Die Gartenlaube (1880)/Heft 22
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No. 22. | 1880. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Der März und auch der größte Theil des April waren vergangen, und Schneegestöber und Kälte hatten nun endlich ein Ende genommen. Trotzdem ließ sich der Frühling noch immer erwarten; es sah noch recht öde aus draußen im Freien, wo sonst um diese Jahreszeit schon Alles im Frühlingsschmuck prangte. Vorläufig war von Wärme und Sonnenschein noch nicht viel die Rede, und die Witterung war und blieb wochenlang so unerfreulich wie nur möglich.
In den feindseligen Beziehungen zwischen Ettersberg und Brunneck hatte sich, dem äußeren Anschein nach, nichts geändert. Der Proceß nahm ungestört seinen Fortgang; jede der Parteien behauptete nach wie vor ihren Standpunkt, und von irgend einem Vergleich war nicht die Rede. Die Gräfin ertheilte alle Anweisungen im Namen ihres Sohnes, der sich um die ganze Angelegenheit nicht im geringsten kümmerte, und der Oberamtsrath vertrat seine minderjährige Tochter, die ja überhaupt noch gar keine Meinung haben konnte. Das war von Anfang an so gewesen und wurde als selbstverständlich angenommen.
Aber die beiden Hauptpersonen, die eigentlich den Proceß mit einander führten, verhielten sich keineswegs so passiv, wie es den Anschein hatte, und die Eltern, die mit der größten Hartnäckigkeit ihre „Principien“ verfolgten, ahnten nicht, was sich inzwischen im Stillen vorbereitete.
Rüstow war überhaupt während der letzten Wochen nicht in Brunneck gewesen. Seine Betheiligung an einem großen industriellen Unternehmen hatte ihn nach der Residenz gerufen. Man forderte auch hier seinen Rath und Beistand, aber die Sache zog sich in die Länge, und aus der anfangs nur kurz bemessenen Abwesenheit wurden volle vier Wochen.
Als Graf Ettersberg nach Verlauf von acht Tagen seinen Besuch in Brunneck wiederholte, fand er den Herrn desselben schon abwesend, aber Fräulein Hedwig und ihre Tante waren zu Hause, und Edmund versäumte es natürlich nicht, sich bei den Damen liebenswürdig zu machen. Diesem zweiten Besuch folgte bald ein dritter und vierter, und von nun an fügte es ein merkwürdiger Zufall, daß regelmäßig, wenn die beiden Damen einen Spaziergang, eine Ausfahrt oder einen Besuch in der Nachbarschaft unternahmen, der junge Graf immer genau zu derselben Zeit auf demselben Wege war. Das gab dann stets Gelegenheit zur Begrüßung und zu einem längeren oder kürzeren Zusammensein – kurz, der freundnachbarliche Verkehr war im vollsten Gange.
Der Oberamtsrath wußte freilich nichts davon. Seine Tochter hielt es nicht für nöthig, dergleichen in ihren Briefen zu erwähnen, und Edmund befolgte die gleiche Taktik seiner Mutter gegenüber. Seinem Vetter hatte er allerdings jenen ersten „Einbruch in das feindliche Lager“ triumphirend mitgetheilt, da Oswald aber einige scharfe Bemerkungen darüber gemacht und den Verkehr mit Brunneck während der Dauer des Processes als unpassend bezeichnet hatte, so wurde auch er keiner ferneren Mittheilung mehr gewürdigt.
Es war gegen das Ende des April, an einem ziemlich kühlen und trüben Vormittage, als Graf Edmund und Oswald durch den Wald schritten. Die Ettersberg'schen Waldungen waren sehr ausgedehnt und erstreckten sich auch über einen Theil jenes Höhenzuges, der sich als Vorläufer der eigentlichen Berge in das Land hineinschob. Die beiden Herren stiegen dort bergaufwärts, aber es schien nicht der Spaziergang zu sein, der sie hinausgelockt hatte; denn sie musterten prüfend die Umgebung, und Oswald sprach eindringlich auf seinen Vetter ein.
„Nun sieh Dir doch Deine Forsten an! Es ist unglaublich, wie in den letzten Jahren da gewirthschaftet worden ist; den halben Wald haben sie Dir niedergeschlagen. Ich begreife nicht, wie Dir das nicht auffallen konnte; Du bist ja fast täglich ausgeritten.“
„Bah, ich habe nicht darauf geachtet,“ sagte Edmund. „Du hast Recht, das sieht allerdings bedenklich aus, aber der Administrator behauptet, er hätte den Ausfall der anderweitigen Einnahmen nur auf diese Weise decken können.“
„Der Administrator behauptet alles Mögliche, und da er bei Deiner Mutter in großer Gunst steht, so glaubt sie ihm anstandslos und läßt ihn überall gewähren.“
„Ich werde mit meiner Mama darüber sprechen,“ erklärte der junge Graf. „Eigentlich wäre es besser, wenn Du das thätest. Du verstehst es weit klarer und nachdrücklicher auseinander zu setzen als ich.“
„Du weißt, daß ich Deiner Mutter nie einen Rath ertheile,“ entgegnete Oswald kalt. „Sie würde das auch von meiner Seite als ein unberechtigtes Eindringen auffassen und demgemäß abweisen.“
Edmund schwieg zu der letzten Bemerkung, deren Wahrheit er wohl fühlen mochte.
„Hältst Du den Administrator für betrügerisch?“ fragte er nach einer kleinen Pause.
„Nein, aber für gänzlich unfähig, seine Stellung auszufüllen. [350] Er versteht nichts zu leiten, nichts zusammen zu halten. Wie in den Forsten, so sieht es in der ganzen Verwaltung aus. Jeder der Beamten wirthschaftet auf eigene Hand, und wenn das so fortgeht, werden sie Dir Deine Güter bald in Grund und Boden wirthschaften. Sieh Dir Brunneck an, wie es dort zugeht! Der Oberamtsrath zieht aus dem einen Gute so viel, wie Du aus Deiner ganzen Herrschaft, und Ettersberg hat noch ganz andere Hülfsquellen. Bisher hast Du Dich auf Andere verlassen müssen. Du warst ja jahrelang auf der Universität und dann im Auslande, jetzt aber bist Du eigens hier, um Deine Güter zu übernehmen; jetzt muß auch energisch eingegriffen werden.“
„Was Du in den sechs Wochen nicht alles herausgefunden hast!“ sagte Edmund mit aufrichtiger Bewunderung. „Wenn die Sache so steht, werde ich allerdings eingreifen müssen; wenn ich nur wüßte, wo ich eigentlich anfangen soll.“
„Für's Erste entlaß die Beamten, die sich unfähig erweisen, und ersetze sie durch bessere Kräfte! Ich fürchte freilich, daß Du dann fast das ganze Personal wechseln mußt.“
„Um des Himmelswillen nicht! Das giebt Weitläufigkeiten und Widerwärtigkeiten ohne Ende. Es ist mir peinlich, lauter neue Gesichter um mich zu sehen, und es wird Monate dauern, ehe sie sich einarbeiten. Inzwischen habe ich die ganze Last und muß Alles selbst thun.“
„Dafür bist Du aber der Herr. Du wirst doch wenigstens befehlen können.“
Edmund lachte. „Ja, wenn ich Deine Leidenschaft für das Commandiren hätte und Dein Talent dazu! Du würdest in vier Wochen Ettersberg total umgestalten und in drei Jahren eine Musterwirthschaft daraus machen, wie Brunneck es ist. Wenn Du mir nur wenigstens zur Seite bliebest, Oswald! Dann hätte ich doch eine Stütze, aber nun willst Du durchaus im Herbste fort, und dann sitze ich hier allein mit unzuverlässigen oder fremden Beamten. Schöne Aussichten! Ich habe das Majorat noch gar nicht einmal officiell angetreten, und schon ist es mir eine Plage geworden.“
„Das Schicksal hat Dich aber doch nun einmal zum Majoratsherrn gemacht,“ sagte Oswald sarkastisch, „also wirst Du die schwere Last wohl tragen müssen. Noch einmal, Edmund, es ist die höchste Zeit, daß hier irgend etwas geschieht. Versprich mir, daß Du ungesäumt zur Abhülfe schreiten wirst!“
„Ja, gewiß, unter allen Umständen,“ versicherte der junge Graf, den das Gespräch sichtlich langweilte. „Sobald ich nur irgend Zeit habe – jetzt habe ich so viel andere Dinge im Kopfe.“
„Wichtigere Dinge als das Wohl und Wehe Deiner Güter?“
„Vielleicht! Aber ich muß jetzt fort. Kehrst Du von hier aus nach Hause zurück?“
Die Frage klang eigenthümlich forschend. Oswald achtete jedoch nicht darauf; er hatte sich in offenbarer Verstimmung abgewendet.
„Gewiß! Kommst Du nicht mit mir?“
„Nein, ich will nach dem Forsthause hinüber. Der Förster hat meine Diana in Dressur genommen; ich muß einmal nach dem Thiere sehen.“
„Muß denn das gerade jetzt sein?“ fragte Oswald befremdet. „Du weißt ja, daß heute Mittag Dein Rechtsanwalt aus der Stadt kommt, um mit Dir und Deiner Mutter wegen des Processes zu conferiren, und Du hast versprochen, pünktlich zu sein.“
„O, bis dahin bin ich längst wieder zurück,“ sagte Edmund leichthin. „Adieu, Oswald! Mach' mir kein so finsteres Gesicht. Ich verspreche Dir, daß ich morgen ausführlich mit dem Administrator reden werde, oder übermorgen. Jedenfalls wird es geschehen – verlaß Dich darauf!“
Damit schlug er einen Seitenpfad ein und verschwand bald darauf zwischen den Bäumen.
Oswald sah ihm finster nach.
„Es wird auch morgen und übermorgen nichts geändert werden und überhaupt niemals. Da hat er wieder irgend eine unnütze Tändelei im Kopfe, und darüber kann ganz Ettersberg zu Grunde gehen. Freilich,“ hier zuckte ein Ausdruck tiefer Bitterkeit über das Gesicht des junge Mannes, „freilich, was geht das mich an! Ich bin ja ein Fremder auf diesem Boden und werde es bleiben. Wenn Edmund durchaus nicht hören will, so mag er die Folge tragen! Ich kümmere mich nicht mehr darum.“
Das war aber leichter gesagt als gethan. Oswald's Blick kehrte immer wieder zu dem arg gelichteten Wald zurück. Sein zorniger Unwille über die völlig planlose Verwüstung ringsum wollte sich nicht unterdrücken lassen, und anstatt nach Hause zurückzukehren, wie es seine Absicht gewesen war, stieg er weiter bergaufwärts, um auch den hochgelegenen Theil zu untersuchen. Es war nicht viel Tröstliches, was er dort entdeckte. Auch hier hatte die Axt überall in zerstörender Weise gehaust, und das nahm erst oben auf der Höhe ein Ende. Dort begann bereits das Gebiet von Brunneck, wo es nun allerdings anders und besser aussah.
Es war zunächst nur dieser Vergleich, der Oswald bewog, das fremde Gebiet zu betreten, aber sein Unwille stieg beim Anblicke dieser prächtigen, sorgfältig geschonte Waldungen, hinter denen die Ettersberg'schen Forsten in ihrem jetzigen Zustande weit zurückblieben. Was hatte überhaupt die Thätigkeit eines einzigen Mannes aus diesem Brunneck gemacht, und wie war dagegen Ettersberg gesunken! Seit dem Tode des alten Grafen befanden sich die Güter fast gänzlich in den Händen der Beamten. Die Gräfin, eine vornehme Dame, die seit ihrer Vermählung nur von Glanz und Reichthum umgeben war, fand es selbstverständlich, daß die Verwaltung von den Untergebenen geführt und die Herrschaft so wenig wie möglich damit behelligt wurde. Ueberdies war der gräfliche Haushalt auf einem sehr großen Fuße zugerichtet; die Summen dazu mußten geschafft werden, und die Güter mußten sie schaffen, gleichviel auf welche Weise. Der Bruder der Gräfin, Edmund's Vormund, lebte in der Residenz, wo er ein höheres Staatsamt bekleidete, und war sehr von seinem Berufe in Anspruch genommen. Er trat überhaupt nur selten und nur in besonderen Fällen ein, wenn die Schwester seinen Rath und Beistand verlangte; nach den Verfügungen ihres Gemahls war sie ja auch die eigentlich Beschließende. Das nahm nun freilich mit Edmund's Mündigkeit ein Ende, aber was von der Thätigkeit und dem Interesse des jungen Majoratsherrn für seine Güter zu erwarten war, das hatte sich ja soeben gezeigt. Oswald sah mit Bitterkeit, wie eine der reichsten Herrschaften des Landes durch die Sorglosigkeit und Gleichgültigkeit ihrer Besitzer dem sicheren Verfalle entgegen ging, und er empfand das um so schwerer, als er sich sagte, daß ein ungesäumtes, energisches Eingreifen noch Alles wieder gut machen konnte. Noch war es Zeit; in zwei Jahren vielleicht war es schon zu spät.
Der junge Mann war auf diese Weise immer tiefer in den Wald hineingerathen; jetzt blieb er stehen und sah nach der Uhr. Mehr als eine Stunde war vergangen, seit er sich von Edmund getrennt hatte; dieser mußte längst auf dem Rückwege sein. Auch Oswald beschloß jetzt umzukehren, aber er wählte dazu einen andern, etwas weiteren Weg. Er hatte ja nichts zu versäumen; seine Gegenwart bei der Conferenz war weder nöthig noch erwünscht; also konnte er den Spaziergang ganz nach Belieben ausdehnen.
Es mußten eigenthümliche Gedanken sein, die in der Seele des jungen Mannes wühlten, als er so langsam dahinschritt. Er dachte längst nicht mehr an Forsten und Gutsverwaltung. Es war etwas Anderes, was seine Stirn so drohend faltete und auf sein Antlitz einen so herben, feindseligen Ausdruck legte, als sei er bereit, mit aller Welt den Kampf aufzunehmen. Es war ein finsteres, forschendes Grübeln, das sich ruhelos um einen einzigen Punkt drehte, von dem er sich vergebens loszureißen suchte, und das ihn trotzdem immer mehr und mehr gefangen nahm.
„Ich will nicht mehr daran denken,“ sagte er endlich halblaut. „Immer und immer wieder dieser unselige Verdacht, den ich nicht los werden kann! Ich habe nichts, was ihn bestätigt, und doch verbittert er mir jede Stunde, vergiftet mir jede Regung – fort damit!“
Er fuhr mit der Hand über die Stirn, als wolle er die quälenden Gedanken verscheuchen, und verfolgte rascher den Weg, der jetzt eine Biegung machte und den Wald verließ. Oswald trat auf die freie Höhe hinaus, blieb aber hier wie angewurzelt stehen bei dem gänzlich unerwarteten Anblick, der sich ihm darbot.
Kaum zwanzig Schritt von ihm entfernt, am Rande des Waldes, saß auf dem rasigen Abhange eine junge Dame. Sie hatte den Hut abgenommen, sodaß man ihr Gesicht voll erblicken konnte, und wer dies reizende Gesicht mit den leuchtenden, dunklen [351] Augen nur einmal gesehen hatte, der vergaß es so leicht nicht wieder. Es war Hedwig Rüstow, und dicht neben ihr saß in sehr vertraulicher Weise Graf Edmund, der in der Zwischenzeit unmöglich im Forsthause gewesen sein konnte. Die Beiden waren in ein äußerst lebhaftes Gespräch vertieft, das aber weder ernst noch inhaltreich zu sein schien. Es war vielmehr wieder jenes muthwillige Spiel, das sie schon bei der ersten Begegnung mit solcher Vorliebe getrieben hatten, ein neckisches Hin- und Herfliegen von Worten, ein Lachen und Scherzen ohne Ende, nur daß dies heut alles den Anschein der engsten Vertraulichkeit hatte. Und jetzt nahm Edmund neckend den Hut aus den Händen des jungen Mädchens und warf ihn auf den Rasen, während er sich der Hände selbst bemächtigte, um stürmisch Kuß auf Kuß darauf zu drücken, und Hedwig ließ das ohne jeden Einspruch geschehen, als sei es durchaus selbstverständlich.
Einige Minuten lang stand der fremde Zuschauer regungslos und sah den Beiden zu; dann wandte er sich um und wollte unbemerkt wieder unter die Bäume zurücktreten, aber dabei krachte ein trockener Ast unter seinen Füßen und verrieth ihn. Hedwig und Edmund blickten gleichzeitig auf und der letztere sprang rasch empor.
„Oswald!“
Dieser sah, daß ein Zurückziehen jetzt nicht mehr möglich war. Er verließ daher seinen Standpunkt und näherte sich dem jungen Paare.
„Du bist es!“ sagte Edmund in einem Tone, der zwischen Verlegenheit und Aerger schwankte. „Wo kommst Du denn her?“
„Aus dem Walde!“ versetzte der Gefragte lakonisch.
„Aber Du wolltest ja sofort nach Hause zurückkehren?“
„Und Du wolltest nach dem Forsthause, das ja wohl in entgegengesetzter Richtung liegt.“
Der junge Graf biß sich auf die Lippen. Er mochte wohl fühlen, daß es nicht möglich war, dieses Beisammensein für ein zufälliges auszugeben; überdies mußten die leidenschaftlichen Handküsse gesehen worden sein; er suchte sich deshalb so gut wie möglich zu fassen.
„Du kennst Fräulein Rüstow bereits von unserer ersten Begegnung her,“ warf er leicht hin. „Ich brauche Dich also nicht vorzustellen.“
Oswald verneigte sich völlig fremd vor der jungen Dame.
„Ich bitte die Störung zu entschuldigen; sie war durchaus unfreiwillig. Ich konnte meinen Vetter unmöglich hier vermuthen. Sie gestatten wohl, mein Fräulein, daß ich mich sofort wieder zurückziehe?“
Hedwig hatte sich gleichfalls erhoben. Sie empfand das Peinliche der Situation augenscheinlich viel tiefer als Edmund; denn auf ihrem Gesichte lag eine flammende Röthe, und ihr Auge haftete am Boden. Erst bei dem Ton der Anrede, der trotz aller Höflichkeit doch eine wahre Eiseskälte hatte, hob sie den Blick empor. Er begegnete dem Oswald's, und das junge Mädchen mußte darin wohl etwas sehr Verletzendes lesen; denn die dunkelblauen Augen sprühten plötzlich auf, und die Stimme, die soeben noch in jenem frischen, silberhellen Lachen geklungen, bebte in zorniger Erregung, als sie rief:
„Herr von Ettersberg – ich bitte Sie zu bleiben.“
Oswald, der wirklich im Begriff war zu gehen, hielt betroffen inne. Hedwig stand bereits neben dem jungen Grafen und legte ihre Hand auf die seinige.
„Edmund, Du wirst Deinen Vetter nicht so gehen lassen. Du wirst ihm die nöthige Aufklärung geben – sofort, auf der Stelle! Du siehst es ja, daß er sich im – Irrthum befindet.“
Oswald war unwillkürlich einen Schritt zurückgetreten, als er dies „Du“ vernahm, aber auch Edmund sah sehr überrascht aus bei dem energischen, fast befehlenden Tone, den er wohl zum ersten Male von diesen Lippen hörte.
„Aber Hedwig, Du selbst warst es ja, die mir Schweigen auferlegte,“ sagte er. „Sonst hätte ich Oswald sicher kein Geheimniß aus unserer Liebe gemacht. Du hast Recht, wir müssen ihn in's Vertrauen ziehen; mein gestrenger Mentor ist sonst im Stande, Dir und mir eine vollständige Strafpredigt zu halten. Also mag die Vorstellung in aller Form erfolgen. Oswald – meine Braut und Deine künftige Cousine, die ich hiermit Deiner verwandtschaftlichen Liebe und Hochachtung empfehle.“
Der junge Graf hielt auch bei dieser gewiß ernst gemeinten Vorstellung den heiter scherzenden Ton fest, aber Hedwig, die sonst stets bereit war, darin einzustimmen, schien ihn hier beinahe peinlich zu empfinden. Sie stand wortlos an der Seite ihres Bräutigams und blickte mit eigenthümlicher Spannung zu dem neuen Verwandten hinüber, der noch immer schwieg.
„Nun?“ fragte Edmund befremdet und etwas verletzt durch dieses Schweigen. „Und Du gratulirst uns nicht einmal?“
„Ich habe wohl zunächst um Verzeihung zu bitten,“ sagte Oswald, indem er sich an die junge Braut wandte. „Auf eine solche Neuigkeit war ich allerdings nicht gefaßt.“
„Das ist Deine eigene Schuld,“ lachte Edmund. „Warum hast Du meine Mittheilungen über meinen ersten Besuch in Brunneck so schroff zurückgewiesen! Du hattest alle Aussicht auf den Posten eines Vertrauten. Aber nicht wahr, Hedwig, wir haben Unglück mit unserem Rendez-vous? Es ist das erste Mal, daß wir uns allein, ohne die schützenden Flügel der Tante Lina treffen, und sofort überrascht uns dieser Cato, auf dessen Gesicht das Entsetzen über den Handkuß, den er mit angesehen, so deutlich ausgeprägt stand, daß wir ihn schleunigst mit der Verlobungsanzeige beruhigen mußten. Hoffentlich nimmst Du jetzt Deine Malice wegen der 'Störung' zurück – und im Uebrigen warten wir noch immer auf Deinen Glückwunsch.“
„Ich gratulire Dir,“ sagte Oswald, die dargebotene Hand seines Vetters ergreifend. „Auch Ihnen, mein Fräulein!“
„Wie einsilbig das klingt! Willst Du Dich etwa auch zu unserem Gegner erklären? Das fehlte noch! Wir haben genug mit dem voraussichtlichen Widerstande unserer Eltern zu thun. Der Sturm zieht von zwei Seiten zugleich heran, und da muß ich wenigstens Dich als Verbündeten haben.“
„Du weißt, daß ich bei der Tante keinen Einfluß habe,“ sagte Oswald ruhig. „Du mußt da Deiner eigenen Macht vertrauen. Aber eben deshalb solltest Du es gerade jetzt vermeiden, Deiner Mutter anderweitigen Anlaß zur Verstimmung zu geben, und das wird sicher geschehen, wenn Du die heutige Conferenz versäumst. Dein Rechtsanwalt ist jedenfalls schon in Ettersberg, und Du hast noch eine volle Stunde bis zum Schlosse. – Sie entschuldigen, mein Fräulein, aber ich muß meinen Vetter an eine Pflicht erinnern, die er vollständig vergessen zu haben scheint.“
„Du hast eine Conferenz im Schlosse?“ fragte Hedwig, die sich während der letzten Minuten auffallend schweigsam verhalten hatte.
„Ja, wegen Dornau's,“ lachte Edmund. „Wir befehden uns ja noch immer unversöhnlich deswegen. Bei Dir habe ich freilich Proceß und Conferenzen vergessen; es ist ein Glück, daß Oswald mich daran erinnert. Ich muß heute noch nothgedrungen mit der Mama und dem Herrn Advocaten Pläne schmieden, wie Dornau der Gegenpartei zu entreißen ist. Sie haben ja keine Ahnung davon, daß wir beide den Proceß längst auf dem etwas ungewöhnlichen, aber sehr praktischen Wege der Verlobung erledigt haben.“
„Und wann werden sie das erfahren?“ fragte Oswald.
„Sobald ich weiß, wie Hedwig's Vater die Sache aufnimmt. Er ist gestern zurückgekommen und eben deshalb mußten wir uns noch einmal ungestört sprechen, um den Kriegsplan zu berathen. Es hilft nun einmal nichts: wir müssen jetzt hervor mit unserem Geheimniß. Ettersberg und Brunneck werden freilich darüber entsetzt sein und noch eine Weile Montecchi und Capuletti spielen, aber wir werden schon dafür sorgen, daß das Drama keinen tragischen Ausgang nimmt, sondern mit einer fröhlichen Hochzeit endigt.“
Es sprach eine so heitere Zuversicht aus den Worten des jungen Grafen, und das Lächeln, mit dem Hedwig ihm antwortete, war so siegesgewiß, daß man sah, der Widerstand der Eltern wurde hier gar nicht als wirklich ernster Conflict in Betracht gezogen. Das junge Paar war sich seiner Macht über Vater und Mutter hinreichend bewußt.
„Aber nun muß ich nach Hause,“ rief Edmund aufbrechend. „Es ist wahr, ich darf jetzt die Ungnade der Mama nicht herausfordern, und sie ist sehr ungnädig, wenn sie warten muß. Verzeih, Hedwig, daß ich Dich nicht durch den Wald zurückbegleite! Oswald wird es statt meiner thun. Du mußt ihn als Verwandten ja jetzt überhaupt näher kennen lernen; er ist nicht immer so schweigsam wie bei der ersten Begegnung. Oswald, ich übergebe meine Braut feierlichst Deinem Schutze und Deiner Ritterlichkeit. Und nun lebe wohl, meine süße Hedwig!“
[352] Er zog die Hand seiner Braut zärtlich an die Lippen, winkte seinem Vetter einen Abschiedsgruß zu und eilte davon.
Die beiden Zurückgebliebenen schienen nicht sehr angenehm überrascht von der Bestimmung des Grafen und fanden jedenfalls nicht so schnell, wie er es voraussetzte, den Ton verwandtschaftlicher Vertraulichkeit. Auf der Stirn des jungen Mädchens ruhte eine Wolke, und Oswald's Haltung verrieth vorläufig noch wenig von der anempfohlenen Ritterlichkeit. Endlich nahm er das Wort:
„Mein Vetter hat mir ein so vollständiges Geheimniß aus seinen Beziehungen zu Ihnen gemacht, daß seine jetzige Eröffnung mich im höchsten Grade überrascht.“
„Das haben Sie hinreichend gezeigt, Herr von Ettersberg,“ erwiderte Hedwig. Es war seltsam, wie stolz und entschieden sie sprechen konnte, sobald sie wirklich einmal ernst war.
Oswald trat langsam etwas näher. „Sie sind beleidigt, mein Fräulein, und mit Recht, aber die größere Schuld liegt doch wohl auf Edmund's Seite. Ich konnte unmöglich glauben, daß er seine Braut, seine künftige Gemahlin solchen Mißdeutungen aussetzen würde, wie die, deren ich mich vorhin schuldig machte.“
Dunkle Gluth floß wieder heiß über Hedwig's Wangen.
„Gegen Edmund sprechen Sie den Vorwurf aus, und mir soll er gelten; ich habe ja eingewilligt. Daß das eine Unvorsichtigkeit war, ist mir erst klar geworden bei Ihrem Blick und Ton.“
„Ich habe schon einmal um Verzeihung gebeten,“ sagte Oswald ernst, „und ich wiederhole diese Bitte jetzt. Aber fragen Sie sich selbst, mein Fräulein, wie ein Fremder, dem man die Aufklärung nicht so schnell und unumwunden geben konnte, diese Zusammenkunft beurtheilt haben würde! Ich bleibe dabei: mein Vetter durfte Sie nicht dazu veranlassen.“
Als im Herbst 1878 die zur Aufsuchung der Nordostpassage ausgegangene schwedische Expedition unter Professor Nordenskjöld wider alles Erwarten nicht in Japan eintraf, sondern verschollen blieb, rüstete der in der „Gartenlaube“ kürzlich schon genannte Russe Alexander Sibiriakoff (vergl. Nr. 6 d. J.) einen neuen Dampfer aus, um die Expedition, die er selbst mit so reichen Mitteln unterstützt hatte, aufsuchen zu lassen und ihr nöthigenfalls Hülfe zu bringen. Der zu Ehren des Führers der vermißten Expedition „A. E. Nordenskjöld“ getaufte Dampfer verließ den Hafen Malmö, wo er gebaut und ausgerüstet worden war, am 13. Mai 1879 und erreichte auf dem gewöhnlichen Wege durch den Suezcanal Jokohama am 27. Juli. Es hatte für uns die Möglichkeit vorgelegen, die „Vega“, falls sie frühzeitig im Sommer aus den sie gefangen haltenden Eisbanden glücklich entkommen sein sollte, hier bereits im Hafen liegend anzutreffen; allein es war dies nicht der Fall, und nach wenigen Tagen Aufenthalt lichtete der „Nordenskjöld“ zur Weiterfahrt nach der Beringstraße die Anker.
Die weite, von kleinen Fischerbooten belebte Bai von Jeddo lag hinter uns; wir hatten soeben den an Naturschönheit reichen, von hohen, üppig grünen Bergen gebildeten Eingang durchdampft – da bereitete uns Mutter Natur noch ein grandioses Schauspiel, wie man es so prachtvoll selten sieht: das Land war hinter uns schon fast verschwunden, als plötzlich der Wolkenschleier, der den westlichen Horizont bedeckte, sich verzog und der Fusi-no-yama, jenes weltberühmte Heiligthum der Japaner, mit seiner schon etwas mit Schnee bedeckten, regelmäßigen hohen Pyramide vor die untergehende Sonne trat. Wir hatten vergeblich gehofft, von Jokohama aus dieses Vorbild eines Vulcanes zu erblicken; der herrschende Dunst hatte es verhindert. Um so erfreuter genossen wir den hehren Anblick dieses zwölftausend Fuß hohen Bergriesen, wie er, magisch beleuchtet, scheinbar gerade aus dem Meere aufstieg, kleiner und kleiner werdend, bis endlich die hereinbrechende Dunkelheit ihn verhüllte.
Rasch ging es längs der japanischen Ostküste dem Norden zu; eifrigst wurde tagtäglich nach Schiffen ausgespäht, lag doch die Möglichkeit nahe, die „Vega“ zu treffen. Nichts indessen ließ sich erblicken; einsam lag der Ocean vor uns, und als nun gar am 3. August, drei Tage nachdem wir Jokohama verlassen hatten, dicke, naßkalte Nebel das Schiff umschlossen, war uns jede Aussicht benommen, Professor Nordenskjöld, falls er wirklich schon um diese Zeit in den japanischen Gewässern eintreffen sollte, zu begegnen. Mit ungeminderter Geschwindigkeit wurde trotz des Nebels die Fahrt fortgesetzt, um noch zur günstigen Zeit das Eismeer zu erreichen. Wir glaubten freies Fahrwasser vor uns zu haben, allein die heimtückischen Feinde der Seefahrer, die Meeresströmungen, hielten unser wackeres Schiff im Bann und führten es unversehens dem Verderben entgegen.
Am 5. August um fünfeinhalb Uhr Morgens erfolgte plötzlich ein fürchterlicher Stoß, der das ganze Schiff krachen und erzittern ließ und die Schläfer wider ihren Willen aus ihren Kojen heraus und auf die Füße brachte. Schnell springt Jeder auf Deck, während die Stöße sich noch immer wiederholen, bis endlich die Maschine still steht. Der dichte Nebel verhindert jede Aussicht; nur ganz undeutlich kann man durch ihn hindurch den weißen Schaum der Brandung sehen, deren fernes Tosen gleichzeitig als eine wenig verheißungsvolle Musik zu unseren Ohren dringt. Das Loth belehrt uns, daß wir auf einer Sandbank sitzen, noch ist aber kein Wasser im Schiff; es ergiebt sich also, daß die Sache für den Augenblick nicht so gefährlich ist. Eines der beiden kleinen Boote, die wir an Bord haben, wird sofort ausgesetzt, um einen Anker auszubringen, mit dessen Hülfe man das Schiff zurückzuwinden gedenkt. Allein der Anker hält in dem lockeren Sand nicht, und so muss denn dazu geschritten werden, das Schiff durch Ueberbordwerfen der Kohlen und Ladung zu erleichtern. Es wird noch ein Anker ausgebracht, und nun arbeitet Jeder in wilder Hast.
Die Dampfpfeife sendet von Zeit zu Zeit ihre schrillen, langgezogenen Töne durch den Nebel in die Ferne, um Hülfe herbeizuholen, aber kein Boot, kein Schiff läßt sich erblicken, außer dem fernen Rauschen der Brandung herrscht ringsum tiefe Stille und Einsamkeit. Die mächtigen Zuckerfässer, die unten im Raume liegen, werden mit Aexten aufgeschlagen, und binnen wenigen Stunden sind viele Hunderte von Zuckerhüten in's Meer geworfen, die dazu bestimmt gewesen waren, die Herzen der Hausfrauen zu Jakutsk im fernen Centralsibirien zu erfreuen oder uns manch schönen Pelz oder ethnographisch interessante Gegenstände durch Tauschhandel bei den Tschuktschen zu erwerben. Den Zuckerfässern folgen Eisenstangen und schwere Kisten mit Seife, welche letztere die Bewohner des fernen Tschuktschenlandes hatten in Versuchung führen sollen, sich wenigstens einmal in ihrem Leben zu waschen. Dieser große Schritt zu weiterer Culturentwickelung war nun vom Schicksal vereitelt.
Unterdessen stellt sich aber heraus, daß auch der zweite Anker nicht halten will, und trotz alles Zurückwindens und Ueberbordwerfens ist der Dampfer, welcher fortwährend auf dem Sande hin und her gestoßen wird, nicht flott zu machen; vielmehr rückt er, von den Wellen gedrängt, unaufhaltsam dem Lande näher, welches allmählich bei dem sich etwas lichtenden Nebel zu erkennen ist. Die hohen, üppig mit einem Kräuterteppich bedeckten Hügel fallen ziemlich steil zum Meere ab; an ihrem Fuße erstrecken sich mit Treibholz bedeckte schmale Sandflächen, an denen sich ohne Unterlaß die Wogen donnernd überwälzen. Kein lebendes Wesen ist an der öden Küste zu erblicken.
Endlich um drei Uhr Nachmittags sehen wir durch den Nebel Reiter den Strand entlang kommen. Sie haben uns bemerkt; sie halten an und scheinen sich zu berathen; es sind Japaner. Rasch ist ein Boot bemannt; der Capitain steigt ein; er will von jenen zu erfahren suchen, wo wir sind, und sie veranlassen, Hülfe herbeizuholen. Rasch fliegt das kleine Boot von vier kräftigen Armen getrieben mit der Spitze nach hinten, um den Wogenprall zu pariren, durch das Wasser, verfolgt von den sorgenvollen Blicken der an Bord Zurückgebliebenen. Jetzt kommt der kritische Moment, das Passiren der Brandung.
Das Boot verschwindet einen Augenblick; dann taucht es wieder auf; die Gefahr ist vorüber; die Unserigen springen in's
[353][354] Wasser und waten, das Boot auf's Trockne ziehend, an's Land zu den dort haltenden Reitern. Die Unterhaltung währt nicht lange; da man sich beiderseits nicht durch die Sprache verständigen kann, so hilft die Pantomime. Die Leutchen sehen ein, daß wir Hülfe haben wollen, und wir erfahren, daß es die Insel Jesso ist, an der wir gestrandet sind, die nördlichste der vier großen japanischen Inseln. Unsere Freunde setzen ihre kleinen zottigen Pferde in eiligen Trab und verschwinden in dem wieder dichter werdenden Nebel. Da jede Aussicht auf eine sofortige Rettung des Schiffes uns benommen war, so wurden die Kesselfeuer gelöscht; das Pfeifen des ausströmenden Dampfes erschien uns wie das Todtenlied des braven Schiffchens.
Jeder sich erhebende stärkere Wind konnte uns in die größte Gefahr bringen; deshalb befahl der Capitain gegen Abend der Mannschaft, das Nöthigste zusammenzupacken und an's Land zu gehen. Eilends raffte nun Jeder sein Bestes zusammen, und bald gehen die beiden Boote zwischen Dampfer und Land hin und her und bringen Proviant, Kisten und Koffer in Sicherheit. Die Ueberwindung der Brandung gelingt; nur einmal wird ein Boot, in dem sich gerade ein Theil der wissenschaftlichen Instrumente befindet, von einer hohen Sturzwelle erfaßt und überworfen, wodurch natürlich die Sachen verloren gehen.
Bald ist dicht am Strande ein Zelt aus Segeln aufgeschlagen, ein mächtiges Feuer aus dem am Strande herumliegenden Treibholz angezündet, und der Schiffskoch, ein alter Gardeschütze aus Berlin, ist an einem genau nach dem preußischen Reglement angelegten Kochgraben eifrigst bemüht, den ermatteten und durchnäßten Leuten etwas warmes Essen zuzubereiten. Dann macht sich Jeder, so gut es geht, in dem weichen Sand unter dem Zelt ein Lager für die Nacht zurecht und erwartet den Schlaf.
Da aber war die Rechnung ohne – die Mosquitos gemacht, welche aus den nahen Wäldern und Sümpfen herbeigelockt waren. Eben ist man im Begriff einzuschlafen – da summt und singt es plötzlich am Ohr, und nun beginnt der oft beschriebene Kampf ohne Erbarmen drüben, ohne Hoffnung auf Sieg hüben. Bald tönt aus dieser, bald aus jener Ecke des Zeltes erst ein leiser Seufzer, dann ein tüchtiger Seemannsfluch, bis endlich bald der Eine, bald der Andere, wie von Furien verfolgt, zum Zelt hinaus und zum Feuer stürzt, in dessen qualmendem Rauch man zwar vor Mosquitos ziemlich sicher ist, aber Gefahr läuft zu ersticken. So giebt es denn keine Rettung weiter, als zur Pfeife oder Cigarre zu greifen und die ganze Nacht am Strande um das Feuer herumzulaufen. Nur wenige Hartfellige bringen es zu einem, wenn auch sehr unruhigen Schlaf; früh sind sie freilich so zerstochen und verschwollen, daß sie kaum aus den Augen sehen können.
Als der Tag anbrach, erschien einer unserer alten japanischen Bekannten, Jedem seine obligaten Bücklinge machend, indem er sich bis zur Erde verneigte; er bat den Capitain ihm zu Pferd nach einem neun Stunden entfernten Städtchen zu folgen, woselbst ein höherer japanischer Beamter residiren sollte. Der Capitain leistete dieser Aufforderung natürlich Folge, und wir benutzten die Zeit bis zu seiner nach zwei Tagen erfolgenden Rückkehr, unsere sehr ungemüthliche Lage etwas bequemer zu gestalten, indem Matratzen, Stühle, Decken, Proviant, ja sogar auch ein Tisch vom Schiff heruntergeholt wurden. Letzterer war bald mit üppigen Sträußen der schönsten Wald- und Wiesenblumen geschmückt. Kurz, es wurde Alles so gemüthlich wie möglich eingerichtet, und wenn nur die Legionen von Mücken bei Nacht und Stechfliegen bei Tag nicht gewesen wären, so hätte man es schon aushalten können.
Der Strand war weithin mit leeren Zuckertonnen und zerfallenen Seifenkisten bedeckt, deren halbzerflossener Inhalt einheimische Fischern, die gerade vorbeikamen, sehr verlockend erschien. So groß aber war die Ehrlichkeit dieser Leute, daß sie von diesem eigentlich herrenlosen Gut sich nicht eher etwas aneigneten, als bis sie den Einen oder Anderen von uns zu den betreffenden Stellen geführt und die natürlich gern ertheilte Erlaubniß erhalten hatten. An den europäischen Küsten würden die Strandbewohner nicht so große Umstände gemacht haben, und wieder einmal hatte Seume Recht mit seinem: „Wir Wilde sind doch bessere Menschen.“
Die Bewohner des Landes benutzen den Strand als Verkehrsweg, da es im Innern der Insel keine Straßen giebt, vielmehr dort alles fast noch unerforschte, ängstlich gemiedene Wildniß und Urwald ist; der Verkehr mit den Leuten gestaltete sich auf das Günstigste. Obwohl Alle schon häufiger mit Europäern zusammengekommen zu sein schienen, so betrachteten sie doch die am Strande herumliegenden Dinge mit der größten Aufmerksamkeit und ließen sich den Gebrauch dieses oder jenes Gegenstandes auseinandersetzen, ohne jedoch zu wagen, irgend etwas ohne specielle Erlaubniß zu berühren. Zuweilen erhielten wir auch den Besuch von höheren Beamten; es waren Abgesandte des oben erwähnten Gouverneurs in Nemoro, welche europäisch gekleidet waren und mehr oder weniger geläufig englisch sprachen. Sie untersuchten genau die Lage des Schiffes, beabachteten unser Thun und Treiben und ließen sich bereitwilligst mit Champagner und Cigarren tractiren. Was schadete es, wenn der Eine keinen Hut hatte und des Andern Hosen von etwas bedenklicher Kürze waren, auch der Rock nicht vom ersten Pariser Schneider gemacht zu sein schien; die Leutchen waren alle höflich und freundlich und versprachen jede mögliche Hülfe. Beim Abschied erhielt dann wohl Jeder sein tüchtiges Stück Schinken, das, sauber in Papier eingewickelt, sofort in einer Rocktasche verschwand; daneben wurde Jedem auch noch ein Stück Hutzucker zu Theil. Bezahlungen, die uns in der ersten Zeit angeboten wurden, lehnten wir natürlich ab.
So verging eine volle Woche; tagtäglich waren wir mit Rettungsversuchen beschäftigt, die aber stets mißlangen, und ein kleiner japanischer Dampfer, der uns zur Verfügung gestellt war, konnte auch nicht viel helfen. Nachdem unser braves Schiffchen allmählich durch den Wogengang fast ganz auf das Trockene geworfen war, wurde das Nöthigste zusammengepackt, und während der Capitain beim Schiff zur Bewachung blieb, war bald die übrige Mannschaft mit dem oben erwähnten japanischen Dampfboot an der Küste entlang nach einem kleinen Fischerort gebracht. Die Bevölkerung desselben bestand theilweise aus Aïnos, jenem Volke, welches sich vor allen anderen der Erde durch eine starke Behaarung des ganzen Körpers auszeichnet – eine Eigenthümlichkeit, die von ihren Trägern für eine besondere Schönheit gehalten zu werden scheint; nehmen doch die Aïnofranen ihre Zuflucht zu der Kunst, um die Kargheit der Natur zu corrigiren, indem sie mittelst einer schwarzblauen Farbe die Oberlippe derart tätowiren, daß der Schein eines kräftigen Schnurrbartes erweckt wird (vergl. die umstehende Abbildung!). Früher die Hauptbevölkerung der südlichen Inseln des japanischen Reiches bildend, wurden die Aïnos im dreizehnten Jahrhundert dort ausgerottet; jetzt bewohnen sie nur noch die Insel Jesso und die Kurilen. Sie leben vom Fischfang und von der Zubereitung des Seetanges, welcher in den Küstendörfern am Strande getrocknet und in großen Bündeln meist nach China exportirt wird, wo dieser gerade nicht sehr wohlduftende Tang, gekocht oder als eine Art Salat, in großen Massen verzehrt wird. Die Aïnos sind außerdem sehr muthige Jäger, namentlich auf Bären, von denen es auf der Insel Jesso noch sehr viele giebt und welche sie meist mit vergifteten Pfeilen durch Selbstschüsse erlegen. Doch scheuen sie auch persönlichen Kampf mit den Ungethümen durchaus nicht, und wenn die Umgebung von Hokodade, wo die Bären eigentlich ausgerottet sind, einmal wieder durch solche Eindringlinge belästigt wird, so verschreibt die japanische Regierung stets einige Männer aus den nächsten Aïnodörfern, um die lästigen Gäste durch diese erlegen zu lassen. Trotz des gutmüthigen Charakters dieser Leute werden sie von den Japanern als ein früher unterjochtes und wenig civilisirtes Volk mit Verachtung angesehen, und in den Gasthäusern dürfen sie, wenn sie darin überhaupt geduldet werden, die ihnen zur Benutzung angewiesene Ecke, meist gleich beim Eingang, nicht überschreiten.
Die umstehende Abbildung, welche den Lesern einige charakteristische Typen von Aïnos vorführt, ist nach von Japanern gefertigten Photographien hergestellt und giebt ihren Gegenstand in naturgetreuer Weise wieder.[1]
[355]
Die „Gartenlaube“ gab in Nr. 7 dieses Jahrgangs Bericht über den Verlauf eines Processes, welchen zwei später in einem Artikel über „die Helfershelfer des Geheimmittelschwindels“ näher charakterisirte Herren (vergl. Nr. 11) gegen die Redaction „wegen Beleidigung“ angestrengt hatten. Einer der beiden Herren nun, welche das Gericht mit ihrer Klage abwies, hat, weit entfernt, an seine Brust zu schlagen und in sich zu gehen, den traurigen Muth gehabt, seine Galle über die erfahrene „Störung seines Berufes“ in einer Broschüre zu entladen, in welcher er auf seine Weise nicht nur mit der „Gartenlaube“, sondern mit allen Denen in’s Gericht geht, welche jüngst sich bemüht haben, das Publicum über diese ganze Schwindelwirthschaft des Geheimmittel-Attestwesens aufzuklären. Der Titel des durch Inserate in den Zeitungen angekündigten Werkes lautet:
„Der 'Gartenlauben'-Redacteur Dr. Ziel, der 'Vereinsblatt'-Redacteur Dr. Heintze, der Schriftsteller Ernst Leistner, der Engelapotheker Paulcke, alle in Leipzig, der Ortsgesundheitsrath und Bürgermeister Schnitzler in Karlsruhe, sämmtlich in Sachen des Geheimmittelschwindels und wegen Beleidigung vor das Gericht der öffentlichen Meinung gestellt von Dr. Heß in Berlin. Gegen Einsendung von 1 Mark baar oder in Briefmarken an Zeitungsspediteur Schmidt, Berlin, franco gegen franco.“
Die Ehre, mit an diesem Pranger zu stehen, verdanke ich einem vor Monaten von mir veröffentlichten „Almanach für Gesundheitspflege“, welcher einen Aufsatz „Die Mutter und Hausfrau am Krankenbette“ von Dr. Max Lange in Kassel sowie ein Gesundheitslexikon enthält, letzteres den Zweck verfolgend, die jetzt vorzugsweise in den pharmaceutischen Handel kommenden empfehlungswerthen diätetischen Mittel und medicinischen Specialitäten gemeinverständlich auf ihren Werth und die Art ihrer Verwendung hin zu besprechen. In der Einleitung hatte ich nicht umhin gekonnt, gelegentlich eines die Geheimmittel besprechenden Passus vor den Zeugnissen der Herren Dr. Groyen, Dr. Johannes Müller, Dr. Heß und Dr. Theobald Werner zu warnen.
Eines Tages erhielt ich eine Zuschrift, welche den obigen Titel der Heß’schen Broschüre mit folgenden Zeilen begleitete:
„Vorstehendes Inserat ist für die Leipziger und Karlsruher Zeitungen bestimmt. Machen Sie mir die Mittel namhaft, bei denen es sich um betrügliche Ausbeutung des Publicums handelt, und für welche ich Atteste ausgestellt habe (siehe Seite 47 Ihres Almanachs). Wollen Sie freiwillig die Satisfaction geben, welche ich auf Grund des Preßgesetzes § 11 zu beanspruchen habe, oder soll ich Ihnen angeben, worin diese Satisfaction zu bestehen hat? Wegen der Satisfaction, welche ich auf Grund § 185 bis 189 des Reichsstrafgesetzbuches von Ihnen zu verlangen habe, sprechen wir uns vor Leipziger Gerichten. Dr. Heß zugleich im Namen von etc.“
Ein fast gleichlautender Brief war, wie sich nachträglich herausstellte, an sämmtliche im Inserat beziehungsweise Titel der Broschüre genannte Herren gelangt.
Ich stand sprachlos, über die naive Unverschämtheit dieses Briefes halb belustigt, halb empört. Ein Mann, der soeben mit einem gerichtlichen Protest gegen die ihm gewordene Bezeichnung eines Schwindlers abgewiesen worden war, weil das Gericht den Beweis der Wahrheit als geführt erachten mußte, drohte mit einer neuen Klage dieser Art, im Falle er nicht zuvor durch eine Entschädigung abgefunden würde!
Ich ließ mir zunächst die Broschüre kommen, welche die Vertheidigung des Dr. Heß enthielt; ein rohes Machwerk, aber in mancher Hinsicht von geschickter Dialektik. Als Probe, bis zu welchem Stil der Verfasser sich verirrt, diene die Wiedergabe eines Passus auf S. 14:
„Melde Dir bei mich, grüner, berühmter Berliner Gewerbeberichterstatterjunge! ich werde Dich enen Gesundheitsliqueur einschenken, genannt Rachenputzer, der Dich den Rachen putzen und Dich recht wohl bekommen soll! und merken Sie sich lieber Junge! Jeder Einfaltspinsel und Schafskopf bildet sich ein über meine Atteste urtheilen zu können …“
Was mich frappirte, war die Thatsache, daß ich der Broschüre in einem Punkte Recht geben mußte: das amüsante Manöver, durch welches der Karlsruher Gesundheitsrath seinerzeit Herrn Dr. Müller gefangen und welches die „Gartenlauben“-Leser kennen, erfüllte insofern seinen Zweck nicht genügend, als das Mittel, welches Dr. Müller attestirt hatte, weder schädlich, noch der medicinischen Wirkung, auf welche es berechnet sein sollte, ganz fremd war.
Wie, sagte ich mir, wenn man versuchte, ein direct schädliches Mittel in den bekannten Bureaux als Heilmittel attestiren zu lassen? Zwar war es kaum glaublich, daß die Herren noch einmal in eine Falle gehen sollten, welche soeben erst einen von ihnen eingefangen. Aber ein Versuch konnte nichts schaden – wenn er gelang, so gab das der öffentlichen Thätigkeit dieser Herren den Gnadenstoß, zu Ehren der Volksgesundheit und der öffentlichen Moral.
Diese Erwägung war der Ausgangspunkt einer Posse von so belustigendem Verlauf und Abschluß, daß ich mehr als einmal in Versuchung war, zu vergessen, um eine wie ernste und traurige Sache es sich im Grunde handelte.
Gern entspreche ich dem Wunsche des weitest verbreiteten deutschen Unterhaltungsblattes, an der Hand der nöthigsten Actenstücke seinem Leserkreise zu zeigen: bis zu welchem Grade der Gewissenlosigkeit mit seinem Gelde und seiner Gesundheit gewirthschaftet wird.
Während ich die sofort zu schildernde Entlarvung der Herren Attestschwindler vorbereitete, ließ ich durch einen Vertreter zunächst mit Dr. Heß über den Gegenstand seiner Zuschrift, die Forderung einer „Entschädigung“, verhandeln. Des Pudels Kern war, wie sich herausstellte, das Ansinnen eines „Geldopfers“, wofür mein Name aus allen Schriften des Dr. Heß wegbleiben sollte. Die Forderung einer Geheimhaltung der diesbezüglichen Verhandlungen „auf Ehrenwort“ ließ der Ehrenmann fallen, da diese Geheimhaltung, wie er sich ausdrückte, „in meinem eigenen Interesse liege“. Es handelte sich somit, wie ich vermuthet, nicht um die Ehre des Dr. Heß, sondern um eine einfache Geldschneiderei.
Inzwischen war Folgendes geschehen:
Anfangs dieses Jahres wurden in meiner Apotheke durch meinen Provisor, in Gegenwart von Zeugen, nachstehende Recepte, jedes in dreifacher Menge, angefertigt:
1) Eine Salbe, bestehend aus:
Weißem Arsenik (Acidum arsenicosum) 0,5 Gramm; Basisch salpeters. Wismuth (Bismuth. subnitric.) 2,0 Gramm; Borax (Natr. biboracic.) 1,0 Gramm; Vaseline (Vaselinum americ.) 50,0 Gramm; Rosenöl (Ol. rosarum) 3 Tropfen.
2) Ein Pulver, bestehend aus:
Weißem Arsenik (Acidum arsenicosum) 0,1 Gramm; Schwefelspießglanz (Antimon. crud.) 0,5 Gramm; Zinkoxyd (Zinc. oxyd. alb.) 0,5 Gramm; Baldrianwurzel (Pulv. rad. valerian.) 10,0 Gramm; Hirschhornpulver (Pulv. corn. cerv. pr.) 10,0 Gramm. Gemischt und in zwanzig Theile getheilt.
Durch einige Mittelspersonen wurde sodann ein Leipziger Annoncenbureau beauftragt, bei Dr. Werner in Breslau und Dr. Heß in Berlin anzufragen, ob sie geneigt seien ein Mittel gegen rothe Nasen zu untersuchen; bei Medicinalrath Dr. Müller und Stabsarzt Dr. Groyen bildete ein Epilepsiemittel den Gegenstand der Anfrage. Die ersten drei Herren antworteten umgehend zusagend; für Herrn Stabsarzt Dr. Groyen, der unterdessen verstorben, antwortete Herr Dr. Heß als Geschäftsnachfolger ebenfalls zustimmend. Herr Dr. Heß und Dr. Werner erhielten nun zwei Büchsen der oben angeführten Salbe, sowie Dr. Müller und Dr. Heß je zwanzig der oben erwähnten Pulver. Die Reste beider Mittel blieben sorgfältig verschlossen als eventuelle Controllexemplare in sicherer Verwahrung. Zur Vereinfachung der Untersuchung wurden den Herren die richtigen Bestandtheile ohne Angabe der Mengenverhältnisse und mit Ausnahme des Arseniks, mitgetheilt; letzteren sollten sie selbst bei der Analyse finden. Daß das Quantum Arsenik ein genügendes, um von einem Chemiker bei der Analyse nicht übersehen zu werden, wird jeder Sachverständige sofort bestätigen, ebenso auch, daß es genügend, um sowohl in seiner äußerlichen wie innerlichen Anwendung die Gesundheit gründlich zu schädigen.
Am wenigsten Umstände machte Dr. Theobald Werner in Breslau. Er tauft die Nasensalbe mit dem sinnigen Namen „Rosalin“, wünscht den Wismuthbestandtheil durch eine andere Zusammensetzung dieses Minerals ersetzt, und corrigirt seine Forderung von anfänglich zwanzig Mark in dreißig um, was ihm schließlich alles zugestanden wird; der Preis von drei Mark für eine Quantität, welche nach der sächsischen Arzneitaxe in elegantester [356] Verpackung etwa auf eine Mark kommen würde, erscheint ihm durchaus angemessen. Das Attest, welches für das Wundermittel gegen rothe Nasen, genannt Rosalin, des Herrn Louis Dufrêne in Leipzig (fingirter Name des Erfinders) schließlich von Dr. Werner einging, lautet:
„Certificat für Herrn Louis Dufrêne in Leipzig.
Seit der ebenso zeitgemäßen wie heilsamen Einrichtung und Schaffung des deutschen Reichsgesundheitsamtes und des damit verbundenen Gesetzes vom 14. Mai 1879 hat das Publicum eine bleibende Garantie für die Güte, Reellität und Unschädlichen derjenigen Fabrikate, die von unparteiischer, sachverständiger Seite auf ihre chemische Zusammensetzung geprüft und durch die Analyse für unschädliche und reelle erkannt werden.
Von dieser bereits allgemein anerkannten Thatsache ausgehend und überzeugt, übersandte mir Herr Louis Dufrêne zu Leipzig eine größere Probe des von ihm unter Beihülfe namhafter Autoritäten erfundenen, nach eigener Methode bereiteten Mittels gegen Hautreiz, namentlich gegen rothe Nasen und Flechten, welches der Herr Fabrikant unter dem Namen ‚Rosalin‘ in praktischer und eleganter Verpackung in den Handel bringt, mit dem Wunsche, mich als Sachverständiger und Fachmann unparteiisch über das Resultat meiner Untersuchung zu äußern. Ich habe das oben näher bezeichnete Fabrikat, welches eine butterartige, sehr angenehm riechende Substanz ist, persönlich in meinem analytisch-chemischen Laboratorium für Öffentliche Gesundheitspflege einer genauen, sowohl qualitativen als auch quantitativen Untersuchung, wodurch anerkanntermaßen am ehesten und sichersten der reelle Werth eines derartigen Fabrikates constatirt werden kann, unterworfen und bin zu nachstehendem Urtheil berechtigt.
Das ‚Rosalin‘ ist ein auf kunstgerechte und durchaus sachgemäße Weise bereitetes Fabrikat, das unschädliche, Hautepidermalreize lindernde und heilende chemische Ingredienzien enthält, welche letztere in höchst sinnreicher Weise in so concentrirter Form darin enthalten sind, daß bei richtiger Anwendung schon nach kurzem Gebrauch die erwähnten Hautkrankheiten, namentlich aber die unangenehme Röthe der Nase, bedeutend gelindert und nach längerem Gebrauch vollständig gehoben wird.
Ich erwähne ausdrücklich, daß das ‚Rosalin‘ frei ist von schädlichen ätzenden und narkotischen Stoffen und dasselbe keine Ingredienzien enthält, welche durch das Gesetz vom 14. Mai 1879 verboten sind. Alle die erwähnten Vorzüge berechtigen mich, dem ‚Rosalin‘ das Prädicat 'vorzüglich' zu ertheilen und die Anwendung desselben aus vollster Ueberzeugung da, wo es nöthig ist, angelegentlichst zu empfehlen.
Breslau, im März 1880.
Die „persönliche“, „genaue qualitative Untersuchung“ dieses würdigen Sachverständigen hatte keinen Arsenik gefunden. Ein völlig unschädliches, „linderndes“ (der Arsenik wird vorzugsweise als Aetzmittel bei Krebsleiden angewendet!) Mittelchen gegen rothe Nasen ist der Welt geschenkt.
Etwas umständlicher gestaltete sich die Sache mit dem schreibseligen Dr. Heß, schon darum, weil derselbe zwei Mittel zu attestiren hatte, erstens das Mittel des Herrn Dufrêne gegen rothe Nasen, zweitens die Epilepsiepulver, für welche ein Freund, Herr Max Kröhl, den Erfinder spielte.
Zunächst liegt auch ihm, was das Nasenmittel betrifft, daran, daß das Kind einen Namen erhalte. Herr Dufrêne schlägt die wohlklingende Bezeichnung „Rhinleucansis“ vor und sendet gleichzeitig 20 Mark für das zu erwartende Attest. Darauf gelangt an seine Adresse folgendes Schriftstück von Dr. Heß:
„Hochgeehrter Herr Dufrêne!
Es freut mich sehr, daß sie die Anfechtungen und Verdächtigungen der Leipziger medicinischen Infallibilisten, Geheimmittelinquisitoren und wie alle diese medicinischen Obscuranten und Dunkelmänner nach einander heißen, nicht scheuen und gerade von Leipzig aus mit einem neuen Geheimmittel in die Oeffentlichkeit treten, doch bedaure ich, daß sie das Mittel 'Rhinleukansis' getauft haben, was fast etwas an 'Rhinoceros' erinnert. Uebrigens muß 'Rhinleukansis' nicht mit 'c', sondern mit 'k' geschrieben werden, wie ich gethan habe. Da Sie mir statt vierzig Mark nur zwanzig Mark gesandt haben, so habe ich das Mittel nicht untersucht, sondern nur begutachtet, auf Grund der Ihnen bekannten Bestandtheile, welche Sie mir ja mitgetheilt hatten. Schaffen Sie sich meine Schriften über Geheimmittel an; Sie sind ein Gleichgesinnter. Wünsche besten geschäftlichen Erfolg von 'Rhinleukansis'. Ergebenst
Das wissenschaftliche Gutachten lautet nun:
Herr Louis Dufrêne in Leipzig ist im Besitz eines guten Mittels gegen rothe Nasen und beabsichtigt dieses Mittel wegen seiner vortrefflichen specifischen Eigenschaften geschäftlich zu verwerthen. Dieses Mittel führt den Namen 'Rhinleukansis' und gehört zu den sogenannten Geheimmitteln. Bedenkt man, wie namentlich in Leipzig augenblicklich ein wahres Nest von schwarzen Geheimmittelfeinden und Geheimmittelinquisitoren beisammen hockt, so verdient der Muth des Herrn Dufrêne, von Leipzig aus ein neues Geheimmittel der Oeffentlichkeit zu übergeben, die größte Bewunderung und Anerkennung, welche ich demselben um so mehr zolle, als auch ich selbst die schwärzesten Geheimmittelfeinde und Geheimmittelinquisitoren nie fürchte, sondern denselben muthig entgegentrete, und namentlich auch jederzeit für gute Geheimmittel gute Atteste ausstelle, wie hiermit geschieht. Herr Dufrêne hat mir 'Rhinleukansis' zur wissenschaftlichen Begutachtung übersandt und zufolge der Bestandtheile dieses Mittels ist dasselbe vollkommen unschädlich, gehört aber zu den besten Hautverbesserungsmitteln, welche es überhaupt giebt, abgesehen davon, daß es nach Herrn Dufrêne's eigenen Erfahrungen ein vorzügliches Mittel gegen rothe Nasen ist. Herrn Dufrêne's 'Rhinleukansis' verdient daher als vortreffliches Mittel gegen Nasenröthe und als Hautverbesserungsmittel überhaupt die beste Empfehlung, was ich hiermit gutachtlich, der Wissenschaft gemäß, bestätige und beglaubige.
Wie man sieht, vermeidet das Attest die plumpe Lüge des Herrn Theobald Werner, von einer stattgehabten chemischen Untersuchung zu sprechen. Dennoch muß der Uneingeweihte aus den gesperrten Worten eine solche herauslesen, denn wenn ein Mann vom Standpunkt der Wissenschaft aus erklärt, daß eine Composition „zufolge ihrer Bestandtheile“ unschädlich sei, so muß vorausgesetzt werden, daß er die Art dieser Bestandtheile wissenschaftlich festgestellt hat. So lautete denn auch, als der angebliche Herr Dufrêne noch 20 Mark einsandte und eine chemische Untersuchung forderte, die Antwort des Dr. Heß einfach:
„Sie werden zugeben, daß ich kaum ein besseres Attest für 'Rhinleukansis' ausstellen kann, als ich schon gethan habe, weswegen ich der Meinung bin, wir betrachten die Sache als abgethan.“
Glücklicher war Herr Max Kröhl mit seinem Epilepsiemittel; denn hier constatirt das Attest des Herrn Dr. Heß ausdrücklich die Vornahme einer wissenschaftlichen Prüfung. Das Gutachten lautet:
„Heutzutage werden zwar diejenigen Heilmittel sehr bekämpft und angefochten, welche nicht in den Apotheken angefertigt werden; aber so lange die Medicin noch keine unfehlbare Wissenschaft ist, was gewiß noch sehr lange dauern wird, muß man es, im Interesse der Leidenden und Kranken, sogar als eine große Wohlthat betrachten, daß auch außerhalb der Apotheken Heilmittel angefertigt werden. Die Hauptsache ist nur, daß alle Heilmittel den berechtigten wissenschaftlichen Anforderungen entsprechen, nämlich vollkommen unschädlich sind und wirklich heilkräftige und wirksame Stoffe enthalten. Herr Max Kröhl in Leipzig hat mir das von ihm bereitete Epilepsiemittel zur wissenschaftlichen Prüfung und Begutachtung übersandt. Zufolge dieser Prüfung und der Zusammensetzung dieses Mittels ist dasselbe für die Gesundheit vollkommen unschädlich, und enthält durchaus nur solche Bestandtheile, welche nach vielfachen Erfahrungen des Herrn Kröhl bei Krampfleiden verschiedener Art, insbesondere aber bei Epilepsie und anderen derartigen Krampfleiden von großer Heilkraft und Wirksamkeit sind. Daher kann Herr Kröhl mit Ruhe und Gelassenheit auf die unerhörten und bösen Verdächtigungen herabschauen, welche nur ein Ausfluß der Unwissenheit und des Brodneides sind und jetzt hauptsächlich von Leipzig aus gegen die sogenannten Geheimmittel und deren Verfertiger und Begutachter geschleudert werden; denn das Kröhl'sche Epilepsiemittel entspricht den berechtigten wissenschaftlichen Anforderungen, was ich hiermit bestätige und beglaubige.
Berlin den 6. April 1880.Also die „wissenschaftliche Prüfung“ des Dr. Heß hat keine Spur Arsenik gefunden, der Gebrauch des Mittels ist dem Publicum durchaus zu empfehlen – und diesmal ist der Arsenik innerlich zu nehmen!
Nebenher hatte übrigens Herr Max Kröhl eine Episode in dieser Angelegenheit angeregt, welche den Zweck hatte, den Dr. Heß vertrauensseliger zu machen, als er nach meiner Befürchtung zu sein schien. Er hatte sich ganz unter der Hand bei dieser ehrenwerthen wissenschaftlichen Autorität erkundigt, was von dem Mittel gegen rothe Nasen, genannt „Rhinleukansis“, des Herrn Dufrêne zu halten sei; er habe die Bekanntschaft des Letzteren gemacht und nicht übel Lust, sich mit ihm zu associiren. Herr Dr. Heß meint, das Mittel sei als Hautverbesserungsmittel ganz gut, aber er wisse bessere Specifica gegen Nasenröthe, welche er „gegen angemessenes Honorar“ mittheilen wolle, ebenso ein noch besseres Mittel gegen Epilepsie. Er legitimirt sich in dieser Beziehung mit folgendem Satz:
„Wenn man, wie ich, fünfzig Jahre hindurch ununterbrochen mit medicinischen, pharmaceutischen und chemischen Sachen zu thun gehabt hat, dann hat man schon hinreichende Kenntniß von den besten Mitteln gegen die verschiedenen Leiden und Krankheiten.“
Und diese Bemerkung, zusammen mit den vorgängigen Eröffnungen ist nicht uninteressant: es ergiebt sich, daß wir in Dr. Heß die Quelle nicht nur zahlreicher Atteste für Geheimmittel, sondern einer Anzahl dieser Schwindelmittel selbst vor uns haben dürften.
Bevor ich den unerwarteten Abschluß, den die Verhandlungen mit Dr. Heß fanden, mittheile, muß ich über diejenige mit [357] Dr. Müller berichten. Die Vermuthung liegt zu nahe, daß Beides in einem gewissen Zusammenhange steht.
Medicinalrath Dr. Müller hat das empfangene Epilepsiepulver mikroskopisch untersucht und so complicirt gefunden, daß er für die chemische Analyse dreißig Mark fordern muß. Dieselben gehen an ihn ab. Irrthum! schreibt Dr. Müller, Sie müssen falsch gelesen haben; ich habe dreißig Thaler beansprucht. Aber Herr Max Kröhl erklärt ihm, das könne er nicht daran wenden; entweder also Analyse für dreißig Mark, oder Rücksendung des Geldes!
Da trifft ein Brief Dr. Müller's ein, in welchem es heißt:
„Wenn ich ein Gutachten über ein Mittel abgeben soll, ist es meine Pflicht, zuerst dasselbe gründlich zu untersuchen und jeden einzelnen Bestandtheil kennen zu lernen. Diese Untersuchung war schon längst vollständig im Gange, als ich Ihren letzten Brief erhielt, und ist nun fast abgeschlossen. Es handelt sich jetzt noch darum für mich, zu wissen, ob sie wirklich dieses Mittel gegen Epilepsie mit Erfolg angewendet, ob Sie dasselbe selbst zusammengesetzt und ob Sie überzeugt sind, daß die Substanzen, welche Sie angeführt, wirklich darin vorhanden sind und keine schädlichen enthalten etc.“ –
Der Herr Medicinalrath hat die chemische Untersuchung also fast abgeschlossen und keinen Arsenik gefunden. Aber er wittert Unrath – der Vorfall in Karlsruhe muß doch etwas nachgewirkt haben – und der Verdacht scheint weit über das im Briefe angedeutete Maß hinaus ein bestimmter zu sein, wenn damit, wie ich nicht zweifle, eine plötzlich an Herrn Max Kröhl gelangende Zuschrift des Dr. Heß in Verbindung zu bringen ist. In dieser heißt es nämlich:
„Seit einiger Zeit behandle ich manche Attestangelegenheiten gewissermaßen diplomatisch … aus Gründen, die nur mich angehen … Ehe Sie von dem Ihnen am 6. April gesandten Attest irgend welchen Gebrauch machen, dürfte es immerhin gerathen sein, erst meine weiteren Mittheilungen abzuwarten.“
Und vier Tage später schickt er an die Herren Dufrêne und Kröhl nachstehendes kostbare Document:
„Die Geheimmittelattestangelegenheit, welche Sie mit mir gepflogen haben, war nur ein verdecktes Spiel.
Ich hätte Ihnen das gleich von vorn herein sagen können; aber ich habe es nicht gethan, aus nur mir bekannten Gründen. Heute will ich Ihnen aber diese Aufklärung nicht länger vorenthalten.
Das Mittel des Herrn Dufrêne, ‚Rhinleukansis‘, gegen rothe Nasen erkläre ich hiermit ausdrücklich und durchaus für unbrauchbar gegen rothe Nasen. Auch das Mittel des Herrn Kröhl, gegen Epilepsie, erkläre ich hiermit ausdrücklich und durchaus für unbrauchbar gegen Epilepsie; im Gegentheil ist es sogar schädlich!
Ihre Rollen haben Sie, im Ganzen genommen, nicht schlecht, sondern gut gespielt; und darum kommen Sie – vorläufig – nicht auf den – Index.[2] Ein anderer Herr in Leipzig aber, der seine Rolle schlecht gespielt hat, wird wahrscheinlich über lang oder kurz auf den – Index kommen. Wollen Sie auf die Ehre verzichten, jemals auf den Index zu kommen, so senden Sie mir die für Ihre Mittel ausgestellten Atteste zurück, Sie haben jedoch vollkommen freien Willen, ganz zu thun, was Ihnen beliebt. Ich erkläre hiermit beide Atteste für ungültig; jeder mich benachtheiligende Gebrauch, welchen Sie davon machen, bringt Sie auf den – Index. Ergebenst
Berlin, den 12. April 1880.Eine Antwort auf letzteren Brief hat Dr. Heß vergeblich erwartet; ich will sie ihm an dieser Stelle ertheilen, zugleich im Namen der Uebrigen, welche von ihm mit dem Eingangs abgedruckten Drohbrief behelligt wurden:
„Sie haben in Ihrer ersten Zuschrift an mich, mein Herr Doctor, entweder die bewußte Entschädigung, oder Nennung der auf betrügliche Ausbeutung des Publicums zielenden Mittel verlangt, welche Sie durch Atteste eingeführt hätten. Nun, indem ich mich Ihnen als Verfasser der sämmtlichen Kröhl-Dufrêne'schen Briefe vorstelle, nenne ich Ihnen zwei dieser Mittel: ‚Rhinleukansis‘ und das bewußte Epilepsiemittel.
Daß diese Mittel nie in den Handel kommen würden, haben Sie bei deren Empfehlung nicht gewußt, vielmehr angenommen, daß mit denselben tatsächlich auf den Geldbeutel des Publicums speculirt werde.
Sie haben diese Mittel glänzend empfohlen und zwar vom Standpunkt der Wissenschaft aus. Ein Verkauf dieser Mittel aber wäre nicht nur ein Betrug, er wäre ein Verbrechen. Daß dieselben nicht, wie das vom Karlsruher Gesundheitsrath benutzte, in gewisser Beziehung doch ihrem Zweck entsprachen, daß sie vielmehr ganz unbrauchbar und geradezu schädlich waren, dafür nenne ich Ihnen eine Autorität, welche Sie gewiß anerkennen, sie heißt – Dr. Heß (vergl. den letzten Brief).
Damit Gott befohlen!“
Noch ein kurzes Nachspiel. Von Sanitätsrath Dr. Müller ist schließlich doch ein Zeugniß für das Epilepsiemittel eingelaufen des Inhalts: daß, wenn in dem Mittel nichts enthalten sei, als die ihm genannten Bestandtheile in der angeführten Menge, das Mittel unschädlich und einer Empfehlung werth sei.
Der Ehrenmann wußte doch eine Form zu finden, um in ungestörtem Besitz der 30 Mark verbleiben zu können.
Und was mag bei den beiden Berliner „wissenschaftlichen Autoritäten“ den Verdacht rege gemacht haben? Nicht etwa der gefundene Arsenik; der würde sicher sonst zur Sprache gekommen sein. Ich habe eine bessere Vermuthung: im Leipziger Adreßbuch ist der Name Louis Dufrêne nirgends zu finden.
„Der Himmel lacht, und heit're Lüfte spielen“ …
Auf den kräftigen Schwingen seiner Silcher'schen Melodie rauschte das Lied durch den vom Tabaksqualm erfüllten Saal, wo ich – es ist lange, fürchterlich lange, volle 43 Jahre her – als Fuchs meinen ersten Kommers mitmachte.
Text wie Weise ergriff mich gleichermaßen.
„Von wem?“ fragte ich meinen Nachbar.
„Der Hermann Kurz hat es gedichtet, der Silcher in Musik gesetzt.“
„Wer ist der Kurz?“
„Ein Stiftler.“
„Ein Stiftler?“
„Ja wohl, aber ein hinausgeschmissener.“
Das klang ganz eigen. Ungefähr so, als hätte der Sprecher sagen wollen: „Ein famoser Kerl!“ Vielleicht war auch eine Mischung von Eigenliebe dabei; denn mein liebenswürdiger Nachbar war selber ein „hinausgeschmissener“, d. h. ein weiland Insasse des berühmten Tübinger „Stiftes“, welchem er, rebus theologicis haud bene gestis (weil er es in der Theologie zu nichts gebracht) und nachdem es ihm gelungen, die fast unergründliche Langmuth des „Ephorus“ Jäger, genannt Sabel, zu ergründen, zwar unfreiwillig, aber doch mit Freuden Valet gesagt hatte, um sich der Juristerei zu befleißigen, wenn auch nicht gerade leidenschaftlich.
Der mir zu- oder auch abgeneigte Leser wolle gefälligst beachten, daß vorstehendes Präludium vor 43 Jahren gespielt hat. Wie es heutzutage mit dem Stift und mit den Stiftlern bestellt sein mag, ist mir, der ich seit dem großen Exodus von 1849 mein schwäbisches Heimatland, welches man bekanntlich auf Distanz am innigsten liebt, nicht mehr betreten habe, gänzlich unbekannt, und darum verwahr' ich mich förmlich dagegen, daß man aus den Prämissen der Vergangenheit unliebsame Schlußfolgerungen der Gegenwart ziehe. Anno dazumal freilich, d. h. in meiner Fuchsenzeit, galt es für ausgemacht, daß der „Stiftler“ von echtem Schrot und Korn eine absonderliche Species vom Genus Homo darstellte. Das Verhältniß des Stiftlers zum Deutschen und Schwaben ließe sich etwa so bestimmen, daß man sagte: „Wenn der Deutsche gleich wäre einem Viereck, so wäre der Schwabe gleich einem Sechseck, der Stiftler aber gleich einem Achteck. Im Grunde genommen, flößte der richtige Stiftler Respekt ein, nämlich mittels der durchschnittlichen Tüchtigkeit seiner Bildung. Schade, daß dieser Bildung ein fataler Beigeruch anhaftete, das berühmte „Stiftsg’schmäckle“, nur für Schwaben spürbar, aber keineswegs von allen Schwaben
[358] gern gespürt. Unter den Stoffen, aus welchen dasselbe zusammengesetzt war, nahmen die Ausschließlichkeit und Selbstgefälligkeit, die man den Stiftsbewohnern im allgemeinen schuldgab, vortretende Stellen ein. Das Ab- und Eingeschlossensein, welches die Stiftsordnung vorschrieb, verleitete die Herren Stiftler häufig dazu, sich für etwas ganz Besonderes zu halten. Es hatte sich demzufolge im Laufe der Zeit ein hochgradiges Stiftsbewußtsein entwickelt, welches sich mehr und mehr versteifte im Hinblick auf die lange Reihe von ausgezeichneten Männern, welche innerhalb des Stiftes ihre Universitätsstudien gemacht. Eine Anstalt, aus welcher Hölderlin, Schelling, Hegel, Pahl, Schwab, Stälin, Baur, Strauß, Zeller, Schwegler, Vischer, Waiblinger, Mörike, Hauff, Pfizer, Zimmermann, Seeger, Kurz u. s. w. in die Welt, will sagen in die Wissenschaft und in die Literatur ausgegangen, war sicherlich berechtigt, ihren Stolz zu haben. Dieses wohlberechtigte Stiftsbewußtsein kam nun aber, wie die Menschen einmal sind, in den Stiftlern nicht eben liebenswürdig zur Erscheinung. Nämlich in Gestalt einer Großmannssucht und Ueberhebung, welche freilich in den Augen Wissender und Unbefangener weit mehr Belustigendes als Verletzendes hatten. War es doch erheiternd anzusehen, wie so ein Musterstiftler, eingemauert in sein potenzirtes Schwabenthum, in sein bloßes Bücherwissen, in seinen rührenden Mangel an Welt- und Menschenkenntniß, zu einem Selbstbewußtsein, oder, schwäbisch zu reden, zu einem „Krattel“ sich verstieg, welcher ihn selber glauben ließ und andere glauben machen wollte, er hätte den Schelling oder Hegel oder Hölderlin oder sonst eine oder gar mehrere der Berühmtheiten früherer „Promotionen“ im Leibe. Wirklich bedeutende Stiftler haben sich oft genug über diesen „Stiftlerkrattel“ lustig gemacht, aber scharfnasige Leute wollten behaupten, daß auch die bedeutenden, bedeutenderen und bedeutendsten Stiftler das erwähnte „G’schmäckle“ ihr Lebenlang nie losgeworden wären.
Wer es ganz gewiß nie loswurde, war der Hermann Kurz, zur Zeit seines Stiftlerdaseins von seinen Mitbewohnern der Stube „Eisleben“ im Stift „Das blaue Genie“, später in unserem stuttgarter Freundekreis kurzweg „Der Blaue“ genannt. Der Ursprung dieses Kriegs- oder Biernamens ist etwas mythisch. Von Einem, der zugleich mit Kurz die Stube Eisleben „behorstete“, erfuhr ich, daß der Dichter dazumal leidenschaftlich Spaniol geschnupft, dabei blauer Schnupftücher sich bedient habe und in Folge dessen häufig mit angebläuter Nase herumgegangen sei. Da nun der Inhaber dieser Blaunase seinen Commilitonen für ein Genie gegolten, so hätten sie ihn das blaue Genie genannt. Kurz ließ sich das gefallen, nur latinisirte er es, indem er sich zu seinem Privatgebrauche Cäruleus – der Blaue – nannte. Unter diesem Namen hat er sich in seine allerliebste Novellenskizze „Das Wirthshaus gegenüber“ humoristisch eingeführt.
Sechs Jahre nach jenem Tage, wo ich Hermann Kurz zum erstenmal hatte nennen hören, wurde ich in Stuttgart mit ihm persönlich bekannt und befreundet. Die Bekanntschaft wurde gemacht im Hause der Frau von Suckow (Emma von Niendorf), jener liebenswürdigen und anspruchslosen Schriftstellerin, welche ihr Empfangszimmer mit feinstem Takte zu einem neutralen Boden zu machen verstand, auf welchem Menschen der verschiedensten Anschauungen und Richtungen zwanglos einander begegnen konnten. Die Freundschaft wurde gestiftet und befestigt beim „Burger Frank“ und beim „Bürger Ochsenjergle“, also in einem Bierkneiplein und in einer Weinstube, welche in der Zeit von 1843 – 49 allen von der damals jüngeren schwäbischen Generation, die sich zum Liberalismus, Demokratismus, Republikanismus bekannten, vertraut waren und uns wenigen heute noch Lebenden jenes Kreises unvergesslich sind. Denn ach! es gilt, zu klagen:
„Ich habe gekannt manch schönes Kind
Und manchen guten Gesellen!
Wo sind sie hin? Es pfeift der Wind,
Es schäumen und wandern die Wellen …“
Die Biographie, womit Paul Heyse die Sammlung der Werke von Kurz eingeleitet hat, zeugt auf jeder Seite von warmer und feinfühliger Freundschaft. Da und dort wäre jedoch dem Biographen eine genauere Kenntniß schwäbischer Menschen und Dinge zu wünschen gewesen. Auch ist Heyse über mehr als einen wichtigen Punkt und Wendepunkt in dem Lebenslaufe des schwäbischen Poeten hinweggegangen mit einem Stillschweigen, welches recht fein diplomatisch oder meinetwegen pietätvoll sein mag, aber vieles unerklärt lässt. Hier ist jedoch zu Erklärungen nicht der Ort, wie denn diese Zeilen überhaupt nicht darauf ausgehen, die biographische Arbeit Heyse’s zu ergänzen. Nur auf einen Punkt will ich flüchtig hindeuten. Der Lebensbeschreiber hat wiederholt und ganz richtig betont, daß Kurz kein vom Glücke begünstigter Mann gewesen. Aber eine andere Frage ist, ob diese Thatsache nur den Verhältnissen schuldzugeben war. Am Ende aller Enden bleibt es doch immer wieder wahr, daß ein jeder seines Glückes eigener Schmied sei und sein müsse, und da möchte nicht zu leugnen sein, daß unser Dichter als ein ungeschickter und lässiger Schmied sich erwiesen. Allerdings muß sogleich beigefügt werden, daß diese Lässigkeit und dieser Unschick zu seinem Wesen gehörten. Er war ein Träumer all sein Lebtag. Er konnte es nie dazu bringen, aus der Traumwelt, welche er sich in seinem Innern zurechtgemacht, entschieden und entschlossen herauszugehen, und ich bin überzeugt, daß es der oben gekennzeichnete „Stiftlerkrattel“ gewesen, welcher ihn wider Wissen und Willen verführte, sich für so etwas Apartes zu halten, daß er gar nicht nöthig hätte, mit der Prosa des Lebens sich auseinanderzusetzen.[4] So ist es dann gekommen, daß er jede der ihm gebotenen Gelegenheiten, bei guter Zeit sich eine festumfriedete Existenz zu gründen, vornehm vorübergehen ließ. Ich möchte aber dieses „vornehm“ nicht allein im tadelnden Sinne verstanden wissen, sondern auch im lobenden.
Ja, dieser Sohn der alten Reichsstadt Reutlingen war eine vornehme Natur und ist es in allen Bedrängnissen seines Daseins geblieben. Er ist im ganzen Wortsinn eine „anima candida“, eine reine Seele, gewesen und man darf auch von ihm sagen, was von seinem größten Landsmann mit vollem Rechte gesagt worden, daß nämlich „tief unter ihm das Gemeine im wesenlosen Scheine gelegen“. Daher wirkte auch das ihm anhaftende „Stiftsg’schmäckle“ nicht verletzend. Seine Milde und Duldsamkeit verleugneten sich selten. Seine Entrüstung mußte schon sehr groß sein, wenn sie in heftiger Form hervorbrach. Sonst war dieser hochbegabte, mit so vielseitigem Wissen ausgestattete Mann mild im Urtheilen, maßvoll im Tadeln. Die schnöde deutsche Unsitte der Nergelei lag ihm fern. Männer seines Schlages müssen gewiß immer schmerzlicher vermisst werden in einer Zeit, wo jeder dumme Junge sich zum Kritiker berufen glaubt und wo Gesellen, welche nie etwas, und wäre es auch nur das Geringste, geleistet haben und nie etwas leisten werden, sich erfrechen dürfen, den Geifer ihres grünen Neides gegen alle Autoren zu verspritzen, welche etwas können und der Nation etwas sind. Wie noch so manches andere Gute könnten die Deutschen auch literarischen Anstand von den Franzosen lernen, wenn unsere mehr oder weniger lieben Landsleute es nicht vorzögen und nicht von jeher vorgezogen hätten, den westlichen Nachbarn nur ihr Schlechtes und Schlechtestes abzugucken. In Frankreich ist es undenkbar, daß literarische Gassenbuben die großen Gestalten der Literatur mit Koth bewerfen dürften. Bei uns dürfen sie es und können dabei sogar der heimlichen oder offenen Zustimmung vonseiten des oberen und des unteren Pöbels sicher sein.
Einen wissenden Mann hab’ ich Kurz genannt und das war er in That. Es gereichte dem höheren Schulwesen Wirtembergs von jeher zur Ehre, daß jedes studirende Landeskind, so es wollte,
[359] in den Stand gesetzt war, mit einem tüchtig gefüllten Schulsack die Universität zu beziehen. Auf dieser ist Kurz seinem Brotstudium, der Theologie, soweit fleißig obgelegen, daß er im Stande, seinen Hochschulkursus mit Bestehung des regelrechten Examens zu beschließen. Sein sodann gemachter Versuch, vikarisirend als „Diener am Worte“ thätig zu sein, war freilich von kurzer Dauer. Wahrscheinlich hat der Umstand, daß er kein Redner war, diesen Versuch noch beträchtlich abgekürzt. Fortan hatte er mit der Theologie keinen näheren Verkehr mehr. Innerste Neigung führte ihn der Literatur zu, und er hatte sich für die Schriftstellerei philologisch und philosophisch sehr eifrig und erfolgreich vorbereitet, wie das ja auch sein Alters- und Studiengenoß, Mitpoet und Freund, der lange nicht genug gekannte Ludwig Seeger, der geniale Verdeutscher des Aristophanes und des Béranger, gethan hatte. Es ist bedauerlich, daß die zerstreuten kritischen und literarhistorischen Forschungen und Findungen von Kurz nicht gesammelt sind. Eine Zusammenstellung dieser Arbeiten würde die gründlichen Kenntnisse, den spürenden Scharfsinn und das besonnene Urtheil des Verfassers erfreulich darthun. Schon während seiner Gymnasialjahre in Maulbronn hatte Kurz nicht allein auf dem Gebiete der alten, sondern auch der neuen Sprachen fleißig und mit schönem Erfolge sich umgethan. Zeugnisse hierfür sind seine zahlreichen poetischen Uebersetzungen, verdeutschte Dichtungen von Ariosto, Shakespeare, Byron, Moore, Cervantes. Den Ton von Shakespeare und Byron hat der Uebersetzer, wie mir vorkommt, nicht ganz getroffen. Dagegen müssen seine Verdeutschungen von Ariost's „Orlando furioso“ und von Moore's „Paradise and the Peri“ zu den Meisterwerken deutscher Uebersetzungskunst gestellt werden. Es ist unmöglich, die „corbellerie“ – um nicht, wie die andere Lesart lautet, zu sagen die „coglionerie“ – des Messer Lodovico gutlauniger und anmuthiger nachzudichten, als es Kurz gethan hat, und unvergleichlich schön wußte er auch das Schimmernde und Flimmernde, den lyrischen Schmelz und die sprachliche Musik des berühmten Moore'schen Gedichtes wiederzugeben. Die Uebertragung der schwankhaften „Zwischenspiele“ des großen spanischen Dichters ist ebenfalls vortrefflich gelungen …
Zur Zeit meiner Befreundung mit Kurz stand er in der Vollkraft seines Wollens und Könnens. Der Roman Schiller’s Heimatjahre“ war erschienen und hatte zwar nicht bei der Menge, aber doch bei Urtheilsfähigen einen Beifall gefunden, welcher den Verfasser wohl zu weiterem Schaffen ermuthigen konnte. Zunächst arbeitete er an der Neudeutschung und Beschließung des „Tristan“ Gottfried’s von Straßburg, welches Werk, mit einer gediegenen Einleitung ausgestattet, unlange darauf veröffentlicht wurde. Kurz war dazumal eine hochragende, hagere, schmalschulterige Gestalt, mit vorgeneigtem Kopfe etwas schlotterig einhergehend. Bleicher Gesichtsfarbe, blonden Haares und Bartes, eckigen Gebarens und zugeknöpfter Haltung, wie er war, hatte seine ganze Erscheinung für den flüchtigen Beobachter wenig Anziehendes. Bei genauerem Zusehen mußten die anmuthige Bildung seines Mundes, der treuherzige Blick ungewöhnlich glänzender Augen und ein über die ganze Physiognomie gebreiteter Hauch träumerischer Resignation den Beschauer gewinnen. Zu seinen Gewohnheiten gehörte, zum „Burger Frank“ und zum „Bürger Ochsenjergle“ immer zu spät zu kommen, um sich dann darüber zu ärgern, daß wir anderen seiner Meinung zufolge immer zu früh gingen. Ein Hochgenuß war es, den Rubens (Seeger), den Ostjäk (Finkh) und den Blauen (Kurz) mitsammen in Erinnerungen an ihre Stiftlerjahre sich ergehen zu hören. Dem Seeger fielen da die tollsten Schnurren nur so aus den Aermeln; der Finkh lachte dazu, daß die Zimmerdecke schütterte; der Kurz lächelte, still in sich vergnügt „wie ein Maikäfer“, und nahm eine „währschafte“ Prise.
Zur Politik verhielt sich der Dichter damals noch ganz gleichgiltig. Das änderte sich aber mit seiner Uebersiedelung nach Karlsruhe, wo er in mehrjährigem Umgange mit den Führern der badischen Kammeropposition zum regelrichtigen Liberalen sich auswuchs. Er hät später die Wendungen und Wandlungen der liberalen Doktrin in aller Ehrlichkeit mitgemacht und selbst die kindlichsten Illusionen der Partei aufrichtig getheilt. Ist es ihm doch unter anderem begegnet, daß er – zu Anfang des Jahres 1848 nach Stuttgart zurückgekehrt und nach dem großen Zusammenbruch von 1849 und der Flucht des braven Adolf Weißer mit der Redaction vom „Beobachter“ betraut – lange noch mit der Seifenblase der sogenannten „Trias-Idee“ ernsthaft spielte, nachdem der Bundestag schon wieder im Thurn- und Taxis’schen Palast in der Eschenheimer Gasse installirt war. Die Sache ist, Politik war und blieb dem Träumer von Poeten im Grunde allzeit etwas Aeußerliches, etwas blos Anempfundenes, etwas Unsympathisches. Hat er mir ja mitten im Wirbel des großen Sturmjahres einmal seufzend gestanden, der ganze Zeitungskram ekelte ihn an, und er fühlte sich recht glücklich, wenn er sich aus der „heulenden Wüste“ der Tagesfragen für etliche Stunden in die stille Oase der Beschäftigung mit irgendeinem literarischen Problem zurückziehen könnte. Natürlich hat er dessenungeachtet den schimmernden Märztraum von 1848 mit ganzer Seele mitgeträumt. Zeugniß dessen sein „Vaterlandslied“, welches edle Gedicht das ganze Vertrauen, die ganze Hoffnung, den ganzen Jubel und Ueberschwang jener wunderbaren Märztage gerade so seelenvoll offenbart, wie Freiligrath’s Zornflammenschrei „Der Todten an die Lebenden“ die ganze Enttäuschung, den ganzen Grimm und Groll der Novembertage herzzerreißend kundgibt.
Es ist heutzutage schwer, in die Stimmung sich zu versetzen, aus welcher heraus Kurz sein „Vaterlandslied“ sang. Ja, ich stehe nicht an, zu sagen, daß man jenen Frühling miterlebt haben muß, um begreifen zu können, wie der schwäbische Dichter auf die Aetherhöhe weltbürgerlichen Idealismus sich zu erschwingen vermochte, von welcher aus er der „großen Mutter“ Germania in den Schlußstrophen seines Gedichtes zurief:
„Lauschend nach des Geistes Sonnen,
Sankst du hin, zum Sterben wund,
Aber Flut vom Lebensbronnen
Quoll dir aus des Todes Schlund.
Keine Freiheit ohne diese!
Bleiche Weltbefreierin,
Deine kühne Wahrheit gieße
Ueber alle Völker hin!
Deine Seher, deine hellen,
Kannten wohl der Sterne Lauf:
Endlich steigt aus Sturm und Wellen
Jenes Friedenseiland auf,
Wo aus Dornen sich die Rose
Ungeknickt entfalten kann, –
Ja, und säuselnd bricht der große
Schöne Völkerfrühling an.
Endlich siegt der wahre Glaube,
Der die Menschheit menschlich macht.
Mit dem Oelblatt kommt die Taube
Und der Rabe flieht zur Nacht.
Aller Völker bunt Gewimmel
Wird ein freier Volksverein
Und der längst verlorne Himmel
Kehrt auf Erden wieder ein.“
Das Vaterlandslied erschien im „Beobachter“ am 26. März von 1848, an jenem sonnigen Sonntag, an welchem zu Göppingen am Fuße des Hohenstaufen die große Volksversammlung stattfand und welcher wohl der schönste Tag der bekanntlich sehr harmlosen schwäbischen „Revolution“ genannt werden darf. Als wir vom Bahnhof durch das Menschengetümmel dem Platze vor dem Rathhause zuschritten, von dessen Balkon herab die Ansprachen gethan und die Schlußnahmen beantragt werden sollten, disputirte unterwegs Kurz mit dem „rothen Pfau“, welcher schließlich gelassen das große Wort aussprach:
„Das Gescheideste wäre halt doch, wenn wir ohne weiteres die Republik proklamirten.“
Wogegen Kurz ganz furibund: „Was? du wilde Gans, wohin verfliegst du dich? Ihr Ueberstürzler werdet alles zu Grunde richten.“
Der „rothe Pfau“ war über diesen unerwarteten Ausbruch des „sanftlebenden Fleisches von Reutlingen“ für einen Augenblick bis zur Sprachlosigkeit verblüfft. Dann brummte er: „Jetzt hört aber doch alles auf, wenn auch noch der Blaue den Staatsmann heraushängen will.“
Der hinter ihm hergehende Ostjäk tröstete ihn: „Ja, weißt Du, Pfaule, seit etzlichen Tagen grassiren halt die Staatsmänner. Jedennoch die blaue Staatsmännischkeit kommt mir grün vor, sehr grün.“
Wir lachten; der Blaue lächelte und nahm eine unendliche Prise. Ueberhaupt ging es bei der schwäbischen „Revolution“ [360] selten ganz ohne Humor und Lachen ab, und das war wohl das Beste daran. Die Spuren bewahrt ergötzlich der „Eulenspiegel“, welchen Ludwig Pfau im Sturmjahre redigirte. Kurz führte übrigens in der politischen und literarischen Discussion selten die Keule als Waffe, sondern zumeist den zierlich damascirten, aber scharfschneidigen Stoßdegen der Ironie. In seiner Streitschrift gegen einen leidenschaftlichen Bekrittler seines „Tristan“, welche unter dem Titel „Der Kampf mit dem Drachen“ 1845 erschien, kann ich zwar nicht mit Heyse ein Meisterstück „polemischen Humors“ erblicken, wohl aber in der auf die Auerbach’sche Dorfhistorik gemünzten „Dorfgeschichte“ (Ges. Werke, IX, 259 fg.) eine der besten und zugleich gutmüthigsten literarischen Satiren, die jemals in Deutschland geschrieben wurden. Das ist attisches Salz oder auch allerbestes schwäbisches. Zu der lyrischen Stimmungsfülle und dem Stilglanze, welche im „Vaterlandslied“ walteten, hat sich der Dichter später nur einmal noch erhoben, in dem prächtigen Gedichte „Der Fremdling“, einer hochpoetisch-symbolisirenden Transfiguration des eigenen Schicksals.
Fasst man die dichterische Thätigkeit unseres Freundes und die Ergebnisse derselben zusammen, so könnte man ihn, die Vorstellung von einer schwäbischen Dichterschule als eine berechtigte vorausgesetzt, als den letzten Mohikaner dieser Schule bezeichnen. Er war so recht ein schwäbischer Binnenmensch, ein Schwabe im Superlativ, ein Reutlinger. Er ist nie in einer großen Stadt gewesen, München ausgenommen; er hat nie das Meer gesehen, auch die Hochalpen nicht, kaum flüchtig ein Stück Voralpen. Sein Heimathland war ihm A und O, war und blieb ihm die Welt. Darum ist in keines anderen schwäbischen Dichters Werken so entschieden viel vom besten Bein, Fleisch und Blut des Schwabenthums wie in den Werken von Hermann Kurz. Dieser Thatsache gegenüber könnte es wundernehmen, daß Kurz in seinem Heimatlande keineswegs populär geworden ist, wenn man nicht beachtete, daß es von jeher ein schwäbisches Specificum gewesen, einheimische Talente zu missachten und hintanzusetzen, unter Umständen auch zu verleumden, zu verfolgen oder zu vertreiben. Vollends solche, welche sich unter die Schablone des altherkömmlichen wirtembergischen „Schreiberregiments“ nicht zu fügen verstanden oder nicht fügen wollten.
Die Werke des schwäbischen Dichters par excellence, namentlich seine zwei großen Romane, wurden und werden in Norddeutschland und sonst außerhalb Schwabens entschieden mehr gelesen und gewürdigt als daheim. Freilich auch in der Fremde noch lange nicht nach Verdienst. Den Hauptgrund ihrer geringen Verbreitung sehe ich darin, daß Kurz es nie verstand, die Frauen für sich zu gewinnen, – die Frauen, von welchen doch die Beliebtheit eines Poeten vorzugsweise abhängt. Und warum gewann er sie nicht? Weil seinen Schriften durchweg das Glattgestrichene, Geschminkte, Kokette und häufig das Packende, Spannende, Sensationelle abgeht, weil er weit mehr ein Dichter der sinnenden Betrachtung als ein Dichter der elementaren oder der raffinirten Leidenschaft ist, weil es endlich in seinen Erzählungen vor lauter Motiviren nicht häufig genug zu dramatisch bewegtem Leben und Handeln kommt. Und wenn es dann doch dazu kommt, so ist der Leser und gar noch die Leserin gewöhnlich schon so ermüdet und abgespannt, daß sie das Interesse an der ganzen Geschichte verloren haben.
Kurz besaß fraglos viele der besten Eigenschaften eines besten Erzählers, aber diese Vorzüge wurden nicht selten paralysirt durch den großen Fehler, daß unser Freund jenen Besuchern glich, welche die Thür nicht mehr finden können. Er verstand es nicht, bei guter Zeit zu Ende zu kommen und abzuschließen. Das gab dann selbst kleineren Sachen, z. B. der, psychologisch angesehen, so meisterhaften Novelle „Der Weihnachtsfund“, etwas so Gedehntes, daß die Geduld der meisten Leser daran erlahmte. Dieses Nichtendigenkönnen ist daran schuld, daß in der Kurz'schen Novellistik mehr als einmal der Ausgang nicht hält, was der Anfang verspricht. Man fühlt mit einer gewissen peinlichen Theilnahme, wie dem Verfasser im Verlaufe seiner Erzählung mehr und mehr die Stimmung abhanden kommt und Dialektik ersetzen soll, was die Phantasie verweigert. Mitunter fällt darum das Ende dem Anfang gegenüber wahrhaft erschreckend ab. So in der Novelle „Die beiden Tubus“. Die erste Hälfte hat ein Meister des Humors gedichtet, aber die zweite verläuft in Trivialität. Was Gleichmaß und Geschlossenheit der Form angeht, so hat Kurz nichts Besseres geliefert, als seine zumeist auf Familientradition beruhenden Erzählungen, welche in der Gesammtausgabe unter der Ueberschrift „Hauschronik“ zusammengestellt sind. Sie standen ursprünglich in dem Kurz'schen Novellenbuch „Genzianen“. Mir persönlich sind, wie ich gestehe, diese Geschichten das Liebste von allem, was der Freund geschaffen. Hier, meine ich, sei es ihm so gut wie sonst nirgends geglückt –
„Um die gemeine Deutlichkeit der Dinge
Den goldnen Duft der Poesie zu weben.“
Die eigentliche Domäne von Kurz war die Geschichte Wirtembergs im 18. Jahrhundert. Auf diesem Gebiete kannte er jeden Weg und Steg, jeden Berg und Bach, jeden Baum und Busch, jeden Wald und Weiler. Auf dem Hintergrunde der Regierungszeit des Herzogs Karl hat er seine beiden großen Romangemälde „Schillers Heimatjahre“ und „Der Sonnenwirth“ ausgeführt. Jenes ist das frischer empfangene und künstlerischer gezeitigte und herausgearbeitete, dieses das tiefer angelegte und seelenkundiger entwickelte. In jenem herrschen idealistisch-romantische Motive, in diesem realistisch-psychologische. Als eine „schwäbische Volksgeschichte“ durfte der Dichter seinen Sonnenwirth mit Fug bezeichnen. Ich wüßte kein Buch zu nennen, in welchem das altwirtembergische Volksdasein zur angegebenen Zeit so umfassend, so anschaulich und so lebenswahr geschildert wäre wie hier. Den Höhepunkt erreicht die Erzählung und damit zugleich den Höhepunkt des tragischen Könnens unseres Dichters im 37. Kapitel, da, wo der Sonnenwirthle, nachdem er den Fischerhanne erschossen, seinem durch das Todesthal ahnungslos daherkommenden Vater von der Bergwaldwand herab zuruft: „Sonnenwirth von Ebersbach, wo hast du deinen Sohn?“ Schade, daß auch bei diesem Werke die schauende und gestaltende Kraft des Verfassers nicht bis zum Ende vorhielt. Der letzte Theil ist nur eine fleißige, aber trockene Relation nach Kriminalakten. „Schillers Heimatjahre“ leiden an einer gewissen Zwiespaltigkeit. Der Roman hat keinen rechten Mittelpunkt. Der Held desselben im Romansinne soll Heinrich Roller sein, aber er wird durch die Erscheinung Schillers fortwährend verdunkelt und in den Hintergrund gedrängt. Die beste Figur im ganzen Buche macht der Herzog Karl. Er ist überhaupt die am meisten plastische und typische Gestalt, welche Kurz geschaffen hat. Dieser Erzmischmasch von aufgeklärtem Despoten, Jagdwüthrich und Wüstling, von Tyrann und Schulmeister leibt und lebt vor unsern Augen, obzwar unser Dichter die Farbe, mit der er das Porträt malte, etwas abgedämpft hat. Es ist ihm gelungen, den Herzog so zu sagen dichterisch zu rehabilitiren, indem er einen Stral altwirtembergischer Pietät auf denselben fallen ließ.
Heyse hat sich mittels Veranstaltung und Veröffentlichung der vorliegenden Gesammtausgabe gewiß den Dank aller Wissenden und Empfänglichen verdient. Aber verwunderlich ist, daß in dieser Gesammtausgabe gerade das Werk von Kurz fehlt, welches, wenn vom Dichter im engeren Sinne die Rede, fraglos für sein bedeutendstes gelten muß. Ich meine selbstverständlich den von dem Freunde gedichteten Beschluß des von Gottfried von Straßburg unvollendet gelassenen Tristan. Noch im Mittelalter hatte, wie jeder weiß, das wundersame Werk Gottfrieds zwei Poeten den Heinrich von Freiberg und den Ulrich von Türheim, zur Vollendung angeliefert, und die Beiden hatten sich auch nach einander ihrer Aufgabe entledigt, soweit eben ihre Mittel reichten.
In unserem Jahrhundert sodann hatten Follen und Immermann den reizenden Stoff zu selbstständiger Behandlung wieder aufgenommen und hatte es der erstgenannte nur zur Schaffung etlicher Bruchstücke gebracht. Auch Immermann’s herrlicher Wurf war nicht zum Ziele gelangt, weil den düsseldorfer Meister der Tod vorzeitig hinwegnahm, wie er den straßburger vordem vorzeitig hinweggenommen hatte. Kurz war glücklicher. Ja, als einen rechten Glücksfall rechne ich es ihm an, daß ihm gegönnt gewesen, das „Hohelied von Tristan und Isolde“ zu beschließen. Denn wie hat er es beschlossen! So, daß der alte Gottfried, falls er aus seinem unbekannten Grabe sich erheben und seines Nachfolgers Leistung betrachten könnte, wohl sagen würde: „Das ist mein lieber Sohn; an dem hab' ich Wohlgefallen.“ Ich will damit nur auf die Congenialität des alten Beginners und des neuen Vollenders hingewiesen haben, indem ich ja nicht meinen kann, Kurz hätte in knechtischer Schmiegsamkeit ganz im Sinn
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und Stil des mittelalterlichen Meisters gedichtet. Allerdings hielt er treulich die Grundlinie ein, welche die Sage und sein Vorgänger ihm vorgezeichnet hatten. Aber statt den Ton des 13. Jahrhunderts ängstlich nachzukünsteln, schlug er kraftvoll den des 19. an, und wenn trotzdem seine Krönung von Gottfried’s graziösem Bau so harmonisch zu demselben stimmt, so hat das seinen Grund darin, daß durch die ganze alte Liebesmär von Tristan und Isolde unverkennbar ein stark moderner Zug geht und daß ja auch der mittelalterliche Romantiker Gottfried von einem Vorwehen neuzeitlichen Geistes angehaucht war. Man denke nur daran, mit welcher lächelnden Ironie dieser überlegene Genius da, wo er seine Heldin die Feuerprobe bestehen läßt, das Ordalien-Institut behandelt hat. Selbst Heine hätte diese Mittelalterlichkeit nicht köstlicher verspotten können. Es ist unmöglich, den Beschluß, vom Tristan zu lesen, ohne den Beschließer achten zu lernen und liebzugewinnen. Hier hält das Ende ganz, was der Anfang verspricht. Mir ist, wenn ich diese sinn- und geistvollen, phantasiereichen und melodischen Gesänge wieder lese, immer, als blickten mich daraus die Augen des Freundes so träumerisch-treuherzig an wie vor Zeiten. Dann vermag ich mich
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auch des bitteren Gefühles nicht zu erwehren, wie wenig die deutsche Leserwelt diesem vaterländischen Schriftsteller bislang gerecht geworden. Schade, daß er kein Franzos gewesen! Schade, daß er, statt aus der Geschichte, aus der Landes- und Volksart seiner Heimat heraus seine Romane und Novellen zu schreiben, nicht aus boue de Paris wüste Fratzen geknetet hat! Schade, daß er, statt ein standhafter Idealist und echter Poet zu sein, nicht den photographischen Apparat des hochgelobten „Realismus“ in Boulevardstheatern, Branntweinkneipen und sonstigen Kloaken herumgeschleppt hat! Wäre er ein Franzos gewesen und hätte er so geschmierakelt, ja dann würden die guten Deutschen und besseren Deutschinnen zweifelsohne seine Bücher verschlungen haben und verschlingen.
Von den Verhältnissen und Stimmungen des Freundes in seinen letzten Lebensjahren hab’ ich keine nähere Kenntniß. Ich weiß nur, daß er seinen Lebensabend verhältnißmäßig sorglos verbringen konnte. Der Ungerechtigkeit und Theilnahmelosigkeit des Publicums müde, hatte er der dichterischen Hervorbringung entsagt und sich ganz seinem spät, zu spät erlangten Amte als einer der Universitätsbibliothekare zu Tübingen, sowie seinen literarischen und historischen Forschungen gewidmet. Eine gediegene Frucht der letzteren war die im Jahre 1871 in Buchform erschienene geschichtliche Bilderreihe „Aus den Tagen der Schmach“. Wie Kurz im großen Jahre der Deutschen fühlte und dachte, bezeugt schön die Zusatzstrophe, welche er dazumal (1870) seinem zehn Jahre zuvor gedichteten Märchen „Die zwölf Brüder und der Menschenfresser“ anfügte. Dieses politische Märchen hatte die Schlußzeile gehabt: „’s gibt keinen Oger mehr.“ Die Zusatzstrophe von 1870 nahm das auf und sagte:
„Doch ja, den Oger gibt’s zur Frist
In seiner stolzen Babel,
Doch der begrab’ne Bruderzwist
Macht ihn erst recht zur Fabel.
Ein Zorn im Volk, ein Muth im Heer,
Vorüber Hohn und Spott,
Und lächelnd reicht er uns den Speer,
Der alte Siegesgott.“
Die Periode der Enttäuschung, Ernüchterung und Erbitterung, welche dem beispiellosen Aufschwung des großen Jahres folgte, hat Kurz nicht mehr mitdurchleben müssen. Der Anblick der traurigen Ebbe, welche so bald nach der prächtigen Hochflut von 1870–71 eintrat, blieb dem Patrioten erspart. Auch ist ihm das Sterben leichter geworden, als ihm das Leben gewesen. Am 10. October von 1873 beschloß ein plötzlicher Tod das innerlich so reiche, äußerlich so dürftige Leben des am 30. November von 1813 geborenen Dichters. „Das Herz war ihm gesprungen,“ meldet sein Biograph und fürsorglich treuer Freund Heyse.
„Have, anima candida!
Nach einer Pause fragte Sergey:
„Sind Sie sicher, daß der Mann, der um Ihre Liebe wirbt, nicht einen Nebenzweck damit verbindet, daß er nicht im weltlichen Sinne des Wortes sein Glück machen will?“
„Er hat Rang und Stellung,“ antwortete Léonide, „Alles, was den Ehrgeiz eines Mannes befriedigt. Aber das ist es. Ich denke nicht an mich. Entreiße ich ihm nicht diese köstlichsten Güter, wenn ich seiner Leidenschaft die meine entgegenbringe? Zwingen ihn dann nicht die Verhältnisse zur Verbannung, zur Weltflucht, zu unerhörten Opfern? Was thun?“
Milinka war es, die zuerst ihre Stimme erhob. Brennende Röthe auf den Wangen, aber die Augen begeistert zum Himmel aufgeschlagen, rief sie:
„Entsagung für immer von beiden Seiten oder gemeinsam sterben.“
Das war correct und zugleich romantisch.
„So wird wohl das Ende sein,“ schluchzte Léonide in ihr Tuch.
Sergey richtete unwillkürlich einen Blick der Mißbilligung auf Milinka. Die Poesie ihres Ausspruchs wollte ihm nicht zu Sinne. Er konnte sich über den Grund nicht sogleich klar werden; er fühlte nur, daß der Ausspruch der wirklichen Situation gegenüber inhaltsleer war.
Matrjona hatte noch nicht gesprochen; sie saß nachsinnend da mit niedergeschlagenen Augen. Als sie jedoch Léonide weinen hörte, sagte sie sanft:
„Sie weinen vielleicht über Ihr höchstes Glück, theuerste Léonide, statt darüber zu jubeln. Sich geliebt zu wissen, wenn man liebt, muß alles Unglück ausgleichen, das die Erde aufbieten kann, wie es kein größeres Unglück auf Erden geben mag – ich fühle es im eigenen Herzen – als sich nicht geliebt zu wissen, wenn man liebt. Die Fragen, die Zweifel betreffen also nur den einzigen Punkt, ob er Sie wirklich liebt. Ich verstehe nicht Ihre Bedenken, Ihre Furcht, ihm seine Stellung zu rauben, ihn um die Genüsse seines Ehrgeizes zu bringen. Sind Sie nicht bereit, Aehnliches für ihn zu thun? Ich würde in Ihrem Falle mit dem Manne, an dem ich zweifle, bald im Reinen sein. Ich würde ihm sagen: 'Wir besteigen einen Wagen oder ein Schiff und fahren in die weite Welt, nach einem vergessenen Erdenwinkel, und Beide haben wir uns dadurch die Rückkehr für immer versperrt und haben uns für immer vereinigt. Zögerst Du auch nur eine Secunde, denkst Du auch nur mit einem Seufzer des Bedauerns an Deinen Rang, Deine Stellung, Deine Freunde, an Dein bisheriges Leben mitten in den Genüssen der Welt, kommst Du nicht augenblicklich mit mir, dann geh – dann hast Du mich nie geliebt, dann wollen wir uns niemals wiedersehen.' So würde ich zu dem Manne sprechen, an dem ich zweifle, und wäre er nicht, bevor ich noch mit den Worten zu Ende bin, mit mir im Wagen, im Schiff, so kehrte ich nach Hause zurück, zwar im Herzen vernichtet, aber stark durch die Pflichterfüllung gegen den Unglücklichen oder Verhaßten, mit dem ich verbunden bin. Was mir auch dadurch an Bitternissen erstünde, sie wären süß im Vergleich mit dem, was ich im Herzen erfahren habe, und je schwerer die Pflichten zu erfüllen wären, um so leichter würden sie mir helfen, mit allen übrigen Forderungen an das Leben für immer abzuschließen.“
Schon während Matrjona sprach, hatte sich Léonide in einem Gefühl ungeahnter Befriedigung erhoben. Jetzt umarmte sie das Mädchen und rief fast mit Jauchzen:
„Ich bin gerettet.“
Sie dachte an den Oheim in den Colonien.
Aber auch auf Sergey war das Auftreten Matrjona’s von unerwarteter Wirkung.
„Wer hätte gedacht, daß so viele praktische Einsicht in das Leben, verbunden mit dem Respect vor den höchsten Interessen des Herzens, in einer unerfahrenen Mädchenseele sich entwickeln können! Aber sie selbst hat verrathen, wer ihr solche Lehren gab. Sie gestand, aus eigenem Herzen zu sprechen, wenn sie es das größte Unglück nannte, sich nicht geliebt zu wissen, wo man liebt. Weh mir, wenn nicht ich es sein sollte, der es vermag; dieses Unglück von ihr zu nehmen! Sie ist nicht Martha, nicht Maria, sie ist Martha und Maria.“
So sagte sich Sergey im Stillen. Der Augenblick war für ihn gekommen, aus der gleichgültigen Passivität mitten in den Sturm der Leidenschaft hineinzuspringen.
Zehn Minuten nach der Entfernung Nikitine’s hörte die Gräfin Tschatscherin, noch immer vor ihrem Ofenschirm sitzend, die Einfahrt des Wagens, der die Mädchen heimbrachte. Sie rührte an einer Glocke, die vor ihr stand, und gab Befehl, die jungen Damen, wenn sie sich nicht zu müde fühlten, noch zu ihr zu bescheiden.
Matrjona allein erschien. Milinka hatte sich sogleich zurückgezogen und ließ sich durch ihre Schwester mit zu großer Ermüdung [363] bei der Gräfin entschuldigen. In Wahrheit aber saß Milinka am Schreibtisch und füllte ihr Tagebuch mit der Aufzeichnung des für sie Merkwürdigen, das sie an diesem Abend erlebt hatte. Seit sie sich in Petersburg befand, hatte sich ihre Neigung zum Vielschreiben noch gesteigert, was einigermaßen das Verdienst Derjenigen war, die ein schriftstellerisches Talent in ihr errathen haben wollten und ihr damit schmeichelten.
Das Gesicht der Gräfin, als sie Matrjona empfing, war Spannung und stumme Frage. Daß die von Léonide in ihr Vertrauen Gezogenen den Inhalt der Unterredung streng verschweigen würden, war so selbstverständlich, daß dafür ein Versprechen weder verlangt noch gegeben wurde. Matrjona glitt daher über den Abend bei der Fürstin mit nichtssagenden Worten hinweg, und um die Neugier der Frau von Tschatscherin von dem Gegenstande abzulenken, sprach sie von den Eindrücken, die sie durch das Leben in Petersburg überhaupt empfangen.
Schon seit einigen Tagen war sie sich einer Wendung ihres Gemüths bewußt geworden. Aus der ursprünglich so lebhaften und unbefangenen Hingebung an die Freuden und das Treiben der großen Gesellschaft war allmählich ein Gefühl der Enttäuschung hervorgegangen. Sie glaubte zuletzt, Luft gespeist und gemalten Wein getrunken zu haben. Gegen eine Empfindung von Leere und Nüchternheit hatte sie sich zu wehren, um in ihrer Seele nicht Raum dafür zu lassen. Sie hatte begonnen, sich nach Thätigkeit zu sehnen, nach dem stillen und regelmäßigen Walten ihres ländlichen Hauses. Was sie an diesem Abend bei Léonide erfahren, brachte ihr völlige Klarheit über die neue Lebensstimmung, die mit der kindlichen Freude am Weltleben, mit der sie ihren Aufenthalt in Petersburg begonnen hatte, in so großem Widerspruch stand.
Die Gräfin war darum auch im höchsten Grade erstaunt, als ihr Matrjona das Bekenntniß dieser Wandlung ablegte; die Gräfin war erstaunt, aber auch erfreut; denn sie dachte an ihren Neffen. Seiner Denkungsweise und seinem Lebensplan konnte nichts besser entsprechen, als die Abwendung von der Welt, und wenn Milinka schon von Anfang an, aber ohne ausgesprochenen Grund und gleichsam nur instinctmäßig, die ländliche Einsamkeit dem hauptstädtischen Getümmel vorzog, so mußte Matrjona's erst durch die Erfahrung herbeigeführte gleiche Weltanschauung für Sergey größern Werth haben, weil auf Erkenntniß und Urtheil beruhend.
Eine leise Anspielung der Gräfin, welche vortheilhafte Wirkung diese Wandlung im Gemüthe Matrjona's auf den Neffen üben werde, brachte das junge Mädchen in äußerste Bestürzung. Matrjona zitterte vor Scham und Entrüstung bei dem Gedanken, daß Sergey, wenn er ihr Gespräch mit seiner Tante erführe, eine ihm bereitete Concession oder etwa gar eine Aufforderung oder auch nur Anregung zur Wiederholung seiner Werbung darin erblicken könnte. Sie beschwor die Gräfin mit inbrünstigen Worten, die ihr eben eingestandene Wandlung vor aller Welt zu verschweigen.
„Beruhigen Sie sich, liebes Kind!“ sagte die alte Frau „ich wünsche lebhaft, daß entweder Sie oder Ihre Schwester sich entschließen mögen, Sergey's Hand anzunehmen, weil er sonst schwerlich zu einer Heirath überhaupt zu bringen wäre, allein ich werde mich persönlich niemals in die Verständigung einmischen, die zwischen den beiden Schwestern und ihm endlich stattfinden und einer Entscheidung vorhergehen muß.“
Die Gräfin zog sich hierauf in ihr Schlafgemach zurück, und Matrjona schloß die Augen nicht zum Schlummer, ohne sich zu sagen: „Niemals! niemals! Er hat um meine Schwester und mich zugleich geworben – das ist so gut, als wäre er ein Freier all der Millionen Mädchen, die auf dieser Erde leben. Ich werde mich niemals entschließen, eine von diesen Millionen, eine 'gleichviel welche' zu sein.“
Im Laufe des folgenden Tages erhielt Frau von Tschatscherin ein Billet Nikitine's. Er theilte ihr mit, daß er sie einige Tage nicht sehen werde, weil er sogleich nach Kronstadt abreisen müsse; er habe nichts dawider, wenn sie dächte, daß die Reise mit der Angelegenheit in Verbindung stände, die ihm, wie sie wisse, über Alles theuer, mit der „brennenden Wunde“, die endlich eine glückliche Heilung finden werde.
Die Gräfin las diese Zeilen kopfschüttelnd. Sie setzte von der jungen Fürstin nicht voraus, daß sie einen Mann wie Nikitine ernst nehmen könnte, und hatte bisher vielmehr vermuthet, die schöne Dame werde durch Widerstreben und Koketterie ihr Geschlecht an dem Frevler zu rächen suchen. Doch nahm sich die Gräfin nicht Zeit, lange darüber nachzudenken; das Wesen ihres Neffen hatte sich auffallend verändert, und dies neue Räthsel nahm ihre Aufmerksamkeit ausschließlich in Anspruch.
Sergey, dessen beständige milde Heiterkeit sonst nur den schärfsten Blicken der lange mit ihm Vertrauten gestattete, den darunter verborgenen Hang zur Melancholie zu gewahren, gab diese jetzt offen kund und, wie die Gräfin klagte, mit einer an ihm ungewohnten Rücksichtslosigkeit gegen seine Umgebung. Dieses Frauenurtheil bedeutete eigentlich nur, daß er nicht unterhaltend, nicht liebenswürdig, nicht Plauderer war, wie sonst.
Das Räthsel löste sich sehr einfach: die Liebe, die zum ersten Male mit ihrer ursprünglichsten Gewalt in ihm erwacht war, rief zugleich die bittersten Selbstvorwürfe wach. Immer hatte er in der tiefsten Heimlichkeit seiner Seele Matrjona bevorzugt, weil er aber in ihrem praktischen Wesen einen Widerspruch mit seiner Denkungsweise zu finden geglaubt, war sie ihm nicht theuer genug geworden, daß er nicht vielleicht lieber noch die Hand der ideal gesinnten Milinka angenommen hätte. Jetzt aber, nachdem er während des Aufenthaltes in Petersburg die ihm sympathischere äußere Erscheinung Matrjona's immer stärker auf sich hatte wirken lassen und endlich erkannt hatte, daß sie mit ihrer Einsicht für das unmittelbare Leben auch die Ehrfurcht vor Ideen und Idealen verband – jetzt erst klagte er sich an, sie durch seine Doppelwerbung verletzt und herabgesetzt zu haben, und hielt sich nicht mehr für würdig, nicht mehr für fähig, um sie allein zu werben.
Er war aber nicht der Mann, lange in Unklarheit auszuhalten und nicht lieber die schwerste Buße, als eine schwankende Unzufriedenheit mit sich selbst zu ertragen. Schon nach wenigen Tagen legte er der Geliebten sein Herz und den ganzen Entwickelungsgang seiner Gefühle für sie, seine Liebe, seine Reue und sein Verzagen offen dar.
„Und damit Sie nicht glauben, theure Matrjona,“ schloß er, „daß neben Ihnen noch irgend etwas Werth für mich hätte, selbst wenn es mir bis zu dem Augenblicke, da ich Sie liebte, der einzige Lebenswerth zu sein schien – ich habe die Lust und Freude nicht übersehen können, womit Sie am Stadtleben hängen, ich bin bereit für Ihren Besitz meine Einsamkeit auf dem Gute aufzugeben, unser Dasein ganz nach Ihrem Geschmack zu gestalten.“
„Dann blieben wir auf dem Lande,“ sagte Matrjona, „denn mein Herz hat sich von der Welt abgewendet.“
„Ist es möglich?“ rief er fast bestürzt; „hat ein Schmerz Sie dahin gebracht? Ist ein unglückliches, ein hoffnungsloses Gefühl in Ihnen erwacht?“
„Nein!“ erwiderte sie, „der Anblick der Welt und ihres Treibens genügte. Und wenn ein Schmerz dabei im Spiele war, so ist er jetzt dahin, da der Mann, der mir ihn zugefügt, ihn in diesem Augenblicke von mir genommen.“
Er wollte sie entzückt umschlingen, aber sie wehrte ihn ab:
„Noch ist nicht Alles gethan. Vergessen Sie nicht, daß auch Milinka gewissermaßen Ihre Braut ist, daß auch sie das Recht hat, die Hand nach Ihnen auszustrecken. Wir müssen erst ihr Herz prüfen, und wenn auch nur ein Schatten von Verstimmung es trübte, weil ihr die Entscheidung erlassen ist – so hätten Sie auch mich verloren.“
Diese Unterredung fand im Salon der Gräfin statt, nachdem die gewohnte Abendgesellschaft ihn verlassen hatte, und zwar an demselben Tage, an welcher Nikitine von Kronstadt zurückgekehrt war. Während die Liebenden sich verständigten, saß in einem Nebensalon Milinka in tiefem Gespräch mit einer ältlichen Frau, einer Mitarbeiterin belletristischer Zeitungen, der Milinka ihre ersten Federversuche zur Beurtheilung vorgelegt hatte. Zu gleicher Zeit aber hatte sich die Gräfin schon in ihr Boudoir zurückgezogen und vor dem Schirm ihren gewohnten Platz genommen, und auch Nikitine saß wieder an ihrer Seite.
„Ich erzähle Ihnen keine Fabel, Gräfin. Léonide wollte in Kronstadt, daß wir ein zur Abfahrt nach Amerika die Anker lichtendes Schiff bestiegen, augenblicklich, ohne Besinnen, mit Aufgebung aller Verhältnisse, sogar des Junggesellen-Diners, zu dem ich schon Einladungen verschickt hatte, kleine Nebensachen, wie des Ministers und meiner Carrière, gar nicht zu gedenken – und dies Alles, um niemals mehr wiederzukehren, um fortan unter der Bewachung eines Oheims, eines alten Negerfürsten oder dergleichen zu leben, mit nichts beschäftigt, als mit ewiger Liebe.“
[364] Kalter Schweiß schien ihm auf die Stirn zu treten; denn er trocknete sie mit seinem Taschentuch.
Er fuhr fort:
„Sie verließ mich, wie sie mir sagte, um mich niemals wiederzusehen – und ich verließ sie, wie ich verschwieg, um sie gewiß nicht mehr wiederzusehen. Denn sie ist offenbar verrückt, und auf eine noch schlimmere Art als Fürst Romalow. Ein würdiges Paar! Aber was wollen Sie, Gräfin? Ich bin trotzdem von der Geschichte zerschmettert, unglücklich, elend, trostlos. O die Frauen – ich will ihnen nicht mehr nahe kommen. Wissen Sie, theure Freundin, daß dies gerade die richtige Stimmung wäre, um meine Vorliebe für Ihre Milinka in Erwägung zu ziehen? Die Marotte des Mädchens, sich von der Welt zurückziehen zu wollen, kommt meiner gegenwärtigen Disposition entgegen.“
Die Gräfin lachte.
„Milinka wird heute noch bei mir erscheinen; sie hat mir etwas anzuvertrauen.“
„Benützen Sie die vertrauliche Stunde – ich bitte Sie – um ihr Herz zu erforschen,“ sagte Nikitine, indem er sich erhob; „ich habe mein Unglück noch lange nicht überwunden; ich werde es niemals überwinden, und ich bin jetzt todtschläfrig.“
Er hatte sich kaum entfernt, als Milinka eintrat. Sie war erregt, hochroth, und ohnehin leicht zur Ekstase geneigt, warf sie sich der Gräfin zu Füßen.
„Papa hat heute geschrieben, er will endlich unsere Heimkehr und unsere Entscheidung wegen Sergey Iwanowitsch. Retten Sie mich, theure Gräfin!“
„Ja, es zwingt Sie ja Niemand, meinen Neffen zu heirathen!“
„Das würde ich auch niemals thun, so sehr ich ihn schätze und achte, schon deshalb nicht, weil er sein Leben auf dem Lande verbringen will. Ich aber will Petersburg, will diese herrliche neue Welt mit ihren interessanten Begebenheiten, Charakteren und Stoffen nicht mehr verlassen. Ich habe die Einsamkeit en horreur genommen. Das ist es, wovor Sie mich retten sollen.“
Erstaunt erfuhr die Gräfin zum zweite Male, wie rasch, wenn auch psychologisch erklärlich, die Lebensanschauungen junger Herzen sich ändern. Ehe sie antworten konnte, bat Matrjona mit leisem Pochen, eintreten zu dürfen. Auch Sergey wollte seine Tante noch sehen. Die Gräfin theilte den Neuhinzugekommenen die Aeußerungen Milinka's mit.
„So viel ist gewiß, mein Sohn,“ sagte sie zu Sergey, „Du darfst Dir keine Hoffnungen auf die Hand dieses Mädchens machen; Milinka hat sich entschieden dagegen erklärt.“
Matrjona und Sergey sahen sich in die Augen. Die Gräfin fuhr fort:
„Ich wäre glücklich, Sie für immer bei mir zu behalten, Milinka. Wollen Sie als meine Gesellschafterin, als meine Freundin mit mir weiter leben? Sie sind plötzlich eine Gegnerin der Einsamkeit geworden – wollen Sie mir helfen, auch die meine zu verbannen?“
Milinka küßte ihre Hand, ihr Kleid und sank ihr, Freudenthränen weinend, zu Füßen.
Jetzt hielt es auch Sergey an der Zeit, sein Glück nicht länger zu verschweigen. Der Freudensturm Milinka's ging aus anderen Ursachen nun auch auf die Gräfin über. Sie umarmte und küßte Matrjona und nannte sie ihre zweite Tochter. Nie haben Glücklichere einen Tag mit größerer Freude auf die nächsten Tage beschlossen.
Die Hochzeit Sergey's und Matrjona's fand in Petersburg statt. Towaroff hatte gleich, nachdem Hesekiel Nazarus mit erfrorener Nase und beschädigten Beinen aus Moskau zurückgekehrt war, ihn für immer in sein Haus aufgenommen. Nachdem Towaroff die Lebensentscheidungen seiner Töchter erfahren, übergab er dem ehemaligen Sprachmeister die Verwaltung des fortan einsam bleibenden Herrenhauses, hoch erfreut, den Rest seines Lebens als lustiger Junggeselle in einer der großen Städte verbringen zu können.
Sergey hatte in seiner Häuslichkeit oft Gelegenheit zu sagen:
„Einst fragte ich mich: Martha oder Maria? In der Ehe aber kann nur ein Weib beglücken, das Martha und Maria zugleich ist.“
Beim Ausstopfer. (Mit Abbildung S. 361.) Die Jugend hat ihre Schmerzen und Sorgen so gut, wie die Welt der Erwachsenen, und wenn dem großen Menschen solch ein kindlicher Jammer zumeist höchst komisch vorkommt, er lastet darum doch mit derselben ernsthaften Schwere auf dem kindlichen Gemüth, wie ein großes Leid auf Jenem. Es ist eben alles nur relativ in der Welt, Wahrheit, Tugend, Schönheit – alles, und darunter auch der Begriff Unglück. Was eine souveraine Würdigung der Dinge mit einem Schnadahupfl abthut:
Fritze Stieglitze, der Vogel ist todt,
Er liegt auf dem Rücken und frißt gar kein Brod –
das kann ein Kindergemüth auf's Tiefste erschüttern, mehr selbst, als der Tod eines Familienmitgliedes. Jede Trennung wirkt naturgemäß nun so schmerzhafter, je innerlicher die Bande waren, welche sie zerriß, und es ist nichts so Unnatürliches, daß ein Kind sich innerlich fester an einen kleinen Spielcameraden aus der Thierwelt anschließt, als an einen seinem Innenleben fremd bleibenden Menschen. Man frage ein kleines Mädchen, was es lieber verschenken will, seine Lieblingspuppe oder einen größeren Bruder – selbst diese Lieblingspuppe wird ihr als das Unentbehrlichere erscheinen, eben weil dieselbe mit ihrem ganzen Denken und Fühlen tiefer verwachsen ist, und so offenbart die ungeschminkte Kindesnatur ein Naturgesetz, an welchem der Psychologe nicht achtlos vorbeigehen kann.
Das jugendliche Paar auf unserem Bildchen versank nicht in seinem Kummer. Es gilt eine monumentale That, und so erscheint es denn mit dem theuren verstorbenen Piepmatz beim Ausstopfer, etwa wie weiland eine ägyptische Familie in Trauer bei dem Mumienbesorger, in der Absicht, dem todten Liebling die letzte Ehre einer mit Werg ausgefüllten Unsterblichkeit zu verschaffen. Auf dem halb lächelnden Gesicht des würdigen Künstlers schwebt freilich, wie es scheint, die für den Erfolg des Besuches bedenkliche Frage: „Wer bezahlt's?“ Unserm Mitleid zuliebe wollen wir indeß hoffen, daß er's diesmal nicht so genau nimmt.
Blinden-Erziehungsanstalten in Deutschland. Auf unsere Anfrage in Nr. 14 dieses Jahrganges: „Wo bestehen in Deutschland, speciell im Staate Preußen, Schulen oder Lehranstalten für blinde oder halb erblindete Kinder vermögensloser Eltern?“ erhalten wir von dem Taubstummenlehrer Herrn W. Reuschert in Ratibor eine so erschöpfende Auskunft, daß wir sie unseren Lesern nicht vorenthalten dürfen. Sie lautet:
„Blinden-Erziehungsanstalten bestehen in folgenden Orten Deutschlands: 1) Königsberg (provinzialständisch), Ostpreußen; 2) Neu-Torney bei Stettin (provinzialständisch), Pommern; 3) Bromberg (provinzialständisch), Posen; 4) Breslau (Vereinsanstalt), Schlesien; 5) Kraschnitz bei Militsch (deutsches Samariterordensstift), Schlesien; 6) Steglitz bei Berlin (königlich), Brandenburg; 7) Berlin (städtisch); 8) Barby (provinzialständisch), Pr. Sachsen; 9) Schleswig, Schleswig-Holstein; 10) Kiel (provinzialständisch), Schleswig-Holstein; 11) Hannover (provinzialständisch); dazu die Blindenvoranstalt zu Rössing bei Nordstemmen), Pr. Hannover; 12) Soest (provinzialständisch), Provinz Westfalen; 13) Paderborn (provinzialständisch, katholisch), Westfalen; 14) Düren (provinzialständisch), Rheinprovinz; 15) Frankfurt am Main (Privatanstalt), Provinz Hessen-Nassau; 16) Wiesbaden, Provinz Hessen-Nassau; 17) Hamburg; 18) Neukloster bei Wismar (großherzoglich), Mecklenburg-Schwerin; 19) Weimar (großherzoglich); 20) Dresden (königlich), 21) Leipzig (Privatanstalt von Biener), 22) Hubertusburg (königliche Blindenvorschule), 23) Moritzburg bei Dresden (königliche Blindenhülfsanstalt und Vorschule), Königreich Sachsen; 24) München (königlich), 25) Würzburg (Kreisblindenanstalt für Unterfranken und Aschaffenburg), 26) Nürnberg (protestantische Privatanstalt), Baiern; 27) Stuttgart (Protectorat: Königin Olga), 28) Gmünd (Privatanstalt), 29) Lustnau bei Tübingen, Württemberg; 30) Friedberg (großherzogliche Anstalt), Hessen; 31) Ilvesheim bei Friedrichsfelde (großherzoglich), Baden; 32) Illzach bei Mühlhausen im Elsaß (Privatanstalt).
Im Anschluß hieran erlaube ich mir noch mitzutheilen, daß in allen Staats- respective provinzialständischen Anstalten die meisten Zöglinge Freistellen besitzen. Die Freistellen werden vom Landes-Directorat vergeben an solche Zöglinge, deren Eltern unbemittelt sind; ob ein Gleiches in den Privatanstalten der Fall ist, kann ich jedoch nicht angeben.“
R. Sch. in L. Ihr Einwurf ruft uns die Klage in's Gedächtniß zurück, welche jüngst in der „Allg. Ztg.“ (Nr. 128) über die in der Rechtschreibung der deutschen geographischen Namen herrschende Verwirrung Ludwig Steub angestimmt hat. Dieselbe ist leider nur zu berechtigt, und Niemand hat darunter öfter zu leiden, als die Redactionen von Zeitschriften. Es darf ein Manuscript nur möglichst unleserlich sein und der Corrector es mit lautverwandten Vocalen zu thun haben, wie ö, e und i, so ist ein Unglück fertig und steht eine Semmeringer oder Sömmeringer (Beides ist richtig) statt einer Simmeringer Heide da, die auch noch in eine „Weide“ verwandelt sein kann. Uebrigens dient, wie uns von anderer Seite mitgetheilt wurde, diese Heide bei dem zu den Vororten Wiens gehörigen Dorfe Simmering längst nur als Artillerie-Exercirplatz, während die Wiener Wettrennen auf einer großen Wiese zwischen dem Donaustrom und dem Donaucanale, der Freudenau, abgehalten werden. So dankt man einem leidigen Druckfehler eine schätzbare Belehrung.
- ↑ Nicht unwillkommen dürften hier einige Mittheilungen über die Abstammung und die Naturanlagen der Aïnos sein. Dieses im Aussterben begriffene Volk ist von zweifelhaftem Ursprung; es wurde früher allgemein der turanischen und wird jetzt von Einigen der arischen Familie zugewiesen. Hervorragende Bildungsfähigkeit und Intelligenz ist ihm nicht eigen; dagegen zeichnet es sich durch eine unverkennbare Gutmüthigkeit aus. Die Aïnos sind von dunkelbrauner Gesichtsfarbe und mittlerem Wuchs, und ihr Körper ist, wie bereits oben erwähnt, fast ganz von starker Behaarung bedeckt. Unser heutiges Bild thut indessen dar, daß dieser eigenthümliche Volksstamm neben Gesichtern von dem unverkennbar stupiden Ausdrucke einer untergeordneten Rasse auch Physiognomien von edlerem Formcharakter und einem gewissermaßen europäischen Gepräge geistiger Belebtheit aufzuweisen hat.D. Red.
- ↑ Der Index ist nämlich die fünfzehnte Seite der Eingangs erwähnten Broschüre, auf welcher die Feinde des Herrn Dr. Heß verzeichnet stehen.
- ↑ Gesammelte Werke von Hermann Kurz. Mit einer Biographie des Dichters herausgegeben von Paul Heyse. 10 Bde. Stuttgart, A. Kröner, 1874.
- ↑ Bestätigung dieser Ansicht giebt das „Nachlaß“ überschriebene Gedicht:
„Ich werde so von hinnen eilen
Mit tief geschlossenem Visir,
Und ein paar arme stumpfe Zeilen
Die bleiben dann der Welt von mir.
Nach diesen werden sie mich wägen,
Verdammung sprechen oder Lob,
Nicht ahnend, ach, mit welchen Schlägen
Sich oft mein Herz in meinem Busen hob;
Wie ich am schönen Tag, in guter Stunde
Verschmelzend Geist in Geist verwebt,
Mit einem kleinen Menschenbunde
Ein ganzes, volles Leben durchgelebt;
Wie wir das Herz, wie wir die Welt gemessen,
Wie manch gewichtig Wort in Lethe’s Wellen fiel
Und wie wir dann in seligem Vergessen
Manch kecken Scherz geübt, manch übermüthig Spiel.
Vor solchem Leben frisch und reich
Wie sind die Lettern todt und bleich!
Doch was ich mir, in mir gewesen,
Das hat kein Freund geseh’n, wird keine Seele lesen.“