ja, in den Werken Lessing’s ist nirgends Kant’s Name auch nur genannt, während Letzterer allerdings jenen einmal als Kritiker erwähnt und ihn auch einmal gegen Mendelssohn’s geringschätziges Urtheil über die „Erziehung des Menschengeschlechts“ in Schutz nimmt. Lessing’s vollständiges Schweigen über Kant ist erklärlich, wenn man bedenkt, daß die Berühmtheit unseres Philosophen [310] seit dem Erscheinen der „Kritik der reinen Vernunft“ im Jahre 1781 datirt, das zugleich das Todesjahr Lessing’s ist. Und doch hat ein Künstler wie Rauch sicher nicht ohne Grund gerade diese beiden Männer neben einander gestellt.

Wohl wollte er durch diese Zusammenstellung des niedergegangenen und des aufsteigenden Gestirns dem Gedanken Ausdruck verleihen, daß bei aller Verschiedenheit der seelischen Individualität und des Lebensganges dieser beiden Männer in der Energie ihrer intellectuellen Persönlichkeit, in der unerbittlichen Schärfe ihres kritisch angelegten Geistes, wie in der sittlicher Hoheit ihrer Wahrheitsliebe doch eine tiefinnerliche Verwandtschaft bestanden hat. Kann man aber nicht auch in Bezug auf die historische Bedeuztung derselben die Parallele noch weiter führen? Hat nicht jeder von ihnen in seinem Gebiete nicht nur eine morsche Welt in Trümmer zerschlagen, sondern auch triebkräftige Keime zu neuen geistigen Bildungen für die folgenden Generationen gepflanzt?

Wie Lessing als jugendlich trotzige Heldengestalt in den Aufklärungs- und Humanitätskämpfen des achtzehnten Jahrhunderts dasteht, so bezeichnet Kant’s philosophische Wirksamkeit das reiche und abschließende Resultat dieser großen Culturbewegung, aber auch zugleich den Central- und Ausgangspunkt aller bis auf die Gegenwart fortwirkenden geistigen Richtungen des neunzehnten Jahrhunderts. Der Aufschwung der mathematisch-mechanischen Naturbetrachtung, die empirischen Untersuchungen auf dem Gebiete der Psychologie, Moralphilosophie und Aesthetik, die an die englischen Freidenker anknüpfenden Kämpfe des Vernunftglaubens gegen die theologische Orthodoxie, sowie der von Rousseau angefachte leidenschaftliche Drang, das Individuum von den Fesseln einer falschen Cultur zu befreien: alle diese und noch andere mächtige Strömungen der Zeit fanden ihre Abklärung und ihren versöhnenden Abschluß in einer Weltanschauung, die das Zauberwort, nach welchem das ganze Jahrhundert vergeblich gerungen, aussprach: die absolute Autonomie des menschlichen Geistes gegenüber der Welt der Erscheinungen, d. h. die gesetzgebende Kraft der Vernunft in Wissenschaft und Leben. Und wie dieser Grundgedanke der Kant’schen Philosophie alle von ihm behandelten Fragen in dem weiten Gebiete menschlichen Wissens mit mächtiger Kraft durchdringt, so bildet er auch den gemeinsamen fruchtbaren Mutterboden, von dem aus in der Folgezeit immer neue Ideenkreise und Weltanschaungen emporsprießen mußten; so wird er der Ausgangspunkt für alle bedeutenderen philosophischen Systeme und somit der lebendig befruchtende Quell für die gesammte höhere Gedankenwelt unseres Jahrhunderts.

Kant hat ein ruhiges, stilles und friedliches Denkerleben vollbracht. Als wollte ein gütiges Geschick die Tiefe dieses Geistes vor allen äußeren Stürmen schützen blieb er nach beiden Seiten hin bewahrt: sowohl vor großem Glück wie vor großem Unglück. Im schlichten Handwerkerhause wurde er am 22. April 1724 zu Königsberg in Ostpreußen geboren. Sein Vater (dessen Familie aus Schottland stammte und sich ursprünglich Cant schrieb) betrieb das Sattlerhandwerk. Unser junger Immanuel, der unter den sechs Geschwistern schon früh die besten Anlagen zeigte, erhielt seine Vorbildung auf dem „Collegium Fridericianum“ seiner Vaterstadt, welches er so schnell absolvirte, daß er schon 1740, also im sechszehnten Lebensjahre, die Universität beziehen konnte, um Theologie zu studiren, mit der er jedoch schon frühzeitig das Studium der Mathematik, der Naturwissenschaften und der Philosophie verband. Nach Beendigung seiner Studien lebte er als Hauslehrer auf verschiedenen adeligen Gütern in der Nähe von Königsberg.

In dieser Zeit begann Kant seine schriftstellerische Thätigkeit mit einer Reihe bald umfangreicherer, bald kleinerer Schriften philosophischen und naturwissenschaftlichen Inhalts. Wir erwähnen hier nur seine „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels“ (1755), die er Friedrich dem Großen widmete und die ein astrophysikalisches System entwickelt, das in Bezug auf die Ansicht vom Bestande des Fixsternenhimmels mit dem Resultate der Herschel’schen Untersuchungen, dagegen in Betreff der Lehre vom Ursprunge der materiellen Welt mit der Laplace’schen Theorie wesentlich übereinstimmt, und, bis jetzt für die wahrscheinlichste aller Weltentstehungstheorien geltend, den Namen der Kant-Laplace’schen Theorie trägt. In dem genannten Jahre promovirte Kant und habilitirte sich zugleich an der Königsberger Universität. Er las nicht nur über Physik, Mathematik und physikalische Geographie, sondern auch über Logik, Metaphysik, Ethik und philosophische Encyklopädie, seit 1760 auch aber natürliche Theologie und Anthropologie.

Erst 1770 im Alter von sechsundvierzig Jahren wurde ihm die ordentliche Professur für Philosophie übertragen, und er bekleidete diese akademische Stellung bis 1797, wo Altersschwäche ihn zum Aufgeben der Vorlesungen bewog. In diesen Zeitabschnitt fallen alle seine epochemachenden Werke, insbesondere seine drei „Kritiken“, durch welche er eine völlige Umgestaltung der Philosophie vollbracht hat. Eine Fülle kleinerer Abhandlungen, die sich wie die Ranken um die großen Hauptstämme seiner philosophischen Arbeit schlingen, wurden ebenso wie sein umfangreicher Briefwechsel später in mehreren Bänden gesammelt und herausgegeben.

Die Form seiner größeren und grundlegenden Werke ist streng systematisch; dagegen zeichnen sich seine polemischen Aufsätze durch jene überlegene und doch graziöse Ironie aus, die bei aller Schärfe (wie z. B. in der geistreichen Satire auf Swedenborg „Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik“) nie den Mann von Welt vermissen lassen. Als akademischer Lehrer, zu dessen Vorlesungen sich auch Bürger, höhere Beamte und Officiere einfanden, übte er einen weitreichenden Einfluß aus. Sein Vortrag war, wie sein Schüler und Biograph Borowski berichtet, nie gelehrt überladen sondern stets schumcklos, aber klar und anregend und durch eigentümlich scharfe und logische Gedankengliederung, wie durch Beispiele aus der Tagesgeschichte, Länder- und Völkerkunde so belebt, daß der Hörer ihm ohne Zwang auf die höchsten Höhen metaphysischer Abstraction zu folgen vermochte.

Wie in der wissenschaftlichen Form und der Diction seiner Schriften, war Kant auch im Leben durchaus nicht Pedant. Er liebte heitere Geselligkeit, geistig belebten Verkehr mit Frauen, eine wohlbesetzte Tafel und den Umgang weniger der gelehrten Welt als vielmehr des mittleren Bürgerstandes. Zu seinen intimsten Königsberger Freunden zählten z. B. ein Bankdirector, ein Oberförster und ein Kaufmann. Und in diesen Kreisen war die Gesellschaft des alten Junggesellen wegen seiner Jovialität ebenso geschätzt wie gesucht. Uebrigens hat er sich nie weiter als wenige Meilen von seinem Geburtsorte entfernt. Er starb in Königsberg, fast achtzig Jahre alt, am 12. Februar 1804. Daß seine Werke in alle neuere Cultursprachen, sogar in’s Lateinische übertragen wurden, ist selbstverständlich. „Wenn die Könige bau’n haben die Kärrner zu thun.“ -

Die erste und stärkste Säule, auf der das ganze Gebäude seiner Weltanschauung beruht, ist die „Kritik der reinen Vernunft“, deren hundertjähriges Jubiläum uns heute veranlaßt, das deutsche Volk an die unsterblichen Verdienste seines größten Denkers zu erinnern. Freilich stellen sich die Kant’schen Grundprincipien, wie sie in der „Kritik der reinen Vernunft“ und dann in den übrigen Hauptwerken entwickelt sind, zunächst als kritisch-negirende heraus, und in so fern hatte Kant Recht, seine Philosophie mit dem Namen „Kriticismus“ zu benennen. Es war der Kampf gegen die Jahrtausende alte Metaphysik mit ihrem weiten Netz von unerwiesenen Begriffen, gegen die er sein schneidiges kritisches Schwert schwang, indem er die Forderung aufstellte, daß, bevor über Welt, Gott und das Wesen der Dinge philosophirt werde, man erst die Natur des menschlichen Denkorgans näher untersuche und zusehe, wie weit in dem letzteren die Möglichkeit einer derartigen Erkenntniß liege.

Die Resultate dieser scharfsinnigen Untersuchungen legte er nun in der „Kritik der reinen Vernunft“ nieder. Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, an der Hand dieses und der übrigen großen Werke Kant’s dessen philosophisches System zu entwickeln und wir bemerken nur, daß jener grandiose Gedankenaufbau, wie er in der „Kritik der reiner Vernunft“ entwickelt wird, in zwei Hauptflügeln sich präsentirt: in der „Transcendentalen Aesthetik“ und in der „Transcendentalen Logik“. Jene sucht die „Aprioriät“ unserer Raum- und Zeitanschauungen aus logisch-mathematischen Gründen zu erweisen; diese geht in ihrem ersten Theile, in der transcendentalen Analytik, darauf aus, die gesammten „Stammbegriffe“ des Denkens als nicht der Außenwelt, sondern unserem Geiste innewohnend und daher die Erkennbarkeit des wahren Seins der Dinge (Ding an sich) als unmöglich darzustellen, während im zweiten Theile, in der transcendentalen Dialektik, die sich hieraus ergebenden Widersprüche (Paralogismen und Antinomien der reinen Vernunft) und daher die Unhaltbarkeit des gesammten Inhalts der bisherigen [311] Metaphysik und ihrer Theile, der rationalen Psychologie, Kosmologie und Theologie, abgeleitet wird. Dieses ganze Zerstörungswerk schließt mit einer vernichtenden Kritik der bisherigen Beweise für das Dasein Gottes, deren innere Hohlheit mit unerbittlicher Schärfe bloßgelegt wird. Wir begnügen uns mit dieser bloßen Inhaltsandeutung und werfen einen Blick auf den befruchtenden Einfluß seiner Geistesthat, auf die verschiedenen Gebiete des menschlichen Geistes und Herzens, auf die Philosophie, die Religion und die Moral nicht minder, als auf die positiven Wissenschaften, die Literatur und die Kunst.

In den mit glänzendem Scharfsinn geführten Darlegungen der „Kritik der reinen Vernunft“ glaubt Kant dargethan zu haben, daß alle bisherige dogmatisirende Metaphysik, obgleich in den Anlagen des Menschen begründet und durch das Vermögen der Vernunft gewissermaßen verleitet, nur Negatives geleistet und keine wahrhaft philosophische Erkenntniß zu Stande gebracht habe. Aber so wie er einerseits offen eingesteht, erst durch den kühnen Skepticismus David Hume’s angeregt und durch die Angriffe des letztern auf die objcetive Allgemeingültigkeit des Causalgesetzes in der Welt aus seinem „dogmatischen Schlummer“ geweckt worden zu sein, so hat er auch andererseits das volle Bewußtsein der Bedeutung dieser seiner kritisch-zerstörenden, aber auch wieder aufbauenden That, wenn er seine philosophische Reform mit der astronomischen Umwälzung des Copernicus vergleicht; er thut dies, indem er ungefähr sagt: unter der Herrschaft des Ptolemäischen Weltsystems, welches die Erde in den Mittelpunkt der Welt stellte und diese um jene sich bewegen ließ, habe man die Himmelserscheinungen nur sehr schwer erklären können und erst durch die Anschauung des Copernicus sei man zur Erkenntniß wirklicher Weltgesetze gelangt; so werde auch für die philosophische Erkenntniß eine neue Aera anbrechen, nachdem nunmehr die alte stolze Metaphysik, welche das erkennende Subject von der äußern Erscheinungswelt abhängig machte, gestürzt sei und der transcendentale Idealismus, der das Schwergewicht in uns selbst verlegt und die äußere Wirklichkeit zu bloßen „Erscheinungen“ verflüchtigt, zur Herrschaft gelangt sei. Diese Verflüchtigung der Welt, diese Zerstörung alles Seins hat Kant rücksichtsloser, schärfer, radicaler und vor Allem überzeugender durchgeführt, als vor ihm einst der scharfsinnige englische Denker John Locke und der philosophische irische Bischof George Berkeley. Bei Kant haben wir das unheimlich grausige Gefühl, als gehe die Welt um uns her in nichts auf.

„Weh! Weh!
Du hast sie zerstört,
Die schöne Welt,
Mit mächtiger Faust -
Sie stürzt, sie zerfällt;
Ein Halbgott hat sie zerschlagen.
Wir tragen
Die Trümmer in’s Nichts hinüber
Und klagen
Ueber die verlorene Schöne.
Mächtiger
Der Erdensöhne,
Prächtiger
Baue sie wieder,
In deinem Busen bau’ sie auf!“

Ist es Kant gelungen, an Stelle der zerstörten eine neue Welt aufzubauen? Hat er das tiefinnerliche und unauslöschliche Bedürfniß des menschlichen Gemüths, durch Vermählung mit dem Unendlichen seine Sehnsucht zu stillen, wirklich befriedigt? Kant macht dem Mysticismus in der Philosophie nicht die geringste Concession, und deshalb waren auch die Angriffe jener Gefühlsphilosophen, wie Hamann, Jacobi und Herder, gegen die Ergebnisse der „Kritik“ nur vergebliche Lufthiebe. Konnte er, was noch von den rauchenden Trümmern, aus der ehemaligen Speculation und dem früheren Deismus vorhanden war, als Materialien zum Neubau benutzen? Was unversehrt geblieben war, wie die formale, seit Aristoteles wenig fortgeschrittene Logik und die im achtzehnten Jahrhundert stark bereicherte empirische Psychologie, wurde sorgsam mit hinüber genommen. Aber die eigentlichen Hauptstücke aus jenem gewaltigen Dome der dogmatischen Philosophie, in welchem, durch die farbigen Fenster gebrochen das theologische Dämmerlicht ein Jahrtausend hindurch geherrscht hatte, lagen zerstört umher. Ein lichterer Bau erhob sich, zwar etwas kahl, nüchtern und prunklos, aber doch ein ernster und erhabener Tempel, der sein Licht nicht mehr von „Oben“ erhält, sondern in sich und durch sich selbstleuchtend ist. „In deinem Busen bau’ sie auf!“ In uns selbst, und zwar nicht in den erkennenden, sondern den wollenden und handelnden Menschen verlegte nunmehr Kant das Centrum der neuen Weltanschauung; so setzte er an Stelle der alten Metaphysik eine Ethik, eine Sittenlehre im weitesten und vornehmsten Sinne des Wortes, mit deren Begründung und Ausführung die „Kritik der praktischen Vernunft“ (1788) und die „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“ (1798) sich beschäftigen.

War, wie die „ Kritik der reinen Vernunft“ dargethan, das Ewige und Unendliche außer uns, die Welt der „Dinge an sich“ für unser Erkennen unerreichbar, nun so realisiren wir es in uns selbst und werden so nicht nur das Gefäß des Göttlichen, sondern das Göttliche selbst, die Schöpfer des ewigen Gehalts in menschlicher Form. Dieses geschieht durch die „Vernunft“, die weder eine „Kraft“ noch ein „specifisches Vermögen“ in uns ist, sondern das innerste Wesen des Geistes, das ihn befähigt, sich selbst seine „Autonomie“ zu verleihen, das heißt sein eigener Gesetzgeber zu sein. Diese autonome Selbstherrlichkeit findet nun in der Sphäre des Sittlichen ihren eigentlichen Wirkungskreis. Jener berühmte kategorische Imperativ. „Handle so, daß die Maxime Deines Willens jeder Zeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann!“ ist nur der concentriteste Ausdruck, gewissermaßen der Grundverfassungsartikel für die sittliche Souveränität des Menschen, und dieses Grundgesetz kündigt sich nicht als ein Erfahrungssatz, sondern als ein ursprüngliches Factum unseres Bewußtseins an. Dieser Autonomie des Willens steht die Heteronomie der Willkür gegenüber, wie die Principien der meisten früheren Moralphilosophen von Sokrates bis Leibniz beweisen, die Kant einer scharfen Kritik unterzieht. Insbesondere bekämpft er den sogenannten Endämonismus des achtzehnten Jahrhunderts, das heißt diejenige ethische Anschauung, die die Glückseligkeit des Menschen, sei es als das letzte Ziel alles sittlichen Wollens und Handelns, oder als in diesem Ziele selbst enthalten ansieht. So wird nun einem Handeln nach äußerer Gesetzmäßigkeit (Legalität) das Handeln um des sittlichen Gesetzes willen (Moralität) entgegengestellt. Aus der sittlichen Selbstbestimmung fließt die sittliche Würde des Menschen, zugleich aber auch das Wesen der Pflicht. Denn indem wir als Vernunftwesen oder „Dinge an sich“ uns selbst als beschränkten Sinnenwesen oder „Erscheinungen“ ein Gesetz geben, stellen wir uns Aufgaben, die uns nicht in fremde Gebiete drängen, sondern uns nur unserer eignen ewigen Natur wiedergeben.

Indem so das Wesen des Ewigen und Göttlichen, dessen theoretisches Erkennen sich in der „Kritik der reinen Vernunft“ als eine vieltausendjährige Irrfahrt des denkenden Geistes erwiesen, nunmehr in das sittliche Wollen des Menschen verlegt wird, erhält das Ethische die Oberherrschaft über das Religiöse, dessen Gewalt über das menschliche Gemüth hierdurch gestürzt wird.

„Aber flüchtet aus der Sinne Schranken
In die Freiheit der Gedanken,
Und die Furchterscheinung ist entfloh’n,
Und der ew’ge Abgrund wird sich füllen;
Nehmt die Gottheit auf in Euren Willen,
Und sie steigt von ihrem Weltenthron;
Des Gesetzes strenge Fessel bindet
Nur den Sclavensinn, der es verschmäht;
Mit des Menschen Widerstand verschwindet
Auch des Gottes Majestät.“

So schlägt sich Kant von hier aus eine Brücke, um zu einer neuen „kritisch gereinigten“ Religionsphilosophie zu gelangen. Die Untersuchungen der „Kritik der praktischen Vernunft“ haben das Vorhandensein gewisser Postulate in uns ergeben, welche nicht Dogmen sind, die unser philosophisches Wissen erweitern, sondern notwendige Voraussetzungen die den Ideen unserer Vernunft vermittelst ihrer Beziehung auf unser Leben objective Realität verleihen. Solche Postulate sind: die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes. Es gelingt ihm so dieses alte Inventar des ehemaligen Deismus an’s andere Ufer hinüberzuretten; hier läßt er es in seinem Begriffslaboratorium einen complicirten dialektischen Läuterrungsproceß durchmachen und gewinnt auf diesem Wege die wesentlichsten Grundlagen eines „theistischen Vernunftglaubens“.

Die speciellere Entwickelung des letzteren auch in Bezug auf sein Verhälniß zum christlichen Kirchenglauben geschieht nun in jenem berühmten Werke „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, welches Kant mit dem pietistischen Kirchenregiment [312] unter dem preußischen Ministerium Wöllner in Conflict gebracht hatte. Die erste Abhandlung „Vom radicalen Bösen“ erhielt die Genehmigung der preußischen Censur, aber schon die zweite „Vom Kampf des guten Princips mit dem bösen“ wurde beanstandet. Doch wußte sich Kant zu helfen. Er ließ das ganze Buch von der Königsberger theologischen Facultät censiren, und so konnte es gedruckt werden. Seine zelotischen Gegner, aber beeilten sich eine königliche Cabinetsordre (1. October 1794) zu erwirken, nach welcher ihm „Entstellung und Herabwürdigung der Haupt- und Grundlehren der heiligen Schrift und des Christenthums“ vorgeworfen wurde. Kant meinte: „Widerruf und Verleugnung seiner Ueberzeugung wäre niederträchtig, aber Schweigen in dem vorliegenden Falle Unterthanenpflicht; Alles, was man sage, müsse wahr sein, aber man brauche nicht alles Wahre öffentlich zu sagen.“ Er erklärte, daß er sich fortan „aller öffentlichen Vorträge über Religion auf dem Katheder und in Schriften enthalten werde“ – das alte Lied von der Vergewaltigung der philosophischen Forschung durch den offiziellen Glauben, so alt wie die Weltgeschichte selbst.

Es ist ein merkwürdiges Buch, diese „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“. Hell, scharf und klar wie die frühe Wintersonne, aber auch wie diese kalt und nüchtern. Hier ist alles philosophisch-theologische Halbdunkel, das in der Hegel’schen und Schleiermacher’schen Religionsphilosophie noch eine große Rolle spielt, hier sind alle jene webenden Mysterien, die wir nun einmal von einem „Glauben“ schwer trennen können, bis auf wenige Spuren verbannt. Hier muß sich Alles auf seinen „sittlichen“ Gehalt hin legitimiren, um religiösen Werth zu beanspruchen. „Religion ist Erkenntniß aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote.“ Das klingt wie eines jener scharf formalirten Decrete des Tugendfanatikers Maximilian Robespierre’s, der um dieselbe Zeit der Mystik des irdischen Königthums mit dem bunten Gefolge seiner adligen und kirchlichen Würdenträger in Frankreich ein Ende machte. Im Grunde war es der alte Rationalismus, der, durch das Glühfeuer Kantischer Ethik geläutert, hier eine Wiederauferstehung feierte, wie z. B. seine Auffassung der Natur Christi als der Personalification der Idee des „vollkommenen Menschen“ beweist. Das Kantische Werk wird seinen dauernden Werth behalten, da hier die wichtigsten religiösen Probleme auf einer Linie sich bewegen, die in der religiösen Entwickelung der Menschheit zukünftig die richtunggebende sein wird.

Eine ethische Weltanschauung, deren Princip ein Freiheitsbegriff von so unausdenkbarer Hoheit ist, muß diesen ihren großen Charakter auch in ihren Lehren vom Rechts- und Staatsleben bewähren. So entwickelte Kant in der „Metaphysik der Sitten“ eine Rechtsphilosophie, die sich auf den Begriff der Menschenwürde und des unveräußerlichen Menschenrechts stützt und deren Aufgabe darin besteht, die sittliche Freiheit zur Grundlage alles staatlichen und gesellschaftlichen Lebens zu machen. Nach Kant besteht das Princip des Rechts darin, die Freiheit eines Jeden auf die Bedingungen einzuschränken, unter denen sie mit der Freiheit eines jeden Anderen nach einem allgemeinen Gesetze zusammenbestehen kann. Als das höchste Ziel aller staatlichen Entwickelung der Menschheit gilt ihm, wie er in der Abhandlung: „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ (1784) entwickelt, ein internationales Rechtsverhältniß der Staaten, durch welches ausschließlich die gemeinsamen positiven und Culturzwecke des Menschengeschlechts befördert würden. Dieses höchste Ideal gesellschaftlicher Entwickelung, dem ein bekannter deutscher Stratege der Gegenwart nicht einmal den Werth eines „schönen Traumes“ zugestehen möchte, hat Kant in seiner Schrift: „Zum ewigen Frieden“ mit einer bei unseren Philosophen so seltenen Wärme dargelegt, die ihn hierin, wie in manchen staatsphilosophischen Fragen, als einen enthusiastischen Anhänger Jean Jacques Rousseau’s erscheinen läßt. Mit großem Interesse verfolgte Kant die praktische Rechts- und Staatsentwickelung seiner Zeit, und den revolutionären Stürmen jenseits des Rheins schenkte er die gespannteste Aufmerksamkeit. Ob er wohl hier die blutige, praktische Bethätigung seines kategorischen Imperativs ahnte?

Man hat der sittlichen Weltanschauung Kant’s – und gewiß nicht mit Unrecht – eine gewisse herbe Rigorosität vorgeworfen, und selbst ein so überzeugter Anhänger desselben wie Schiller hat Kant’s strenge Abweisung aller wärmeren Gefühlsmomente aus dem Gebiete des Sittlichen durch jene bekannten Distichen persiflirt:

„Gerne dien’ ich den Freunden, doch thu’ ich es leider mit Neigung,
Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin.
Da ist kein anderer Rath’: Du mußt suchen, sie zu verachten,
Und mit Abscheu alsdann thun, wie die Pflicht Dir gebeut.“

Allein diese eiserne Unerbittlichkeit seines ethischen Princips war ja nur durch den Gegensatz der sittlichen Ideen zur Welt der Erscheinungen hervorgerufen. Kant war bestrebt, in seiner philosophischen Weltanschanung harmonische Einheit herzutellen, und er glaubte das Mittel dazu in einer Art der Naturbetrachtung zu finden, welche Natur und Idee, Causalität und Freiheit, Denken und Wollen unter einen höhern gemeinsamen Gesichtspunkt, die Zweckbetrachtung der Welt (Teleologie), bringt. Diese sollte die Versöhnung der Gegensätze in seiner Philosophie herbeiführen. Doch möchte er, indem er das teleologische Princip adoptirt, jeden Versuch abweisen, die Entstehung der natürlichen Dinge, der einzelnen Individuen wie der Gattungen, etwa aus der alleinigen Wirksamkeit eines zweckthätigen Gedankens, einer bewußten, nach einem bestimmten Plane handelnden Intelligenz zu erklären. Andererseits ist er aber auch weit entfernt, die rein ursächliche Erklärung und Betrachtung des Lebens der Natur für die einzige und höchste anzusehen. Die vollkommenste Ausgleichung dieses klaffenden Weltgegensatzes liegt für Kant im Gebiete des Aesthetischen. Die Lehre von der Schönheit war damals in Deutschland noch sehr jung. Um die Mitte des Jahrhunderts von dem Leibnizianer Alexander Baumgarten als besondere philosophische Disziplin begründet, war sie in der ersten Zeit wenig mehr als eine „Lehre von den schönen Künsten“, deren „Regeln“ von Gottsched, Sulzer und Anderen festgestellt wurden.

Erst als die Prüfung der ästhetischen Begriffe durch Anregung englischer Denker auch in Deutschland, insbesondere von Mendelssohn, Garve und Lessing, in Angriff genommen wurde, konnte man von einem wirklichen Fortschritt der jungen Wissenschaft sprechen. Kant hingegen erhob sie zur metaphysischen Höhe, indem er ihr die Rolle einer Versöhnerin seiner Erkenntnißtheorie und seiner Ethik übertrug. Dieses geschah in der „Kritik der Urtheilskraft“, einem Werke, dessen tiefsinniger Inhalt bisher viel zu wenig gewürdigt worden ist, wohl meist, weil die systematische Form eine eigentliche Popularisirung derselben verhinderte. Selbst Schiller’s ästhetische Aufsätze, die ganz in der Kant’schen Anschauung wurzeln, haben jenem Werke, das durch die Einwirkung eben auf Schiller, Wilhelm von Humboldt und Andere von bedeutendem Einfluß auf die nationalliterarische Entwickelung Deutschlands geworden ist, nicht eine größere Leserzahl zugeführt. Aber indem das Schöne als das Symbol des sittlich Guten hier aufgefaßt wurde, war damit die Brücke geschlagen zu jener altgriechischen Anschauung von der Einheit des Guten und Schönen: ein Princip, das für den Geist unserer classischen Literaturepoche bestimmend geworden ist.

Es liegt eine eigenthümliche Ironie darin, daß Kant, der das „Genie“, das heißt die unberechenbare, keinem theoretischen Gesetze unterthane Kraft, aus dem Bereiche des Denkens verweisen wollte, in diesem Werke durch den Begriff des „Genies“, das heißt eines Geistes, der „wie die Natur handelt“, also naiv und unbewußt das Höchste schafft, die Gipfelung und Krönung seines ganzen philosophischen Gebäudes vollzieht. Diese von Kant angeregte und von Anderen vollzogene Verschmelzung des philosophischen und ästhetischen Lebens hat später, am Ausgange des achtzehnten und zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, die deutsche Geistesentwickelung zu einer so idealen Höhe erhoben, daß jene Epoche zu den glänzendsten in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit gehört.

Aber auch auf die eigentliche Philosophie und die positiven Wissenschaften unseres Jahrhunderts war Kant’s Einfluß außerordentlich groß. Nicht nur knüpften sich an seinen „Kriticismus“ einige Schulen an, welche (wie Reinhold, Fries, Bouterwek, Krug und Andere) eine Fortbildung der von ihm gepflanzten Keime anstrebten, sondern auch alle größern selbstständigern Systeme fußen auf Kant’scher Grundlage. Mögen sie nun, wie Fichte, über den transcendentalen Idealismus noch hinausgehen und das „Ich“ zum schöpferischen Princip der Welt machen oder, wie Schelling und Hegel, auf den Pantheismus Giordano Bruno’s und Spinoza’s sich stützen, mögen sie, wie Herbart, Lotze und Andere, Leibniz’sche Elemente wieder aufnehmen oder, wie Schleiermacher, eine Combination Plato’s, Spinoza’s und des Christentums versuchen oder endlich, wie der geistreiche Erneuerer des modernen Pessimismus, Schopenhauer, Anknüpfungspunkte an indischen Buddhismus finden: alle diese Denker nehmen von Kant ihren eigentlichen Ausgang.

In neuester Zeit hat sich in Deutschland, zum Theil im [313]

„Die Wolke steigt – uns wird so wohl;
Verschon’ uns, Bismarck, mit dem Monopol!“

Nach ihrem Gemälde auf Holz gezeichnet von Auguste Ludwig.




bewußten Gegensatz zu diesen genannten speculativen Richtungen und angeregt durch den Aufschwung der Naturwissenschaften, eine neue Kant’sche Schule gebildet, deren Ziel darin besteht, auf der Basis von Kant’s kritischer Erkenntnißlehre die Ergebnisse der exacten Forschung zu einer sichern Weltanschauung zusammenzufassen, und diese noch nicht ganz abgeschlossene Richtung ist jetzt an den deutschen Universitäten die philosophische Tonangeberin.

Ja, sogar der immer mehr Terrain gewinnende Darwinismus ist jetzt bemüht, den historischen Ursprung seiner Theorie mit einem so vollwichtigen Namen wie Kant in Beziehung zu bringen. Wesentlich dieser Wiederbelebung der Kant’schen Philosophie ist es auch zu danken, daß die Eroberungszüge des modernen philosophischen Materialismus jetzt schon auf einen sehr kleinen Bezirk beschränkt sind.

Was Kant durch eine Reihe von Veröffentlichungen zur Erweiterung der einzelnen philosophischen Wissenschaften beigetragen, was er z. B. zur Bereicherung der Logik, der Psychologie, der Naturphilosophie und der philosophischen Rechtslehre beigetragen,

[314] kann hier nicht im Einzelnen dargelegt werden. Wo er nicht neue Wege einschlug, hat er doch durch Schärfe der Beobachtung und Tiefe der Reflexion die betreffenden Wissenschaften mit bedeutsamen Thatsachen vermehrt und durch fruchtbare Gedanken bereichert.

So sehen wir nach Verlauf eines vollen Jahrhunderts die intensive Leuchtkraft dieses Geistes bis in die Gegenwart hinein fortwirken und noch in ferner Zukunft wird Immanuel Kant der wahrheitsuchenden Menschheit ein Führer und eine Leuchte sein:

„Es kann die Spur von seinen Erdentagen
Nicht in Aeonen untergehn.“




Erdbeben und ihre Ursachen.

Nachdem vor kurzer Zeit Agram von einer verheerenden Erderschütterung heimgesucht, Casamicciola aus Ischia von einer solchen fast gänzlich zerstört worden,[2] dürften die nachfolgenden Betrachtungen über Ursachen und Wesen dieser unheimlichsten aller Naturerscheinungen (vergl. „Gartenlaube“ 1868, Nr. 42) den Lesern der „Gartenlaube“ nicht unwillkommen sein. Die beiden angeführten Katastrophen liefern Beispiele für die in ihren Ursachen und Wirkungen gänzlich verschiedenen Hauptgruppen der Erdbeben-Erscheinungen: die einen stehen mit dem Vulcanismus in unmittelbarem Zusammenhange; die andern finden in der Rindenrunzelung unseres Planeten, die durch die Abkühlung und Contraction des Erdinnern bedingt wird, ihre Ursache. Eine dritte und weitaus unbedeutendere Gruppe stellen die Einsturzbeben dar, welche auf Höhlendistricte beschränkt sind, wie sie z. B. der Karst der österreichischen Küstenländer umfaßt. Diese Einsturzerscheinungen werden verursacht durch die unterirdischen Auswaschungsvorgänge im Kalkgebirge, welche allmählich so große Hohlräume erzeugen, daß endlich die Decke zuweit gespannt ist, um die Last zu tragen, und Einstürze die unausweichliche Folge sind; sie sind zumeist nur mit einem ziemlich unbedeutenden Erzittern des nächstgelegenen Terrains verknüpft, während die Schallwirkung viel stärker hervortritt. Man spricht daher von einem Schallphänomen auf der Insel Meleda (1820), von einem solchen des Monte Tomatico bei Feltre (1859); man nennt diese Katastrophen nicht Erdbeben, da die Erschütterung des Bodens nur eine unbedeutende und locale war.

Wenden wir uns zur Betrachtung der viel häufigeren und verderblicheren vulcanischen Erdbeben! Sie gehen stets von einer bestimmten Stelle, dem Schlote eines thätigen oder anscheinend erloschenen Feuerberges, aus. Immer verbreiten sich die Stöße von diesem Centrum aus in radialer Richtung, und stets wird die unmittelbare Umgebung des Vulcans am stärksten betroffen. Die Wirkung ist die einer zu tief gelegten Mine; sie trägt in entschiedener Weise den Explosionscharakter, und es entspricht derselbe auch vollständig den Ursachen, die den vulcanischen Erdbeben zu Grunde liegen. Der Vulcanismus, eine allgemein verbreitete kosmische Erscheinung, beruht nämlich auf dem Ausspratzen der Gase, welche die ungeheuer heiße Materie der Weltkörper absorbirt enthält und bei der Abkühlung ausstößt. In riesigem Maßstabe geht diese Erscheinung, wie die Protuberanzen (Lichterhöhung, vergl. „Gartenlaube“ 1868. S. 570 u. 571) uns lehren, an dem Gluthballe der Sonne vor sich; die Oberfläche des Mondes bietet uns in zahllosen ausgeplatzten Blasen das Bild der Wirkung kolossaler vulcanischer Vorgänge, die an dem Trabanten unserer Erde eben wegen seines kleineren Umfanges um so rascher und vehementer sich abspielen mußten, je schneller die Abkühlung erfolgte. Auf unserer Erde, die in mancher Beziehung die Mitte zwischen der im Jugendzustand befindlichen, glühenden Sonne und dem längst gealterten und erkalteten Mond darstellt, trägt der Vulcanismus eine andere Gestalt. Die gewaltige Erstarrungsrinde verfestigt durch ihren Druck das Erdinnere, welches nur dort in vulcanische Erscheinungen sich Luft machen kann, wo die Rinde einen Bruch, einen Spalt aufweist. Solche entstehen jedoch durch die allmähliche Contraction des Erdinnern in Folge der Abkühlung. Die starke Rinde kann dem schrumpfenden Kern nicht folgen; sie wird gezwungen, sich in Falten zu legen, und bricht an vielen Stellen. An diesen erfahren die heißen und von Flüssigkeit durchtränkten Massen der Tiefe Befreiung von dem Drucke der lastenden Schichten; sie quellen auf und gelangen zur Eruption, welche im wesentlichen als ein Abkühlungsvorgang aufgefaßt werden muß. Durch das Ausstoßen der überhitzten Dämpfe zumal wird eine so beträchtliche Abkühlung der aufquellenden, glühend flüssigen Gesteinsmasse herbeigeführt, daß nach Auswurf einer größeren Menge ergossener oder zerstäubter Lava das Erstarren der noch im Schlote befindlichen herbeigeführt wird. Damit ist der frühere Zustand wieder hergestellt, das Ventil geschlossen und der Druck der Rinde besiegt abermals die Kräfte der Tiefe.

An zahlreichen Vulcanen beobachten wir von Zeit zu Zeit gewaltige Ausbrüche, welche wohl dadurch vorbereitet werden, daß der Erstarrungspfropf, der nach der letzten Eruption den Schlot geschlossen hat, von der inneren Gluth abermals geschmolzen wird. Dann erfolgt eine neue Betätigung der vulcanischen Kraft, bei welcher die Spannkraft der entweichenden Dämpfe abermals die Hauptrolle spielt. Jedem großen Ausbruche pflegen Erderschütterungen voranzugehen; sie scheinen allmählich aus geringerer Tiefe zu kommen und nehmen an Stärke zu, bis der Moment der Eruption eintritt. In diesem wird der Rest des erstarrten Pfropfes, welche im Grunde des Kraters zurückblieb, in die Luft geschleudert; das Ventil ist geöffnet; gewaltige Dampfmassen werden explosionsartig ausgestoßen; ein Theil der im Schlote empor brausenden Lava wird zerstäubt und fällt als Aschen- und Schlackenregen auf den Flanken des Berges nieder, während der weniger von Flüssigkeit durchtränkte nun bereits etwas abgekühlte Rest als Strom abfließt, wenn es überhaupt zur Hervorbringung eines Lavastromes kommt. Die Erderschütterungen aber, welche vor der Eruption die Umgebung des Feuerberges heimsuchten, haben in dem Momente aufgehört, in welchem die Eruption ihren Höhepunkt erreicht hat; sie erneuern sich jedoch zuweilen während des Ausbruches, wenn eine zeitweilige Verstopfung des vulcanischen Schlotes eintritt. Nur in beschränktem Sinne könnte man daher die Vulcane mit den Sicherheitsventilen unserer Dampfkessel vergleichen, da sie nur sehr unvollkommen die Function derselben zu erfüllen im Stande sind.

Fast überflüssig scheint es mir, Belege dafür anzuführen, daß großen Ausbrüchen eine längere oder kürzere Phase von Erdbeben vorauszugehen pflegt. Die Geschichte des Vesuv liefert hierfür zahlreiche Beispiele; so wurde, um nur eines derselben anzuführen, Pompeji wenige Jahre vor dem großen Ausbruche, welcher der Stadt den Untergang brachte, durch Erderschütterungen arg beschädigt.

Der Eruption, welche 1538 binnen wenigen Tagen den Monte Nuovo aus der phlegräischen Feldern (in der Nähe von Neapel) entstehen ließ, gingen langanhaltende Erdbeben voran, welche in der letzten Zeit vor dem Ausbruche furchtbare Stärke erlangten. Diese Erschütterungen, so furchtbar sie auch sein mögen, sind stets von localem Charakter, entsprechend ihrer Ursache. Das beweist auch Casomicciola auf Ischia, das am 4. März dieses Jahres, wie bereits gesagt, durch eine Erderschütterung fast vollständig zerstört wurde, während das Beben an anderen Stellen der Insel viel schwächer, in Neapel aber fast gar nicht verspürt wurde.

Ischia ist seit alter Zeit durch seinen vulcanischen Charakter berühmt; denn Plinius zählt die Insel unter jenen auf, die aus dem Meere empor gestiegen seien, und berichtet von zahlreichen vulcanischen Vorgängen, deren Schauplatz sie war. Auch Virgil meint, daß unter ihr, die er fälschlich „Inarime“ nennt, Typhoeus von Zeus begraben worden sei – jener Typhoeus, dessen Besiegung von Hesiod in solcher Weise erzählt wird, daß der lebendigen Schilderung ein großer vulcanischer Ausbruch zu Grunde zu liegen scheint. Vor wenigen Jahrhunderten hat Ischia einen weiteren Beweis der nicht erloschenen vulcanischen Kraft gegeben, als der große, „Arso“ genannte Lavastrom den Flanken des Epomeo entquoll und, reich cultivirtes Land verheerend, bis zum Meere sich hinabwälzte. Wünschen wir, daß die neuesten Erdstöße aus Ischia nicht den Beginn einer neuen Phase vulcanischer Thätigkeit darstellen! Die Möglichkeit einer solchen liegt nach dem geologischen Bau Ischia’s nahe.

Auch in anderen Fällen haben sich vulcanische Erschütterungen nicht auf größere Entfernungen von ihrem Ausgangspunkte fühlbar [315] gemacht; im schärfsten Gegensatze zu jenen Erdbeben, die mit den Faltungs- und Störungsvorgängen in der Rinde des Planeten in directem Zusammenhange zu stehen scheinen.

Diese häufigsten und verbreitetsten Erdbeben, die oft nur als unbedeutende und locale Erschütterungen sich bemerkbar machen, bisweilen aber sehr große Theile der Erdoberfläche umfassen und die entsetzlichsten Verheerungen anrichten, gehen nie von einem vereinzelten Punkte aus, sondern stets von einer Linie. Schon dieses Verhältniß bedingt eine scharfe Unterscheidung der vulcanischen Erdbeben, deren Herd immer ein thätiger oder erloschener Schlot ist, und dieser an „Stoßlinien“ gebundenen Erschütterungen, welche man „tektonische“, Structur“- und „Stauungsbeben“ genannt hat, weil sie ihre Ursache in der Aenderung im Aufbaue, in der Faltung und Stauung der Erdrinde finden.

Diese Beben ereignen sich vorzugsweise in Kettengebirgen, und zwar entweder auf Stoßlinien, welche der Richtung der Ketten, dem „Streichen“ des Gebirges entsprechen (Längs- oder Longitudinalbeben), oder aber auf solchen, welche senkrecht zu dem Streichen des Gebirges stehen (Quer- oder Transversalbeben).

Die gewaltigen Erdbeben, die an der westlichen Küste Südamerikas in enormer Ausdehnung auftreten, hängen keineswegs mit dem an jener Küste ebenfalls im größten Maßstabe sich bethätigenden Vulcanismus zusammen, der nur eine secundäre Folge der Störungen im Bau der Rinde ist, sondern direct mit dem Brechen und Spaltenwerfen derselben.

Wenn wir hören, daß bei dem großen Erdbeben vom 24. Mai 1750 der Hafen von Concepcion trocken gelegt wurde und in Folge des Bebens an der ganzen chilenischen Küste die Muschelbänke etwa 4 Fuß über dem Meere abstarben, so dürfen wir diese Verschiebung des Meeresniveaus wohl nicht auf eine durch vulcanische Kraft bewirkte Hebung des Landes zurückführen – denn eine solche ist nach den heutigen Anschauungen der Geologie in dieser Ausdehnung unmöglich – sondern nur auf die plötzliche Ausgleichung einer Spannung in der Erdrinde, hervorgerufen durch die allmähliche Contraction des Erdkernes, welcher die starre Rinde nur ruckweise und unter jenen Erscheinungen, die wir als Erdbeben empfinden, zu folgen vermag. Das Gebiet des Stillen Oceans ist allmählich gesunken; wir erkennen es vornehmlich durch die geistvolle Theorie Darwin’s, nach welcher die Korallen-Inseln der Südsee durch langsames Sinken des Untergrundes und dem entsprechendes Fortbauen nach oben entstanden sind.

Doch kehren wir zurück zu Gebieten, die uns näher liegen! In dem Kettengebirge der Alpen sind Erdbeben eine ungemein häufige Erscheinung. In den Jahren 1850 bis 1857 wurden in den Alpen nicht weniger als 1086 Erdbeben verzeichnet, von welchen wegen mangelhafter Beobachtung nur 81 auf die Ostalpen kommen, sodaß die genannte Zahl vielleicht um die Hälfte hinter der Wirklichkeit zurückbleibt. Wenn auch alle Theile der Alpen häufige Erschütterungen aufweisen, so sind doch jene südalpinen Gebiete, welche in weitem Bogen das adriatische Meer und die oberitalienische Ebene umspannen, Schauplatz der häufigsten und intensivsten Erdbeben. Schon die geographische Lage der von dem Kettengebirge abhängigen Schütterzonen zwingt uns zu der Annahme, daß die in Kettengebirgen so häufigen Erdbeben mit der Entstehungsursache derselben im engsten Zusammenhange stehen. Es sei gestattet, für die oben angeführten beiden Kategorien der Longitudinal- und Transversalbeben einige Beispiele anzuführen. Der ersten Gruppe können wir zuzählen das Erdbeben von Klana im österreichischen Küstenlande (1870); das erzgebirgische Beben vom 23. November 1875 und in gewissem Sinne die calabrischen (peripherischen) Erdbeben von 1783. Als Transversal- oder Querbeben haben wir zu bezeichnen jenes von Belluno (1873), jenes von Agram (9. November 1880) und jenes furchtbare Erdbeben von 1348, welches Villach und Udine zerstörte. Ich will als Beispiel für die lineare Verbreitung jener Erdbeben, die mit der Gebirgsbildung zusammenhängen, in Kurzem die Wirkungen des letzterwähnten Erdbebens aufzählen. In Venedig wurde der Canal grande trocken gelegt und viele Paläste umgestürzt, in Friaul mehr als vierzig Schlösser und feste Plätze zerstört; besonders litten die Städte Udine, Tolmezzo, Gemona, Venzone etc. Villach wurde fast gänzlich zerstört, da Feuer die Verheerungen des Erdbebens vervollständigte. Das entsetzlichste Ereigniß aber war der Einsturz des südlichen Theiles des Dobratsch, durch welchen zwei Märkte und siebenzehn Dörfer theils von dem Bergsturz begraben, theils vom Flusse überschwemmt wurden – vom Gailflusse nämlich, der zu einem See gestaut wurde, bis er sich mühsam durch die „Schütt“ Bahn brach. Noch heute aber sumpft das Thal aus dieser Ursache. In ähnlicher Weise läßt sich bei allen übrigen angeführten Erdbeben eine mehr oder minder lange Stoßlinie nachweisen.

Von besonderer Bedeutung erscheint ferner der Umstand, daß ein und dieselbe Linie stets wiederholt zum Erdbebenherde wird, und daß dieselben Orte im Laufe von Jahrhunderten wiederholt zerstört oder doch von schwächeren Erschütterungen heimgesucht werden. So wurde Agram seit dem 26. März 1502, an welchem Tage es unter einer zerstörenden Erschütterung zu leiden hatte, die etwa dieselbe Intensität hatte, wie jene vom 9. November 1880, bis zu unseren Tagen von häufigen Erdbeben (Professor Kispatič zählt in der „Agramer Zeitung“ im gedachten Zeitraume deren vierzig auf) betroffen. Bei Transversalbeben zählen die Stöße, welche dem Hauptstoße folgen nach Hunderten, und eine solche Schütterphase dauert eine Reihe von Monaten.

In Agram zählte man vor Kurzem den dreihundertsten Stoß seit jenem vom Morgen des 9. November; in Velluno ereigneten sich ebenfalls nach dem Hauptstoß vom 29. Juni 1873 einige Hundert Stöße, welche bis in’s Jahr 1874 andauerten. Auch bei diesen Querbeben ist der Hauptangriffspunkt der seismischen Kraft immer derselbe, wenn er auch auf derselben Stoßlinie gelegen ist. Noch deutlicher aber spricht sich das „Wandern der Stoßpunkte“ bei den longitudinalen oder peripherischen Beben aus.

Sueß hat bei Besprechung der Erdbeben Süditaliens zuerst dieses Wandern und Zurückspringen der Stoßpunkte auf einer peripherischen Linie gezeigt. Insbesondere bei dem furchtbaren Erdbeben von 1783, welches Tausenden den Untergang brachte, wanderten durch Monate die Ausgangspunkte zerstörender Stöße auf der die Senkung des Tyrrhener Meeres begleitenden calabrischen Schütterzone. Ein ganz ähnliches Wandern und zeitweises Zurückspringen der Stoßpunkte zeigt das Erdbeben von Klana.

Solche Erscheinungen sprechen entschieden dafür, in derartigen Erdbeben die unmittelbare Folgewirkung von Bewegungen in der Erdrinde zu suchen. Eine longitudinale Erschütterung entspricht der Entstehung eines Sprunges in der Richtung jener langen Falten, welche die Erdrinde aufwirft und welche wir Gebirgsketten nennen. Solche Brüche entstehen nicht auf einmal in ihrer ganzen Länge; sie werden auch wiederholt dadurch aufgerissen, daß die Bewegung auf der einen Seite der Bruchlinie eine andere, vielleicht geradezu entgegengesetzte ist, als auf der anderen. Diese Bewegungen aber sind stets mit Erderschütterungen an der Schütterzone verbunden, welche also einem großen Längsbruche oder einem System von mehreren Brüchen entspricht. Das Wandern oder Zurückspringen der Stoßpunkte wird so leicht erklärlich. Anders verhält sich die Sache bei den Transversalbeben; sie werden hervorgerufen durch die zeitliche Verschiebung einzelner Schollen der Erdrinde, die man in vielen Fällen auch im geologischen Bau des Gebirges nachzuweisen im Stande ist.

Die genaue Untersuchung der Erdbebenerscheinungen giebt uns Mittel an die Hand, diese Behauptung zu prüfen. Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Erdbeben hat Maltet anläßlich des großen Erdbebens von Calabrien 1857 näher untersucht. Die Erdbebenwelle hatte damals eine Geschwindigkeit von 305 Meter in der Secunde. Es kann die Schnelligkeit der wellenförmigen Fortpflanzung eines Erdstoßes jedoch, je nach der Beschaffenheit des Gesteins, auf 150 Meter herabsinken, aber auch bis 800 Meter per Secunde erreichen. Durchschnittlich können wir annehmen, daß Erdbebenwellen ungefähr mit gleicher Schnelligkeit in der Erdrinde sich bewegen, wie Schallwellen in der Luft (340 Meter).

Daß diese Erdbeben in Vorgängen in der äußeren Rinde unseres Planeten ihre Ursache finden, lehren ferner jene Berechnungen, welche Maltet, von Seebach und von Lassaulx mit großem Erfolg auf die Stoßstärken, die Zeitbestimmungen über den Eintritt des Stoßes an verschiedenen Punkten und die Stoßrichtungen gründeten, nur den Ursprungsort für verschiedene Erdbeben zu bestimmen. Es würde zu weit führen, die complicirten Methoden solcher Berechnungen zu erörtern. Es sei nur angeführt, daß die muthmaßliche Tiefe des Herdes für das calabrische Erdbeben von 1857 mit 10,667 Meter = 1½ geographischer Meile, für jene, von Herzogenrath bei Aachen 1873 mit 11,130 Meter, für jenes von Gera 1872 mit 17,956 Meter oder 2,4 Meile, für das Erdbeben von Sillein in den Karpathen 1858 mit 26,266 Meter und [316] endlich für das rheinische Erdbeben von 1846 mit 38,806 Meter gefunden wurde.

Es kann hier nicht die Aufgabe sein, eingehend den ganzen Beobachtungsapparat der heutigen Erdbebenkunde zu erklären. Nur die Beeinflussung der wellenförmigen Fortpflanzung der Erdbeben durch die Beschaffenheit des leitenden Mediums sei noch kurz in’s Auge gefaßt. In einiger Entfernung vom Herde wird der Stoß in Folge der ungleichförmigen Fortpflanzung stets mehr oder minder abgelenkt, oft in zwei, drei und mehr Wellen getheilt, welche in ungleichen Zeiträumen, in ungleicher Richtung und in ungleicher Stärke an einzelnen Orten anlangen. Ursache hiervon ist ein Umstand, der bei Gelegenheit des Agramer Bebens sehr gut beobachtet werden konnte. Nur in den obersten Schichten der Erdrinde findet die Fortpflanzung der Erdbebenwellen statt. In den verhältnißmäßig nicht sehr tiefen Braunkohlen-Bergwerken der Steiermark wurde der Stoß vom 9. November gar nicht verspürt, und zwar schon in einer Tiefe von 40 bis 50 Meter, während an der Oberfläche oder in sehr geringer Tiefe der Grube die Erschütterung eine sehr heftige war. Daß unter solchen Verhältnissen die Oberflächengestaltung und Wechsel in der Gesteinsbeschaffenheit von dem größten Einfluß auf die oben erwähnten Factoren sein müssen, ist klar. Die Wirkungen solcher Erdbeben sind in den obersten Schichten am heftigsten. Liegt z. B., sagt von Hochstetter, auf festem Fels eine dünne Schicht oder Anschüttungsmasse, so bewegt sich diese fast wie Sand auf einem Resonanzboden.

Eine furchtbare Folge der Erdbeben an Meeresküsten sind jene ungeheuren Fluthbewegungen, welche z. B. 1755 mit dem Beben von Lissabon, 1868 mit jenem von Arica, 1877 mit jenem von Iquique verbunden waren. Bei dem Erdbeben von Lissabon hat wohl der größte Theil der 60,000 Verunglückten den Tod durch die mit furchtbarer Gewalt über das Land hereinbrechenden Meereswogen gefunden. Wie wenn man an den Rand einer mit Wasser gefüllten Schüssel stößt, hat sich damals die Erschütterung in Wellenbewegungen des Atlantischen Oceans bis zu den westindischen Inseln fortgepflanzt; noch großartiger war die Erdbebenfluth, die am 13. August 1868 von Arica ausging, den Stillen Ocean in Bewegung setzte und nach 22 bis 24 Stunden an den Küsten Australiens und Japans anlangte.

Es sei schließlich gestattet, mit wenigen Worten jener Meinungen zu gedenken, welche man aus der Statistik der Erdbeben abgeleitet hat. Man vermuthete eine gewisse Abhängigkeit der Erdbeben von den Tages- und Jahreszeiten und insbesondere von den Mondphasen. Perrey hat durch statistische Zusammenstellung erweisen wollen, daß die meisten Erdbeben zur Zeit des Voll- und Neumondes stattfinden, so zwar, daß seine Theorie, nach welcher die Erdbeben durch eine Art Ebbe und Fluth eines glühend flüssigen Erdinnern erzeugt werden, große Wahrscheinlichkeit für sich hätte, allein der von ihm berechnete Ueberschuß ist viel zu gering, um in diesem Sinne gedeutet zu werden. Dasselbe gilt von jener Modification, welche die Perrey’sche Fluththeorie durch Falb erfahren hat. Es erscheint mir überflüssig, an dieser Stelle auf dieselbe näher einzugehen; ich beschränke mich darauf, das Urtheil, welches Hochstetter über diese Theorie fällt, anzuführen. Es lautet dahin: daß die exacte Wissenschaft Theorien ablehnt, welche ausschließlich auf unerwiesenen Hypothesen beruhen, und daß es nicht der Weg der Deduction, sondern jener der Induction ist, auf welchem die Naturwissenschaft nach Wahrheit forscht.

R. Hoernes.




Der Friedensschluß zu Frankfurt am Main am 10. Mai 1871.
Zu dessen zehntem Gedenktage.

Am 18. Januar dieses Jahres beging das deutsche Volk mit lautem Jubel die zehnte Wiederkehr des großen Tages, wo das neue deutsche Reich aufgerichtet und König Wilhelm der Erste zum deutschen Kaiser proclamirt worden war. Als jenes erhebende Ereigniß stattfand, war der gewaltige Kampf, den Deutschland mit Frankreich 1870 bis 1871 kämpfte, so gut wie beendet; unsere siegreichen Truppen hielten damals Paris mit eisernem Ringe umschlossen und sandten tödtliche Geschosse mitten in die feindliche Stadt hinein; nur wenige Tage darauf war sie gezwungen, zu capituliren. Die Feierlichkeit der Proclamirung des neuen deutschen Kaiserthums fand in den Prunkgemächern eben jenes Schlosses von Versailles statt, von wo einst unter Ludwig dem Vierzehnten so viele diplomatische Intriguen, so viele militärische Handstreiche gegen das alte deutsche Reich ausgegangen waren. War einstmals die Macht und der Uebermuth dieses ehrgeizigen und eroberungssüchtigen Fürsten wesentlich ermuthigt und gleichsam legitimirt worden durch die Ohnmacht und innere Zerrissenheit Deutschlands, so erschien jetzt diese in dem Schlosse von Versailles vollzogene Ceremonie der Aufrichtung eines neuen, kräftigen deutschen Kaiserthums als die feierliche Besiegelung sowohl der inneren Einigkeit Deutschlands, wie der dadurch verbürgten Uebermacht nach außen. Daß diese Uebermacht nicht in ähnlicher Weise zum Werkzeuge persönlichen oder nationalen Ehrgeizes gemißbraucht werde, wie das mit der vormaligen Uebermacht Frankreichs so oft und allemal vorzugsweise auf Kosten Deutschlands geschehen, dafür bürgen jene Worte, die bei Uebernahme der neuen Kaiserwürde der ruhmgekrönte König Wilhelm in dem Momente des zweifellosesten Sieges sprach:

„Uns und unsern Nachfolgern an der Kaiserkrone wolle Gott verleihen, allzeit Mehrer des Reichs zu sein, nicht in kriegerischen Eroberungen, sondern in den Werken des Friedens, auf dem Gebiete nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung.“

In eben diesem Geiste der Besonnenheit und Mäßigung, fern von jenem Rausche der Setbstüberhebung, den das französische Volk und seine Beherrscher uns gegenüber so oft gezeigt, wurden deutscherseits auch die Friedensverhandlungen geführt, die nach monatelangen Berathungen am 10. Mai in Frankfurt am Main zum Abschluß gelangten.

Zwar klagten die Besiegten laut über die Härte des Siegers, der die „Unantastbarkeit“ des „heiligen Frankreich“ nicht respectire; zwar suchte Herr Thiers auf seiner Rundreise durch Europa alle Großmächte aufzurufen gegen die angeblich unerhörten Forderungen Deutschlands; zwar ließen er und Herr Jules Favre es bei den Friedensverhandlungen an elegischen Schmerzens- und Verzweiflungsausbrüchen nicht fehlen; allein [[[Otto von Bismarck|Bismarck]], „der eiserne Graf“, blieb unerbittlich; ruhig, aber fest forderte er das, was für Deutschlands Sicherheit gegenüber Frankreich unerläßlich war, nicht mehr, aber auch nicht weniger; er forderte das, was uns schon 1815 hätte zu Theil werden müssen, wenn nicht die Eifersucht unserer Bundesgenossen und die Uneinigkeit Deutschlands damals uns darum gebracht hätte; er forderte das, was ehemals unser war und nur auf die schnödeste Weise, durch Verrath, Hinterlist und Gewaltthat, uns entrissen wurde. Sind es doch in wenigen Monden zweihundert Jahre, daß die Perle Deutschlands, daß der werthvollste Schutz des Reiches nach Westen, Straßburg, von dem einst Karl der Fünfte gesagt: „Wenn Wien und Straßburg gleichzeitig in Gefahr wären, ich würde zuerst eilen, Straßburg zu retten“ – daß diese Stadt mitten im Frieden, gegen alle Verträge, dem deutschen Reiche von Ludwig dem Vierzehnten entrissen wurde.

Und was will diese Zurücknahme zweier uns geraubten Provinzen – alles in allem 264 Quadratmeilen mit 1,550,000 Einwohnern – nach einem von der Gegenseite mit so frevelhaftem Muthwillen uns aufgedrungenen, von uns mit einem so ungeheueren Einsatz von Gut und Blut geführten und mit so glänzenden Erfolgen gekrönten Kriege – was will sie bedeuten gegen die maßlosen Ausbeutungen und Beraubungen, welche französische Herrscher sich gegen uns erlaubt haben, gegen jene Milliarden, die Napoleon der Erste in Form von Contributionen u. dergl. m. aus Deutschland gezogen, gegen die 4,256 Quadratmeilen und die circa 11 Millionen Einwohner, nur welche er Oesterreich, die 2,693 Quadratmeilen und 4,805,000 Einwohner, um welche er Preußen verkleinert, gegen die abermals tausende von Quadratmeilen und Millionen von Einwohnern, die er außerdem noch in brutalster Weise aus dem Körper Deutschlands herausgeschnitten und sich oder seinen Verwandten angeeignet hat? Was wollen dagegen diese Abtretungen Frankreichs – noch dazu bloße Rückabtretungen – sagen, die ihrem Gebietsumfange nach nicht ganz so groß, ihrer Einwohnerzahl nach noch nicht halb so groß sind, wie das kleine Königreich Sachsen?

[317]

Kathedrale in Metz. Münster zu Strassburg. Vendôme-Säule (gestürzt) in Paris. Das Nationaldenkmal a. d. Niederwald. Sieges-Säule in Berlin. Einzug d. Deutschen i. Paris a. 1. März 1871. Hotel zum Schwan in Frankfurt a. M. Einzug in Berlin am 16. Juni 1871.

Zur Erinnerung an den 10. Mai 1871.
Originalzeichnung von H. Heubner.

[318] Für uns allerdings sind diese 264 Quadratmeilen mit ihrer Vogesengrenze und mit den beiden starken Festungen Straßburg und Metz von unschätzbarem Werthe, nicht zu Zwecken der Eroberung und Vergrößerung auf Kosten unseres westlichen Nachbars, wohl aber zur sicheren Abwehr derartiger Gelüste von Seiten jenes so leicht erregbaren und so ehrgeizigen Volkes.

Treffend sagte schon bei den Friedensverhandlungen von 1815 der preußische General von Knesebeck in einer Denkschrift zur elsässischen Frage: durch das immer weitere Vorrücken und durch die Gewinnung immer günstigerer strategischer Positionen gegen Deutschland hin seien die Franzosen daran gewöhnt worden, die fortschreitende Ausdehnung ihres Gebiets und ihrer Macht nach Osten als etwas Natürliches und Selbstverständliches zu betrachten. Sie würden, setzte Knesebeck hinzu, ihr Gelüste nach dem linken Ufer des Mittel- und Unterrheins nicht eher verlernen, als bis auch der Oberrhein ihren Blicken für immer entzogen sei und statt des leicht überschreitbaren Flusses ein wohlbefestigter Gebirgskamm ihren Horizont gegen Osten begrenze.

Und hoch bedeutungsvoll war der Wink, welchen ebendamals mit anerkennenswerther Offenheit ein süddeutscher Fürst, der spätere König Wilhelm der Erste von Württemberg, hinsichtlich der Lage Süddeutschlands gab.

Die süddeutschen Staaten, sagte er, könnten, gleichsam unter den Kanonen der französischen Festung Straßburg liegend, kaum anders als sich mit Frankreich möglichst gut stellen; ihre eigene Sicherheit gebiete ihnen das; ihre Zugehörigkeit zu Deutschland werde daher so lange niemals eine ganz zuverlässige sein, als nicht Straßburg aus einem französischen Ausfallthor gegen Deutschland, speciell Süddeutschland, in eine Schutzwehr dieses letzteren gegen einen französischen Angriff verwandelt sein werde.

Der patriotische Sinn Süddeutschlands hat im letzten Kriege mit Frankreich uns vor der Schmach eines neuen Rheinbundes bewahrt, und die fabelhafte Schnelligkeit, mit der unsere kriegsbereiten Heere nicht blos die süddeutsche Grenze gegen Frankreich deckten, sondern auch bald genug in Feindesland ein- und, von Sieg zu Sieg, darin vorrückten, hat diesen Ländern selbst eine Wiederholung der Scenen erspart, deren Schauplatz sie so oft, wie in den Zeiten Ludwig’s des Vierzehnten, so wiederum in den Feldzügen der ersten Jahre dieses Jahrhunderts, gewesen sind. Aber um weder ihre Treue so harten Proben, noch ihre Sicherheit so schweren Gefahren auszusetzen, um auch das französische Volk des Gedankens an das „linke Rheinufer“ gründlich zu entwöhnen, mußte das Ausfallthor Straßburg ihm entrissen, mußte die deutsche Grenze vom Rhein vorgeschoben werden bis zur Mosel und zu den Vogesen.

Mit dieser Verstärkung unserer militärischen Grenze gen Westen und mit der gleichzeitigen festeren Einigung Deutschlands im Innern – der schönen Doppelfrucht des Jahres 1871 – aber ist nicht blos die Sicherheit Deutschlands nach außen gewahrt und die Gefahr einer abermaligen feindlichen Gegenüberstellung von Nord und Süd (durch Hereintreibung eines fremden Keils zwischen beide von außen her) abgewendet, sondern es ist damit auch – zum Heil des Gleichgewichts und des Friedens Europas – der Schwerpunkt der europäischen Politik dahin gelegt, wohin er naturgemäß gehört, in das seinem Naturell nach friedliebende germanische Volk, in das seinen ganzen Einrichtungen und seiner bundesstaatlichen Gestaltung nach für eine offensive Politik durchaus nicht angelegte deutsche Reich.

Deutschland wird, je gesicherter gegen jeden Angriff von außen her es ist, um so weniger ohne Noth oder muthwillig der angreifende Theil sein. Ja es wird nicht für sich allein und von sich aus den Frieden, so weit es nur immer kann, aufrecht erhalten, sondern es wird auch ein starker Hort und ein aufmerksamer Wächter des allgemeinen Friedens sein. Fern von der Anmaßung, als „Schiedsrichter Europas“ eine überragende Rolle zu spielen, wird es nur um so sicherer dieses ehrenvolle Amt sich durch das Vertrauen der andern Mächte entgegengebracht sehen, wie das bereits die Erfahrung dieser ersten zehn Jahre bekundet. Achtunggebietend durch seine ruhige Kraft, wie durch seine Uneigennützigkeit und Mäßigung, wird es den Schwachen ein willkommener Schutz und Rückhalt und selbst dem Stärksten ein gefürchteter Gegner sein.

Und je mehr sich jenes schöne Kaiserwort erfüllt, nach welchem der Kaiser ein „Mehrer des Reichs“ sein soll „nicht in kriegerischen Eroberungen, sondern in Werken des Friedens, auf dem Gebiete nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung“, je befriedigter im Innern unser Volk im Genusse gesetzlich verbürgter Freiheit, je vorgeschrittener in jeder Art edler Bildung und soliden Wohlstandes es sein wird, desto gewisser wird das deutsche Reich nach außen in immer steigendem Maße das Vertrauen und die Achtung aller Nationen gewinnen und sich bewahren; wird Deutschland immerfort, auch ohne sich dessen anzumaßen, den ersten Rang unter den Völkern Europas einnehmen.

Karl Biedermann.




Vernünftige Gedanken einer Hausmutter.[3]
Von C. Michael.
14. Ich bin glücklich.

„Er hat Glück,“ sagt man wohl von Dem oder Jenem; seltener schon wird man von einem Menschen sagen hören: „Er ist glücklich,“ und noch viel seltener wird Jemand – im ruhigen Gange des alltäglichen Lebens – von sich selbst behaupten: „Ich bin glücklich.“

Und doch – die „Vernünftige Hausmutter“ der „Gartenlaube“ wagt es, dieses vermessene Wort zu sprechen, und wenn ihr erst verstehen werdet, wie ich es meine, wird’s euch so gar übermüthig nicht mehr klingen.

In meinem ganzen Leben habe ich noch nie einen Menschen angetroffen, mit dem zu tauschen es mich gelüstet hätte; muß ich also nicht so glücklich sein, wie man es unter den Verhältnissen unseres Erdenlebens nur wünschen und verlangen kann? Ihr glaubt gewiß, ich habe kürzlich einen Haupttreffer in der Lotterie gemacht oder ich sei eine junge Frau in den Flitterwochen? Nichts von alledem! Ja nicht einmal die häufigste Art des Erdenglückes, das Ringen und Streben nach solchen Zielen, ist mein Antheil; ich suche und ersehne kein Glück, weil ich es schon fest und sicher in meiner Hand halte, und es stets darin gehalten habe, so lange ich denken kann.

Dieses mein „Glück“, von dessen reicher Fülle ich so gern allen Unbefriedigten austheilen möchte, ist kein zufälliges Geschenk des Schicksals, keine günstige Verkettung äußerer Umstände; es ist einfach eine Eigenschaft, und zwar eine mir anerzogene, angelernte Eigenschaft, die ebenso fest sitzt, wie etwa die Wahrheitsliebe oder sonst eine der gewöhnlichsten, unserer Seele anerzogenen Eigenschaften. Meine Mutter hat mich von klein auf daran gewöhnt, glücklich zu sein – und darum bin ich es.

Wohl hat es viele Tage in meinem Leben gegeben, die traurig waren bis zum Sterben, andere, die mich völlig rathlos fanden, unglücklich aber bin ich niemals gewesen, und fast glaube ich, ebenso leicht könnte ich lügen und stehlen wie mich unglücklich fühlen.

Noch bis vor einem Jahrzehnt war das freilich keine Kunst für mich; der Himmel hatte mir Alles beschert, dessen ein Frauenleben bedarf, um „glücklich“ genannt zu werden. Mit Wehmuth denke ich jenes Christabends, an dem mir mein Gatte Leopold Schefer’s „Laienbrevier“ bescherte und ich, neugierig zuerst meinen Geburtstag aufschlagend, für diesen Tag folgende Verse verzeichnet fand:

„Wer schon des Lebens beste Güter hat,
Begehre nicht die kleinen auch zugleich!
Im Großen und im Ganzen segnet ihn
Sein Gott, und: macht die Sonn’ ihm hellen Tag,
Was soll ihm aller kleiner Kerzenschein?“

Im Glanz der Weihnachtslichter zeigte ich meinem Mann die Verse, und mit leiser Stimme sagte er:

„Ja, was soll uns aller kleiner Kerzen Schein? Recht hat der Dichter da, und vermessen wäre es, auch die Kerzen noch zu begehren, wenn man schon die helle Sonne hat.“

[319] O, wir hatten sie, diese helle Sonne! Eine Schaar blühender und wohlgerathener Kinder unterm Weihnachtsbaum, darüber das feste Dach eines bescheidenen, aber traulichen eigenen Hauses und draußen: „Felder rings, ein Gottessegen, Hügel auf- und niederwärts“, wie Theodor Fontane so schön singt, in der Brust aber tragen wir die innige Liebe zu einander; wir bedurften wahrlich der armseligen Kerzen nicht, die da Luxus und Bequemlichkeit, Vergnügen und Zerstreuungen heißen; wir bedurften ihrer nicht, die leider so manches Haus einzig und allein erhellen, in dem es ohne sie ganz dunkel wäre.

Und nun sind zehn Jahre vorüber, die langsam, aber unerbittlich das Meiste von dem mit fortgenommen haben, was ich damals „mein Glück“ nannte. Im Grabe ruht der treue Lebensgefährte; in fremden Händen ist unser trautes Heim, und in alle Welt zerstreut sind die Kinder, die darin geboren und erzogen wurden. Ich bin allein geblieben mit dem jüngsten, und viel Sorge, viel Noth und Kummer, viel getäuschte Hoffnungen bezeichnen den Lebensweg dieser letzten Jahre. Aber – wunderbar! Dieselbe Sonne leuchtet doch noch immer hell auf meinen Pfad; sie ist nicht verlöscht, in all den Wolken und Stürmen, die an ihr vorübergezogen sind, und immer noch giebt es keinen Menschen auf dem ganzen Erdenrund, mit dem ich tauschen möchte; immer noch habe ich an jedem Abend Gott für so vieles zu danken, daß mir nach und nach die Ueberzeugung gekommen ist, mein wahres, ureigenes „Glück“ könne nicht das gewesen sein, was ich verloren habe, wie theuer es mir auch war. Dieses „Glück“, es ist wohl etwas, das man überhaupt nicht verlieren kann, nichts Aeußerliches, sondern eine Eigenschaft unseres Gemüthes, die aus einer uns Allen angeborenen Anlage großgezogen werden kann. Ich meine die Anlage, ohne welche kaum je ein Mensch geboren wird, den Hang zu Frohsinn und Heiterkeit.

Das erste Erforderniß zum Glück ist – um ein schon oft Gesagtes zu wiederholen – Zufriedenheit. Unsere Mutter daheim verstand es gar meisterhaft, diese Zufriedenheit in uns Kindern groß zu ziehen. Sie verschmähte dabei das wohlfeile Mittel gegen den Neid, die Vorzüge Anderer herabzusetzen. Sie machte uns im Gegentheil geradezu aufmerksam auf solche Vorzüge Anderer und sagte etwa: „Sieh nur, wie geschickt deine Cousine den Reifen wirft!“ Oder: „Welch niedliche Puppe hat doch jenes Mädchen dort!“ So lernten wir, uns über den Besitz oder die Vorzüge Anderer freuen ohne irgend einen Nebengedanken an uns selbst.

Wendete vielleicht eines der Kinder ein: „Meine Puppe ist bei Weitem nicht so schön“ so sagte Mama ganz ruhig: „Wahrscheinlich sind diese Leute wohlhabender als wir,“ und fügte dann hinzu: „Nicht wahr, es ist doch recht hübsch, daß es so viele reiche Leute giebt? Man bekommt durch sie so viel Schönes zu sehen und kann sich alle Tage darüber freuen. Auch die armen Leute verdienen viel dabei, wenn sich die Reichen kostbare Dinge von ihnen anfertigen lassen …“

Ganz unmerklich wurden wir so an jene „Armen“ erinnert, die noch viel weniger besaßen, als wir selbst, und das Resultat des Gespräches war sicher ein unbewußtes Dankgefühl für das, was eben uns beschieden war, und wollte uns ein Gericht nicht recht munden, so erzählte die gute Mutter, wie zufällig, von einer Hungersnoth in irgend einem Winkel der Erde, wo die Leute Gras und Erde äßen. Wie herrlich erschien uns nun das vorhin mißachtete Gericht!

Klagen über irgend Etwas gab es absolut nicht im Hause. Wir hörten sie nie von den Eltern und durften ebenso wenig selbst klagen; denn was zu tragen war, wurde still, geduldig und tapfer gemeinsam getragen, ohne daß man viel Worte darüber machte. Wo sich aber nur der kleinste Anlaß zu Freude zeigte, da wurde er begierig aufgegriffen und bis zur Neige ausgekostet. Nicht das kleinste Blümchen blieb unbeachtet an unserem Wege.

Das ist die Schule, die liebe mütterliche Schule, in der ich die Kunst lernte, glücklich zu sein, und so bleibt es für mich eine unumstößliche Wahrheit: Zufriedenheit ist die erste Bedingung zum Glück. Diese Grundbedingung muß sich aber auch steigern können zu frohem, innigem Dankgefühl für all das Schöne, das uns umgiebt. Nicht gelebt haben möcht’ ich, wenn ich nie das Bedürfniß empfunden haben sollte, ein „Gott sei Dank“ zu sprechen! Auch diese zweite Bedingung zu Glück und Frieden, die Dankbarkeit, ist uns schon in frühester Kindheit gelehrt worden.

Allabendlich trat die liebe Mutter an unsere Betten, um mit uns zu beten, und stets hob sie dann mit den Worten an:

„Lieber Gott, ich danke Dir“ –

An diese Einleitung wußte sie dann alle Freuden und Leiden des verflossenen Tages anzuknüpfen. Wir dankten Gott für den hellen Sonnenschein und für den befruchtenden Regen; wir dankten ihm für Erhaltung der Gesundheit oder für eine kleine Besserung in der Krankheit, an der wir gerade litten; wir dankten ihm für jede frohe Stunde des Tages und für feinen Beistand in jeder schweren – ein Dank war es stets, der unserer Bitte um ferneren Segen voranging, und so entschlummerten wir an jedem Abende im Vollgefühle dankbarer Zufriedenheit. Wohl hat das Leben später so manches geändert an meinem naiven Kinderglauben, aber Eines ist mir doch geblieben, das innige: „Ich danke Dir.“

Warum ist nur so vielen Menschen das Danken eine Last? „Nur Niemandem Dank schulden!“ meinen die Thörichten, die lieber jede Entbehrung tragen wollen, als irgend welche Hülfe annehmen.

„Geben ist viel seliger als Nehmen“, aber wer die volle Lust des Gebens empfinden will, der muß auch dankbar zu – nehmen verstehen. Wenn dir selbst das Danken solch eine drückende Last ist, wie magst du dann durch eine Gabe Jemandem diese Last auferlegen? O, gewiß, wer selbst nicht gern dankt, der kennt auch nicht die Seligkeit des Gebens! Dankbarkeit ist eines der herrlichsten Gefühle unserer Seele, und arm, sehr arm dünkt mich, wer weder Gott noch Menschen gerne danken mag.

Da habt ihr denn zwei von den festen Grundlagen, auf welchen mein Glück sich aufbaut: Zufriedenheit und Dankbarkeit. Das Dritte, die warme innige Menschenliebe, kommt schon ganz von selbst hinzu, denn wer so recht zufrieden und dankbar ist in seinem Herzen, der kann dieses Glück nicht für sich allein behalten: es ist ihm Bedürfniß, so viele Menschen daran Theil nehmen zu lassen, wie ihm nur irgend erreichbar sind. Jeder Unzufriedene dünkt ihm eine Störung der harmonischen Weltordnung, und es läßt ihm nicht Ruhe, nach besten Kräften beizutragen, solche Störung zu beseitigen, und Glück und Freude um sich her zu verbreiten, wo es irgend in seiner Macht steht.

So viel Menschen auf Erden wandeln, so vielgestaltig ist wohl auch das, was diese Menschen „ihr Glück“ nennen. Befriedigter Ehrgeiz ist es dem Einen, Sinnengenuß dem Andern, Wissen einem Dritten. Jeder kann eigentlich nur von seinem Glücke reden; darum kann ich nur dies sagen: Mein „Glück“ besteht in Zufriedenheit, Dankbarkeit, Menschenliebe; es ist jenes Glück, von dem es im Liede heißt:

„Wie Wetter, Sturm und Wolke geht
Der Erde Kampf vorüber,
Der inn’re Frieden aber steht,
Ein lichter Stern, darüber.“




Blätter und Blüthen.


Unserm heutigen Kant-Portrait (Seite 309) fügen wir noch einige kurze Worte zur Geschichte desselben hinzu. Das Original unseres Bildes verdankt seine Entstehung der jahrelangen Freundschaft Kant’s zu dem ihm geistes- und namensverwandten Königsberger Buchhändler Kanter, dessen Hausgenosse der große Denker während der Jahre 1766 bis 1769 war. Kanter, damals Inhaber der bedeutendsten Buchhandlung in der Pregelstadt, beauftragte im August 1768 den dortigen Portraitmaler Becker mit der Anfertigung eines lebensvollen Bildnisses seines um diese Zeit 44 Jahre alten Freundes Kant, und so entstand das der Ueberlieferung nach sehr ähnliche Original unseres heutigen Kant-Portraits. Das Becker’sche Bildniß ist nach Schubert, dem Biographen Kant’s, „das älteste Originalgemälde, zu dem Kant gesessen hat, welches unverkennbar die jugendlichen Züge der Kant’schen Physiognomie an sich trägt, nur wohl etwas zu sehr verschönert“.

Nachdem die Kanter’sche Firma im Jahre 1833 in: Gräfe und Unzer verwandelt worden, ließen die damaligen Besitzer zum Jubiläum der Königsberger Universität 1844 das Bild Kant’s renoviren, und als später, im Jahre 1868, die Buchhandlung eines Umbaues halber ihr altes Local räumen mußte, war es das Kant’sche Portrait, dem vor allen andern Bildern und Büsten, die den alten Laden schmückten, die Ehre widerfuhr, in die neuen Räume mit hinübergenommen zu werden. Die jetzigen Inhaber des Geschäfts, die Buchhändler R. Dreher und B. Stürtz, haben im Gefühl natürlicher Pietät dem historisch werthvollen Erbstücke den Ehrenplatz in ihren Localitäten belassen. Noch heute ist es jedem Besucher Königsbergs

[320] gestattet, in dem Gräfe und Unzer’schen Geschäftslocale das interessante Portrait des großen Philosophen, von dem auch eine photographische Nachbildung (L. E. Gottheil, Königsberg) existirt, in Augenschein zu nehmen. Auch wir verdanken die Möglichkeit einer Reproduction des interessanten Bildes nur der Freundlichkeit der Herren Dreher und Stürtz.




Noch einmal „Wintergärten im Freien“. Unsere Leser werden sich freuen, zu erfahren, daß es Wintergärten im Freien, die Carus Sterne in Nr. 9 der „Gartenlaube“ so anziehend schildert, bereits giebt, wenn auch nicht so häufig, wie man wünschen möchte. Man findet sie in kleinen Stadtgärten oder in immergrünen Abtheilungen von Park- und Volksgärten. Praktische Anleitung dazu finden wir in verschiedenen Gartenbüchern und Zeitschriften, unter anderm schrieb unser Mitarbeiter H. Jäger schon vor vierzig Jahren in die „Allgemeine Garten-Zeitung“ von Otto und Dietrich einen Artikel über diesen Gegenstand, wie er auch in verschiedenen späteren Schriften auf denselben zurückkommt. Auch der ersten Frühlingsblumen wird dort ausführlich gedacht. Wer aber sehen will, wie viele Frühlingsblumen zu solchen Gärten geeignet sind, der besuche den Frühlingsgarten „Siebenbergen“, auf einer Insel des Aueparkes in Kassel!

Leider sind unsere derartigen Gärten wegen Mangels an immergrünen und großblätterigen Sträuchern nicht so vollkommen, wie in England und in andern wärmern Gegenden. Erträglich bestellt ist es hiermit nur im südwestlichen Deutschland, wo der Kirschlorbeer, der portugiesische Lorbeer, die Rhododendren und die Stechpalmen unbedeckt sich gut halten. Im Winter 1880 erfroren diese und andere Pflanzen auch in dem milden Baden-Baden. Für den Wintergarten im Freien tragen wir hier noch nach: die herrliche Frühlingshaide (Erica herbacea), die oft schon im Februar blüht, die japanische Quitte (Cydonia japonica) mit großen meist feuerrothen Blumen, die daurische Alpenrose (Rhododendron davuricum) mit röthlichen Blumen und die japanesischen Forsythia viridissima und suspensa mit großen gelben Blumen. Die frühblühende von Bienen umschwärmte Sohl- oder Saalweide, die „Palme“ des Palmsonntags in Süddeutschland, dürfte auch nicht fehlen. Die erwähnte Petasites (Tussilago) fragrans wird des Wohlgeruchs wegen bei uns in Töpfen gezogen, weil sie im Freien nicht zur Geltung kommt.




Die Briquettagebauten in Lothringen. Der Bezirk Deutschlothringen besitzt ein hochinteressantes, wahrscheinlich vorhistorisches Bauwerk, das in der gelehrten Welt heute noch so gut wie unbekannt sein dürfte. Es ist dies der sogenannte Briquettagebau im Seillethal, Kreis Chateau-Salins, zwischen Vic und Marsal. Gräbt man daselbst durch den etwa drei bis vier Meter tiefen Alluvialboden, so stößt man auf ein ungefähr ein bis zwei Meter dickes Ziegelsteinmauerwerk, das in einer Ausdehnung von mehreren Quadratkilometern als eine ungeheure Decke den unergründlichen Sumpfboden des Seillethales überspannt. An Massenhaftigkeit dürfte das Bauwerk über die ägyptischen Pyramiden zu stellen sein, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß durch entsprechende Nachgrabungen noch weitere solcher Ueberreste entdeckt werden. Vielleicht sind sie auf keltischen Ursprung zurückzuführen. Nach Vertreibung der Kelten durch die Gallier mögen Letztere die vorgefundenen Bauwerke erweitert und in feste Zufluchtsorte, von Cäsar Oppida genannt, umgewandelt haben, die in Friedenszeiten nicht bewohnt wurden, in welchen aber zur Zeit der Kriegsgefahr Greise, Weiber, Kinder und Heerden Unterkommen und beim unglücklichen Ausgang eines Feldzuges die sich flüchtenden Krieger das letzte Asyl fanden. Diese Zufluchtsorte müssen bei der früher noch viel stärkeren Versumpfung des Seillethales geradezu uneinnehmbar gewesen sein. Historisch steht fest, daß auch die Römer den Briquettagebau theilweise benutzt haben, um die 40 bis 50 Jahre nach Christi Geburt angelegte Straße von Metz über Grigy, Ars-Laquenexy, Bazoncourt, Pange, Remilly, Bisping, Marsal, Saarburg, Zabern nach Straßburg durch die Sümpfe des Seillethales hinwegzuführen.

Vollständiges Licht über Alter, Zweck und Ausdehnung des Briquettagebaus können nur systematisch ausgeführte Nachgrabungen verbreiten. Letztere würden ohne Zweifel ein interessantes und reichhaltiges Material liefern, da einerseits der feste Unterbau das Versinken der im Laufe der Jahrhunderte angesammelten Gegenstände verhinderte, während dieselben andererseits durch die Seille bei ihren alljährlich mit ziemlicher Regelmäßigkeit eintretenden Ueberschwemmungen mit einer schützenden Bodenschicht bedeckt wurden. Zweck dieser Zeilen ist, berufene Archäologen für dieses Bauwerk zu interessiren und sie zu veranlassen, dasselbe zum Gegenstande ihrer Forschungen zu machen.

L.




Max Maria von Weber, einer unserer ältesten Mitarbeiter, ausgezeichnet durch große Fülle des Wissens wie durch den seltenen Vorzug einer künstlerisch feinfühligen Darstellungsgabe, gehört seit dem zweiten Osterfeiertage zu den Todten. Auf einem Spaziergange in der Nähe Berlins – der letzten Stätte seines Wirkens – plötzlich vom Herzschlag ereilt, beschloß er allzu früh sein thätiges Leben. Als Sohn des allbekannten Tondichters Karl Maria von Weber 1822 zu Dresden geboren und auf der dortigen Polytechnischen Schule ausgebildet, widmete er sich dem Eisenbahn-Ingenieurfache und wirkte nach langjährigen Reisen in Europa und Afrika in hohen und einflußreichen Fachstellungen, zuerst im sächsischen, dann im österreichischen, zuletzt im preußischen Staatsdienste. Seine Tüchtigteit und seine Kenntnisse auf technischem, wirtschaftlichem und administrativem Gebiete bewährten sich in seinen verantwortungsvollen Aemtern auf’s Glänzendste.

Schriftstellerisch hat Weber sich mannigfach bethätigt. Unter seinen zahlreichen, dem Felde der Eisenbahntechnik angehörigen Werken erwähnen wir hier nur seine „Schule des Eisenbahnwesens“. Weithin bekannt geworden ist Weber’s im Verlage der „Gartenlaube“ erschienenes Lebensbild seines Vaters: „Karl Maria von Weber“ (1864 bis 1866), ein in musikliebenden Kreisen mit Recht geschätztes Werk, gleich bedeutsam durch den Reichthum eines geistvollen Inhalts wie durch die Wärme einer stets lichtvollen Darstellung. Speciell den Lesern unseres Blattes bekannt und werth geworden ist Weber aber durch seine zahlreichen Artikel aus dem Gebiete der Biographie – wir erinnern nur an die Aufsätze über Karl Maria von Weber und Robert Stephenson –, der Reiseliteratur und des Eisenbahnwesens.

Durch das Band herzlicher Freundschaft mit dem edlen Schöpfer der „Gartenlaube“, unserem theuern Ernst Keil, verbunden, stand er seit dem Jahre 1855 mit nimmer müder, stets kampf- und schaffensfreudiger Feder in den Reihen der Unsrigen, und bis zuletzt bekundeten seine werthvollen Beiträge zu unserem Blatte jene echt feuilletonische Ader, welche Fülle des Inhalts mit Frische der Form verbindet. Ein leuchtendes Beispiel hierfür war noch eine seiner letzten Schilderungen, jene mit so einmüthigem Beifall aufgenommene kleine Erzählung aus dem Eisenbahnleben. „Um eines Knopfes Dicke“. Unsere Leser werden mit uns dem treuen Freunde der „Gartenlaube“ ein freundliches Andenken gewiß nicht versagen. Die Reihen unserer Streiter von der alten Garde lichten sich mehr und mehr – um so wehmütiger gemahnt uns jede neu gerissene Lücke: Max Maria von Weber’s Hingang bedeutet uns einen der schmerzlichsten Verluste.




 Sehnsucht.

Die Sehnsucht winkt mir aus des Himmels Blau;
Sie flüstert in der Lüfte mildem Wehen;
Die Blumen duften sie im Morgenthau;
Leis’ klingt sie aus der Nachtigallen Flehen.

Die Sonne glüht sie scheidend noch in’s Thal;
Im Waldesdunkel rauschen sie die Quellen;
Mit goldnem Griffel schreibt der Mondesstrahl
Sie zitternd auf des stillen Seees Wellen.

Am Himmel leuchtet sie die Sternenpracht
Geheimnißvoll in sommernächt’ger Stunde,
Doch grüßt sie mich mit ihrer ganzen Macht
Erst aus des Menschenauges tiefem Grunde.

  Liddy Richter.





Kleiner Briefkasten.

F. G. in Triest. Hoho! Sie werfen sich ja in die Brust wie ein Spanier, Liebster. Von einer Redaction, die, wie die unsrige, mit Manuscripten – darunter recht viel unwillkommene Gäste – wahrhaft überschwemmt wird, kann kein billig Denkender verlangen, daß sie eingesandte Beiträge, die nicht eiliger Natur sind, von heute auf morgen erledige. Eine Lagerungsfrist von zwei bis drei Wochen ist für solche Einsendungen wahrlich ein nicht lang bemessener Termin. Kühlen Sie also Ihr Müthchen und – warten Sie! Woher sollten wir die Zeit nehmen, wenn wir alle unbilligen Wünsche in dem ungenirten Stile des Ihrigen erfüllen sollten? Und nicht nur eilige Entscheidung über Annahme oder Ablehnung des Manuscripts wollen Sie, nein, auch den „Abdruck in der nächsten Nummer“. Sie verwechseln den Geschäftsgang von Tageblatt-Redactionen mit den durch die Natur der Sache gebotenen Gewohnheiten im Bureau der „Gartenlaube“. Haben Sie ganz vergessen, daß wir vierzehn Tage bis drei Wochen zur technischen Herstellung einer Wochennummer gebrauchen? Mit Ihrer Forderung bezüglich der nächsten Nummer sieht es also etwas windig aus, lieber Herr.

H. Ke. in Brünn. Das von Dr. Kalthof herausgegebene „Correspondenzblatt für kirchliche Reform“ (Berlin, C. Barthel’sche Buchhandlung) erscheint monatlich einmal. Der Abonnementspreis beträgt für’s Jahr, incl. Zusendung, zwei Mark pränumerando.

V. in Mainz. Ihr Arzt hat Ihnen gerathen, Ihrer Nerven wegen das Tabakrauchen aufzugeben, und nun fragen Sie uns, ob Sie wenigstens die von Nicotin befreiten Cigarren der Firma Dr. R. Kißling und Compagnie in Bremen rauchen dürften? Ja, so fragen Sie doch Ihren Arzt! Was wir zufällig wissen und Ihnen mittheilen können, ist einzig soviel, daß Personen unserer Bekanntschaft, welche die gewöhnlichen nicotinhaltigen Cigarren nicht vertragen, solche von dem am stärksten auf den Organismus wirkenden Bestandtheil des Tabaks befreite Cigarren mit Behagen und Genuß rauchen. Natürlich wäre es das Einfachste, wenn Jemand, der keinen Kaffee oder keinen Tabak vertragen kann, diese beiden das geschwächte Nervensystem zu stark erregenden Genußmittel sofort aufstecken wollte. Aber das geht bekanntlich nicht so leicht, wie es aussieht, da der Mensch eben ein Gewohnheitsthier ist und sich daher sozusagen selber hintergehen muß, um sich mittelst coffeinfreien Kaffees, nicotinfreier Cigarren und ähnlicher „Phantasie-Artikel“ eine goldene Brücke zu bauen, über die er, ohne äußerlich die alte, liebgewonnene Gewohnheit aufzugeben, zur Beruhigung der Nerven zu gelangen vermag. Für Viele mag ein solches Vorgehen eine zeitweise Erholung des Organismus sein, für Andere einen Uebergang zu voller Enthaltsamkeit in der betreffenden Richtung erleichtern, ohne daß diese Mittel etwas von dem abschreckenden Charakter jener anderen besäßen, mit denen man den Kindern die Mutterbrust, den Trinkern die Flasche zu verleiden sucht, Aloe, Asafötida, Brechweinstein und wie diese Ekelstoffe sonst heißen. Die nicotinfreien Cigarren werden vielmehr auch aus edlen und wohlschmeckenden Tabakssorten dargestellt, und es liegt bei der genannten Bremer Fabrik die Garantie wirklicher Nicotinbefreiung vor; man kann vermuthen, daß sie angesichts des drohenden Tabaksmonopols, welches eine gute Cigarre nahezu unerschwinglich machen dürfte, eine besondere Bedeutung als Entwöhnungsmittel erlangen werden.



Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Die Widmung der ersten Ausgabe des berühmten Buches an den Staatsminister Freiherrn von Zedlitz trägt das Datum des 29. März 1781.
    D. Red.
  2. Inzwischen, nach Eingang dieses Artikels, ist bekanntlich auch die reben- und feigenreiche Insel Chios von dem gleichen Schrecknisse ereilt worden.       D. Red.
  3. Wir ergreifen mit Vergnügen die Gelegenheit, hier noch einmal auf C. Michael’s kürzlich in Buchform erschienene „Vernünftige Gedanken einer Hausmutter“ (Preis broschirt 3 Mark, gebunden 4 Mark, Leipzig, Ernst Keil) so warm wie nachdrücklich hinzuweisen.
    D. Red.