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ADB:Garve, Christian

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Artikel „Garve, Christian“ von Daniel Jacoby in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 8 (1878), S. 385–392, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Garve,_Christian&oldid=- (Version vom 25. Dezember 2024, 05:04 Uhr UTC)
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Garve: Christian G., Popularphilosoph, geb. am 7. Januar 1742 in Breslau, † ebenda in der Nacht vom 30. November zum 1. Dezember 1798. Er gehört zu denjenigen Männern des vorigen Jahrhunderts, welche die Wissenschaft ins Leben zu führen sich mühten, die mit weltmännischer Bildung vertraut, voll Achtung vor ihrer Muttersprache, im Gegensatze zu den gelehrten Pedanten deutlich und faßlich schrieben und dadurch, wie Goethe von Garve und Mendelssohn sagt, allgemeine Theilnahme und Bewunderung erregten. Bevor Kant in seiner ganzen Bedeutung gewürdigt wurde, galt G. nebst dem ihm befreundeten Mendelssohn für den bedeutendsten Philosophen, und Kant selbst urtheilt so in Briefen an Mendelssohn vom J. 1783. – G. war als Uebersetzer, Commentator, Kritiker thätig; seine psychologisch-moralischen Abhandlungen bekunden alle den feinen Denker: im gewissen Sinn ist er auch der Vorläufer der später so geschätzten Verfasser von „Essays“. – Eine geordnete Sammlung seiner zahlreichen Abhandlungen haben wir nicht; mit Recht beklagte das schon Bouterwek (1819): „verdienen“, setzt er hinzu, „diese gemeinnützigen Schriften nicht vor vielen anderen in einer Reihe zusammengehörender Bände einen Platz in jeder guten Bibliothek?“ – Als Uebersetzer machte G. sich früh bekannt: im J. 1772 verdeutschte und commentirte er „Adam Ferguson’s Grundsätze der Moralphilosophie“; in demselben Jahre erschien die zweite Ausgabe des von Meinhard übersetzten Werkes von H. Home „Grundsätze der Kritik“ durch G. und Engel besorgt in zwei Bänden, bald darauf das für die Litteratur und Philosophie im vorigen Jahrhundert wichtige Buch von Ed. Burke „Ueber den Ursprung unserer Begriffe vom Erhabenen und Schönen“ (1773 anonym), das auf Lessing, Herder, Kant Einfluß übte. Lessing und Herder wollten das Werk übersetzen, führten ihren Plan aber nicht aus; aus einem Briefe Weiße’s an Herder vom J. 1768 geht hervor, wie viel Werth darauf in litterarischen Kreisen gelegt wurde. 1776 erschien Garve’s Uebersetzung von Alex. Gerard’s Versuch über das Genie, die auch Schiller eifrig las. Durch Friedrich II. wurde G. zu einer Uebersetzung des Cicero von den Pflichten aufgefordert, welche er 1779 in Charlottenbrunn begann und 1783 mit Abhandlungen und Anmerkungen veröffentlichte; 1788 erschien bereits eine dritte, 1792 die vierte Auflage mit der wichtigen auch besonders (zuerst 1788) herausgegebenen Abhandlung „Ueber die Verbindung der Moral mit der Politik“. Die Untersuchungen „Johann Macfarlans, Predigers in Edinburg, über die Armuth“ übersetzte er und begleitete sie mit Zusätzen und Anmerkungen 1785; ebenso M. Payley’s „Grundsätze der Moral und Politik“ 1787 (2 Bde). – Das Interesse für nationalökonomische Fragen suchte er auch besonders zu fördern durch eine neue Verdeutschung von Adam Smith’s Werk „Ueber den Nationalreichthum“, wobei ein Gehülfe ihn unterstützte (1. und 2. Theil 1794; 3. Theil 1795; 4. Theil 1796). Von Aristoteles übersetzte und erläuterte er die Ethik (1798, 1. Theil); [386] die Politik erschien nach seinem Tode herausgegeben von G. G. Fülleborn (1. Theil 1799; 2. Theil 1802). – Von seinen Kritiken sind die bedeutendsten: die Recension der kritischen Wälder von Herder in der Neuen Bibl. der sch. W. 1769, IX. 1. u. 2, in welcher er den Tiefsinn und die Kenntnisse Herder’s rühmt, aber von dem „vortrefflichen Kopfe“ wünscht, daß er mit minderer Heftigkeit seine eigenen Erörterungen durchdenke und vortrage. Obgleich G. für Herder’s tiefe Intentionen, Natürlichkeit und Unmittelbarkeit des Gefühls in der Poesie zu fördern, nicht das nothwendige Organ mitbrachte, wünschte sich Herder „viele solcher Leser“ (Werke von Suphan II, 83). Die vortreffliche Recension von Lessing’s Laokoon 1769 in derselben Zeitschrift; wieder abgedruckt ist sie in der zweiten Auflage der Sammlung einiger Abhandlungen aus der neuen Bibl. (1802, 2. Theil). In manchen Punkten glaubte G. Lessing widersprechen zu müssen; scharfsinnig hat er aber schon damals die Eigenart Lessing’s in der Behandlung wissenschaftlicher Fragen und seine unvergleichliche Kunst der Darstellung zu würdigen und zu charakterisiren gewußt. Lessing, der den Verfasser übrigens nicht kannte, war allein mit dieser Kritik „sehr wol zufrieden“, wie er Nicolai schrieb. – Die Mängel der Barden- und Skaldenpoesie erkannte G. wie Goethe; die Recension erschien 1771 in der genannten Zeitschrift. Doch wußte er die Bemühungen Herder’s nicht genügend zu würdigen, der eine aus dem nationalen Boden Kraft und Stärke ziehende Dichtung erstrebte. – Die Kritik der reinen Vernunft endlich von Kant recensirte G. in den Göttinger gelehrten Anzeigen 1782; seine Arbeit wurde jedoch von Feder in verstümmelter Gestalt veröffentlicht. – Mehrere seiner Abhandlungen sammelte und ordnete G. selbst, so gab er 1779 heraus die „Sammlung einiger Abhandlungen“; „Vermischte Aufsätze“, 1796 1. Theil, 1800 2. Theil. - Die „Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Litteratur und dem geselligen Leben“ erschienen 1. Theil 1792, 2. Theil 1796; der 3. Theil (1797) enthält die Spalding gewidmete größere Schrift „Ueber Gesellschaft und Einsamkeit“, welche ihren Abschluß im 4. Theil fand, der ebenso wie der 5. nach seinem Tode von Manso und Schneider herausgegeben wurde. Seine Aufsätze über Friedrich II., die zum Theil, nach seiner eigenen Mittheilung, durch seine Unterredungen mit dem Könige veranlaßt waren, sammelte er unter dem Titel „Fragmente zur Schilderung des Geistes, des Charakters und der Regierung Friedrichs des Zweyten“, 1798, 2 Bde. – Eine wichtige Quelle für Garve’s Leben sind seine Briefe: wer mich nur aus meinen Schriften kennt, schreibt er einmal seinem Freunde Weiße, kennt mich wenig. Meine Briefe enthalten vielleicht mehr gute Gedanken als meine Bücher. Die wichtigsten sind: „Vertraute Briefe an eine Freundin“, 1801; „Briefe an seine Mutter“, herausgegeben von K. A. Menzel 1830 (für die Zeit vom Januar 1770 bis September 1772); „Briefe an Zollikofer“ bis zum Todesjahre Zollikofer’s 1785, 1804; „Briefe an Weiße“, 1803; „Briefe von Friedrich Gentz an Garve“, 1857 von Schönborn herausgegeben (für die Jahre 1789–1798). – Garve’s Vater, Besitzer einer Färberei in Breslau, starb frühe; den schwächlichen Knaben erzog die treueste Mutter, mit welcher er zeitlebens im schönsten Verhältniß stand. An des Sohnes Bildung hatte die treffliche Frau vielen Antheil; die Briefe an sie zeigen, daß sie bei allem einfachen Sinn das größte Interesse für Wissenschaft und Dichtung hatte. Des Sohnes nicht leichte Abhandlungen las sie. Ihre Frömmigkeit war von keinem Hang zu ungesunder Mystik oder zu fanatischer Intoleranz getrübt; Lessing hat sie persönlich gekannt und geehrt. 1762 bezog G. die Universität Frankfurt a. O.; nach Baumgarten’s Tode, der bald darauf starb, ging er jedoch nach Halle, wo er sich der Philosophie und Mathematik widmete; die dort herrschende Pietisterei stieß ihn ab. Nachdem er Magister geworden, begab er sich 1766 [387] nach Leipzig. Hier wohnte er auf Wunsch der Mutter bei Gellert, der ihn zärtlich liebte und sein Talent bald erkannte. Mehrere Briefe Gellert’s an Garve’s Mutter und an ihn sind erhalten. Der ängstliche Gellert, dem das freie Lebensgefühl der Dichter der neuen Richtung fremd war, wirkte in mancher Beziehung vielleicht nicht günstig auf ihn; in Leipzig lernte G. aber wie Engel ein Philosoph für die Welt zu werden. Das Streben der Leipziger nach Grazie wußte er so zu verwerthen, daß seine lichtvolle Prosa weder an Würde noch an Eindringlichkeit einbüßte. Mit Ch. Felix Weiße wurde er befreundet; ebenso mit Zollikofer, einem freisinnigen Prediger an der reformirten Kirche zu Leipzig, der achtundzwanzigjährig aus der Schweiz dorthin berufen ward; mit Michael Huber, Oeser, vor allem mit dem Philologen Reiz, von dem er sagte: nie hat ein Mensch mich aufrichtiger geliebt. – Auf den Wunsch der Mutter verließ er Leipzig schon 1767. Den Sommer studirte er sehr fleißig in Breslau, seine körperlichen Leiden begannen schon damals. Vom Mai dieses Jahres an liegen in den Briefen an eine Freundin Nachrichten über ihn und seine damaligen Studien vor. Die Zeit der Selbstbeobachtung und Selbstverhätschelung tritt auch aus diesen Briefen uns entgegen. Nur der Vorname der Frau, Wilhelmine, ist mir bekannt; sie war an einen Advokaten in Leipzig verheirathet, von dem sie sich nicht genug geliebt und verstanden fühlt. Sie erscheint, aus den Briefen Garve’s an sie, feinfühlig, etwas verwöhnt, dichterisch beanlagt, der Umgang mit den trivialen Frauen Leipzigs behagt ihr nicht. Für G. hat sie große Neigung, ist gelegentlich selbst eifersüchtig, wenn er eine andere Frau lobt; bei ihm, der als ein Mann ohne alle jugendliche Leidenschaft erscheint, steigert sich die herzliche Neigung nie zur Liebe; er redet von ihrem „lieben Gatten“, ist besorgt, sie mit ihm in Harmonie zu bringen. Seine ängstliche, aber auch zugleich gewissenhafte und reine Natur offenbart sich überall. – Garve’s Lectüre bilden mehr die Engländer und Italiener als die Franzosen; von deutschen Dichtern erwähnt er unter andern Weiße, besonders sein Trauerspiel „Romeo und Julie“; den Magister Kant erwähnt er bei Gelegenheit Swedenborg’s; in der Philosophie zeigt er sich er als Schüler Locke’s und der Philosophen, die Locke’s Empirismus folgten. – Nach Gellert’s Tode wurde G. 1768 außerordentlicher Professor der Philosophie in Leipzig; er las, wie die Briefe an die Mutter lehren, über Logik, Mathematik, Rhetorik, Ethik. Im Colleg über letztere hatte er wenig Zuhörer, „und das ist gerade die Arbeit, die ich am liebsten und, wie ich denke, am besten thue.“ Der Aufenthalt in Leipzig jedoch wurde ihm nicht blos durch seine schwächliche Gesundheit verleidet: unsere Universitäten haben einer Revolution nöthig, schreibt er. Zunehmende Kränklichkeit zwang ihn endlich 1772 in seine Vaterstadt zurückzukehren. Seine zahlreichen Abhandlungen von dieser Zeit an machten ihm in Deutschland bald einen berühmten Namen; frei von jedem Amte, lebte er nur seinen Arbeiten. Für geselligen Umgang hatte er stets die größte Vorliebe; sein für die Freundschaft sehr empfängliches, sanftgestimmtes Herz ließ ihn mit fernen Freunden in regem Briefwechsel bleiben. Im schlesischen Bade Charlottenbrunn befand er sich oft zur Erholung; seltener machte er Reisen, so 1781 nach Berlin und Weimar, wo er Goethe sprach, aber von ihm in Briefen leider nicht Bericht gab. – Der ärgerliche Streit, den Nicolai und Biester gegen ihn erhoben, als er gegen die ihm übertrieben scheinende Furcht vor den Jesuiten sich aussprach, wurde bald beigelegt: Biester, der vielleicht scharfsichtiger hierin als G. war, konnte des Mannes ehrlichen und milden Sinn nicht lange verkennen. – Im „Schreiben an Herrn Friedrich Nicolai“ (1786) zeigt G. übrigens deutlich, daß er auch über den engherzigen Protestantismus hinausgeht. „Er ist mir theuer und werth als Mittel, als ein gebahnterer Weg zu [388] denjenigen Untersuchungen und Kenntnissen, welche ich vor allen andern liebe. Diese selbst aber sind es eigentlich, was ich schätze: und bei welchem Menschen ich sie finde, da finde ich einen Glaubensgenossen und einen Freund.“ – Ein krebsartiges Leiden am Auge kam zu den übrigen Uebeln hinzu; eine Reise nach Berlin im J. 1790 brachte ihm keine Rettung. Nach dem Tode der Mutter (1792) fühlte er tief seine Vereinsamung, aber er ertrug seine Leiden mit jener Geduld, welche Schiller in dem bekannten Xenion rühmend hervorhebt gegen die „frömmelnden Schwätzer“. Für G. war es eine schöne Genugthuung, daß einer der Jüngsten und Begabtesten der Zeit, der mit seinem Denken und Trachten in unser Jahrhundert hineinreicht, daß Friedrich Gentz, der damals seine groß und frei angelegte Seele der Reaktion noch nicht verkauft hatte, bis zu Garve’s Tode ihm mit größter Liebe und Verehrung anhing. Die seit 1857 erst bekannt gewordenen Briefe, in denen auch über rechtsphilosophische Fragen eifrig verhandelt wird, geben davon ein schönes Zeugniß. Garve’s unabhängiger Sinn verdiente das Lob Gentzens, der ihn aufforderte, da er den Regenten so trefflich ihre Pflicht gelehrt, auch einmal für die Rechte der Völker mit seiner „durch keine Gunst, keinen Haß entweihten Feder“ einzutreten. – Die Periode Wöllner-Bischofswerder in Preußen verurtheilte G.; er wußte aber: „keine Censuredikte werden die bis zu einem gewissen Grade der Aufklärung gelangte Vernunft verdunkeln und zurück in Aberglauben treiben.“ Im September 1798 widmete er Kant die letzte Arbeit, welche er selbst noch bekannt machte: es war der 1. Band seiner Uebersetzung der Ethik des Aristoteles mit der Abhandlung „Uebersicht der vornehmsten Prinzipien der Sittenlehre“. Während der grausamsten Krankheit, durch welche die Natur langsam ihr Geschöpf zerstört, wie es im Schreiben an Kant heißt, hatte er sie verfaßt. Wenige Wochen darauf war er todt. – Was G. geleistet? – Das ist nicht leicht in Kürze von diesem Schriftsteller zu sagen, dessen größtes Verdienst in der Anregung und Förderung Anderer zu suchen ist, welche sich oft dem bestimmten Nachweis entziehen. Er selbst sagt einmal mit Anspielung auf Horaz, er glaube nicht ganz unnütz als Wetzstein für Andere gewesen zu sein, wenn er auch als schneidendes Instrument nur wenig ausgerichtet habe. – Sein Ehrgeiz war, der deutsche Hume zu sein. Im Aufsatz „Die Kunst zu denken“, rühmt er ihn, welcher sich als ungeeignet erwiesen habe der Urheber eines neuen Systems in irgend einer Wissenschaft zu sein, daß er sehr wohl verstanden, in den Systemen Anderer verborgene Lücken und Schwächen zu entdecken oder auch aus ihren Grundsätzen unerwartete Folgerungen und neue Wahrheiten zu ziehen. Hume sei nie trefflicher, als wenn er über Thatsachen aus der Geschichte oder aus seiner eigenen Erfahrung geschöpft, philosophire und seine Gedanken unmittelbar an das Wirkliche und Einzelne knüpfe. „Ich gestehe daher, daß unter allen philosophischen Schriften keine sind, welchen ich meine eigenen Versuche ähnlich zu sehen mehr wünschte als die seinigen.“ – Freilich: so viel das englische Leben damals dem deutschen an Würde und Selbstbewußtsein, so viel Hume selbst G. an Energie des Forschungsgeistes überlegen war; so viel mochte der englische den deutschen Denker an Wirksamkeit auf seine und andere Nationen übertreffen. Wie Hume durch seine Untersuchung des Causalitätsbegriffes das Verdienst hat, Kant nach dessen Geständniß aus dem dogmatischen Schlummer gerüttelt zu haben, so hat G. immerhin dieses: Bei der Erkenntniß, daß die Sittlichkeit unabhängig sei von der Religion, suchte er menschliche Verhältnisse und Zustände nicht nach dem hergebrachten Maßstab der Theologen oder der Dogmatiker aus der Wolfischen Schule zu beurtheilen, sondern wie Aristoteles, wie Ferguson, wie Hume selbst bemühte er sich, die Aufgaben des Menschen aus seiner Natur zu begreifen, so daß die Sittlichkeit nicht mehr als etwas von außen Befohlenes, [389] Unbegreifliches hingenommen wurde. Hierin war G. der Vorarbeiter Kant’s, der sich durch ihn gefördert fühlte, obwol er in seinem Moralprincip von ihm abwich. Darum auch die besondere Vorliebe Garve’s für die Ethik, auf welche er als einer der Ersten in Deutschland nachdrücklich hinwies; für Fragen nach dem Wesen der Tugend, der Freiheit des menschlichen Willens, die er schon in den Anmerkungen zu Ferguson zu beantworten sich mühte. G. war es auch, der mit historischem Sinn für die Entwicklung der Philosophie begabt, voll Eifer für die während langer Zeit ganz vernachlässigte Ethik des Aristoteles, durch seine Uebersetzungen zuerst wieder das Interesse für alle Schriften des Stagiriten in Deutschland erweckte. – Die Richtung, welche er in der Jugend erhalten, hielt G. im wesentlichen fest. Gegenüber den Schülern Kant’s – dem Meister selbst nahte er immer mit Hochachtung – nennt er sich in der in seinem Todesjahr erschienenen Schrift „Ueber die allgemeinsten Grundsätze der Sittenlehre“ ironisch „einen populären Philosophen im schlimmsten Sinne des Wortes oder vielmehr einen Prediger des allgemeinen Menschensinnes, des Feindes aller echten Philosophie.“ Er verzichtet darauf, absolut erste, apodiktisch gewisse Prinzipien zu haben: wie man von sinnlichen Wahrnehmungen ausgehen müsse, um zu den höchsten Vernunftwahrheiten, so müsse man von sinnlichen Empfindungen und Trieben ausgehen, um zu den diese einschränkenden sittlichen Vorschriften zu gelangen. Die Triebfeder der sittlichen Handlungen ist ihm wie Aristoteles die Glückseligkeit. Dem wahrhaft sittlichen Menschen soll zwar seine eigene Vernunft Gesetzgeberin sein, aber gegen Kant sucht er auszuführen, daß die Vernunft diese Regeln der Handlungen nicht aus sich selbst sondern aus der Erfahrung hernehmen müsse. Was die sittliche Freiheit betrifft, so muß der Mensch, wenn er, um sittlich sein zu können, frei sein soll, dieses in der Sinnenwelt sein; die Freiheit des Menschen, meint er, beruhe nicht blos auf dem Glauben an die Sittlichkeit, sondern auf Gründen, aus der Natur des Menschen und der Dinge hergenommen. – Auch G. hat kein neues System aufgestellt; der speculativen Metaphysik war er abgeneigt. Auch er hatte das Bedürfniß, überall an Thatsächliches anzuknüpfen. Hervorgegangen aus dem damals engbrüstigen Leipziger Gelehrtenthum, lernte er von den Engländern den Sinn für Welt und Menschen sich schärfen; in seiner Vaterstadt Breslau, wo die Gelehrsamkeit keinen günstigen Boden fand, hatte er Gelegenheit, mit erfahrenen und gebildeten Männern, welche die Bedürfnisse des praktischen Lebens kannten, genauer zu verkehren. – Durch Hume empfing er auch die Liebe zur Beschäftigung mit politischen und volkswirthschaftlichen Gegenständen. Die Uebersetzung des Smith sollte die früheren verdrängen, die er einmal elend nennt. Wie wenige Deutsche jener Zeit wußte er das Nachdenken über Zustände des Vaterlandes, über bürgerliche Verhältnisse in weite Kreise zu verbreiten, welche bisher allen solchen Betrachtungen gänzlich entfernt gewesen. Bei der einseitigen Abwendung aller Zeitgenossen von den Forderungen und Interessen des öffentlichen Lebens waren Männer wie Möser, Forster und er, Jeder in seiner Art verschieden, für ihr Volk von Bedeutung. So schreibt G. „Ueber den Charakter der Bauern“, „Ueber die Ursachen des Verfalles der kleinen Städte“ etc., wie er über die Pflichten des Regenten bei Behandlung der Regierungsweise Friedrichs redet. G. galt darum als ein Schriftsteller, der auch ganz besonderes Talent für Fragen der Politik hatte; ein Brief Schiller’s vom J. 1795 an ihn zeigt das z. B. Seine Abhandlung „Ueber die Verbindung der Moral mit der Politik“ gab Kant offenbar Anlaß zu seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“, in der Kant auch in der Politik nach seiner Art durchgreifender zu Werke geht, gerade so wie in seinem Moralprincip. – Seine Neigung, die Dinge in ihrer Beziehung auf das Leben zu betrachten, behütete G. vor dem Fehler, welchen [390] Mendelssohn schon 1762 in den Litteraturbriefen rügt, daß man in Deutschland immer noch gewohnt sei, entweder für Professoren oder für Schulknaben zu schreiben. Sein Bestreben war, den Männern von Welt und Stellung die Wichtigkeit und den Werth theoretischer und gelehrter Beschäftigung begreiflich zu machen. Wenn es uns gelänge, schreibt er einmal, unsern Fürsten einen deutschen Montesquieu in die Hände zu geben, vielleicht würden sie dann auch unsere Klopstocke und Geßner und Lessinge und Moses lesen. Der Beifall und die Aufmerksamkeit, die der große Friedrich ihm zollte, zeigten G., daß seine Bemühungen nicht umsonst waren. Auch für Verbesserung des Stils und der Reinheit der deutschen Sprache war er besorgt, wovon besonders der Aufsatz „Ueber den Einfluß einiger besonderen Umstände auf die Bildung unserer Sprache und Litteratur“ Zeugniß gibt. Er beklagt, daß wir uns um die Völker zu wenig bekümmert haben, die unsere eigene älteste Sprache oder einen Dialekt derselben reden; er weiß, daß Klopstock unsere Sprache durch malerische ausdrucksvolle „Wörter bereichert und gehoben, daß Lessing manches mit Unrecht verachtete Wort, manchen Ausdruck gerettet hat.“ Und in den in der Berliner Akademie vorgelesenen „Allgemeinen Betrachtungen über Sprachverbesserungen“, die offenbar durch Friedrichs bekannte Schrift De la littérature allemande veranlaßt wurden, ist er überzeugt, daß nur die großen Schriftsteller die Sprache ausbilden können, daß Grammatiken und Wörterbücher den bis jetzt erreichten Grad der Ausbildung der Sprache nur angeben und allgemein bekannt machen, aber nicht erhöhen. Von dem Versuch, der Sprache durch Erweiterung der veralteten oder Provinzialwörter feine Schattirungen zu geben, verspricht er sich nur zweifelhaften Erfolg. Ueber den Nutzen eines Wörterbuches redet er nur gemäß den Intentionen Adelungs (s. d.), „dessen Arbeit in Betracht der Schwierigkeit, welche sie für den ersten Unternehmer hat, durch ihre Vollkommenheit in Erstaunen setzt.“ Mangelhaftes und Unrichtiges bei ihm werde die Akademie berichtigen; aber G. will nicht, daß das Wörterbuch unsere Sprache fixire, hart und steif mache: er will, daß sie unter einer „demokratischen Verwaltung“ stehe; die Rathschläge der Gelehrten müßten erst die Sanction der Volksstimme erhalten, ehe sie zu wirklichen Sprachgesetzen werden. Sehr bedeutsam ist auch sein Wunsch am Schluß, daß es gewöhnlich würde, den Zöglingen der Wissenschaften Vorlesungen über einige unserer besten Schriftsteller zu halten. – Garve’s Uebersetzerthätigkeit war nicht wie die vieler Zeitgenossen eine rein zufällige oder mechanische: er that mit Ferguson einen ebenso glücklichen Griff, wie mit seiner oben erwähnten Uebertragung des Werkes von Burke. Während bisher im Wesentlichen eine rein äußerliche Kunstbetrachtung, welche abstracte Regeln aufstellte, geherrscht hatte, suchten die englischen Psychologen das Wesen und den Ursprung unserer Begriffe vom Schönen und Erhabenen zu erfassen. Wie man sich bemühte von der Religion die Moral abzugrenzen, so verstand es Burke, die ästhetischen Empfindungen von den Nebenerscheinungen zu trennen. So wenig er auch die Tiefe der künstlerischen Conception zu erfassen im Stande war, die zerstreuten Beobachtungen durch einen umfassenden Gedanken zu binden, findet sich doch bei ihm schon das Gefühl des Erhabenen im Wesentlichen wie später bei Kant erklärt; und eindringlich hebt er beim Schönen die vollkommen uninteressirte Beschaulichkeit hervor. Die Wichtigkeit des Buches erkannte man in Deutschland. 1757 erschien Burke’s Buch; 1764 Kant’s „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“, die durch Burke’s offenbar angeregt waren. Lessing nennt in einem Brief an Mendelssohn (1758) Burke’s Wahrnehmungen sehr brauchbar; er habe Materialien zu einem guten System gesammelt. Wie anregend auf ihn das Buch gewirkt, bezeugen auch seine Bemerkungen über dasselbe aus der Leipziger Zeit, wo er Definitionen vom Erhabenen und Schönen, [391] von der Liebe, dem Hasse, im Anschluß an Burke gibt. Die Uebersetzung Garve’s wurde um so mehr begrüßt, als man lange auf eine vergeblich gehofft hatte: Garve’s Aufsatz „Ueber das Interessirende“ und andere bezeugen, was er selbst von Burke gelernt. – So wenig ferner Gerard’s Buch über das Genie über eine äußerliche Zergliederung herauskam, so regte doch die Uebersetzung in Deutschland zu tieferer Begründung an. Schiller verlangt das Buch 1782 von Reinwald; man weiß, wie eifrig er sich später im Anfang der neunziger Jahre mit dem Begriff des Genies beschäftigt hat. In demselben Briefe verlangt Schiller auch Home’s Werk: die 2. Ausgabe, wie oben gesagt wurde, hatten G. und Engel besorgt. In mehrfacher Beziehung war das Buch von Bedeutung: über die Behandlungsweise des fünffüßigen Jambus gab er den deutschen Dichtern erst das gehörige Licht, so daß Herder, der Home hochhielt, in den Fragmenten über die neuere deutsche Litteratur entschiedener als alle für das „miltonische Versmaß“ eintrat. Daß Lessing Home unstreitig gekannt, ja ihn für seinen Laokoon benutzt hat, – Reiz ist Schönheit in Bewegung – hat Guhrauer zuerst ausgesprochen: man sehe aber noch Lessing’s Bemerkungen „Unterbrechung im Dialog“, wo er sich auf Home stützt (Werke von Lachm. Maltzahn 11, 1, 202). Zu wenig beachtet ist ferner, daß die Uebersetzung des Werkes von Home, der auf Naturwahrheit gegen die französische Zwangsjacke drang und der in seinem Buche wiederholt Beispiele aus Shakespeare genommen und auf seine Schönheiten, wenn auch in ganz allgemeiner Weise noch, aufmerksam gemacht, daß diese Uebersetzung die Bekanntschaft mit Shakespeare in Deutschland wesentlich fördern mußte. – So war Garve’s Thätigkeit als Uebersetzer auch hier sehr förderlich: Lessing, Herder, Kant wußten die Ahnungen und Anregungen der Engländer mit künstlerischem Sinne und philosophischer Tiefe zu abschließender Klarheit zu bringen. In den Aufsätzen über ästhetische Gegenstände blieb G. bei der in der Jugendzeit empfangenen Richtung. Aufsätze wie „Ueber Laune und Humor“, „Warum sich der Geschmack – wir würden heute sagen der ästhetische Sinn – im Ernsthaften früher als im Komischen läutre“, schienen wol in den neunziger Jahren den Kritikern der romantischen Schule verächtlich. Sie, besonders Schleiermacher haben G. mit Undank gelohnt: der neuen Richtung in der Philosophie wie in der Litteratur hat er den Boden ebnen helfen. – Durch die Abhandlung über die Rollen der Wahnwitzigen in Shakespeare’s Schauspielen, und „über den Charakter Hamlet’s insbesondere“ (im II. Theil der Versuche) hat G. zu tieferer ästhetischer Würdigung des großen Dichters und besonders seines Hamlet mitgewirkt. Während der siebenziger Jahre hatte er Gelegenheit gehabt, über das Nachäffen Shakespeare’s in Wahnsinnsscenen Betrachtungen anzustellen: er will im Aufsatze den Werth des Wahnsinns „als dichterische Maschine“ untersuchen und kommt dadurch auf eine Beleuchtung von Hamlet’s Charakter, die nach Goethe und ihm oft unternommen wurde. – Es darf nicht unbeachtet bleiben, daß der größte Dramatiker Deutschlands von ihm die bedeutendste Anregung erfahren hat. Schiller las seine Abhandlungen nicht blos in der Jugend; seine Hochachtung für ihn bezeugen mehrere Briefe und das bekannte Xenion, das sich auf Garve’s Schrift „Ueber die Geduld“ bezieht. Die Anmerkungen Garve’s zu Ferguson, welche Schiller, wie Karoline Wolzogen erzählt, auswendig wußte, benutzte er zu seiner ersten größeren Abhandlung; noch in den Räubern klingen die Eindrücke aus Garve’s Arbeit wieder. Zu dem berühmten Aufsatz „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“ erhielt Schiller die Anregung durch Garve’s „Betrachtung einiger Verschiedenheiten in den Werken der ältesten und neueren Schriftsteller, besonders der Dichter“. In mehreren Aufsätzen berühren sich Beide, so daß z. B. Schiller, als er mit einer Arbeit über den ästhetischen Umgang und Verwandtes beschäftigt war, in einem Brief an G. vom J. 1794 [392] äußert, er betrachte sich gewissermaßen als seinen Nachbar in diesem Fache. Und Garve’s Bemerkungen „Ueber zwey Stellen des Herodots“ im II. Theil der „Versuche“ gab dem Dichter die Veranlassung zur Ballade „Der Ring des Polykrates“. – Viele der Vorzüge und Schwächen der englischen Denker jener Zeit finden sich auch bei G. Die gesunde und vorurtheilsfreie Beobachtung des Lebens; sein Scharfsinn in der Betrachtung des Treibens der verschiedenen Stände wie in der Beurtheilung Epoche machender Werke; die Verwerthung seiner mannigfachen Kenntnisse mit beständigem Hinblick auf das Leben, auf Beförderung freieren Denkens und milderer Sitten sind seine Stärke. Ihm fehlte es an Tiefe und Originalität im Denken; ihm fehlten die frische Sinnlichkeit, die bewegliche Phantasie, welche den Größen unter den Gelehrten immer eigneten, darum auch der Schwung und das Feuer der Darstellung, wenn auch keineswegs die überzeugende Kraft, welche wahrheitsliebender Sinn jeder Zeit auszuüben vermag. Er selbst sagt treffend, nur allzu bescheiden, an einer wenig bekannten Stelle in den Betrachtungen über Macfarlan’s Buch, zu allen seinen Ideen brauche er Veranlassungen, welche die Gedanken Anderer, die er prüfe, gegeben. Im Grunde habe er immer fremde Werke commentirt. Aber mehr oder weniger, tröstet er sich, nehme das Denken aller Menschen diesen Gang. Indeß „ich mag weniger Genie haben hervorzubringen, als gesunde Vernunft zu beurtheilen und auszubilden, was schon gefunden ist.“ Mit Lessing und Kant verglichen tritt uns sein Wesen noch deutlicher entgegen: während G. der Hauptsache nach als ein freilich sehr scharfsinniger, feiner, oft auch geistvoller Erklärer des Angedeuteten oder bereits Dargelegten sich zeigt, benutzt Lessing die Ideen Anderer für die Theorie der Dichtkunst in ureigner schöpferischer Weise. Und gerade so ragt G. auch in der Philosophie über den Standpunkt des lockischen Empirismus, des gesunden Menschenverstandes nicht heraus; auch er bleibt, wie einmal Lessing von Locke sagt, auf halbem Wege stehen; die Anregungen der Engländer weiß er nicht zum Ausgangspunkte eigener Betrachtung und durchgreifender Kritik zu machen; diese große Aufgabe mußte er Kant überlassen. – In litterarischen und ästhetischen Fragen stand er in der Mitte zwischen zwei Parteien; ebenso wie später in der Philosophie zwischen dem wissenschaftlichen Radicalismus Kant’s und dem gefühlsseligen Glaubensstolz der Jacobi, Lavater, Hamann. Goethe’s und Schiller’s dichterische Größe konnte er nie ganz richtig erfassen, obwol er die Dichtungen Beider oft rühmt, denn nicht ganz rang er sich von der Auffassung Adelung’s, seines Freundes, los, der in Gellert den eigentlichen Klassiker Deutschlands sah; ebenso leugnete er zwar, ehrlich wie er war, nie das Genie Kant’s, aber er empfand vor der Umwälzung, die in allen Wissenschaften durch die kritische Philosophie hervorgerufen wurde, im Grunde doch stets ein unbehagliches Gefühl. Als Gelehrter, als Schriftsteller, als ein selten edler Mensch wird G. immer verdiente Achtung genießen.

Jördens. – Meusel. – S. G. Dittmar, Erinnerungen aus meinem Umgang mit Garve, Berlin 1801, mit einer (nicht ganz vollständigen) Uebersicht der Schriften von und über Garve. – H. Döring bei Ersch und Gruber, 1852. – Schiller und Garve, eine Untersuchung von D. J. im Archiv für Litteraturgeschichte VII, 1.