Die Entdeckung der Nordostdurchfahrt
Die geographische Forschung ist heute bereits in ein Stadium getreten, welches Reisenden wie Stanley es bald schwierig machen dürfte, ein bisher unbetretenes Gebiet zu finden, auf dem sich durch kühnes Vordringen allein noch Lorbeeren pflücken lassen. Zwar giebt es noch unzählige geographische Fragen, welche der Lösung harren, allein weitausgedehnte unerforschte Gebiete sind, außer in Asien und Centralafrika, nicht mehr vorhanden, und bald wird auch der Schleier, der das Herz des „schwarzen Continents“ noch verhüllt, gelüftet sein, denn Reisen und Forschen ist jetzt das Losungswort einer großen Schaar muthiger, wissenschaftlich gebildeter Männer. In unserer Zeit, in welcher eine Reise um die Welt für Jedermann, wenn er nur das nöthige Geld dazu hat, eine sehr einfache Sache ist, in der Vertreter von Völkern der entferntesten Erdtheile in unserer Mitte nur noch wenig Aufsehen erregen, in welcher außerdem durch Vorträge und populäre Zeitschriften aller Art, durch Museen und Privatsammlungen die Kenntniß von deren Gebräuchen und Sitten in die weitesten Kreise getragen wird – in einer solchen Zeit muß ein Forschungsreisender etwas ganz Außergewöhnliches leisten, wenn die allgemeine Aufmerksamkeit auf seine Person gelenkt werden, wenn sein Name in Aller Mund sein soll.
Professor Nordenskjöld hat als wissenschaftlicher Führer des schwedischen Expeditionsschiffes „Vega“ eine solche Leistung vollbracht. Ihm ist es gelungen, ein Unternehmen verhältnißmäßig rasch und ohne jeden Unfall glücklich zu vollenden, dessen Ausführung drei Jahrhunderte mit einem Aufgebot von großen Mühen und Kosten sowie mit Aufopferung einer reichlichen Zahl von Menschenleben vergeblich angestrebt, und welches noch vor wenigen Jahren Akademiker und hervorragende Geographen als ein unausführbares, unmögliches Beginnen bezeichnet haben. Er hat zum ersten Mal bei seiner Umseglung Asiens und Europas das sibirische Eismeer in seiner ganzen Erstreckung durchfahren, und die ganze civilisirte Welt feiert soeben die der Heimath zustrebenden Helden in gebührender Weise.
Freilich hat der Mann, dessen wohlgelungenes Portrait diesen Artikel begleitet, eine zwanzigjährige Vorbereitung, ein eifriges und eingehendes Studium der Polarregionen und die ganze Kraft seines eisernen Charakters, den weder vorübergehende Mißerfolge noch dadurch hervorgerufene Angriffe irre machen konnten, nöthig gehabt, um das große Werk auszuführen.
Adolf Erik Nordenskjöld ist am 18. November 1832 zu Helsingfors in Finnland geboren. Nachdem er in seiner Vaterstadt studirt, mußte er wegen einer bei der Promotionsfeier gehaltenen Tischrede, in welcher er dem Wunsche nach Wiedervereinigung seines engeren Vaterlandes mit Schweden lebhaften Ausdruck verliehen hatte, seine Heimath verlassen, um der ihm von Seiten der russischen Machthaber drohenden Verfolgung zu entgehen. Er wandte sich nach Stockholm, wo der junge Forscher, alsbald zum Professor der Mineralogie und zum Custos des mineralogischen Museums ernannt wurde; einem in späteren Jahren von seiner Vaterstadt erhaltenen Rufe, dort als Lehrer an der Universität zu wirken, konnte er, weil ihm die russische Regierung die Bestätigung versagte, nicht Folge leisten. Inzwischen hatte Nordenskjöld schon 1858 begonnen, sich an der Untersuchung der Polargegenden zu betheiligen. In diesem Jahre sowie 1861, 1864 und 1868 war er in Spitzbergen; 1870 forschte er in Westgrönland. 1872 wurde er Leiter der großen schwedischen Expedition nach Spitzbergen, welche er, vermittelst speciell zu diesem Zwecke mitgenommener Rennthiere, von dort aus weiter nach dem Nordpol zu führen hoffte. Allein das Unternehmen gelang nicht, und er mußte, ohne gegen Norden bedeutend vorgedrungen zu sein, nach einer Ueberwinterung zurückkehren.
Durch diesen Mißerfolg und durch die mannigfach herbe Beurtheilung, die seine Bestrebungen in Schweden fanden, keineswegs entmuthigt, wandte Nordenskjöld jetzt seine Thätigkeit einer anderen Seite der Polarforschung zu, aus der für ihn und die Mitwelt weitaus greifbarere und für das praktische Leben nutzbarere Resultate erstehen sollten.
Die Sucht nach Erwerb hat immer fördernd auf den Gang der geographischen Entdeckungen eingewirkt. So wurde bald, nachdem Magelhaens den Stillen Ocean zum ersten Mal durchkreuzt und damit erwiesen hatte, daß Columbus nicht, wie dieser selbst bis an sein Lebensende geglaubt, die Ostküste Asiens, sondern eine neue Welt entdeckt hatte, verschiedentlich versucht, das Wunderland China mit seinen Schätzen auf kürzerem Wege von Europa
[93]aus zu erreichen, als die Route um das Cap der guten Hoffnung und durch den Indischen Ocean ihn bot.
Die Fährt nördlich um Amerika, die sogenannte Nordwestpassage, hatte sich der Eisverhältnisse wegen als unmöglich herausgestellt, und so bemühte man sich, im Norden der alten Welt durch das Sibirische Eismeer nach dem erstrebten Ziele zu gelangen. In vier verschiedenen Perioden wiederholten sich diese Versuche, bis es endlich Nordenskjöld gelungen ist, diesen Theil des arktischen Oceans zu durchkreuzen.
Zuerst waren es englische Seefahrer, welche China auf diesem Wege zu erreichen hofften; ihnen folgten im siebenzehnten Jahrhundert Schiffe unter der Flagge Hollands, welches damals auf dem Gipfel seiner Seemacht stand und eifersüchtig auf die Erfolge der Engländer wurde. Wenn nun auch diese Bestrebungen nicht zum eigentlichen Ziele führten, so hatten sie doch die Entdeckung von Spitzbergen mit seinen damals an Walfischen noch so reichen Gewässern und mit seinen großen Herden von Walrossen und anderen Thranthieren, sowie die Auffindung der großen Doppelinsel Nowaja Semlja zum Resultat. Weiter vorzudringen gelang den Seefahrern der damaligen Periode nicht; ohne für die Eisfahrt geeignete Schiffe, ohne Erfahrung darin, welche Mittel man bei einer Ueberwinterung in subarktischen Gewässern zu ergreifen hat, um die Gesundheit zu erhalten, fielen sie zahlreich dem Scorbut und der Kälte zum Opfer, unter ihnen auch der größte Seefahrer der damaligen Zeit, Willem Barents, dessen einsames Grab Nowaja Semlja wurde.
Wenige Jahre später begannen nun auch die Russen bei Eroberung Sibiriens an der Entschleierung der sibirischen Nordküste zu arbeiten, wobei sie freilich mehr durch die Sucht nach dem Erwerb der kostbaren Pelzwaaren und der im Boden verborgenen Elfenbeinschätze, als durch die Idee der Auffindung eines Seeweges nach dem Stillen Ocean geleitet wurden. Es finden sich nämlich auf der nordsibirischen Küste und den ihr vorgelagerten Inseln bekanntlich reiche Lager von Mammuthzähnen, die ein werthvolles Elfenbein liefern. Selbst wohlerhaltene Leichname solcher vorweltlichen Elephanten hat man zu wiederholten Malen dem ewig gefrorenen Boden dieser Gebiete entnommen, und das Fleisch, obwohl Jahrtausende alt, wurde trotzdem von Hunden noch gefressen. Wie diese Mammuthreste hier so massenhaft sich ansammeln konnten, das ist freilich noch ein ziemlich ungelöstes Räthsel.
Unter ganz namenlosen Schwierigkeiten drangen kühne Männer theils zu Schlitten, theils mittelst elender Schiffchen an [94] der unwirthlichen nordsibirischen Küste entlang. Nicht wenige derselben erlagen dem Hunger und der Kälte oder fielen durch die Hände ihrer eigenen Genossen, welche, müde der unerhörten Drangsale, durch Ermordung ihres Führers, der sie immer weiter in das unbekannte, öde Gebiet vordringen ließ, dem drohenden Tode zu entrinnen hofften. Einem jener Männer, welche das, was ihnen an Mitteln und Ausrüstung abging, durch unentwegten Muth und Eifer für die Sache ersetzten, dem Kosaken Deschnew, gelang es sogar, bis zur später sogenannten Bering-Straße vorzudringen und damit die Trennung der alten von der neuen Welt festzustellen, aber sein Bericht blieb in russischen Archiven verborgen, er selbst verscholl, und so kam es, daß Bering im vorigen Jahrhundert die Straße, welche seinen Namen trägt, noch einmal entdecken konnte.
Im Laufe der Zeit traten auch russische Regenten der Sache näher und ließen durch wissenschaftlich ausgerüstete Expeditionen Vermessungen und Untersuchungen in diesen Gegenden vornehmen, und den Abschluß der langen Reihe dieser Unternehmungen bildete endlich eine von der Regierung ausgesandte Expedition, welche in den Jahren 1820 bis 1823 den östlichen Theil der sibirischen Küste und die neusibirischen Inseln untersuchte und vermaß. Zugleich hatten die Führer der Expedition den Befehl, den immer und immer wieder auftauchenden Gerüchten von der Existenz eines Landes im Norden von Sibirien auf den Grund zu kommen. Allein soweit auch Baron von Wrangell durch Schlittenreisen während dreier Winter von der Küste über das gefrorene Meer nach Norden vorzudringen suchte, immer kam er nach Ueberwindung zahlloser Schwierigkeiten schließlich wieder an offene Stellen, die seinem weiteren Vordringen ein Ziel setzten und ihn zur Umkehr zwangen. Damit gab die russische Regierung jeden weiteren Versuch, Entdeckungen an dieser Stelle vornehmen zu lassen, auf, und die von Wrangell und seinen Vorgängern gelieferten Berichte über die Mühseligkeiten aller Art, die sie bei ihren Reisen hatten auszustehen gehabt, schienen auch den Muthigsten von weiteren Untersuchungen abschrecken zu müssen. Selbst die Auffindung des sagenhaften Landes durch Walfischfänger, welche, durch die Bering-Straße nach Norden ihre Jagdbeute verfolgend, 1867 zuerst das lange gesuchte Wrangell-Land in Sicht bekamen, konnte die Frage der Benutzbarkeit des sibirischen Eismeeres als Verkehrsstraße nicht in Fluß bringen. Der berühmte Petersburger Akademiker von Baer, welcher die nordwestlichen Theile des großen russischen Reiches eingehend durchforscht hatte, bezeichnete nach seinen Erfahrungen das ringsum fast ganz von Land umschlossene Seebecken des Karischen Meeres im Osten von Nowaja Semlja als einen ewigen Eiskeller, in dem sich das alljährlich im Winter gebildete Eis, vermehrt durch den Eisgang der beiden größten Ströme Sibiriens, des Ob und des Jenissei, naturgemäß ansammeln und stopfen müsse, von Baer's Autorität bewirkte, daß man diesen Meerestheil beträchtliche Zeit hindurch als eines der eisreichsten Gebiete der Erde ansah. Nach einer langen Periode der Ruhe sollte hier die Praxis über die Theorie einen glänzenden Sieg davontragen.
Norwegische Fangschiffer hatten durch die immer größer werdende Armuth der von ihnen besuchten Gebiete an jagdbaren Thranthieren sich veranlaßt gesehen, neue Jagdgründe aufzusuchen; sie hatten im Sommer 1869 sich in das „unnahbare, unschiffbare“ Karische Meer gewagt und waren, nachdem sie in dem berüchtigten „Eiskeller“ lustig herumgefahren, mit reicher Ausbeute nach Norwegen zurückgekehrt. Dieselben Thatsachen wiederholten sich in dem folgenden Sommer und lenkten die allgemeine Aufmerksamkeit der Geographen auf sich. Die österreichisch-ungarische Nordpolexpedition, unter Weyprecht und Payer hatte einen Vorstoß in nordöstlicher Richtung in jene wissenschaftlich noch nie untersuchten Gebiete zum Ziel, allein ein Unstern ließ das Schiff schon sofort nach dem Eintritt in die arktische See von schweren Eismassen umschlungen und nach vierzehnmonatlicher aussichtsloser Trift in nördlicher Richtung dem Franz-Josephsland zugetrieben werden.
Um diesen Zeitpunkt war es, als Nordenskjöld seine Aufmerksamkeit der Frage nach der Schiffbarkeit des Sibirischen Meeres zuwandte.
Unterstützt durch einen reichen Rheder zu Gothenburg, gelangte er 1875 in einem kleinen Segelfahrzeug durch die Karische See ohne sonderliche Mühe nach der Jenisseimündung, welche er im folgenden Jahre abermals, diesmal mit einem Dampfer, durch das fast eisfreie Meer erreichte. Damit war der Bann, der auf jenen Gegenden geruht und die Entwickelung der Exportfähigkeit Sibiriens so schwer beeinträchtigt hatte, gelöst. Handelsfahrzeuge aus Deutschland, England und Norwegen folgten den Spuren des kühnen Forschers und haben im Hochsommer der letzten Jahre den überseeischen Güterverkehr nach dem Ob und Jenissei mit ziemlichem Glück vermittelt, wenn auch einige Unglücksfälle vorgekommen sind, die ihren Grund in der noch immer ungenügenden Kenntniß des richtigen Fahrwassers hatten.
Nordenskjöld blieb nicht bei diesem Erfolge stehen; war die Karische See nicht absolut unnahbar, so konnte wohl auch der östliche Theil des Sibirischen Meeres für ein stark gebautes, wohlausgerüstetes Schiff nicht so gefährlich sein: der Entschluß, die nördliche Umsegelung der alten Welt zu versuchen, war damit in ihm zur Reife gelangt. Außer dem Gothenburger Rheder Oscar Dickson und dem russischen Goldwäschereibesitzer Alexander Sibiriakoff, die beide schon große Summen für die Erschließung Sibiriens verwendet hatten und die gern bereit waren, das Project durch reiche Mittel zu unterstützen, interessirte sich auch der König von Schweden, Oscar der Zweite, für das geplante Unternehmen. Die drei genannten Personen trugen zu gleichen Theilen die Kosten desselben, und am 25. Juli 1878 verließ der Dampfer „Vega“ mit Nordenskjöld und einem Stab tüchtiger Gelehrten, die ihn theilweise schon auf seinen früheren Reisen begleitet hatten, sowie mit einer auserlesenen Mannschaft in Begleitung von drei anderen Schiffen die heimischen Gewässer, um am 6. August ohne sonderliche Schwierigkeiten die Jenisseimündung zu erreichen. Hier trennten sich die Schiffe; „Vega“ fuhr, den kleinen Dampfer „Lena“ im Gefolge, weiter nordostwärts, während die beiden anderen nach Einnahme neuer Ladung nach Europa zurückkehrten.
Am 20. August umdampften die beiden Entdeckungsschiffe die nördlichsten Küstenstrecken der alten Welt und erreichten, ohne wesentlich von Eis, das man überall durch die Sommerwärme stark verwittert fand, belästigt zu sein, die Lenamündung. Die „Vega“ setzte von hier ihre Entdeckungsfahrt, ostwärts steuernd, fort, die „Lena“ dagegen dampfte den Fluß gleichen Namens nach Jakutsk hinauf; von dort aus gelangten die ersten und für lange Zeit auch die letzten Nachrichten von der erfolgreich ausgeführten Umsegelung des größeren Theiles der sibirischen Nordküste nach Europa. Auf Grund dieser Nachrichten durfte man fast mit Sicherheit im September oder October das Eintreffen einer Depesche von Japan erwarten, welche die glückliche Ankunft der „Vega“ in Jokohama meldete; waren doch die Hauptschwierigkeiten ohne Mühe überwunden. Allein Nordenskjöld traf nicht dort ein – er war verschollen und blieb es bis zum Mai 1879. Nur dunkle, im Herbst 1878 durch nach San Francisco heimkehrende Walfänger verbreitete Gerüchte machten es wahrscheinlich, daß er unmittelbar am nördlichen Eingang zur Beringstraße kurz vor Erreichung des lang ersehnten Zieles eingefroren sei. Sibiriakoff und Bennett, der Besitzer der großen Zeitung „New-York Herald“, rüsteten Expeditionen aus, um die Verschollenen aufzusuchen und ihnen, wenn nöthig, Hülfe zu schaffen.
Inzwischen war die „Vega“ von der Lenamündung bei schönstem Wetter ostwärts gedampft, bald jedoch wurde das Meer so von Eis erfüllt, daß, Nachts wenigstens, die Reise nicht fortgesetzt werden konnte. Für das tiefgehende Schiff wurde das Fahrwasser sehr seicht, sodaß bei der gänzlichen Unbekanntschaft mit demselben und bei den starken Nebeln die Fahrt nur sehr langsam vorwärts ging. Zeitweise mußte tagelang an einer Stelle liegen geblieben und abgewartet werden, bis die Eisverhältnisse sich günstiger gestaltet oder die Nebel sich verzogen hatten. Da die Fahrt meist dicht an der Küste entlang ging, wo allein eine benutzbare Fahrrinne im Eis sich fand, während dasselbe weiter seewärts immer undurchdringlicher wurde, verwandte man die unfreiwilligen Aufenthalte eifrigst dazu, mit Booten an's Land zu gehen und dasselbe zu durchforschen. Trotz aller dieser Hindernisse war man am 27. September soweit nach Osten gelangt, daß man nur noch 200 Kilometer, die man unter günstigen Verhältnissen an einem Tage hätte zurücklegen können, von der Beringstraße entfernt war. Allein es kam anders, als man erwartet hatte. [95] Die Nacht hatte man, wie gewöhnlich, vor Anker liegend verbracht, um bei Sonnenaufgang die Reise weiter fortzusetzen; während das Schiff still lag, war jedoch Windstille und etwas Frost eingetreten, welcher die umherschwimmenden Eisstücke zu einer festen Masse verband, und als es sich nun gar bei mühsamem Vordringen durch die Treibeisfelder herausstellte, daß das Fahrwasser für das Schiff zu flach wurde, fand man sich plötzlich im Eis gefangen. Noch dachte man freilich an keine Ueberwinterung. Einige Stunden südliche Winde hätten die Eismassen vertrieben und das Schiff frei gemacht. Aber statt der erwarteten südlichen wehten hartnäckig nördliche Winde, welche das Eis um das Schiff mehr und mehr häuften, sodaß man sich bald darüber klar wurde, daß eine Ueberwinterung nicht mehr zu vermeiden, welche denn auch, da die „Vega“ für diesen Fall durchaus vorbereitet war, glücklich überstanden worden ist; kein Scorbutfall, nicht die geringste Krankheit ist während der 295 Tage, während welcher das Schiff im Eis fest saß, vorgekommen; die gesammte Mannschaft hat sich vielmehr, Dank der vortrefflichen Ausrüstung, des guten Proviants und der Maßregeln des in Bezug auf arktische Ueberwinterung so erfahrenen Leiters der Expedition, trotz der bis – 46° C. steigenden Kälte stets wohl befunden. Nicht wenig mag dazu – so äußerte Nordenskjöld selber gegen den Schreiber Dieses, als er mit ihm in Japan zusammentraf – der Umstand beigetragen haben, daß das Winterquartier der „Vega“ unter der verhältnißmäßig geringen Breite von 67° lag, eine mehrwöchentliche Nacht also, welche nach den gemeinsamen Aussagen aller Polarreisenden, die in nordischen Regionen überwintert haben, so äußerst drückend auf den Gemüthszustand des Menschen einwirkt, hier nicht mehr durchlebt zu werden brauchte.
Der Umstand, daß eine Ueberwinterung stattgefunden hat, ist für die Wissenschaft weitaus förderlicher gewesen, als wenn Nordenskjöld schon im Herbst 1878 Japan erreicht hätte. Außer den sehr werthvollen magnetischen und meteorologischen Beobachtungen, die für die Kenntniß des Klimas jener Gegend große Bedeutung haben, sind von den gewonnenen Resultaten die kartographische Aufnahme der Küstengebiete und vor allem die gründliche Erforschung der bisher noch fast unbekannten Bewohner des Landes, der Tschuktschen, zu nennen. Nicht blos, daß das Leben und die gesellschaftlichen Verhältnisse dieses Volkes genau studirt worden sind: die nunmehr heimgekehrte Expedition bringt auch eine reiche Wörtersammlung der Tschuktschensprache und eine große Anzahl von Hausgeräthen und Kleidungsstücken dieses Volkes mit. Der nach früheren Reiseberichten für sehr wild, heimtückisch und kriegerisch geltende Volksstamm erwies sich als ein äußerst friedfertiger und gutmüthiger. Die Expedition stand mit den Leutchen auf bestem Fuß; letztere betrachteten das Schiff gleichsam als Wirthshaus, an dem keiner vorbeizog, ohne vorgesprochen zu haben und durch irgend eine Kleinigkeit erquickt oder mit einem europäischen Artikel beschenkt worden zu sein. Obwohl natürlich Schnaps der begehrteste Gegenstand war, für den man Alles gethan hätte, wurde derselbe doch nur sehr spärlich und nie als Tauschartikel, sondern nur als Geschenk benutzt. Größere Ausflüge in das Innere des Landes durften mit Rücksicht auf die unsichere Lage des Schiffes, welches bei jedem der sehr häufigen Stürme loskommen und fortgetrieben werden konnte, nicht unternommen werden.
Am 18. Juli 1879 entließen endlich die durch die milden Lüfte des arktischen Sommers gelockerten Eismassen das Schiff aus ihren Fesseln. Kann man es den Männern der „Vega“ verdenken, daß, als sie am 20. Juli das in der Beringstraße liegende Ostcap Asiens, den Abschluß der Nordostpassage, mit Salutschüssen begrüßten, ein gewisser Stolz ihre Herzen schneller schlagen ließ?
Ehe man Japan erreicht, wurde noch auf der östlich von Kamtschatka liegenden Beringsinsel um eines höchst interessanten Gegenstandes willen ein mehrtägiger Aufenthalt gemacht. Auf diesem Eiland hatte Bering, als er dasselbe im Jahre 1741 auffand, große Heerden von durch ihre Größe an Walrosse erinnernden Geschöpfen gefunden, die in keinem andern Theile der Welt wieder angetroffen worden sind. Die Thiere, welche so zutraulich, daß sie sich von Menschen berühren ließen, und vollkommen wehrlos waren, sind, da ihr Fleisch sehr schmackhaft und ihre dicken Speckschichten für Thranthierjäger sehr verlockend gefunden wurden, in den siebenundzwanzig Jahren nach ihrem Bekanntwerden vollständig ausgerottet worden, was um so leichter geschah, als die Männchen bei den getödteten Weibchen blieben und harpunirte Thiere durch die andern vertheidigt wurden. Es war nun schon lange ein Wunsch der Zoologen, von dieser Seekuh, von der in Petersburg nur eine rohe Zeichnung und einige Schädelknochen aufbewahrt wurden, vollständigere Reste zu haben. Der Expedition ist es gelungen, fünf fast vollständige Gerippe dieser Thiere auszugraben und mitzubringen.
Am 2. September 1879 meldete endlich der Telegraph der ganzen civilisirten Welt das glückliche Eintreffen Nordenskjöld's in Jokohama. Hier wurde die „Vega“ in's Trockendock gebracht, um gestrichen und für die Fahrt durch die Tropen bequemer und luftiger eingerichtet zu werden; das Schiff hatte übrigens durch die Ueberwinterung und Eisfahrt keinen Schaden gelitten. Der verhältnißmäßig lange Aufenthalt in Japan wurde, nachdem die zahlreichen Festlichkeiten, die von Europäern und Landeskindern zu Ehren der schwedischen Expedition veranstaltet wurden, vorüber waren, zu Ausflügen in das Land, sowie zur Anlegung höchst werthvoller Sammlungen aller Art benutzt. Unter vielen Anderem bringt die „Vega“ eine Sammlung von mehreren Tausenden seltener japanischer Werke wissenschaftlichen und geschichtlichen Inhalts mit, welche Nordenskjöld im Hinblick auf die immer größer werdende Vernachlässigung der heimathlichen Literatur Seitens des so überaus rasch vorwärts schreitenden japanischen Volkes vor dem Untergang gerettet hat und die dereinst äußerst wichtige Documente für die Entwickelungsgeschichte dieses Volkes liefern werden.
Nach vorübergehendem Aufenthalt in den chinesischen Gewässern, denen der Philippinen, in Singapore, auf Ceylon, wo überall reiche Sammlungen namentlich zoologischer Natur gemacht worden sind, ist die Expedition durch den Suezcanal wieder in Europa eingetroffen. So groß ist die wissenschaftliche Ausbeute derselben, daß wahrscheinlich ein eigenes Gebäude errichtet werden wird, um dieselbe in ihrer Gesammtheit aufzunehmen.
Wenn nun auch das Unternehmen keineswegs den Beweis erbracht hat, daß die Reise in jedem Jahr durch geeignete Dampfer ausführbar ist, so ist doch vor Allem daran festzuhalten, daß durch dasselbe der sogar in die Wissenschaft übergegangene Aberglaube von einem unwegsamen sibirischen Eismeer glücklich in die Rumpelkammer verwiesen worden ist. Daß der Weg in seiner Gesammtheit von wirklicher Bedeutung für den Handel werden wird, daran glaubt Nordenskjöld selbst nicht, er hofft aber, daß mit der Zeit, wenn man erst die nöthigen Erfahrungen über diese Gewässer gesammelt haben wird, die Seeverbindung zwischen Jenissei und Lena, vielleicht auch zwischen Lena und Japan als Handelsweg verwendbar sein wird, sollte auch eine Hin- und Rückreise zwischen Lena und Europa in einem Sommer nicht immer möglich sein.
Mag man über die praktische Seite der Reise denken, wie man will – einer späteren Zeit wird es vorbehalten sein, über dieselbe ein definitives Urtheil zu fällen – das wissenschaftliche Ergebniß ist jedenfalls ungemein reich ausgefallen, und wahrlich, verdient ist die Ehre, mit der Nordenskjöld und seine Genossen jetzt allgemein begrüßt und empfangen werden.
Der kühne Forscher ruht und rastet jedoch nicht; schon jetzt hat er sich für die nächsten Jahre ein neues Reiseziel gestellt. Er beabsichtigt eine Expedition nach den neusibirischen Inseln zu unternehmen, um das nachzuholen, was bei der diesmaligen Fahrt ungünstige Eisverhältnisse, die eine Annäherung an diese Inseln nicht gestatteten, verhindert haben. Den schon erwähnten reichen Schatz von Resten vorweltlicher Thiere aller Art zu heben, welchen jene Inseln bergen, und so zur Entwickelungsgeschichte der Erde einen weiteren Baustein zu liefern, das ist jetzt sein dringendster Wunsch. Möge dem kühnen Reisenden vergönnt sein, auch noch dieses Ziel zu erreichen!