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Die Gartenlaube (1877)/Heft 45

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1877
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[749]

No. 45.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Teuerdank's Brautfahrt.
Romantisches Zeitbild aus dem 15. Jahrhundert.
Von Gustav von Meyern.
(Schluß.)


„Ich hatte ein Auge auf den Herzog,“ sagte der Fiedler, „und als er heimlich durch die Thür verschwand, folgte ich ihm. Zu spät! Er entschlüpfte eben durch ein Nebenpförtlein in dem halbdunklen Corridor. Noch starrte ich ihm nach – da schleicht etwas heran und ruft leise:

'Wo ist der Herzog?'

'Hier,' sage ich, und siehe da, zwei lange Fuchsschwänze tauchen vor mir auf. 'Ha,' rufe ich, aber 'Ha' ruft auch er, und ich sage Euch, Herr, so schnell dreht sich kein Kreisel auf dem Flecke herum, wie er vor mir – und weg war er.“

„Wie konnte er durch die geschlossenen Thore Gents kommen?“

„Bah, Herr, die Art kennt alle Schleichwechsel. Aber seid auf Eurer Hut!“

„Ja, seid auf Eurer Hut!“ bestätigte der jetzt gleichfalls zurückkehrende Herberstein. „Die Stadt zwar ist ruhig; die Absperrung des Schlosses hat ihre Dienste gethan; man hält uns in der Stadt, wie ausgesprengt worden, für holländische Hülfstruppen, mit denen zur Abwehr gegen die Franzosen alle Thorwachen besetzt würden. Die Ueberrumpelung ist überall eine vollständige gewesen. Aber der Herzog von Cleve, er, der Gefährlichste, war nirgends zu finden.“

„Wir glauben's Euch, Alter, lächelte, sichtlich befriedigt von der Meldung, Maximilian, „denn Seine Gnaden war bei Uns. Sein letzter Versuch! Doch als er Lunte gerochen – verzeihet mir, Prinz! – hat er uns Alle überlistet und das Weite gesucht.“

„Soll ich ihm nach, Herr?“ bot sich wiederum der Junker an.

„Nicht doch, Fürwittig!“ beschied ihn launig Maximilian. „Laß genug sein an Deinen Heldenthaten! – Nein, die beste Bürgschaft für ihn ist uns sein Sohn. Und was Euch betrifft, Prinz ...“ Er hielt inne; seine Brauen zogen sich zusammen; die Entscheidung wurde ihm schwer.

Aber der Prinz wartete sie nicht ab. Nochmals ließ er sich auf ein Knie nieder.

„Wagt es mit mir, Herr!“ bat er mit inständig flehendem Ausdrucke in Blick und Ton. „Der Ritt hierher hat mich abgekühlt. Ich war erbittert, als ich Euch verließ, aber aller Groll ist aus meinem Herzen geschwunden. Ich bin Euch so wahrhaft ergeben, daß ich selbst einem Feinde, wenn er Euch zum Siege verholfen, nicht mehr zürnen könnte. Beurtheilt mich nicht nach dem Scheine, sondern glaubet mir! Ich bin ein ehrlicher deutscher Prinz, zum Kriegshandwerk erzogen, und Ihr seid mein künftiger Herr und Kaiser, dem ich einst Heerfolge schulde. Schlagt meinen Arm nicht aus, weil er sich gegen Euch erhoben! Hat mich das Schicksal Euch in den Weg geworfen, so geschah es wider meinen Wunsch und Willen. Gottlob, daß ich dabei unterlegen bin, sonst säht Ihr mich nicht zu Eueren Füßen, und könntet mich nicht aufheben. Thut es, Herr! Mit eintausend Reitern und fünfhundert Fußknechten, von mir selber angeworben, stelle ich mich Euch.“

Es lag etwas so rührend Treuherziges in der Art, wie er diese Rede, die längste und fließendste, die er jemals gehalten, vortrug, daß das stumme Augenspiel der Umstehenden das beste Zeugniß für die Theilnahme gab, die er erweckt hatte. Selbst Maria sah mit bittendem Auge zu Maximilian auf, und Adelheid gar machte eine so auffällige Bewegung mit ihrem Spitzentuche in der Richtung ihrer Wimpern, daß Hugo, sich eines stillen Verdachtes nicht erwehren konnte.

Maximilian aber bot mit kurzem Entschlusse dem Prinzen die Hand und hob ihn auf.

„Ihr habt gesprochen wie ein deutscher Fürstensohn,“ sagte er. „Möchte sich Mancher im Reiche ein Beispiel an Euch nehmen! Wohl denn! Ihr sollt Eure Mannen behalten und mein Feldoberst sein. ... Ritter Ehrenhold, brecht augenblicklich mit dem Prinzen auf, damit es seinem Vater nicht etwa gelingt, trotz der geschlossenen Thore, vor Euch zu den Reitern zu gelangen, und nehmt seine Leute für die Herzogin in Eid und Pflicht! Dem Herzoge, wenn Ihr seiner ansichtig werden solltet, gebt sicheres Geleite nach Deutschland. ... Keine Einwendung, Alter! Das Wort dieses Prinzen und mein Vertrauen in ihn steht mir höher, als jede Vorsicht. – Und nun zu Euch, Prinz! Sobald Mann und Pferde nothdürftig geruht haben, stellt Ihr Euch mit dem Ritter an ihre Spitze und streifet unverzüglich die Straße nach Ypern den Franzosen entgegen. Ihre Vorhut soll nicht weit sein. Wo Ihr sie auch findet, überrascht, überfallt sie in der Nacht, jagt sie auseinander, daß ein heilsamer Schreck in sie fahre und ihr König ersehe, daß deutsche Klingen über ihn gekommen! ... Gott befohlen!“

Freudestrahlend verabschiedete sich der Prinz. Aber noch im Abgehen konnte er nicht umhin, eine Secunde auf Adelheid zu verwenden.

[750] „Jetzt bin ich ganz glücklich,“ rief er ihr zu. „Ich bin Feldoberst, Fräulein. Nun hat es ein Ende mit all dem Firlefanz. Nichts mehr von Weiberschanzen ... halloh, zur Männerschlacht!“

Dann folgte er schleunigst dem Ritter durch den Schloßhof.

Maximilian aber, Maria bei der Hand nehmend, redete jetzt die Abgeordneten an.

„Das letzte Hinderniß ist beseitigt,“ sprach er, „um eure angestammte Fürstin wieder in ihre Rechte einzusetzen. Aus unwürdiger Gewalt befreit, besteigt sie wieder den Thron ihrer Väter und ergreift die Zügel des Regiments. Habt keine Besorgniß für eure Privilegien! Die Herzogin verbürgt euch jede Freiheit, die man euch seit fünfzig Jahren nicht ohne eigenes Verschulden der Städte entzogen. Ihr künftiger Gemahl aber wird ihr zur Seite stehen, um mit starker Hand die Ordnung im Lande, den Schutz dieser Stadt und das Waffenglück gegen den Feind wieder herzustellen. Das Alles wollen wir sogleich urkundlich verbriefen. Fraget nicht nach meinem Namen! Noch heiße ich einfach 'Teuerdank'. Aber der Tag ist nicht ferne, wo ich in anderer Gestalt, mit fliegenden Bannern und vollem Glanze, in eure Thore einreiten werde.“

„Heil Euch!“ rief der Vicepräsident.

„Heil Euch!“ fielen die Abgeordneten ein.

„Dort sehe ich die Notare der Stadt, die der Clever fürsorglich herbeschieden. Kommt, ihr Herren, und verbriefen und versiegeln wir einstweilen in Kürze die neue Ordnung der Dinge!“

Mit tiefer Verneigung folgten ihm die Vertreter der Staaten zum Tische der Notare. In dem übrigen Raume der Halle blieben nur Hugo, Adelheid und der Fiedler.

Hugo hatte sich bisher bei Allem, was geschehen, schweigend und nur in zweiter Linie, gleichsam als Reserve, gehalten. Er beobachtete und verfolgte die naturgemäße Entwickelung der Dinge, deren Fäden er gesponnen, stets bereit, im äußersten Falle helfend beizuspringen, aber sichtlich bestrebt, bis dahin unbeachtet zu bleiben, sodaß Adelheid schon oftmals zu ihm aufgeblickt hatte, als frage sie, ob dieser so theilnahmlos dastehende Mann derselbe sei, den sie im Stillen und nicht ohne Herzklopfen für den geheimen Lenker der merkwürdigen Ereignisse dieses Tages hielt. Nur einmal, bei dem Wuthausbruch des berüchtigten Nikol, hatte sie seine Hand nach dem Degengriff zucken sehen; dann wieder, auf den Zuruf Maximilian's, hatte er das Horn ergriffen, dasselbe, welches schon einmal eine so wunderbare Wirkung gehabt, alsbald aber hatte er auch dieses wieder wie spielend an den Gürtel gehängt und war in die alte Theilnahmlosigkeit zurückverfallen.

Das Alles hatte Adelheid im Stillen beobachtet, und als sie sich jetzt endlich allein mit ihm befand, brannte sie vor Begierde, sich vermittelst ihres beliebten Fangballspiels Aufklärung darüber zu verschaffen. Allein zu ihrer Beschämung und mehr, zu ihrem tiefen Herzeleid, mußte sie sehen, daß selbst sie nicht im Stande war, seine Theilnahme zu fesseln, denn als sich jetzt außer ihr in dem freien Raume der Halle nur noch der Fiedler gegenwärtig zeigte, eilte er, ohne ihr auch nur einen Blick zu gönnen, zu diesem hinüber. Und noch mehr – in welchem Verhältnisse konnte der vornehme, feine Cavalier zu diesem so wunderlichen Manne stehen, der eben noch dem großen Haufen zur Belustigung gedient hatte, daß er ihm beide Hände schüttelte und in vertrautester Weise die Hand auf seine Schulter legte? Vergebens neigte sich die Spitze ihres Zuckerhutes, unter welchem das kleine, schmal angewachsene Ohr neugierig hervorlugte, diesmal ebenso auffallend nach rechts, als es am Nachmittage nach links der Fall gewesen war. Der Raum der Halle zwischen ihnen war zu groß, als daß man ein Wort hätte auffangen können. Vergebens versuchte sie, mit dem Fächer spielend, sich unbemerkt näher zu schieben – die Scheu, sich in seinen Augen herabzusetzen, überwog. So ergab sie sich denn darein, zu warten. Die Libelle „stand“.

Und es war vielleicht gut für sie. Denn hätte sie ihren Wunsch befriedigen, hätte sie hören können, was die Beiden verhandelten: ihr Spitzentuch würde sich nicht minder in Bewegung gesetzt haben, als da der Prinz ihr leicht erregbares Herz zu rühren verstanden hatte.

„Mein treuer Freund in der Noth,“ sprach Hugo fast wehmüthig zum Fiedler. „Nun kommt auch unser Geheimniß zu Tage, und wenn auch das Band, das uns verbindet, niemals gelöst werden kann, so werden wir doch aufhören, Geschichte mit einander zu machen, und Jeder von uns wird in den Kreis zurücktreten, auf den er angewiesen ist. Womit kann ich Dir lohnen, der Du für mich und mein Haus mehr als einmal Freiheit und Leben gewagt? Willst Du ein großer Herr werden?“

Jan schüttelte den Kopf.

„Der liebe Gott,“ sagte er, „läßt die Bäume nicht höher wachsen, als ihre Wurzeln sie tragen, Herr.“

„Du könntest leicht des künftigen Kaisers lustiger Rath werden.“

„Lustiger Rath? Danke, Herr! Ich bin kein Kukuk und lege meine Eier nicht in fremde Nester. Nein, zu Euren Ohren habe ich mein Nest gebaut und manches lustige Stücklein hineingepfiffen. Bei Euch laßt mich bleiben! Euch habe ich die Knabenspiele gelehrt, habe Euch in die Fremde gebracht – nun lasset mich auch alt bei Euch werden!“

Und dieselben Nasenflügel, die so unwiderstehlich zum Lachen reizen konnten, hoben und senkten sich jetzt gewaltsam, um die Thränen zu unterdrücken, die in den Augen des Mannes perlten, als er sie bittend auf das Antlitz seines jungen Herrn richtete.

„Du treue Seele!“ rief Hugo gerührt, und ohne Scheu, ob es von allem Volk gesehen werde, umarmte er ihn, drückte einen Kuß auf seine Wange und rief:

„Wir bleiben zusammen.“

Dann ging er raschen Schrittes, wie als suche er seine Rührung zu verbergen, zu der Gruppe am Tische der Notare.

„Das ist ein Herr. Und das ist ein Lohn,“ schluchzte der Fiedler für sich – „O, thut das einem Geldern'schen Herzen wohl!“

Ein leiser Stoß an den Ellenbogen riß ihn aus seinem Entzücken. Er wandte sich um: Adelheid stand vor ihm. Starr vor Staunen über das, was sie gesehen, war sie unhörbar zu ihm herangeschwebt.

„Fiedler!“ sagte sie leise.

„He?“

„Welchem Herrn gehören denn alle die mit den grünen Zweigen?“

Aber sie irrte, wenn sie glauben mochte, einen schwachen Augenblick bei ihm ersehen zu haben. Der sich noch eben die Augen gewischt hatte, war schon wieder der Alte.

„Möchtet Ihr's wissen?“ sagte er, schlau mit den Augen zwinkernd. „Ich will's Euch sagen, aber verrathet mich nicht! Sie gehören“ – und beide Hände an den Mund legend und diesen an ihr Ohr haltend, blies er mit Schauerton hinaus: „dem 'Hugh'!“

Erschrocken fuhr Adelheid zurück, aber schnell den Spaßvogel erkennend, fragte sie vertraulich neugierig:

„Wer ist denn das?“

Jan's Nasenflügel arbeiteten.

„Ein erschrecklicher Waldgeist,“ raunte er ihr in's Ohr, „der Gottseibeiuns.“

„Ich weiß,“ lachte sie pfiffig, „der von Geldern.“

Jetzt war es Jan, der sie verwundert, fast bestürzt, ansah.

„Ihr wißt? ... Aber, wenn Ihr es wißt ... warum fragt Ihr?“

„Weil – weil – der 'Hugh' – der von Geldern“ – stotterte sie, sich auf eine Ausrede besinnend: da kam ihr, plötzlich, nur durch die Wortstellung vermittelt, ein Gedanke, so natürlich, daß sie ihn für sich selbst erst mit einem „Ah“ begrüßte – „weil der 'Hugh', der von Geldern ... der 'Hugh' von Geldern ist.“

„Bei Eurem Kopf, Fräulein, schweigt!“ rief entsetzt der Fiedler. „Der Tod steht darauf, und spräche einer von den Fünfhundert mit grünen Reisern den Namen aus, es wäre sein letztes Wort.“

„Ich bin aber keiner von den Fünfhundert,“ lachte das Fräulein, „und Ihr sollt gleich sehen, der Hugh reißt mir darum den Kopf noch lange nicht ab.“

Sprach's und schlenderte, da ihr nicht entgangen war, daß Hugo sich eben mit einem Seitenblicke auf sie wieder vom Notartische entfernt hatte, in einer Richtung fort, die ihm nothwendig den Weg abschneiden mußte.

[751] „Die jagt, wie ein Dachshündel auf der Fährte,“ murmelte Jan, ihr nachsehend, „und – weiß Gott – sie stellt ihn.“

Er mußte viel mit Wald und Wild verkehrt haben, der Spielmann, denn es kam, wie er gesagt. Genau auf dem Punkte, auf dem die beiden convergirenden Linien sich schneiden mußten, traf sie, wie zufällig, auf Huy.

„Nun, edler Ritter, sonnet Ihr Euch im Abglanz Eurer Thaten?“ leitete sie das Fangballspiel ein.

„Im Gegentheil, meine Thaten sonnen sich im Abglanz zweier Augen,“ nahm Hugo den Kampf auf, indem er zum Notartische hinüberblickte.

„Wirklich? Und dabei seht Ihr dort hinüber?“

„Gewiß, Fräulein, denn dort steht die Herzogin, die anbetungswürdigste der Frauen.“

„Welch ein Unglück für Euch, daß ihr Bräutigam gleich daneben steht!“

„Im Gegentheil, welch ein Glück! Denn was hätte ein armer Edelmann zu hoffen, auf den selbst Erbtöchter aus Brabant so tief herunterblicken?“

„Hört, Ritter, was nun das betrifft, so gebe ich auf Eure Demuth nicht so viel,“ – und sie schnippte mit dem Finger. „Meint Ihr, ich wüßte nicht längst, daß Ihr Euch nur tief stellt, um übersehen zu werden?“

„Wer sagt Euch das?“

„Mein kleiner Finger.“

„Und ich sage Euch, ich wette meine rechte Hand gegen Euren kleinen Finger, daß Ihr mich für mehr haltet, als ich bin.“

„Wie unvorsichtig, Ritter! Kaum habt Ihr Eure schöne Stute verwettet, so wollt Ihr auch Eure Hand verlieren. Nur her damit, Ihr seid ... der Hugh von Geldern.“

„Der Hugh? ... und von Geldern? ... Das sind zwei Namen, von einem Waldgeist und von einem Lande,“ suchte er auszuweichen.

„Gleichviel, es sind die Eurigen. Ihr seid nicht mehr und nicht weniger, als wofür ich Euch halte – und um mehr habe ich nicht gewettet.“

„Hütet Euch, Fräulein! Denn wäre wirklich seine Rechte verwirkt, so hätte der Hugh immer noch die Linke, um jeden Verrath schrecklich zu bestrafen.“

„Hu ... Kopf ab!“

„Nein, mehr – langsame Todesqual.“

„Bei offenem Feuer ... Gnade! Gnade! Macht’s kurz!“

„Nichts da – lebenslang.“

„Zu Eins?“

„Nein, zu Zweit.“

„Dann mag’s noch angehn,“ lachte die Libelle mit scherzenden Lippen, aber mit einem Blick aus ihren Smaragden, der alle Seligkeit ihres Herzens spiegelte.

„So macht Euch bereit, denn Euer Stündlein hat geschlagen!“ schloß Hugo, einen letzten Blitz aus seinem Auge in das ihrige werfend. Dann nahm er plötzlich die formvolle Haltung des Hofmannes an, um Maria und Maximilian zu erwarten, die er vom Notartische auf sich zukommen sah.

Volles Glück strahlte aus den Augen der beiden jugendlich schönen Verwandten, die eben mit Zustimmung der Staaten die Grundzüge des neuen Regiments, die Gerechtsame der regierenden Herzogin in Burgund und Niederland und die Stellung ihres künftigen Gemahls in kurzer Form festgestellt hatten. Aber die erwartungsvollen Blicke, die sie auf Hugo richteten, als sie sich ihm näherten, bezeugten die Spannung, mit der sie, selbst nach diesem wichtigsten Acte, den Aufklärungen über die geheimnißvolle Macht entgegen sahen, der sie ihr Glück verdankten.

„Jetzt, Ritter Huy,“ nahm Maximilian das Wort, „kommen wir zu Euch! Die Aufgabe ist gelöst; wollet uns nun auch die Lösung erklären, damit wir die Pflichten erfüllen können, die sie uns auferlegt! Denn es ziemt uns nicht, Schuldner zu bleiben, wo wir so viel zu verdanken haben, und, bei unserem Wort, so weit unsere Macht reicht, sei Euch jeder billige Wunsch zum voraus gewährt!“

Hugo ließ sich vor Maria auf ein Knie nieder. Aller Augen hingen an seinen Lippen. Adelheid's Hutspitze bog sich so weit vorüber, daß sie den vorfallenden Schleier zurückhalten mußte.

„Anbetungswürdigste Fürstin“ – begann der Ritter, zum Erstaunen Aller über solche Kühnheit der Anrede – „glaubet mir: nur Euch zu Liebe ...“

Ein leises „Ha“ erstarb auf Adelheid’s Lippen, um sich in ein „er lügt“ zu verlieren.

Maximilian aber konnte sich nicht enthalten, ihn offen zu unterbrechen.

„Ei, Ritter,“ sprach er mit Laune, „das klingt sehr verfänglich. Ich hoffe, Ihr wisset: das stände nicht in unserer Macht.“

„Vollendet nur, Ritter!“ sagte vertrauensvoll lächelnd Maria.

„Bei Gott, nur Euch zu Liebe, Herzogin,“ betheuerte Hugo, „wenn auch zugleich für ein gutes Recht, habe ich unternommen, was der Himmel jetzt mit Erfolg gekrönt hat. Ja, Fürstin, laßt es Euch sagen, Ihr steht meinem Herzen näher, als Ihr glaubt ...“

„Um Gotteswillen!“ stöhnte Adelheid.

„Das wird immer besser!“ suchte Maximilian zu scherzen.

Erschrocken blickte Maria auf den Knieenden.

„In Wahrheit näher, als Ihr glaubt,“ wiederholte unbeirrt Hugo, nachdem er sich mit einem Seitenblick an Adelheid’s Entsetzen geweidet hatte, „denn wisset, ich bin nicht allein das, was ich scheine, bin nicht allein ein Verwandter des Ritters Huy auf Neumünster: nein, ich bin auch der Bruder des weiland Herzogs Adolf von Geldern, Euer leiblicher Vetter Hugo.“

Es lag offenbar eine der Natur abgelauschte Berechnung darin, durch den künstlich voraufgeworfenen Schatten einer Angstwolke den Lichteffect der überraschenden Nachricht zu erhöhen. Aber die launige, spannende Art des Vortrags ließ die Absichtlichkeit vergessen, und so war die Wirkung eine volle.

Maria und Maximilian traten beide unwillkürlich einen Schritt zurück.

„Ist es möglich?“ rief Maria. „Mein Vetter Hugo ... Ihr?“

„Hugo von Geldern ... mein alter Spielfreund ... Du?“ rief Maximilian, ihn emporhebend und ihm kräftig die Hand schüttelnd.

Maria aber schloß ihn im Uebermaße der Freude und des Dankes in ihre Arme und drückte ihm einen Kuß auf die Wange. Mit einem eigenthümlichen Lächeln sah sich Maximilian nach Adelheid um, die, durch solche Auszeichnung ihrer Herrin an den hohen Rang Hugo’s gemahnt, schier betroffen dastand.

„Wie gefällt Euch das, Fräulein?“ neckte er, auf die Scene zwischen Beiden deutend.

„Wenn es Euch gefällt, gnädigster Herr –“ gab sie achselzuckend zurück, – „ich bin unbetheiligt dabei.“

„Ei, Fräulein, Ihr scheint ein bösartig Raubthierlein zu sein, daß Ihr nicht einmal Mitleid mit ... der Wahrheit kennt,“ lachte Maximilian. Dann aber überließ er sie ihrer eigenen besseren Selbsterkenntniß und gab Hugo beide Hände.

„Hugo, alter Freund, wie war es möglich, Dich nicht wiederzuerkennen! Wohl las und las ich in Deinen Zügen und suchte darin, aber das Jünkerlein von ehedem hat sich gewaltig verändert – nur nicht in den Pagenstreichen ...“

„Vom Hofburggarten in Wien,“ vollendete lachend Hugo. „Ihr nanntet Euch damals schon Teuerdank.“

„Ganz recht, und Dich, obgleich Du der Aeltere, Junker Fürwittig. ... Der steht nun dort.“ Und er zeigte auf den Pagen.

„Eccolo!“ sprach dieser, keck hervortretend. „Und er will sich ein Beispiel an Euch nehmen, Herr Graf von Geldern.“

„Non bisogna, cavaliere!“ neigte sich ihm Hugo launig. „Ich sah nur erst Einen Streich von Euch, der aber sagt mir, daß Ihr den Pagenrock nicht mehr lange tragen werdet.“

„Und jetzt berichte!“ drängte Maximilian. „Wie hast Du alles dies in’s Leben gezaubert?“

„Ich war ein armer Flüchtling,“ wandte sich Hugo an Maria, „und beobachtete beim Herzoge Sforza die Verfolgungen, die mein Haus zu erleiden hatte. Mein Bruder in lebenslänglicher Haft, sein Land eingezogen, seine Kinder im Kloster – was gab es in der Heimath für mich zu hoffen? Da fiel Euer Vater, und das Unglück brach über Euch herein. Aber Ihr waret umgeben von meinen Gegnern, waret selbst nicht frei. Was hätte ich unter meinem Namen hier nützen [752] können? Und dennoch war der Augenblick gekommen, meinem Bruder, Euch selbst beizuspringen. Da half der alte Huy, mein Verwandter mütterlicherseits; er lieh mir den Namen seines Neffen, der in Ungarn gegen die Türken kämpft. Sforza, eingeweiht, empfahl mich Euch. Ihr nahmt mich gnädig auf. Huy's Name machte mir selbst Gegner gewogen. Aber was mußte ich sehen? Eure Rechte mit Füßen getreten, Euch selbst unwürdig behandelt! Da empörte sich das verwandte Blut in mir. Wer sein Leben so oft im Kampfe für Fremde gewagt, der sollte dulden, daß die eigene Fürstin, eine schutzlose Waise, vor seinen Augen beschimpft werde? Zu viel. Ich entdeckte mich einem einzigen Getreuen, der als Spielmann und Waidmann die Provinzen zu durchstreifen gewohnt war, und setzte mit ihm und durch ihn den geheimnißvollen Spuk des Hugh in's Werk. Um die Fahne dieses mit selbsterfundenen Schrecken umgebenen Bundes warb er schnell ringsum die mißvergnügten Vaterlandsfreunde, vor Allem aber wußte er die Gelderer zu entflammen, die, treu meinen Hause, seit Adolf's Tode an seinem Sohne hängen. Ein geheimer Aufruf mit meinem Siegel lief im Gelderlande umher: 'Steht auf, ihr Gelderer! Der Hugh will euch retten. Sein Haupt ist Graf Hugo. Er ruft euch zu den Waffen. Sein Bote ist der Spielmann. Auf Verrath steht der Tod.' Und Keiner blieb aus. Selbst unsere Mannen aus dem Staatenheere stellten sich nach dem Falle meines Bruders sammt ihren Hauptleuten insgeheim wieder im Gelderlande. Sie waren es, die ich Herrn Maximilian entgegensandte. Den Erfolg des großen Werkes aber verdankt Ihr nicht mir. Ich war nur die Seele, die stets unterrichtete, von hundert Augen und Armen bediente – das Verdienst gebührt Diesem.“

Und er schritt auf den Fiedler zu, nahm den sich verlegen Sträubenden bei der Hand und führte ihn Maria und Maximilian vor.

„Ah, sieh' da, alter Freund! Wer hätte das in Euch gesucht!“ rief Maximilian, ihm die Hand schüttelnd. „Eure lustigen Späße haben gar manche lange Stunde verkürzt, und bei Gott, der Dank dafür soll Euch reichlich werden. Euch und Eurem Herrn, denn gern bin ich ein Fürst freudiger Menschen, und gern höre ich, es sei mir gut dienen, und man möge sich wohl bei mir erwärmen.“

Und dann einige leise Worte mit Maria wechselnd, wandte er sich an Hugo.

„Dein Sinn steht auf Geldern?“

„Für den jungen Karl, meines Bruders Sohn, gegen dereinstige Zurückerstattung der Pfandsumme an die Staaten,“ erwiderte Hugo ehrerbietig, aber fest. „Denn ich bin jetzt sein Vormund für Katharina, meine Schwester.“

Maximilian ergriff feierlich seine Linke. Maria seine Rechte. Hugo, die Bedeutung erkennend, ließ sich auf ein Knie nieder.

„Wohlan, mein Vetter!“ sprach Maria. „So wie Wir Unsere Hände in Eure legen, so legen Wir Geldern in Eure Hand. Ihr möget sein pflegen, bis Karl einst mündig ist!“

Gerührt drückte Hugo Maria's Hand an seine Lippen.

Jan der Fiedler aber war mit einem Satze wieder auf den Tisch gesprungen, warf seine Kappe in die Luft und rief jubelnd:

„Ihr Gelderer, hört es! Gelderland gehört dem Hugh.“ Und hundert Kappen mit grünen Reisern flogen draußen empor, und hundertfach erscholl es ihm jubelnd nach:

„Gelderland, Gelderland! Hugh, Hugh!“

Zu Hugo's Füßen aber lagen in demselben Augenblick die beiden Hauptleute mit grauen Bärten:

„Willkommen, willkommen für Gelderland, Sohn Herzog Arnold's!“ riefen sie und küßten ihm die Hände, daß ihm vor Rührung ob solcher Treue die Thränen in die Augen traten.

„Dank, edle Muhme, Dank, gnädiger Prinz!“ wandte er sich, als er mit Handschlag die Getreuen begrüßt hatte, an die Spender des Glückes zurück, „und seid versichert, Maria, ich gedenke wieder gut zu machen, was leider mein Bruder einst verschuldet. Hier meine Rechte darauf!“ ... Und treuherzig bot er ihr die Hand dar, aber noch hatte sie dieselbe nicht ergriffen als er, wie auf einen plötzlichen Gedanken und mit einem eigenthümlichen Seitenblick auf Adelheid, sie wieder zurückzog. Erstaunt suchte Maria einen Augenblick in seinen Zügen zu lesen. Adelheid's Augen leuchteten.

„Verzeiht, gnädige Muhme!“ verbesserte er sich, „es muß dieses Mal doch die Linke sein. Die Rechte habe ich nicht mehr zu verpfänden.“

„Wie, Hugo?“

„Sie ist nicht mehr mein, ist verwettet, verwirkt.“

„Erklärt!“

„Durch schnöden Verrath hatte sich Jemand vor der Zeit in mein Geheimniß zu drängen gewußt ...“

Wieder zögerte er einen Augenblick.

„Paßt auf,“ flüsterte Adelheid über die Schulter hinweg dem eben wieder hinter ihr stehenden Fiedler zu – „paßt auf! Jetzt beißt er mir den Kopf ab.“

„Armes Fräulein!“ bedauerte Jan.

„Aber nicht genug an dem Verrath – man ließ mich arglistig auch meine Hand verwetten. ... Gerechtigkeit, Fürstin!“

„Sie soll Euch werden,“ lächelte Maria.

„Dann bitte ich mir den Verräther auszuliefern. Es ist Euer Hoffräulein, Adelheid von Helwin.“

„Adelheid! Was soll das heißen?“

„Das soll heißen,“ nahm Hugo das Wort für die Gefragte, die wie eine arme Sünderin, gesenkten Hauptes, dastand und nur unter den Wimpern Funken spielen ließ – „daß ich mir Adelheid von Helwin, als Strafe, zur Gemahlin ausbitte.“

„Das nennt er Strafe!“ lachte Maximilian.

„Nur aus heuchlerischer Bescheidenheit, Herr!“ wagte Adelheid ihn schon wieder anzuschwärzen.

„Wird bald anders sprechen,“ drohte Hugo.

„Aber hoffentlich nicht allzusehr bereuen,“ meinte Maximilian.

„Wenn Ihr Gnade für Recht ergehen lassen wollt, Vetter,“ entschied Maria, „so nehmet sie!“

Kaum aber war das inhaltsschwere Wort gefallen, als Hugo auch schon die Erröthende beim Arm ergriffen hatte und sie wie eine Art Curiosum mit den Worten vorführte:

„Seht, edle Herrschaften, da habe ich eines der zierlichsten, aber raublustigsten Geschöpfe von der Welt gefangen – eine Libelle.“

Ein donnernder Knall aus Karthaunenrohre erscholl. Wekkering und Glockenspiele kündeten sieben Uhr. Vieltausendstimmige Rufe schallten über die Stadt zum Abendhimmel empor. Das Signal für den öffentlichen Schmaus, das letzte Vermächtniß weiland des allmächtigen Cleve, wurde in Stadt und Schloßhof mit Begeisterung begrüßt. Schon drängte die Menge auch vor der Halle nach rückwärts den Tafeln und Bänken zu, als ein Schauspiel sie zurückhielt, ein Aufzug so wunderlicher Art, wie ihn selbst die an Schaustellungen und Mummereien jeder Gattung gewöhnten Flamländer noch nicht gesehen zu haben vermeinten.

Zwischen zwei Reihen fackeltragender Diener schritt ein Trupp phantastisch mit Hahnenfedern aufgeputzter Küchenjungen und Bratenwender, umgehängte kupferne Kessel mit Kochlöffeln bearbeitend und gewaltige Trichter als Trompeten behandelnd. Ihnen folgte das gesammte Hofküchenpersonal in weißen Barretts mit Truthahns- und Fasanenfedern, mit weißen Gugeln, die langen Küchenmesser im Gurt und Jeder würdevoll, wie einst die Lictoren die Fasces, ein Bündel von riesigen Kellen und Kochlöffeln tragend.

Hinter diesen aber in unbeschreiblicher Würde stolzirte die wohlbeleibte Gestalt Bastian's, des Kellermeisters, einen Ritterhelm mit natürlichem Pfauenschweif auf dem Haupte, eine Toga vom feinsten Tafeltuch mit dem einen Ende anmuthig über die linke Schulter geworfen, ein ungeheures Trinkhorn in der Hand, einem von zwölf Mann auf riesiger Guirlanden-Bahre getragenen Ungethüme vorauf.

„Ein Drache, ein Drache!“ „Nein, ein Eber, ein Ungeheuer!“ rief es im Volk.

Hinter den Bänken schwenkte der Zug. Vor Maria wurde die Bahre niedergesetzt. Bastian, er, der sich seit kaum einer Stunde, Dank der Schnelligkeit der Geldernschen Pferde und des Glückswechsels im Schlosse, zum unumschränkten Usurpator von Küche und Keller der Hofburg aufgeschwungen, setzte sich in Positur, um eine Anrede zu halten.

„Bei Gott, was erkenne ich?“ rief Max. „Das ist ja mein 'Schrecken der Wälder'!“

„Erhabenste Gebieterin, gnädiges Fräulein,“ nahm Bastian das Wort, „Euer getreuester Knecht, der Wildmeister in Verviers, sendet Euch dieses gewaltige Unthier. 'Der Schrecken der Wälder'

[753]

Argalischafe im Altai.
Nach Vorlagen des Dr. Brehm auf Holz gezeichnet von G. Mützel.

[754] hieß es bei Lebzeiten in den Ardennen. Ein kühnlicher Held, ein berühmter Prinz, Herr Maximilian von Deutschland, hat es erleget mit eigener Hand und entbietet Euch seinen Gruß mit sothanem Angebinde.“

„Ist dem so?“ fragte Maria, erstaunt zu Maximilian aufblickend.

„Wahrlich, es ist so,“ bestätigte Max. „Aber was sehe ich? Führt ein Zauber hier Alles zusammen?“

„Ahi, la barba rossa!“ rief auch der Junker.

Und in der That, von Bewaffneten wurde, die Hände auf den Rücken gebunden, der Rothbärtige herangeführt. Der Führer des Trupps trat vor Maximilian.

„Ritter Ehrenhold,“ meldete er, „hat die Cleve’schen in Pflicht genommen. Der Herzog ist die Schelde stromaufwärts geflohen. Der Kanzler Ravestein mit dem Rothbärtigen dort ist auf dem Wege in’s französische Lager von Streifwachen eingeholt worden. Den Kanzler hat Prinz Cleve freigegeben. Den Rothbärtigen schickt Euch Ritter Ehrenhold. 'Er sei ein Spion und reif für den Galgen', läßt er Euch entbieten.“

„Löset ihm die Bande und führt ihn vor!“ befahl Maximilian.

Mit scheuen Blicken nahte der Gefangene.

„Ei, Wildmeister von Theux, Ihr wolltet zu den Franzosen?“

„Pardon, mon Prince, in meine Heimath wollte ich.“

„Und waret mir doch noch Bericht schuldig, welche Gattung von Schwarzwild Ihr in der Waldschlucht gefunden. Gleich dem Stücke hier war es nicht, Herr Leibjäger des Herzogs von Cleve.“

Der Rothbärtige fiel auf die Kniee.

„Gnade,“ bat er, „Gnade! Es war Befehl meines Herrn.“

Maximilian lächelte.

„Ihr habt mir hart auf den Fersen gesessen und mich manchen heißen Ritt gekostet,“ sagte er, „aber der Himmel war mit mir; ich bin glücklich – und will nur Glückliche sehen. Sobald die Franzosen uns den Rücken kehren, seid Ihr frei.“

Damit überließ er ihn seiner Wache.

Die Pause des ernsten Zwischenfalls aber war auf minder ernste Weise von Bastian benutzt worden. Mit dem Commandoruf: „Man bewaffne das Volk!“ war er mit seinen Bündelträgern in die Menge eingedrungen, und sich mit Kennerblick die burleskesten der Pöbelgestalten heraussuchend, theilte er massenweise Löffel und Kellen an sie aus, indem er die Widerstrebenden ohne Umstände mit so schallendem Kellenschlag auf die Backen bekehrte, daß es helles Gelächter hervorrief.

„Was soll’s mit der Posse?“ – rief Maximilian, sich umwendend, dem eben wieder Vortretenden zu.

„Buchstäblich nach Euer Gnaden Befehl, der mir pflichtschuldigst hinterbracht worden,“ erwiderte der Kellermeister, „für Knittel und Spieße Kochlöffel und Kellen!“

Und an die Spitze des Zuges tretend, ließ er denselben unter dem Jubel des Volkes und dem eigenen Gelächter der so lächerlich Bewaffneten vor Maximilian und Maria defiliren. Da litt es auch den Fiedler nicht länger. Wie in toller Begeisterung sprang er vor, riß die Fiedel vom Haken und stimmte mit mächtigen Bogenstrichen den flamländischen Schlachtgesang an, daß alles Volk, elektrisch berührt, einfiel und wie auf gemeinsames Commando dem Zuge sich anschloß.

„Via, via! Su su! Zum Bärentanz!“ hetzte der Junker.

„Der gezähmte Pöbel marschirt zur Fütterung,“ lächelte Maximilian Maria zu. „Ein lehrreich Exempel für alle Zeiten.“

„Und ein würdiger Schluß zu 'Maximilian’s Brautfahrt',“ ergänzte Maria mit innigen Blicken und dem Schalke hinter den Lippen.

Maximilian aber drohte ihr mit dem Finger: „Pst, meine Liebe! Noch heiße ich Teuerdank. Dem mochte es ziemen, mit lustigem Ende seine Werbung zu schließen. Doch nicht so der Andere. Den sieht die Geschichte. Seine Würde verlangt eine fürstliche Brautfahrt mit glänzendem Prunke von Prinzen und Rittern, wie der Kaiser sie schon nach Köllen entboten. Aber zeichnen wir’s auf, was Teuerdank gethan! Und die Welt mag’s vernehmen, wenn ich nicht mehr, wie heute, ein fahrender Ritter, wenn ich einstmals – so Gott will, zum Ruhme des Reiches – Maximilian, König der Deutschen!“




Wildschafe der Steppe.
Von Brehm.
(Mit Abbildung.)

Unter den unseren Hausthieren zunächst verwandten Wildarten Asiens stehen hinsichtlich ihrer Artenzahl die Wildschafe obenan. Wollten wir alle von verschiedenen Forschern aufgestellten Arten als solche anerkennen, so würden wir weit über ein Dutzend dieser beachtenswerthen Thiere zu verzeichnen und anzunehmen haben, daß fast jeder Gebirgszug eine besondere Art beherberge. Dies ist nun jedenfalls nicht der Fall, ebenso wie die beschriebenen Arten großentheils nichts anderes als Abarten sein mögen, immerhin aber bleiben mindestens sieben unbedingt verschiedene Wildschafe übrig, wenn wir, vergleichend und sichtend, alle zweifelhaften Arten als mit anderen zusammenfallend streichen.

Je nach ihrer Größe kann man drei Gruppen asiatischer Wildschafe annehmen: die riesenhaften Archare, welche waldlose Hoch- und Mittelgebirge bewohnen, die mittelgroßen Bergschafe, welche auf solchen Gebirgen und pflanzenarmen Hochebenen gefunden werden, und die kleinen Hochgebirgsschafe endlich, welche auf die höchsten Gebirge des Südens und Südostens beschränkt zu sein scheinen. Man hat diese Gruppen auch wohl als Sippen aufgefaßt; ihre Merkmale sind jedoch so übereinstimmende, daß eine derartige Trennung wissenschaftlich nicht aufrecht erhalten werden kann.

So viel vorläufig zum Verständniß des stolzen Thieres, welches ich in den Arkâtbergen sah und erlegte.

Der „Archar“ der Kirgisen ist meiner Ansicht nach dasselbe Wildschaf, welches die Mongolen Ostsibiriens „Argali“ oder „Ugoldse“, die Chinesen aber „Pan-jan“ nennen, Ovis Argali der Naturforscher. Seine Höhe erreicht, seine Stärke übertrifft die unseres Edelhirsches; sein Gewicht mag dem dreier Schafböcke ungefähr gleichkommen, falls nicht dasselbe überbieten. Die Länge eines von mir gemessenen und noch keineswegs vollkommen ausgewachsenen Bockes betrug 1,8, die Schulterhöhe 1,2, die Kreuzhöhe 1,25 Meter, die Länge des von mir erlegten Mutterschafes 1,55, die Schulterhöhe 1,05, die Kreuzhöhe 1,1 Meter. Das schlichthaarige, also nicht wollige, am Halse und der Brust verlängerte, jedoch nicht mähnige Fell hat im allgemeinen die Färbung der Felsen, auf denen das Thier den größten Theil seines Lebens verbringt. Abgesehen von Lippenrand und Nasenspitze, welche schwarz sind, ist das Gesicht des Bockes röthlich fahlgrau, der Hinterkopf wie der Nacken deutlich rothfahl, der Hals lichter, fahlgelblichgrau, der Leib auf Schultern und Vorderrücken, wie die Außenseite der Vorderbeine röthlich fahlgrau, ein bis zum ersten Drittel der Rückenlänge reichender Streifen lichter, die ganze übrige Oberseite, bis auf den ziemlich deutlich abgesetzten weißlich grauen Spiegel, einschließlich der Außenseite der Hinterbeine, dunkel röthlichgrau, das verlängerte Haar an Kehle und Vorderbrust lichtgrau, der Unterhals etwas dunkler, die Brust dunkelgrau, der Bauch wie die Innenseite der Beine wiederum lichter, der Augenstern endlich erzgelb. Die Färbung des Schafes stimmt zwar nicht in allen Einzelheiten, jedoch im Großen und Ganzen mit der des Bockes überein, und auch das junge, glatthaarige Lamm ähnelt bereits seinen Eltern in allen wesentlichen Stücken.

Das Verbreitungsgebiet des Archar erstreckt sich über den größeren Theil Mittelasiens. Erweislich kommt er bereits im Bezirke von Akmolinsk, also auf der östlichen Abdachung des südlichen Ural vor, und ebenso kennt man in der hohen Gobi, dem Altai, den Quellgebirgen des Irtisch und Jenisei sowie in Turkestan mehrere Standorte von ihm.

Bei dieser Aufzählung der verschiedenen Oertlichkeiten nehme ich allerdings an, daß Argali und Archar höchstens Abarten eines und desselben Wildschafes, nicht aber verschiedene Arten sind. Hierzu berechtigt, meiner Ansicht nach, die Eigenthümlichkeit des Thieres, seinen Standort nicht zu verlassen, mit anderen [755] Worten, nicht zu wandern. Innerhalb des von ihm bevölkerten Gebietes, welches unser kleines Europa mindestens zweimal in sich faßt, bewohnt der Argali keineswegs alle Gebirge oder Bergstöcke, sondern nur gewisse Theile von jenen und einzelne, oft weit von einander getrennte, von diesen, die eine Oertlichkeit wie die andere jedoch Jahr aus, Jahr ein. Solches Verharren begünstigt nun aber die Ausbildung von Stämmen im hohen Grade, und es erscheint daher richtiger, solche anzunehmen, als in jeglicher Abänderung eine besondere Art erblicken zu wollen. Vergleicht man viele Archargehörne, so machen sich zwischen ihnen freilich Unterschiede geltend, und diese können wohl auch ständige und erbliche sein; ich bezweifle indessen, daß man berechtigt ist auf sie Arten zu begründen. Jeder Gebirgstheil beherbergt offenbar die Nachkommenschaft eines einzigen oder doch höchstens einiger wenigen Paare, unter dieser Nachkommenschaft aber müssen sich, da sie zur Inzucht verurtheilt ist, Familieneigenheiten und Aehnlichkeiten herausbilden, und so werden sich mit der Zeit Stammeseigenthümlichkeiten entwickelt haben, welche zu falscher Auffassung verleiten können.

Solche Stämme erkennen wir auch bei anderen freilebenden Thieren, welche weit weniger als Wildschafe an ihrem Wohngebiete hangen. Jeder Geweihsammler weiß, daß Hirsche aus verschiedenen Gegenden auch bis zu einem gewissen Grade verschiedene Geweihe tragen. daß die Geweihe der Gebirgshirsche von denen der Auenhirsche sich merklich unterscheiden. Schafe aber sind Veränderungen in weit höherem Maße ausgesetzt als Edelhirsche, welche zwar auch nicht wandern, aber doch gelegentlich ein Wohngebiet mit dem anderen vertauschen. Wie nun in jeder Stammschäferei allmählich ein bestimmter Schlag sich ausbildet, so wird auch unter Wildschafen Aehnliches vorkommen, und nur, wenn wir dies berücksichtigen, kann es uns möglich sein, über die wirklichen Arten ein klares Bild zu gewinnen.

Bedingung, welche der Archar an seinen Wohnsitz stellt, ist, daß das von ihm besiedelte Gebirge wenigstens an einzelnen Stellen felsige Wände mit schwer zu erklimmenden Steilungen und gesicherten Felsenplatten aufweist; im Uebrigen scheinen seine Ansprüche gering zu sein. Auf die Ausdehnung des Wohnsitzes kommt es ihm nicht an. Die Arkâtberge sind nicht allein verhältnißmäßig unbedeutende Erhebungen, sondern erstrecken sich auch über ein so kleines Gebiet der Steppe, daß sie von einem Reiter wohl in drei bis vier Stunden Zeit umzogen werden dürften. Gleichwohl lebt auf ihnen der Archar seit Menschengedenken als ständiges Wild und findet sich weit und breit rings umher auf keinem anderen Bergzuge. So soll es überall sein. Unter Umständen genügt ein einziger Berg einer nicht ganz unbeträchtlichen Heerde. Breitsohlige Thäler zwischen den einzelnen Gipfeln des Berges oder Gebirgszuges und unbewaldete Matten, wenigstens auf einzelnen Gehängen oder Abdachungen, endlich auch eine gefahrlos zu erreichende, im heißen Sommer nicht versiechende Quelle sind anderweitige Bedürfnisse des Thieres.

Auf solchen Höhen verläuft dessen Leben in merkwürdig geregelter Weise. Als ausgesprochenes Tagthier verbringt der Archar die ganze Nacht schlafend oder doch ruhend auf einer und derselben Stelle, einer gesicherten, freie Umschau gewährenden Felsenplatte nämlich. Ob ihm hier im Winter der eisige Schneesturm um die Ohren pfeift, oder ob ihn im heißen Sommer der kühle Nachtwind erquicklich frischt, scheint ihm ziemlich gleichgültig zu sein. Tobt winterliches Unwetter, so verharrt er, auf seine Felsenburg und sein schützendes Fell vertrauend, auf seinem Schlafplatze und läßt sich einschneien, wie bei uns zu Lande der Hase im Lager; blaut freundlich der Himmel über der Steppe, so erhebt er sich am frühen Morgen, steigt gemächlich an den Bergen herab, weidet auf den Matten der Gehänge, in den Einsattelungen zwischen den Gipfeln, am Fuße der Berge und selbst in der freien Stelle, geht dann zur Tränke und kehrt, sobald die Sonne höher sich hebt, zu der luftigen Höhe zurück, um hier, das Gesicht dem Winde zugekehrt, behaglich zu ruhen und träumerisch wiederzukäuen. Wenn die Sonne sinkt, tritt er einen zweiten Weidegang an, um sich für die Nacht zu versorgen; noch ehe sie zu Rüste gegangen, liegt er jedoch wiederum auf seiner gewohnten Felsenplatte. In dieser Weise gestaltet sich der Tageslauf des Thieres jahraus, jahrein. Seine Wünsche reichen nicht weiter als der Fuß seines Wohnberges, und seine Behaglichkeit wird nur dann gestört, wenn die beiden schlimmsten Feinde, Mensch und Wolf, sein Leben bedrohen.

Im Vergleiche mit anderen Wiederkäuern darf man den Archar als vertrauensselig bezeichnen. Er ist weit weniger scheu als irgend eine Wildziege oder Antilope, jedoch keineswegs so unvorsichtig, daß er sich jede Gefahr über den Hals kommen ließe. Oberst Przewalski, der muthige Erforscher der Mongolei, fand ihn im Sumachadagebirge so auffallend an den Wanderhirten und sein Thun und Treiben gewöhnt, daß er nicht selten neben und zwischen dem Vieh der Mongolen weidete und einen Menschen bis auf fünfhundert Schritte an sich herankommen ließ, ohne Beunruhigung zu bekunden, wogegen die Kirgisen uns dringend anriethen, alle Jagdregeln zu befolgen, um seiner Vorsicht zu begegnen. Der scheinbare Widerspruch löst sich, wenn man erfährt, daß nur wenige Mongolen des Sumachadagebirges Feuerwaffen besitzen, die Kirgisen aber mit guten Büchsen ausgerüstet sind. Im Sumachadagebirge dachten die von Przewalski beobachteten Archare so wenig an ihre Sicherung oder an die Möglichkeit einer Gefahr, daß sie nicht einmal Wachen ausstellten, wogegen dieselben Wildschafe in anderen Gegenden solches nie versäumen. Jedes einzeln gehende Thier unterbricht da, wo es Verfolgung befürchtet, seine Tagesgeschäfte von Zeit zu Zeit, nur zu sichern, und alle Glieder einer einmal mißtrauisch gewordenen Heerde verbinden sich, für die Sicherheit des Verbandes zu sorgen.

Während die Heerde sich äßt, erklimmt ein oder das andere Stück den nächsten besten Felsen, blickt anscheinend gedankenvoll in die Runde, prüft mit weit geöffneten Nüstern den ihm entgegen wehenden Luftzug, verweilt zuweilen nur Minuten, zuweilen eine halbe Stunde auf seiner Warte und steigt, wenn es von seiner und seiner Genossen Sicherheit sich überzeugt hat, wiederum zu diesen herab, um weiter zu äßen. Solches Gebahren deutet auf Bedachtsamkeit und Urtheilsvermögen, Eigenschaften, welche dem Thiere sicherlich zur Ehre gereichen. Ein Schaf bleibt der Argali aber trotz alledem, und das Selbstbewußtsein, welches er sich im Umgange mit Seinesgleichen erwirbt, artet nicht selten in Starrköpfigkeit aus, welche, oft sehr zu seinem Schaden, jene scheinbare Vertrauensseligkeit im Gefolge haben mag. Daß die schwächeren Schafe wachsamer sind als die stärkeren Böcke, bestätigt nur eine fast allgemein gültige Regel.

Im Frühlinge und Sommer leben Böcke und Schafe getrennt, erstere in kleineren Trupps von fünf bis zehn Stück, letztere mehr einzeln, nur der Erziehung ihrer Lämmer sich widmend. So lange die allmächtige Liebe im Herzen der Böcke schlummert, herrscht Friede und Eintracht auch unter diesen: ihre Trupps sind geschlossen, weiden gemeinschaftlich, und einer unterstellt sich willig der Führung des anderen, die Mehrzahl der Leitung des erfahrensten und stärksten. Auf die Dauer kann ein so schönes Verhältniß natürlich nicht bestehen. Der Herbst kommt heran, und die Brunft macht sich geltend.

Während des Frühlings und Sommers haben sich Böcke und Mutterschafe von den Entbehrungen des Winters erholt und gefeistet. Alle Pflanzen, welche auch dem Hausschafe behagen, bildeten ihre Nahrung, und da die Steppe an würzigem, kräftigem Futter reich ist, hat sich nach und nach unter den Böcken ein Gefühl der Voll- oder Ueberkraft eingestellt, welches nach Ausdruck ringt. Schon Ende Septembers trennen sich die Trupps der Böcke. Die ältesten Recken scheiden zuerst aus dem Verbände, welcher ältere und jüngere, jedoch nur mannbare vereinigte, gehen ihre eigenen Wege und nehmen feste Stände ein, welche sie fortan gegen jeden gleich ihnen denkenden und handelnden Nebenbuhler vertheidigen. Jüngere und schwächere ihres Gleichen lassen sie überhaupt nicht zu. Wie Widder insgemein stellen sich zwei gleich starke Argaliböcke trotzig und kampflustig einander gegenüber, schreiten herausfordernd in Absätzen vor, erheben sich auf die stämmigen Hinterbeine und prallen mit den gewaltigen Hörnern derartig zusammen, daß man das hierdurch verursachte Getöse auf weithin im Gebirge vernimmt, daß beide zuweilen unlösbar sich verfangen, daß einer den anderen in den Abgrund stößt und in dessen Tiefe zerschellen sieht. So berichteten mich die Kirgisen durch den Mund General von Poltoratsky’s, welcher zum freundlichem Dolmetsch der ausdrucksvollen Erzählungen der Steppenleute wurde, so erfuhr Sewerzoff, welcher zwar nicht den Argali, aber doch den ihm nah verwandten [756] Katschgar im Thianschangebirge beobachtete. Diesen Kämpfen, nicht aber den Wölfen schreibt letztgenannter Forscher die auffallende Menge von Schädeln zu, welche man am Fuße steil abfallender Felsen findet, woselbst sie in Sonne und Regen bleichen und allgemach vermorschen und verwittern. Wären es die Wölfe, welche sinnbethörenden Schrecken unter den Archaren verursachten und sie veranlaßten, in die Tiefe zu springen, so würde man, was nicht der Fall, viel öfter als die Schädel von alten Böcken solche von Schafen und Jungböcken am Fuße der Felsen auflesen können; denn beide würden sicherlich weit eher als jene das Opfer jenes Schreckens und mittelbar der Wölfe werden. Aber man stößt fast nur auf die Ueberbleibsel alter Böcke und wiederum öfter auf die Reste mittelalter, also schwächerer, als auf solche ganz alter, gewaltiger Recken. Ueber der Stelle, wo man die Schädel regelmäßig, zuweilen in Haufen antrifft, befinden sich stets flache, ebene, mit Gras bewachsene Stellen, wie sie von den Archaren ausgesucht werden, um dort sich zu äßen: diese Stellen sind die Kampfplätze, auf denen gerungen und gestritten wird um Leib und Leben, Sieg oder Tod. Zuweilen mag es geschehen, daß der anprallende und seinen Gegner abdrängende Sieger ebenfalls mit in den Abgrund gerissen wird; denn man findet zuweilen zwei Schädel neben einander, während die übrigen meist einzeln liegen.

Erst nachdem die Brunftzeit vorüber, enden diese nebenbuhlerischen Kämpfe, und derjenige Widder, welcher aus allem Streite als Sieger hervorgegangen ist, führt von jetzt an bis zur Satzzeit die nunmehr vereinigte Heerde der Böcke und Schafe, von jenen vielleicht beneidet, aber doch fernerhin unangefochten, von diesen mit vollstem Vertrauen belohnt. Sobald er zu laufen beginnt, stürzt die Heerde ihm blindlings nach. Er geht beim Wechseln dem Zuge voran, bleibt von Zeit zu Zeit stehen, ersteigt, um eine weitere Uebersicht zu gewinnen, höhere Aussichtspunkte, und sorgt in jeder Beziehung für das Wohlergehen seiner Unterthanen. Gemeinsame Ziele, Gefahren und nothgedrungene Entbehrungen halten solche Heerde bis zum nächsten Frühling zusammen. So gleichmüthig der Archar den Winter erträgt: ohne hart von ihm mitgenommen zu werden, übersteht er denselben nicht. Mag auch die rasende Windsbraut, welche Schnee vom Himmel zur Erde und von der Erde zum Himmel schleudert, über ihn wegbrausen, ohne ihn zu schädigen: der Schnee, welchen sie mit sich und zu seinem Stande führt, wird ihm lästig und gefährlich, oft verderblich. Nur ausnahmsweise zwar deckt derselbe ihm alle Nahrung zu und zwingt ihn zu fasten, zu darben, zu hungern, nicht allzu selten aber ebnet er dem gierigen Wolfe Wege und Stege bis zu seiner Felsenburg herauf, wird, wenn Thauwetter und Frost mit einander wechseln, dem leichteren Räuber zur Brücke, auf welcher dieser ungehemmt dahinschreitet, wogegen er bei jedem Schritte die schwache Kruste eindrückt oder schon durch deren Glätte in vollem Laufe sich behindert sieht, und bringt so seinen schlimmsten, weil unablässigsten Feind über ihn. Solche Gefahren überwinden gesellte Thiere leichter als einzeln lebende, deren Wachsamkeit endlich doch einmal erlahmen kann, wenn Uebermüdung oder Ermattung infolge des Mangels ihre Rechte fordern, und dies mag der hauptsächlichste Grund sein, daß jene Verbände während des ganzen Winters nicht sich trennen.

Ungefähr sieben Monate nach der Paarung, durchschnittlich im Anfange des Mai, lammt das Argalischaf, und zwar bringt es zuerst regelmäßig nur ein Junges, später deren zwei zur Welt. So behaupten die Kirgisen, und unsere eigenen Beobachtungen stehen hiermit wenigstens nicht im Widerspruche; denn ich sah Schafe mit einem Lamme und andere, welche deren zwei führten. Schon vor der Geburt haben die trächtigen Mutterschafe von den Böcken oder den Heerden überhaupt sich getrennt, und so lange ihre Lämmer klein sind, vielleicht so lange sie noch saugen, gesellen sie sich jenen nicht. Die Lämmer sind merklich größer als Hauslämmer, nach meinem Bedünken mindestens ebenso groß, wie ein Hirschkalb, und vorherrschend graufahl, auf dem Vorderkopfe und Schnauzenrücken dunkelgrau, auf dem Spiegel graulich-isabell, auf der Unterseite lichtgelb gefärbt. Noch am Tage ihrer Geburt laufen sie mit der Mutter davon, und einige Tage später thun sie es ihr im Springen und Klettern fast gleich. Werden Mutter und Kind in den ersten Tagen nach der Geburt des letzteren durch Menschen oder Raubthiere beunruhigt, vielleicht durch einen spürenden Wolf erschreckt, so übernimmt das Mutterschaf die Deckung des Lammes, indem es sich dem bösen Feinde scheinbar preisgiebt, langsam vor ihm herläuft, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, ihn so von dem Lamme ablenkt, durch längere Jagd warm macht und in die Irre führt, worauf es zu dem Lamme zurückkehrt. Dieses hat sich beim Erscheinen des Feindes niedergelegt und dicht an den Boden geschmiegt, sodaß selbst Kopf und Hals letzterem aufliegen. In dieser Lage verharrt es unbeweglich bis zur Rückkehr der Alten, bleibt auch, wenn ein zweiter Feind es bedroht, sehr festliegen und springt erst auf, wenn die Gefahr in seine unmittelbare Nähe, gekommen ist.

Es vertraut offenbar auf die Gleichfarbigkeit seines Felles und des Bodens und thut wohl daran; denn es wird in dieser Lage, wie ich oben mich ausgedrückt habe, zu einem lebendigen Steine, welcher im bunten, verwirrenden Durcheinander wirklicher Steine und größerer und kleinerer Felsbrocken manches Raubthierauge täuschen mag. Daß ihm die Täuschung nicht immer gelingt, daß das Auge eines Steinadlers sich nicht beirren läßt, haben wir oben gesehen; daß die feine Nase eines Wolfes oder Fuchses ebenso sicher den lebenden Stein unter den todten herausfinden wird, läßt sich annehmen: die Gebirge müßten, wäre beides nicht der Fall, weit stärker von Archaren bevölkert sein, als sie in Wahrheit sind. Wie alle jungen Schafe sind auch die Argalilämmer allerliebste, muntere, spiellustige, bewegungsfrohe Geschöpfe, von Hauslämmern überhaupt nur durch Größe und Fell, nicht aber durch Sein und Wesen unterschieden. Sie wachsen rasch heran und sind bereits im nächsten Jahre fast ebenso groß wie die Alten, jedenfalls vollkommen befähigt, ohne deren Mithülfe ihre Wege durch’s Leben zu wandeln. Doch beenden sie ihr Wachsthum nicht vor dem vierten Jahre, und die Gehörne der Böcke nehmen auch dann noch immer etwas zu.

Der ausgewachsene Argali ist ein Bild urwüchsiger Kraft und Stärke. Seine Bewegungen sind wundervoll. Niemals bemerkt man, daß sich das gewaltige Thier übereilt, ebenso wenig, daß es in Verlegenheit geräth. Es wetteifert im Laufen mit einem Hirsche, im Klettern mit einer Gemse, vielleicht mit dem Steinbocke. Ueber die Ebenen und Hügel zieht der Archar in scharfem, stätigem Trabe, ohne befürchten zu müssen, daß ihn das unter dem Reiter schnaufende Pferd einhole, an den Felsen hinauf oder hinab klimmt er mit unvergleichlicher Bedachtsamkeit, Sicherheit und Gewandtheit. Er sucht sich nicht erst einen bequemen Pfad, sondern findet solchen überall. Das Schaf, welches ich erlegte, stieg langsam über felsige Steilungen herab, obgleich letztere aussahen, als ob sich kaum ein leichter Klettervogel, nicht aber ein so gewichtiges Säugethier an ihnen zu erhalten vermöge, und sprang von einem Steine oder Felsblocke zum andern mit so leichten, federnden Sätzen, als ob es auf der Ebene dahinschritte. Der gewaltige Hornschmuck des Bockes hat auch in der Steppe der allverbreiteten Fabel Boden gegeben, daß der Argali bei Gefahr aus bedeutenden Höhen hinab auf das Gehörn sich stürze; die Fabel ist jedoch eben nur eine solche, nicht aber Wiedergabe bestimmter Beobachtung. Przewalski sah Argaliböcke ohne Bedenken und Schaden zehn Meter tief hinabspringen und immer auf die Füße fallen, beobachtete auch, daß sie, wie Steinböcke und Gemsen zu thun pflegen, an etwas geneigten Felsen hinabglitten, um ihren Fall zu hemmen. Ein derartig befähigtes und geübtes Thier findet auch in den schwierigsten Lagen noch Wege und Stege, um ungefährdet in die Tiefe hinabzugelangen. Stürzt ein Argali wirklich über Felsen hinab, wird er von einem Nebenbuhler in den Abgrund geschleudert, so rettet ihn auch sein gewaltiges Gehörn nicht vor dem Tode: er würde oder müßte das Genick brechen, wenn er mit demselben die Wucht des Falles seines schweren Leibes aufhalten wollte.

Mich wundert, daß Kirgisen und andere Wanderhirten der Steppe noch nicht daran gedacht haben, Archare zu zähmen und sie zu Hausthieren zu gewinnen. Absichtlich brauche ich den Ausdruck „gewinnen“; denn ein Gewinn würde es sein, gelänge es, dieses Geschöpf unter die Botmäßigkeit des Menschen zu beugen. Die Möglichkeit des Gelingens darf von vornherein zugestanden werden. Jene Argalllämmer, welche die uns gleitenden Kirgisen gefangen halten, versprachen viel, weit mehr als ich erwartet hatte. Auf unseren Wunsch befahl General von Poltoratsky, ihnen in Gestalt von Hausschafen und Hausziegen Ammen zu geben. Dem Befehle wurde selbstverständlich [757] Folge gegeben, jedoch nicht ohne Klagen seitens der Kirgisinnen, deren Hausthiere zu der hohen Ehre berufen worden waren, den Wildlämmern Dienste zu leisten, auch nicht, wie ich hinzufügen muß, ohne Widerstreben der Ammen selbst. Um so williger zeigten sich die Argalilämmer. Ohne Zögern nahmen sie das Euter der ihnen zugewiesenen Ammenthiere, saugten kräftig, unter den üblichen Stößen, und schienen nach genossener Erquickung vollständig befriedigt zu sein. Während die Ammenthiere die ihnen aufgezwungenen Pfleglinge mit schelen Augen betrachteten und – ich darf wohl sagen – mit gerümpfter Nase beschnupperten, auch unverkennbar böswillige Gelüste auszuführen trachteten und daher festgehalten werden mußten, konnten die hungerigen und durstigen Lämmer angesichts der nahrungsspendenden Verwandten ohne Weiteres ihrer Fesseln entledigt werden, gestatteten, daß man sie berührte, streichelte, während des Saugens festhielt, und legten sich, nachdem sie ihre Bedürfnisse gestillt, aller Fesseln ledig so vertrauensvoll und zufrieden zur Ruhe nieder, daß Jedermann überzeugt sein mußte, sie würden für den Verlust ihrer Mutter Ersatz finden und gedeihen. Letzteres war, wie wir später erfuhren, leider nicht der Fall, aber wohl nur deshalb, weil die Kirgisen, um die Nachkommenschaft ihrer Hausthiere besorgt, ihnen die erforderliche Pflege nicht angedeihen ließen. Jedenfalls ist der mißglückte Versuch nicht maßgebend. Denn alle Wildschafe lassen sich leicht erziehen, und alle dauern, vorausgesetzt, daß sie in einem ihrem heimathlichen entsprechenden Klima gepflegt werden, auch in engerer Haft recht gut aus. Der wettergestählte Argali, welcher eisiger Kälte und glühender Hitze in gleicher Weise zu trotzen vermag, keine andere Nahrung beansprucht als das Hausschaf, hinsichtlich seiner Begabungen von diesem kaum sich unterscheidet, also auch nicht dummtrotziger und furchtsamer ist, wahrscheinlich aber selbstständiger sein dürfte als dieses, würde allen Anforderungen entsprechen, welche man an ein zu zähmendes und einzubürgerndes Thier vernünftiger Weise stellen kann.


Eine Weihestunde im Schillerhause in Weimar.
Zum zehnten November, von Robert Keil.

Die Esplanade in Weimar, jetzt Schillerstraße genannt, war ehemals ein mit mehreren Baumreihen bepflanzter Platz, der vom innern Frauenthor am sogenannten Schützengraben entlang bis zum Palais der Herzogin Anna Amalia sich hinzog. Nur wenige einzelne Häuser standen auf diesem Platze, darunter auch ein mäßig großes, einfaches, mit Ziegeln gedecktes Giebelhaus, das im Februar 1802 einem Engländer Mellish gehörte. Schiller, der schon während seines ersten Aufenthalts in Weimar an der Esplanade bei Frau von Imhof gewohnt hatte, mochte an solcher Wohnung, an dem freundlichen Blick auf den Platz und die grünen Bäume Gefallen gefunden haben; er kaufte von Mellish das Haus im Februar 1802 für viertausendzweihundert Gulden und bezog es am 29. April. Es war dieser Einzugstag ein schlimmes Omen für Schiller, denn an demselben Tage entschlief in Clever-Sulzbach seine „treue, liebevolle, immer für ihre Kinder sorgsame“ Mutter. Nur drei Jahre sollte er dieses Haus bewohnen. Er richtete sich darin schlichtbürgerlich, aber für damalige Verhältnisse bequem ein. Im Parterre ließ er seinen Diener und zugleich Schreiber wohnen; die Räume des ersten Stocks wurden die Wohnung der Familie; die Zimmer im zweiten Stock bezog er selbst. Mit besonderem Behagen schrieb er darüber am 7. Januar 1803 seiner Schwester Christophine: „In unserm neuen Hause wird es Euch, wenn Ihr uns einmal besucht, recht wohl gefallen. Es ist sehr heiter und freundlich und liegt sehr angenehm. Freilich haben wir diesen Sommer mit dem Bauen viel Schererei gehabt und große Kosten, auch das Ameublement hat gekostet, aber jetzt freuen wir uns auch dieses Besitzes und fühlen das Angenehme einer eigenen unabhängigen und bequemen Wohnung, weil wir uns während unserer ganzen Ehe immer in diesem Stück haben behelfen müssen.“

Dort vor dem Hause war es, wo sich die herzliche Scene zutrug, die dem wackern Schauspieler Genast aus seiner Kinderzeit unvergeßlich geblieben. Während der ihm unbekannte große Mann mit langen Armen und langem Rock, hagerm Gesicht, gebogener Nase und bloßem Kopf an der Esplanade mit dem Vater freundlich sprach, strich er dem Knaben durch die Flachshaare, streichelte ihm das Gesicht, nahm ihn endlich auf den Arm und tänzelte mit ihm die Allee hinab. So, wie ihn hier Genast schildert, war in der That die damalige äußere Erscheinung des Dichters.

Aus der Jenaer Zeit enthält ein von dem Justizrath von Gohren zu Jena für das Schiller-Album bestimmtes Notizblatt folgende Schilderung: es imponirte die hohe Figur Schiller’s, mit breiten Schultern und langherabgestreckten Armen; er erging sich oft in der freien Natur, in der Regel ohne Begleitung, und trug gewöhnlich einen erbsgelben, langherabreichenden Tuch-Oberrock, als Kopfbedeckung einen dreieckigen Filzhut, sogenannten Dreimaster, während sein Haar in einen Bandzopf geflochten war. Inzwischen änderte sich die allgemeine Mode und mit ihr auch die Kleidung des Dichters. Während seiner letzten Lebensjahre sah man ihn in den Straßen Weimars und im Parke gewöhnlich in einem braunen oder blauen Frack mit Metallknöpfen, meist gelber Weste, grauem Beinkleid (er besaß nicht weniger als fünfzehn Hosen von allen Farben und Stoffen) und Stulpstiefeln, auf dem Kopfe einen niedrigen runden, schwarzen Hut mit schwarzseidenem Band und Stahlschnallen, in der Hand ein hohes spanisches Rohr mit metallenem Knopf, Schnur und seidener Quaste. Ein leiser lieblicher Zug, der den Kampf zwischen Ironie und Gutmüthigkeit verrieth, spielte um Mund und Wange des freundlichen blassen Gesichts. Meist gebeugten Hauptes, senkte er den Blick zu Boden und bemerkte daher häufig den Gruß eines vorübergehenden Bekannten nicht; hörte er ihn aber, so griff er rasch zum Hute und sagte sein herzliches „guten Tag“. So pflegte er, meist Vormittags, schlendernden, etwas nachlässigen Ganges durch den Weimarischen Park zu wandeln und hierbei insbesondere die schönen mittleren Wege desselben zu besuchen und auf dem reizenden Punkte zu verweilen, welchen die „Schillerbank“ bezeichnet. So lebt er noch jetzt in der Erinnerung Weimars. Den Zeitgenossen imponirte nicht allein Schiller’s Wirken und Dichten, auch seine äußere Erscheinung. Goethe’s Vertrauter Riemer bemerkte einst darüber: der Bau seiner Glieder, sein Gang auf der Straße, jede seiner Bewegungen sei stolz, nur die Augen sanft gewesen. „Ja,“ bestätigte Goethe, „alles Uebrige an ihm war stolz und großartig, aber seine Augen waren sanft. Und wie sein Körper war sein Talent.“

Wie erwähnt, waren ihm vom Schicksal zur Bethätigung dieses Talents nur noch drei Jahre in dem neuerworbenen Hause vergönnt. Seine Wittwe lebte dort noch eine Reihe von Jahren; dann ging das Haus durch Verkauf in den Besitz des Gartenbau-Inspectors Weise und später auf dessen Wittwe durch Erbschaft über. Diese vermiethete die Räume des Hauses, auch diejenigen der zweiten Etage an Privatpersonen. Mehrere Jahre wohnte in eben dieser Etage, in dem Empfangs-, Arbeits- und Sterbezimmer des Dichters, eine entfernte Verwandte von mir, Frau Charlotte Keil. Noch erinnere ich mich des tiefen Eindrucks, den es auf mein Gemüth machte, als ich beim Besuch der guten Tante erfuhr, daß in dem Zimmer, in welchem wir als Kinder spielten, einst Schiller gewohnt habe – mit welcher Verwunderung betrachtete ich den seltsamen großen Wandschrank, den er einst benutzt hatte! Wer mir kleinem Knaben damals gesagt hätte, daß ich einst eben diese Räume dem großen Publicum unseres deutschen Weltblattes schildern würde! Als aber auch die Wittwe Weise starb und das Haus in der Erbschaftstheilung zum öffentlichen Verkauf kommen sollte, stand zu besorgen, daß es in die Hände eines nebenan wohnenden Bierwirthes übergehen und so profanirt werden könne. Frau Charlotte Keil hat das Verdienst, zu Verhinderung dessen durch ihren Bruder, Kunsthändler Eduard Lobe in Weimar – den nachherigen Castellan des Hauses und Gatten der jetzigen sorgsamen Castellanin – den städtischen Ankauf des Hauses im Jahre 1847 angeregt zu haben.

[758] Trotz erheblicher Bedenken, welche aus den finanziellen Verhältnissen der Stadt Weimar sich ergaben, beschloß der Stadtrath den Ankauf des Hauses, „um (wie es in den Acten lautet) unserem deutschen Vaterlande ein bleibendes Andenken an einen seiner größten Dichter zu erhalten, den Weimar seinen Mitbürger nannte“. Der Stadtdirector Hase war es namentlich, welcher diese patriotische Sache mit allem Eifer verfolgte; er glaubte mit Recht, „nicht allein im Sinne aller gebildeten Bewohner Weimars, sondern auch derer unseres deutschen Vaterlandes zu handeln“. Im öffentlichen Verkauf, am 29. Juni 1847, erwarb der Stadtrath für 5025 Thaler das zum Theil baufällige Gebäude und ging sofort an die Wiederherstellung desselben. Außer Reparatur und Schieferdachung des Hauses und der Schaffung einer von Angelika Facius kunstvoll gearbeiteten Medaille, zum Andenken an den Aufenthalt und das Wohnhaus Schiller’s in Weimar (mit der Umschrift: „Ist der Leib in Staub zerfallen, lebt der große Name noch.“), betrieb der Stadtrath die Begründung eines Schiller-Museums durch Sammlung von Schiller-Reliquien in den ehemaligen Wohnräumen des Dichters. Die Verehrer des großen Mannes beeilten sich, die Ausführung dieser sinnigen Idee, zu fördern. Das Hoftheater veranstaltete zum Besten des Schiller-Museums eine Vorstellung der Piccolomini. Ein Kreis von Männern der Wissenschaft vereinigte sich zu Vorlesungen, deren Ertrag zu einer von Hänel’s Meisterhand geschaffenen Marmorbüste Schiller’s verwandt wurde. Frauen und Jungfrauen Weimars übergaben einen prachtvollen, selbstgefertigten Teppich. Frauen und Jungfrauen zu Eisenach, Jena, Apolda, Allstedt, Weida und Dornburg verehrten sechs schön gestickte Sessel mit den Wappen dieser Städte. Die Schüler des Gymnasiums brachten ihre Huldigung in Gestalt eines kostbaren Fremdenbuches dar. Verwandte, Freunde und Verehrer des Dichters widmeten Geräthschaften, Möbeln und sonstige Reliquien aus Schiller’s ehemaligem Haushalte für das Arbeits- und Sterbezimmer, das in seiner damaligen Einfachheit möglichst treu wiederhergestellt werden sollte. Und damit auch eine geistige Huldigung des gesammten Deutschlands vor dem Genius Schiller’s hier sichtbar sei, stiftete die Voigt’sche Buchhandlung ein Schiller-Album, welches in zwei Bänden im Schiller-Hause niedergelegt wurde: etwa zweihundert durch ganz Deutschland gesammelte Blätter mit Namen, Denksprüchen, Dichtungen, Zeichnungen, Compositionen etc. bedeutender Autoritäten zur Feier Schiller’s.

Jetzt stellt sich uns das Schiller-Haus als ein freundlich ausschauendes Wohnhaus in einfach bürgerlichem Style, mit grünen Jalousien versehen, dar. Ueber der schmucklosen Hausthür meldet eine Inschrift: „Hier wohnte Schiller.“ Wir treten ein. Wir werfen einen Blick in den kleinen Hausgarten, in welchem eine Büste Schiller’s in üppigem Grün von Rankengewächsen die Stelle bezeichnet, wo sonst eine vom Dichter zur Ruhe und zum Arbeiten gern benutzte Laube stand; wir steigen an den Zimmern der ersten Etage vorüber, welche jetzt den Zwecken der Schiller-Stiftung dienen, zur zweiten Etage, zu den geweihten Wohnräumen des Dichters empor.

Im ersten Zimmer, das von Schiller einst zum Vor- und Wartezimmer verwandt wurde, finden wir mehrfache Geschenke: Wieland’s Arbeitstisch, die Statuen der Klio und Polyhymnia, die obenerwähnten Sessel etc. und ein Schränkchen mit den Werken Schiller’s ausgestellt.

Das folgende Zimmer, einst das Haupt- oder Empfangszimmer des Dichters, war bis vor Kurzem nur mit Zeichen der Verehrung seiner Freunde und mit Sinnbildern auf Schiller’s Dichtungen ausgestattet. Hiervon ist jetzt noch der Teppich, die schöne Marmorbüste Schiller’s in einer Nische, eine Büste von Major Serre und ein den Dichter Vach dem Leben (1786) darstellendes, vom Großherzog Karl Alexander geschenktes, interessantes Oelbild zu sehen. Im Uebrigen hat man begonnen, auch in diesem Zimmer den Zustand desselben zu Schiller’s Zeit wieder herzustellen; daher die hellbraune Tapete, die grünliche Farbe der Thüreinfassung, der wieder aufgestellte alte Ofen von seltsamer Form, und neben Möbeln im Style jener Zeit ein echtes Tischchen aus dem Nachlasse des Dichters. Für einen Fremden war es in diesen letzten Lebensjahren Schiller’s fast unmöglich, Eingang in dessen Haus und in dieses Empfangszimmer zu finden; Schiller war ein abgesagter Feind aller phrasenhaften Ehrenbezeigungen und Vergötterungen. Um so inniger war sein Verkehr mit seinen intimen Freunden. Ihnen gab er sich unbefangen, rückhaltlos, mit aller Offenheit und Wahrheit hin. Auch hierbei erschien Schiller, nach Goethe’s Zeugniß, im absoluten Besitze einer erhabenen Natur. „Er ist,“ sagt Goethe zu Eckermann, „so groß am Theetische, wie er es im Staatsrathe gewesen sein würde. Nichts genirt ihn, nichts engt ihn ein; nichts zieht den Flug seiner Gedanken herab; was in ihm von großen Ansichten lebt, geht immer frei heraus, ohne Rücksicht und ohne Bedenken. Das war ein rechter Mensch, und so sollte man auch sein.“ –

Besonders liebte es Schiller, seinen Freunden vorzulesen, und wenn er auch nicht eben schön las, da ihn hieran sein etwas hohles Organ und die schwäbische Zunge hinderte, so las er doch mit Feuer und Begeisterung. Mit Harmlosigkeit und Herzlichkeit gab er sich auch fröhlichem Verkehre mit seinen Freunden hin. Zu einem vergnügten Abende bei Schiller gehörten stets einige Flaschen guten Weines. Sein Kalender weist es aus, wie gut bestellt sein Weinkeller war: aus dem November 1802 hat er aber auch die Notiz: „Bremer Portwein, vierzig Bouteillen à zwei Thaler. Schwer Geld.“

Hier ist auch eines andern liebenswürdigen Charakterzuges Schiller’s zu gedenken: seines liebevollen, herzlichen Verkehrs mit der Kinderwelt. Auch hierin glich er seinem großen Freunde Goethe. Es ist bekannt, wie dieser seit seiner Ankunft in Weimar muntern Verkehr mit den Kindern, Eierfeste, Ballspiel etc. liebte, und wie ihm diese Hinneigung noch im hohen Alter eigen war. Mit Stolz erinnert sich meine hochbetagte Mutter noch jetzt, wie Goethe sie einst (als sie, ein kleines Mädchen, zur Aufnahme in die Zeichenschule sich meldete) auf den Schooß genommen, ihr die Wange gestreichelt und sie geküßt hat. So trieb auch Schiller, selbst eine kindliche Natur, gern Spiel mit Kindern. Aus der Jenaer Zeit wußte Griesbach anschaulich zu schildern, wie er oft Schiller mit seinem Söhnchen Karl, Beide auf vier Füßen im Zimmer herumkriechend, „Löwe und Hund“ habe spielen sehen. So war auch in Weimar Schiller am heitersten, wenn er „sein Häuflein beisammen hatte“. Auf seinen Spaziergängen scherzte er gern mit begegnenden oder spielenden Kindern. Aus den Fenstern seines Empfangszimmers ließ er bisweilen an einem Bindfaden seinen Kleinen eine Zugabe zum Frühstücke hinab, welche sie eine Treppe tiefer durch das Fenster in Empfang nahmen. Nachbarn beobachteten aber auch, daß Schiller fremden Kindern mittelst eines Körbchens am Bindfaden Leckereien zur Straße hinabließ.

Doch treten wir nun in das folgende kleine Eckzimmer, in das Heiligste des Hauses ein: Schiller’s Arbeits- und Sterbezimmer. Es ist leider nicht, wie Goethe’s Arbeitszimmer, in demselben Zustande geblieben, wie es in dem Augenblicke war, da sein Bewohner aus dem Leben schied, aber man hat Alles aufgeboten, den damaligen Zustand wiederherzustellen. Die hellgrüne Tapete mit blauen runden Tupfen ist nach einem aufgefundenen alten Stücke erneuert worden; sie ist stark arsenikhaltig, und wenn die alte Tapete gleich giftig gewesen, würde der unglückliche Verlauf der Krankheit unseres Dichters um so begreiflicher sein. Ueber den drei Fenstern des Eckzimmers, welche ihm die Aussicht auf die Baumreihen der Esplanade boten, hängen kleine karmoisinrothe Vorhänge, wie sie Schiller für seine Augen liebte. Der Lehnstuhl Schiller’s (früher im Schlosse zu Weimar aufbewahrt, Geschenk der Großherzogin Maria Paulowna hierher), der alte Ofen und Ofenschirm, an den Wänden die mittelmäßigen italienischen Landschaften, die einst das Zimmer des Dichters geschmückt, ein Bild von Schiller’s Gattin, das alte kleine Clavier Schiller’s, darauf die Guitarre, auf welcher er sich von seiner Frau und seiner Schwägerin so gern vorspielen ließ, darüber der kleine Spiegel und zwei Bleistiftzeichnungen (sein Gartenhaus in Jena und dieses sein Haus unter den Bäumen der Esplanade darstellend), ein Tischchen, darauf zwei Leuchter, eine Tasse, ein Waschbecken, eine Tabaksdose Schiller’s etc. – sie sind die treue und echte Reproduction der ehemaligen Ausstattung des Arbeitszimmers. Nur der Wandschrank enthält manche interessante Reliquien, welche der ehemaligen Zimmerausstattung nicht angehören: die drei Schlüssel zum vormaligen Cassengewölbe, der ersten Begräbnißstätte Schiller’s, einen Gypsabguß von Schiller’s Schädel, vom Bildhauer Hütter in Weimar verehrt, [759] ein Tintenfaß Goethe’s aus dessen Gartenhause, einen Briefbeschwerer von Goethe, Wieland’s Petschaft u. a. m.

Ueberrascht sehen wir die Einfachheit, fast Aermlichkeit dieses ganzen Zimmers und seiner Ausstattung, die fast schmucklosen Wände, die niedrige Decke über uns; wir empfinden den großen Contrast dieser überaus bescheidenen, rührenden Einfachheit der Wohnung zu der Genialität, zu dem himmelanstrebenden Schwung der Dichtung Schiller’s, und fast will es uns bedünken, daß dem genialen Vertheidiger der politischen, der Gedanken- und Religionsfreiheit diese Wände viel zu eng, diese Decke viel zu niedrig gewesen sein müsse. Und doch, wie sehr harmonirt diese Einfachheit mit dem schlichten, aller luxuriösen Bequemlichkeit abholden Wesen Schiller’s, und vielleicht urtheilte er ebenso, wie sein Freund Goethe hinsichtlich seines fast ebenso einfachen Arbeitszimmers dachte und sich äußerte: „Ich bin in einer prächtigen Wohnung sogleich faul und unthätig; geringe Wohnung dagegen, wie dieses schlechte Zimmer, ein wenig unordentlich, ein wenig zigeunerhaft, ist für mich das Rechte; es läßt meiner inneren Natur volle Freiheit, thätig zu sein und aus mir selber zu schaffen.“

Und in diesem kleinen Zimmer schuf Schiller während seiner letzten drei Lebensjahre die letzten unvergänglichen Meisterwerke seiner Muse. Dort am Fenster, stand früher der – jetzt in dem Schlafcabinet befindliche – Schreibtisch, welchen Schiller sich nach eigener Idee (mit Kurbel, Damenbrett etc.) herrichten ließ, und welcher ihm, wie er an Freund Körner berichtete, zwei Karolin gekostet hat; in einem der Zugfächer desselben pflegte er faule Aepfel aufzubewahren, da deren Geruch, wie er meinte, seinen Nerven wohlthuend war. Jetzt steht an dieser Stelle ein anderer, von Schiller’s Tochter, Frau von Gleichen, hierher verehrter Arbeitstisch des Dichters, nebst dem lederbezogenen einfachen Arbeitsstuhle. Auf dem Tisch steht ein Himmelsglobus, und sein graumarmorner Briefhalter (von der Prinzessin von Preußen, jetzt deutschen Kaiserin hierher verehrt). Darauf liegen eingerahmt drei Locken von Goethe die eine gepudert, die andere Haare aus Goethe’s Zopf, die dritte Haare Goethe’s im Tode – ein Geschenk der Wittwe Riemer’s. Ferner liegt dort der Brief Schiller’s an seine Schwester Christophine über seine Lage nach der Flucht, und der Brief desselben an den Hofschauspieler Graff, worin er ihm für die treffliche, verständnißvolle Darstellung des Wallenstein Dank ausspricht. An der Wand daneben hängt von Schiller’s Hand das Verzeichniß der im „Wilhelm Tell“ agirenden Personen, mit Bleistiftangaben der Namen der Künstler.

Hier war es, wo Schiller die Briefe an seine Lieben und Freunde, an Christophine, Körner, Goethe etc. schrieb; hier dichtete er die „Braut von Messina“ und, auf Andringen Goethe’s in vier Tagen, 4. bis 8. November 1804, die „Huldigung der Künste“; hier begann er endlich den Demetrius.

Schon längst kränkelte der geniale Dichter. Goethe, als er ihn kennen lernte, glaubte, er lebe keine vier Wochen mehr, und ebenso erzählte Meyer von dem ersten Zusammentreffen mit Schiller, daß er ihm sehr krank, sehr nervenleidend erschien und sein Gesicht dem Bilde des Gekreuzigten glich. Zwar hatte er, um mich Goethe’s Ausdrucks zu bedienen, eine gewisse Zähheit; er hielt sich noch diese Reihe von Jahren und hätte sich bei gesünderer Lebensweise noch länger halten können. Gegen Ende des Jahres 1804 hin aber wurde, wie er selbst sagt, seine Gesundheit so hinfällig, daß er jeden freien Lebensgenuß gleich mit wochenlangem Leiden büßen mußte.

„Und wie er athemlos, in unsrer Mitte,
Im Leiden bangte, kümmerlich genas,
Das haben wir in traurig schönen Jahren
– Denn er war unser – leidend miterfahren“

– es war dieses schöne Wort Goethe’s leider volle Wahrheit, und mit Beginn des Jahres 1805 erfüllte Schiller’s Freunde bange Ahnung. Bei Abfassung des Neujahrsbriefes an Schiller kamen Goethe zufällig die Worte „das letzte neue Jahr“ in die Feder; entsetzt zerriß er das Billet und schrieb ein neues, konnte sich aber auch da nur mit Mühe zurückhalten, etwas vom „letzten Neujahrstage“ zu schreiben.

Als er den nämlichen Tag die Frau von Stein besuchte, erzählte er ihr, was ihm begegnet, und bemerkte, es ahne ihm, daß entweder er oder Schiller in diesem Jahre sterben werde. Wenige Wochen später lagen Beide schwerkrank darnieder. Zwar erholte sich Schiller wieder und konnte seinen Freund Goethe besuchen; mit langem herzlichem Kusse hielten sich Beide umschlungen. Schiller konnte am 5. März an Körner schreiben: „Gottlob, es ist jetzt vorbei, und ich bin schneller, als ich hoffen könnte, wieder zu Kräften, so daß ich auch wieder zu arbeiten angefangen.“ Doch auch ihn erfüllte neben der Hoffnung düstere Sorge. Am 25. April begann er seinen letzten Brief an Körner mit den Worten: „Die bessere Jahreszeit läßt sich endlich auch bei uns fühlen und bringt wieder Muth und Stimmung, aber ich werde Mühe haben, die harten Stöße seit neun Monaten zu verwinden, und ich fürchte, daß noch etwas davon zurückbleibt; die Natur hilft sich zwischen vierzig und fünfzig nicht mehr so, als im dreißigsten Jahre; indessen will ich mich ganz zufrieden geben, wenn mir nur Leben und leibliche Gesundheit bis zum fünfzigsten Jahre aushält.“ Doch selbst dieser so bescheidene Herzenswunsch sollte nicht in Erfüllung gehen. Neue Erkrankung heftigster Art warf ihn wieder auf das Schmerzenslager. Es ist das Bett, vor welchem wir hier in der Ecke des Arbeitszimmers stehen. Dasselbe stand früher in dem anstoßenden kleinen Schlafcabinet, bis Schiller es der andauernden Krankheit wegen in sein Arbeitszimmer schaffen ließ.

Hierher ließ er vierundzwanzig Stunden vor seinem Tode nach einer heftigen Fieberphantasie, als das Bewußtsein wiederkehrte, sein jüngstes Kind kommen. Er wendete sich mit dem Kopfe um nach dem Kinde, faßte es bei der Hand und sah ihm mit unaussprechlicher Wehmuth in’s Gesicht; dann fing er bitterlich zu weinen an, steckte den Kopf in das Kissen und winkte, daß man das Kind wegbringen möchte. Gegen Abend dieses Tages, des 8. Mai, verlangte er, man solle den Vorhang des Fensters öffnen, er wolle die Sonne noch einmal sehen. Es geschah, und mit heiterem Blick schaute er in den schönen Abendstrahl. In inniger Liebe zu seiner Frau, zu seinen Kindern, mit dem letzten, letzten Kusse der Gattin sah er dem Ende entgegen. Am Morgen des folgenden Tages, Donnerstag, 9. Mai 1805, hatte er schon das Bewußtsein verloren; Abends halb sechs Uhr drückte er seiner Frau, die hier neben seinem Bett auf den Knieen lag, still die Hand; plötzlich fuhr es wie ein elektrischer Schlag über sein Gesicht; sein Kopf sank zurück – er verschied.

Es ist Abend; die Sonne wirft wie damals durch das Fenster ihr goldiges Licht auf das Sterbebett, welches jetzt von Verehrung und Liebe mit Kränzen und Bouquets erfüllt ist. In tiefer Rührung blicken wir auf das über dem Bette hängende Schiller’sche Portrait von Jagemann und auf dessen Bild des entschlafenen Dichters; die ganze ergreifende Scene jenes 9. Mai tritt uns vor die Seele, und mit inniger Wehmuth scheiden wir von diesem Zimmer und von dem Schillerhause. Doch nein, wir können es nicht, ohne vor der Thür des Hauses noch einen Augenblick in Erinnerungen zu verweilen. Hier war es, wo am 12. Mai 1805 Nachts ein Uhr, während aus dem Innern des Weinen und Trauerklagen hörbar waren, zwölf junge Beamte und Künstler die Leiche des allgeliebten, allbetrauerten großen Dichters übernahmen und leise schluchzend zum Cassengewölbe auf dem Friedhofe trugen. Dort sollte nur seine provisorische Begräbnißstätte sein; man gedachte ihm ein Denkmal zu stiften auf einem neuen, erst projectirten Gottesacker, wohin er dann übergeführt werden sollte – eine Idee, die, wenn auch erst nach Jahren, zur Ausführung gekommen ist. In der Fürstengruft auf dem neuen Friedhofe ruht Schiller neben Karl August und neben Goethe.


An den Karpfenteichen der Niederlausitz.

Nicht mit den Reizen hoher landschaftlicher Schönheit geschmückt und von der Natur nicht mit reichem, ertragfähigem Boden gesegnet, hat die Niederlausitz erst spät sozusagen Stellung genommen unter den bevorzugteren Schwesterlandschaften Deutschlands. Und doch findet sich hier des Beachtenswerthen, ja Anziehenden gar Vieles. Hat doch an dem oberen und mittleren Laufe der [760] Spree, wenige Meilen von der Hauptstadt des deutschen Reiches entfernt, ein fremdes Volk seine Nationalität bewahrt, mit fremdem Gruße, in phantastischer Tracht schreitet noch heute die zierliche Wendin an uns vorüber. Unsere Teiche und Canäle zeigen gar manches idyllisches Bild, und die stolzen, hohen Bäume gewähren unseren Parks einen Schmuck, welcher wo anders nur selten in Kunstgärten gefunden wird, Muskau und Branitz aber, die Schöpfungen des Fürsten Pückler, des gewandten und feinsinnigen Schriftstellers, des großen Gartenkünstlers, welcher jetzt in der Mitte seiner letzten Schöpfungen in einer Pyramide seinen ewigen Schlaf hält, haben Weltruf.

Auch die Industrie der Niederlausitz hat sich von Jahr zu Jahr mehr emporgeschwungen. Unsere Teiche dienen nicht allein der Belebung und Verschönerung der Landschaft, ihr Zweck ist ein wesentlich praktischer. Die dortige Karpfenzucht hat große Resultate aufzuweisen; in Hamburg, um nur ein Beispiel anzuführen, besiegte der Spreewaldkarpfen den böhmischen.

Die sogenannte Karpfenbörse hat in Cottbus ihren Sitz. Jährlich, nämlich am ersten Montag des Cottbuser Herbstmarktes entwickelt sich im Hôtel Ansorge daselbst, dessen Ruf anerkannt ist, ein rühriges Leben. Die Fischhändler aus Halle, Leipzig, Dresden, Magdeburg, Posen – wer nennt die Städte, nennt die Namen alle? – unter ihnen Firmenvertreter wie Kaumann-Berlin, F. J. Meyer-Hamburg, der „Karpfenkönig“ Fritsche, haben sich aus den verschiedensten Weltgegenden herbegeben und warten der „Karpfenbarone“. Mit diesem Namen bezeichnet man Züchter ersten Ranges, wie Mende-Dobrilugk, dem Niemand den Ruf streitig macht, die größten Karpfen zu züchten, von Löwenstein und Faber mit je 6 bis 800, Berger-Peitz mit mindestens 2000 Centnern. Diese Herren tagen in einem gesonderten Saale als Fischereiverein unter der sachkundigen Leitung des Herrn von Treskow, um die Fragen des Tages zu besprechen und annähernd den zu fordernden Preis für den Karpfen zu bestimmen. Nachdem dieses Geschäft erledigt, beginnen die eigentlichen Abschlüsse. Das Gewicht nur der Karpfen aus der Nieder- und Oberlausitz, welche durch ihre Züchter in Cottbus auf der Börse repräsentirt werden, beträgt 8 bis 10,000 Centner, die Zahl der Fische 2 bis 300,000.

Schon diese einfache Thatsache dürfte zur Vergleichung mit den Leitungen der künstlichen Fischzucht, für welche so viel Interesse gezeigt wird, anregen. Bekanntlich ist die Hebung der Fischzucht seit den Schriften des Professor Coste vom Collége de France ein Tagesthema geworden, und wenn auch die glänzenden Resultate, welche man in Aussicht stellt, die Flüsse, Teiche und Seen mit Fischen zu beleben, für Frankreich nur zum geringen Theil erreicht worden sind, so arbeitet doch die von der französischen Regierung zu Hüningen errichtete Musteranstalt unter deutschen Beamten erfolgreich weiter, und der deutsche Fischereiverein sucht Interesse für Hebung der Fischzucht in allen Kreisen unserer Bevölkerung zu erwecken. Ob die Erfolge den Erwartungen entsprechen werden, das muß freilich die Zeit lehren. Bis jetzt sind eigentlich nur in der künstlichen Zucht der Edelfische Erfolge zu verzeichnen; es scheint, als ob die Edelfische eine zwar willkommene Bereicherung unserer Flüsse sein werden, aber die Salmoniden allein werden schwerlich je ein preiswerthes Nahrungsmittel für das Volk abgeben können. Der Fischereiverein wird besonders auf Reform der Gesetze zu sehen haben; es ist im Fischhandel noch manches von der Willkür des Einzelnen abhängig, denn während in Berlin jetzt fleißig Aale confiscirt werden, weil sie die gesetzmäßige Größe nicht haben, erkennt man in Pommern, woher circa 90 Procent der in Berlin zum Verkauf gestellten Aale kommen, nicht nur die dort verpönte Größe willig als Verkaufsgröße an, sondern verpachtet auch für wenige Groschen in der Winterzeit Eisen zum Fang von Aalen an Jedermann; es wird bei diesem Aalfang unter dem Eise die gesetzliche Größe der Fische natürlich nicht untersucht.

Indeß wir kehren zur Niederlausitz zurück und erfreuen uns der Ergebnisse der natürlichen Fischzucht, welche still und geräuschlos, wie alles wahrhaft Tüchtige, auf eigenem Wege zu ihrer jetzigen Höhe gelangt ist. Und wie viele Vorurtheile waren zu beseitigen, wie viele Anschauungen, welche sich in naturwissenschaftlichen Werken breit machen, zu bekämpfen, wie viele Erfahrungen zu sammeln, bevor es die Lausitz dahin bringen konnte, ihrem Culturfisch, dem Karpfen, sein über ganz Deutschland sich erstreckendes Absatzgebiet zu sichern!

Doch begeben wir uns nun zu diesen Teichen, um an Ort und Stelle Einblick in Zucht und Fang zu nehmen! Die genannten Teiche, einige siebenzig an der Zahl, gebieten über eine Wasserfläche von circa 5000 Morgen und liefern jetzt einen Ertrag von etwa 2000 Centner jährlich.

Sehen wir uns zuerst einen der kleinen Teiche, einen sogenannten Streichteich an! In ihm setzt eine bestimmte Anzahl von Milchnern und Rögnern den Samen ab. Besondere Sorgfalt erfordert hier die Behandlung des Teichbodens, welcher am besten durch vorausgegangene Bestellung entsäuert und nahrungsreich gemacht wird: es ist zu wünschen, daß er vor dem nachtheiligen Einfluß des Windes geschützt ist. Er ist absolut hechtfrei zu halten und empfängt gern einen großen Theil seines Wassers direct vom Himmel; denn Himmelsteiche sind in der Regel die besten Streichteiche. War der Boden nun nicht zu nahrungsreich, haben Wind und Wetter sich als nicht ungünstig erwiesen, so wird die kräftige Brut im nächsten Frühjahr in den Streckteich versetzt. Im Herbst nämlich ist ein Transport der jungen Karpfen mit Gefahr verbunden; übersteht doch kein junges Exemplar die Gefahren des Winters, wenn ihm bei dem Umsetzen die Schuppen verletzt werden, selbst wenn die Beschaffenheit des Teiches ein noch so bequemes Winterlager gewährt. Der Streckteich, in welchem der Karpfen so weit heranwachsen soll, daß er im Abwachsteich marktfähig wird, hat ihm möglichst nahrungsreichen Untergrund zu bieten. Ist der Karpfen im Laufe des Sommers genügend gestreckt, also gewachsen, so übergiebt man ihn im nächsten Frühjahr dem Abwachsteich, in den meisten Fällen aber muß er noch einen zweiten Sommer sich strecken, und dann wandert er in den Streckteich zweiter Ordnung. Im Abwachsteich, welcher unter allen Teichen die größte Wasserfläche umfaßt, werden nur noch 20 bis 40 Karpfen auf den Morgen eingesetzt und zwar mit einem Beisatz von anderen Fischen im Verhältniß von etwa 1:20. In diesem Teiche nun spielt außer dem Karpfen der Hecht seine Hauptrolle; er ist, wie allgemein bekannt, das Factotum des Karpfenteiches. Mag es auch in das Gebiet der Sage gehören, daß der Hecht dem trägen Karpfen Bewegung verschafft, sodaß dieser zu besserem Appetit gelangt, er ist unentbehrlich, weil er die wilden Fische tilgt, welche dem Karpfen die Nahrung schmälern, ihn am Streichen hindert, oder wo dies geschehen ist, die wilde Karpfenbrut beseitigt.

Wie fast alle Geschöpfe in der Jugendzeit die allerschwersten Krankheiten zu überstehen haben, muß auch der Karpfen bis zu dem Tage, welcher ihn dem Abwachsteiche zuführt, die meisten Fährlichkeiten überwinden. Im Abwachsteiche werden äußere Feinde ihm nur noch selten gefährlich – Fischotter zwar und Seeadler finden ihre Beute – aber Raubfische bedrohen ihn nicht mehr, und Schwan und Eisvogel, Enten und Taucher, Frösche und Unken sind nur dem Laich oder der Brut gefährlich. Auch Krankheiten stellen sich meist nur bei dem jungen Karpfen ein: Polypen machen einen Karpfen zur Aufzucht untauglich; Bandwürmer umschnüren seine Eingeweide, bis er abmagert und stirbt; Läuse quälen ihn oder führen die Wassersucht herbei. Aber auch das Wasser selbst kann ihm verderblich werden. Bedarf doch Zu- und Abfluß des Wassers absolut genauer Regelung, und auf correcte Spannung zu halten, ist eine der Hauptaufgabe der Teichbeamten; ein Graben, welcher schädliches Wasser zuführt, ein plötzliches Anschwellen des Teiches nach einem starken Gewitterregen, das Einschlagen des Blitzes in den Teich haben schon oft der Zucht bedeutenden Schaden zugefügt.

Doch der Herbsttag ist genaht, an welchem der Fang des marktfähigen Karpfens vor sich geht, und wir begeben uns zum Teufelsteich bei Peitz, dem größten der Domäne. Drei Wochen vor diesem Tage hat bereits das Ablassen des Teiches begonnen. An den tiefen Fangstellen hat während dieser Zeit absolute Ruhe zu herrschen, da sonst der feinhörige, furchtsame Fisch die tieferen Gräben, welche zur Fangstelle führen, nicht heruntersteigt, mithin der Fang ein überaus schwieriger und zeitraubender sein würde. Am Tage des Zuges selbst beginnen die Treiber am frühen Morgen die Gräben mit lautem Halloh entlang zu waten, bis die Fische auf die Fangstelle, welche circa einen Morgen Wasserfläche umfaßt, zusammen getrieben worden sind. Jetzt werden die Gräben mit Stellnetzen abgesperrt, und nun erst beginnt der

[761]

Abgang eines rumänischen Vieh- und Arzneitransports nach Plewna.
Nach Vorlagen von H. Trenk in Bukarest.

[762] Fang. Zwei Watnetze, von je drei Fischern gehandhabt, liefern mit jedem Zuge etwa hundert Centner Karpfen. Die Fische werden in Kübeln zur Wiegstelle getragen und auf Platten ausgeschüttet. Sofort werden Hechte, Karauschen, Schleie etc. abgesondert, die kleinen Barsche aber, welche halbzerdrückt auf die Platte gelangen, können jetzt nichts Besseres thun, als mit Eleganz vom süßen Leben Abschied zu nehmen, um etwa Acker und Wiese zu düngen.

Von den Platten werfen vier geübte Hände die Karpfen in die Schale. Steigt der Centner bei einer gewissen Anzahl von Fischen, so wird mit äußerster Schnelligkeit der Inhalt der Schale einem Fasse anvertraut, welches auf einem Wagen steht; drei gefüllte Fässer geben eine Wagenladung.

Im schärfsten Trabe eilen nun die Pferde mit ihrer kostbaren Ladung dem Hammergraben zu, wo die Fische in „Dröbel“ umgeladen werden. Dröbel aber sind durchlöcherte, verdeckte Kähne, deren Oberfläche mit dem Wasserspiegel gleich ist; durchschnittlich fassen sie fünfundzwanzig Centner, und in ihnen werden die Karpfen in mühseliger Fahrt von wettergebräunten, abgehärteten Schiffern zum Schwielochsee geführt. Dort werden die Fische in größere Dröbel umgeladen, die je etwa hundert Centner fassen; im Schlepptau der Lastkähne erreichen diese nun in etwa einer Woche Berlin, in vier bis fünf Wochen aber erst Hamburg, Magdeburg etc. Während dieser ganzen Fahrt ist Aufmerksamkeit das oberste Gesetz der Dröbeltreiber und -begleiter. Nicht nur, daß die Fahrt namentlich nach und durch Berlin oft für die Treiber und Fische wegen zu vielen oder zu wenigen Wassers mit Gefahren und Opfern verbunden ist, es muß jeden Abend der ganze Karpfenbestand revidirt werden, jeder kranke oder todte Fisch aber ist zu entfernen; hin und wieder geschieht es auch, daß ein Dröbel zerschellt.

Wenn die erstaunlichen Resultate der natürlichen Fischzucht um so höher anzuschlagen sind, als sie den oft unbequemen Verhältnissen mühselig abgerungen werden müssen – betragen doch z. B. die Ausgaben des Peitzer Teichpächters etwa hunderttausend Mark – so weist doch die Lausitz noch ertragsfähigere Leistungen aus jenen Teichen auf, in welchen Goldfische gezüchtet werden. Besonders interessant aber sind die Resultate, welche der bekannte Züchter der großen Madnimaräne, Herr Rittergutsbesitzer Eckart in Lübbinchen, erzielt: in prächtig gewässerten Teichen, welche jetzt auch durch die in ihnen gefundenen Pfahlbauten bei Alterthumsforschern ihren guten Klang haben, spiegeln sich im Glanze der Sonne Goldfisch und Orfe, Forelle und Elritze, Lederkarpfen und Maräne, und wenn jetzt in Amerika die kostbarste aller Maränen, die Maräne des Madnisees, über welche in neuester Zeit die Regierung in Pommern Grenzsperre verhängt hat, gezüchtet werden kann, so ist es das Verdienst Eckart's, welcher zuerst angebrütete Maräneeier glücklich über den atlantischen Ocean gesandt hat. Wie dieser rühmlich bekannte Fischzüchter seine bewundernswerthen Resultate nur durch rastloses Probiren und Studiren erreicht hat, so werden wir, wollen wir Flüsse und Seen, Teiche und Aquarien reich und mannigfaltig beleben, rastlos zu arbeiten haben; denn die Bedingungen, unter welchen die verschiedenen Arten von Fischen gedeihen, sind zum größten Theil noch zu ergründen.

Der Staat aber wird auf die Fischzucht ein aufmerksameres Auge als bisher zu richten haben. Revision der Gesetze im Sinne des Praktischen und Nützlichen, Durchgreifen in der Handhabung dieser Gesetze in Bezug auf die wilde Fischerei, Beförderung der Zucht nicht nur des Edelfisches, Weisung an die Bahnen, möglichst billig und schnell zu expediren, vor Allem aber Errichtung von Probirstationen, womöglich in Verbindung mit den landwirthschaftlichen Akademien, endlich Heranbildung von erfahrenen Beamten und kenntnißreichen Berathern – das sind die Forderungen, welche wir im Interesse der Sache zu stellen haben.
Dr. Edm. Veckenstedt.




Junker Paul.
Erzählung von Hans Warring.
(Fortsetzung.)
10.

„Nun, da sind Sie endlich,“ sagte Kayser. Reinhardt's Hand herzlich schüttelnd. „Sie haben sich nicht als ebenbürtiger, gleichgesinnter Bruder Ihrer glücklichen Schwester gezeigt. – Wir haben länger als eine halbe Stunde auf Sie warten müssen.“

„Pflicht geht über Vergnügen, wie Sie wissen. – Ich wollte den Schluß der Fabrik abwarten.“

„Es hat sich doch Nichts ereignet?“

„Durchaus Nichts! – Ich sehe, Sie haben meiner Schwester die Freude gemacht, Fräulein Kayser ihr zuzuführen.“

„Ja!“ sagte Marie heiter, „auch weiß ich bereits, daß ich nicht mehr vorstellen darf, da die Bekanntschaft schon ohne mich gemacht worden.“

Max verbeugte sich und reichte Hanna die Hand zum Gruße. Als er, vor ihr stehend, sein Auge auf ihr ruhen ließ, da wirkte ihre ganze Erscheinung, der Blick, mit dem sie zu ihm aufschaute, das Lächeln ihres Mundes und die leise, anmuthige Bewegung des zierlichen Kopfes, mit einer sympathischen Macht auf ihn, die ihm das Blut in heißen Wellen zum Herzen trieb. Er gab sich nicht Rechenschaft, worin dieser Zauber bestand. Das aber fühlte er, daß er nicht allein in der Schönheit des Mädchens lag, sondern daß Alles an ihr die höchsten Ansprüche seines Geschmackes befriedigte.

„Ich hätte gewünscht, Sie wären dabei gewesen, Reinhard, als diese beiden jungen Damen sich gegenseitig ein Bischen auf den Zahn fühlten,“ sagte Kayser lachend. „Sie haben sich Beide als gute Diplomaten gezeigt. Zuerst war es ein leises Sondiren, verbunden mit einem vorsichtigen Verschweigen der eigenen Meinung. Dann wurde man wärmer und rückte unverblümter mit seinen Ansichten heraus. Und zuletzt war es ein jubilirendes Zusammenstimmen – ich sage Ihnen, die reinste Harmonie, mein Junge – Alles stimmte, jedes Wort der Einen fand ein Echo im Busen der Anderen. Und ich habe aus der Unterhaltung auch Nutzen gezogen. Ich habe mich belehren lassen, daß Beethoven größer ist, als Alles was vor ihm und nach ihm gelebt hat, daß Heyse der Held des Tages ist für Alles, was Frau heißt, daß ein blasses Himmelsblau – –“

„Sie Spötter mögen noch hinzufügen,“ fiel Marie ihm schnell in's Wort, „daß wir Beide, Hanna und ich, auf Grund dieser Uebereinstimmung beschlossen haben, gute und treue Nachbarschaft zu halten und, ohne uns von Ihrem Spotte abschrecken zu lassen, gemeinsam das Studium unserer Lieblingsautoren und Componisten zu treiben. Zwar weiß ich,“ fügte sie mit einen leisen, boshaften Lächeln hinzu, „daß diese Beschäftigungen sehr gegen Ihre Ansichten von Frauenbestimmung verstoßen, aber ich hoffe, Sie werden uns nicht hindernd in den Weg treten, da es auf etwas mehr oder weniger unnützen Plunder in einem so verpfuschten und verfehlten Dasein, wie es das unsrige ist, kaum ankommen kann.“

„Sie haben ein verdammt gutes Gedächtniß, Fräulein Marie.“

„Ich hoffe Sie noch oft davon zu überzeugen, verehrter Herr. Ich habe mir eine kleine Blumenlese der liebenswürdigsten und anmuthigsten Ihrer Aussprüche gemacht, und es soll mir eine ganz besondere Freude sein, dieselben dem Dunkel der Vergessenheit zu entziehen. Sie sollen erfahren, welche pietätvolle Schülerin Sie an mir haben.“

„Sie sind heute sehr grausam, Fräulein Marie. Ich hätte nicht geglaubt, daß Sie ein so hartes Herz haben.“

„Ein englischer Chronometer, Herr Kayser, hat gar kein Herz, weder ein hartes noch ein weiches. In seinem Innern bewegt sich nur ein Pendel mit regelmäßigem Ticktack. – Aber da fällt mir ein, daß ich Gefahr laufe, den Ruhm meiner Pünktlichkeit zu verlieren, wenn ich jetzt länger mit dem Thee zögere. Ich habe draußen unter den Linden auftragen lassen – bitte, wollen wir gehen?“

[763] Sie nahm seinen ihr dargebotenen Arm mit einen Lächeln an, das ihn ihre Grausamkeit vergessen ließ. Mit Selbstgefühl führte er sie den Weg entlang; das andere Paar folgte. Auf Hanna’s Gesicht hatte während dieses Gespräches ein sonniges Lächeln geschwebt, und allerlei Gedanken bewegten sich in ihrem Köpfchen. Wäre es möglich, sollte der Onkel wirklich ein ernstes Interesse für seine hübsche, anmuthige Nachbarin fühlen – derselbe Onkel, dessen kurze, barsche Briefe ihn ihr als einen Weiberfeind, einen Brummbär hatten erscheinen lassen?

Als man den Lindenplatz im Garten erreicht hatte, war im Westen die Sonne bereits versunken. Aber der Widerschein ihrer Gluthen färbte die weißen Wölkchen, die hoch oben im tiefen Blau dahinsegelten, mit rosigem Lichte. Auf dem höchsten Zweige eines Tulpenbaumes saß ein Vögelchen und sang der Sonne ein Jubellied nach, und hoch über der Erde schossen noch einige Schwalben in Zickzacklinien hin und her, als könnten sie sich nicht losreißen von so viel Glanz und Schönheit, als wollten sie die Freuden des wonnigen Tages bis auf den letzten Tropfen auskosten.

Hanna’s Leben war bisher so ruhig und eintönig verflossen, sie hatte so wenig gesellige Freuden kennen gelernt, daß Alles, was ihr hier geboten wurde, für sie ein neuer, ungekannter Genuß war. Mariens heitere Laune regte auch sie an. Muntere Scherzworte flogen herüber und hinüber, und wenn auch zuweilen Hanna’s Augen sich hinter ihrer dunklen Wimper verbargen und sie unter dem ernsten, ausdrucksvollen Blicke, der auf ihr ruhte, sich plötzlich von einer wunderbaren, zugleich süßen und doch bangen Befangenheit ergriffen fühlte, welche sie oft verstummen machte, so war doch durch Mariens belebte Unterhaltung dafür gesorgt, daß keine Pause im Tischgespräche entstand. Als man sich in bester Laune erhob, war selbst der letzte Schimmer des Tageslichtes schon lange verschwunden, und über die Bäume war der Mond heraufgekommen und lugte durch das Geäste, silberne Lichter über Rasen und Weg streuend. Kayser, der kein Freund von Abendkühle und Thau war, mahnte zur Rückkehr in’s Haus, und Max, der hoffte, Hanna noch einmal singen zu hören, stimmte lebhaft bei.

„Ich möchte Sie wohl um Rath fragen, Fräulein Marie,“ sagte Kayser, als man wieder in den von mildem Lampenlichte erhellten Saal getreten war, „denn ich wüßte in der That Niemand, von dem ich mir so gern wie von Ihnen rathen ließe. Sie sagten mir, daß die Kleine ein großes Musikgenie sei – nicht wahr? Ich halte es daher für meine Pflicht, ihr jede Gelegenheit zur Ausbildung dieses Talentes zu gewähren. Sie soll, da sie jetzt länger bei mir bleiben wird, einen Flügel haben. Bitte, was meinen Sie – Erard oder Bechstein?“

„Herr Kayser, ich muß mich höchlich über Ihre Inconsequenz wundern.“

„Wundern Sie sich immerhin, aber antworten Sie mir: Erard oder Bechstein?“

„Ich weiß nicht – beide Arten gelten für gleich gut.“

„Ich habe es mir aber in den Kopf gesetzt, daß Sie darüber bestimmen sollen.“

„Fragen Sie doch Ihre Nichte, Herr Kayser!“

„Setzen wir den Fall, Sie hätten für sich zu wählen – Erard oder Bechstein?“

„Nun denn: Bechstein!“ sagte Marie lachend.

„Abgemacht – aber ich bin noch nicht zu Ende. Sehen Sie, es wird kaum anders angehen – da doch die Kleine bei mir ist – ich muß hin und wieder Damenbesuch bei mir sehen.“

„Ich fürchte, Sie werden ‚die Kleine‘ so verwöhnen, Herr Kayser, daß ihr die Pension hernach etwas unschmackhaft erscheinen wird.“

„Vielleicht läßt es sich einrichten, daß sie bei mir bleibt, wenigstens so lange, bis sich eine gute Versorgung für sie findet. Allerdings müßte dann in meinem Haushalte eine Veränderung getroffen werden. Denn Hanna ist noch zu jung, um selbstständig die Hausfrau zu spielen.“

Er heftete bei diesen Worten seine Augen unter seinen buschigen Brauen hervor so scharf auf seine Gesellschafterin, daß der geheime Sinn, welchen er mit dieser Andeutung verband, auch einem unbefangeneren Zuhörer, als Marie es war, nicht unverständlich hätte bleiben können. Sie aber hielt den Blick tapfer aus – sie hatte nicht die Absicht, sich durch das Gefühl der Dankbarkeit auch nur zum geringsten Entgegenkommen bewegen zu lassen. Ihr Frauenstolz sträubte sich gegen den Gedanken, daß ihr reicher Nachbar durch den ihr und ihrem jüngeren Bruder geleisteten Dienst sich vielleicht zu Ansprüchen an sie und ihre Person könnte berechtigt fühlen, oder daß er doch wenigstens auf Grund dieses Dienstes eine schnelle Gewährung nach einer mühelosen Werbung voraussetzen könnte.

„Glauben Sie doch das nicht!“ entgegnete sie daher unverändert freundlich und heiter, „viele Mädchen heirathen schon mit achtzehn Jahren und werden gute und umsichtige Hausfrauen. Ich prophezeie Ihnen, daß Ihre Nichte Ihren Haushalt zu Ihrer höchsten Zufriedenheit führen wird. Man merkt es ihr leicht an, daß sie trotz ihrer Jugend an Pflichttreue gewöhnt ist.“

„Aber sie ist zu jung und unerfahren,“ sagte er ungeduldig.

„Das ist ein Fehler,“ antwortete sie, „der mit jedem Tage mehr verschwindet. Uebrigens werde ich ihr gern mit Rath und That zur Seite stehen, wenn ihr und Ihnen dadurch ein Dienst geschieht.“

„Nun, das ist Etwas, wenn auch noch sehr wenig,“ entgegnete er wieder etwas freundlicher gestimmt. „Und das Erste, wofür ich Ihrer Rath in Anspruch nehmen möchte, wäre die Einrichtung einiger Zimmer, für die ich frische Tapeten und neue Möbel anzuschaffen gedenke. Ich werde Sie jetzt hoffentlich auch einmal bei mir sehen – dann sprechen wir wohl ausführlicher darüber.“

„Sehr gern, obgleich Ihre Nichte das ebenso gut könnte.“

„Lassen Sie mich mit der Kleinen in Ruhe! Sie ist ein Kind, mir ist aber nur ein Urtheil einer Frau zu thun.“

„Gut,“ sagte Marie lachend. „Nun aber bitte ich, Platz zu nehmen, Herr Kayser, denn ich gedenke ‚die Kleine‘, die übrigens genau so groß ist wie ich, noch um einige Lieder zu bitten. – Liebe Hanna! Sie wissen, was wir über deutsche Volksmelodien gesprochen haben, werden wir heute noch einige hören?“

Die Angeredete wandte sich schnell, wie plötzlich aufgeschreckt, um. Wären Marie und Kayser weniger mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt gewesen, dann hätten sie bemerken müssen, daß sich auf Hanna’s Gesicht eine tiefe Bewegung spiegelte. Mit gesenktem Haupte ging das junge Mädchen zum Flügel. Aber Max hatte den Platz an demselben schnell eingenommen, in vollen Accorden präludirend, um ihr und sich selbst Zeit zu gewähren, sich zu fassen. Er mußte sich gestehen, daß die Unterbrechung zur rechten Zeit gekommen war, denn deutlicher, als er es bei ruhigem Blute billigen konnte, hatte er den Eindruck gezeigt, den sie auf ihn ausgeübt. Er machte sich bittere Vorwürfe darüber; denn durfte er daran denken, die Zukunft eines jungen, für Freude und Glück geschaffenen Wesens an sein sorgenvolles Leben zu knüpfen? Hatte er ein Recht, seinem Herzen zu folgen? Besitzt in dieser Welt des socialen Elends dieses Recht nicht nur ein reicher Mann? Er durfte nicht an Liebe, er mußte nur an Pflichten denken, und in diesem Falle war seine Pflicht identisch mit: Geld! Ein heftiger Sturm ging durch sein Gemüth, und die Töne, welche er dem Instrumente entlockte, gaben Kunde davon. Einige Schritte von ihm entfernt stand Hanna, mechanisch in den Notenbüchern blätternd. Ihre Hand bebte noch von dem Kusse, den er darauf gedrückt, und noch fühlte sie das geschwinde Zittern ihres Herzens, verursacht durch seinen Blick, seine Worte und den Ton seiner Stimme.

Während Marie und Kayser am jenseitigen Ende des Zimmers eine lebhafte Conversation geführt, hatte zwischen Hanna und Max eine Zeitlang ein Stillschweigen geherrscht, wie es oftmals da stattfindet, wo das lebhaft erregte Gefühl sich nicht schnell in die ruhige conventionelle Form zu finden weiß. Das junge Mädchen war an einen Tisch getreten und hatte sich über die Bücher und Bilderwerke, welche darauf lagen, gebeugt. Er hatte neben ihr gestanden, mit den Augen der Bewegung der schlanken Finger folgend, die schneller, als ein kunstverständiger Beobachter es gebilligt hätte, die Blätter des Albums umschlugen. Von der Hand war sein Blick emporgestiegen zu dem holden Gesichte und war auf den gesenkten Lidern und der dunklen Wimper haften geblieben. Da hatte sie plötzlich voll und groß den Blick zu ihm aufgeschlagen und auf den Kupferstich in ihrer Hand gewiesen.

„Ehrenbreitstein –“ sie hatte nicht weiter sprechen können; [764] die Stimme hatte ihr versagt und dunkle Gluth ihre Wange bedeckt, als sie seine Augen – und es waren die beredtesten, die sie je gesehen – mit einem nicht mißzuverstehenden Ausdrucke der Bewunderung auf sich gerichtet sah.

„Ja, Ehrenbreitstein!“ hatte er gesagt, sich tief zu ihr niederbeugend. „Mir knüpfen sich an diesen Namen Erinnerungen, die mir stets unvergeßlich sein werden. Wie unzählige Male habe ich an den Tag zurück gedacht, der uns zusammenführte! Wie oft habe ich gewünscht, Ihnen wieder zu begegnen! Und als ich Sie heute traf und meine stille Hoffnung, Sie als die Nichte meines Nachbars wiederzusehen, bestätigt fand – wie könnte ich Ihnen das Gefühl des Glückes beschreiben, das mich da ergriff, wie Ihnen die Freude schildern, die ich bei dem Gedanken empfand, Sie Wochen, vielleicht Monate lang in meiner Nähe zu wissen! Sagen Sie mir, Hanna, ob auch Ihnen diese Aussicht Freude macht, ob auch Sie noch jenes Tages auf dem Rheine gedenken?“

Er hatte leise und mit einer Stimme gesprochen, welcher man seine innere Bewegung anhörte. Sie hatte nicht zu antworten vermocht, aber das Geheimniß, welches ihre Lippen verschwiegen, hatte er in ihren Augen gelesen. Wie es gekommen war, wußte sie nicht, aber ihre Hand hatte in der seinigen geruht. Er hatte sie festgehalten, als wollte er sie nicht wieder loslassen. Es war, als fühlte sie noch den Kuß, den er darauf gedrückt, und als er sich noch näher zu ihr niedergebeugt, da hatte Marie ihren Namen gerufen, und wie aus einem schönen Traume waren sie emporgefahren.

„Ja,“ sagte Kayser, „deutsche Volkslieder! Das ist ja wieder so ein Punkt der Uebereinstimmung zwischen Ihnen und Hanna, den ich vergessen habe zu erwähnen. Aber wenn wir noch einige hören sollen, muß es bald geschehen – es wird Zeit, Sie von Ihren Gästen zu erlösen.“

Seine Laune hatte sich sichtlich verschlechtert, und in seinem Gesichte kam wieder der mißmuthige Zug zum Vorschein, den Marie schon oft genug an ihm kennen gelernt hatte. Sie sah ein, daß sie versuchen mußte, ihn zu versöhnen.

„Erlösen?“ sagte sie kopfschüttelnd. „Sollte es mir wirklich so wenig gelungen sein, Ihnen meine Freude über Ihren und Hanna’s Besuch zu zeigen?“

„Der Anfang mag möglich gut gewesen sein, das Ende aber scheint so werden zu wollen wie gewöhnlich: nicht zum Wiederkommen auffordernd.“

„Wenn Sie sich freundlichst erinnern wollen, so werden Sie finden, daß niemals ich diejenige gewesen bin, die Veranlassung zum Unfrieden gegeben hat.“

„Ja, Sie waren es doch. Sie haben mich systematisch gekränkt und geärgert; Sie haben mir stets eine ruhige, kühle Höflichkeit gezeigt, niemals eine Spur von Herzlichkeit.“

„Lieber Herr Kayser, ein Chronometer –“

„Zum Henker mit dem Chronometer! Ist Ihr Gedächtniß denn so construirt, daß es nur Raum hat für Worte, die ich im Mißmuth gesprochen?“

„Nein,“ sagte Marie, mit mehr Ernst als bisher sprechend, „es bewahrt auch gute Worte und treue Freundeshandlungen auf. Und deshalb lassen Sie mich Ihnen sagen, daß Sie auf meine Dankbarkeit und Freundschaft stets bauen können. – Da geht auch Max endlich zu einer etwas weniger stürmischen Musik über – es scheint, als ob in seine schrillen Dissonanzen endlich Harmonie kommen will. Ach, unser Lieblingslied, Hanna: ‚Ich hatt’ Dich kaum geseh’n.‘“

Max war nach und nach in die ansprechende Melodie dieses Volksliedes übergegangen und begleitete dann Hanna’s Gesang. In der Nähe gehört, machte ihre Stimme einen noch tieferen Eindruck auf ihn. Jeder Ton perlte silberrein hervor; jeder Klang war von wundervoller Lieblichkeit. Aber er zwang sich dazu, die Sängerin nicht anzusehen. Als die letzten Worte des Liedes:

„Du hast das Herze mein
So ganz genommen ein;
Es zittert in Deiner Hand;
Thu’ ihm kein Leid!“ – –

verklungen waren, erhob er sich rasch vom Flügel und trat auf den Balcon hinaus. Auch über Hanna’s sonnige Heiterkeit hatte es sich wie ein düsterer Schleier gebreitet. Sie hörte nur mit halbem Ohre hin, als Marie um baldige Wiederholung ihres Besuches bat, und auf die Bitte ihres Onkels auch den ihrigen für die nächsten Tage zusagte. Als der Wagen gemeldet und Hanna’s Hut und Shawl gebracht wurde, trat Marie zu ihr, um sie warm einzuhüllen.

„Und nun wollen wir nicht sagen: lebewohl, sondern: auf frohes Wiedersehen!“ sagte sie, während sie das junge Mädchen herzlich küßte. „Ich wünschte von Herzen, Hanna, daß Sie mich lieb gewinnen könnten – ich wünschte, es gelänge mir, Ihnen mit der Zeit mehr zu werden, als eine oberflächliche Bekanntschaft.“

Hanna’s Herz war ein dankbarer Boden für solch’ liebevolle Worte. Sie erwiderte Mariens Entgegenkommen mit gleicher Herzlichkeit. Aber während ihr Mund lächelte, schauten ihre Augen doch ernster, als vorher. Als Max seinen Gästen beim Einsteigen geholfen hatte und ihnen zum Abschiede die Hand in den Wagen reichte, blickte Hanna schüchtern zu ihm auf. Aber sie begegnete nicht wieder jenem Blicke, der ihr Herz in freudigem Schreck hatte schlagen lassen. Sein Auge blickte ruhig und ernst. Ein plötzliches Frösteln durchrieselte sie – sie zog den Shawl fester um sich.

„Hülle Dich nur warm ein, Kind!“ sagte Kayser. „Es ist kalt geworden; wir bekommen anderes Wetter.“ – –

„Welch reizendes Mädchen diese Hanna Kayser ist!“ sagte Marie, als ihr Bruder wieder zu ihr in’s Zimmer trat. „Wie kommt es nur, daß Du Eurer Bekanntschaft früher nie erwähnt hast?“

„Habe ich das nicht? Ich dächte doch, ich hätte Dir davon gesprochen,“ entgegnete Max einsilbig, während er langsam auf und nieder schritt.

Marie ließ das Gespräch fallen und beschäftigte sich einige Minuten schweigend mit dem Ordnen des Zimmers. Als aber der Flügel geschlossen war und Noten und Bücher wieder in bester Ordnung lagen, trat sie entschlossen zu ihm heran.

„Ich habe ein Geheimniß vor Dir, Max, und ich sehne mich danach, es Dir mitzutheilen.“

Er blieb stehen und blickte sie an.

„Was ist’s?“ fragte er dann. „Ist es etwas zwischen Dir und Kayser?“

„Ja, Max, aber –“

„Magst Du ihn leiden, Marie?“

„Es ist nicht das; es ist nicht das,“ entgegnete sie hastig und erröthend. „Es handelt sich nicht um Liebe, Max – es handelt sich um Geld.“

Sie sah nicht, daß ein schmerzliches Lächeln um seine Lippen spielte, als sie ihm in hastigen Worten von dem Freundschaftsdienste Kayser’s erzählte.

„Ich konnte nicht anders, Max,“ schloß sie ihren Bericht, „ich konnte den armen Jungen nicht ohne Hülfe lassen. Jetzt aber, da ich die Sicherheit habe, daß ihm geholfen werden wird, jetzt fällt es mir schwer auf’s Herz, daß ich ein Geheimniß vor Dir habe. Ich hoffe indeß zuversichtlich, daß die Verbindlichkeiten, die ich gegen Kayser eingegangen bin, Deine Sorge nicht noch vergrößern werden.“

„Eine Sorge, und zwar eine große macht mir Deine Mittheilung dennoch. – Also Richard hat wieder Schulden gemacht? – Wie soll das enden, Marie, wenn er, auf Deine Güte bauend, fortfährt, mehr auszugeben, als er darf?“

„Ich fürchte das nicht, Max! Aus seinem Briefe spricht eine so ernste, tiefe Dankbarkeit, so aufrichtige Reue über das Geschehene, daß – ich bin davon überzeugt – ein Rückfall nicht wieder eintreten wird. Du sollst seinen Brief lesen. Noch niemals hat sich sein ehrliches, gutes Herz so deutlich offenbart, wie bei dieser Gelegenheit. Der ernste Geist, der durch seine Worte weht, hat mich bis zu Thränen gerührt. Er macht Andeutungen, die mich sehr nachdenklich gestimmt haben.“

Sie holte aus dem Nebenzimmer einen offenen Brief herbei, den sie ihrem Bruder hinreichte. Während er ihn las, blickte sie ihm über die Schulter, hin und wieder eine Stelle bezeichnend, auf welche sie seine besondere Aufmerksamkeit lenkte. Zuweilen lächelten Beide während des Lesens; dann, als Max das Papier zusammenfaltete, sagte Marie:

„Es unterliegt keinem Zweifel, daß es sich diesmal nicht um eine seiner flüchtigen Galanterien handelt. Aus jedem Worte [765] geht hervor, daß es eine ernste Liebe ist, für die er auf eine ebensolche Gegenliebe hofft, wenn er nicht deren bereits sicher ist. Ist dies der Fall, dann werden wir wohl bald Näheres darüber erfahren.“

„Es scheint mir, als walteten Umstände ob, die ein vorläufiges Geheimniß zur Pflicht machen,“ sagte Max bedenklich. „Spätestens zu Ende dieses Jahres hofft er ganz offen über sein Glück mit uns sprechen zu können. – Nun, ich wünsche dem lieben Jungen den besten Erfolg.“

„Sie muß entweder von vornehmer Geburt oder von großem Vermögen sein,“ sagte Marie, wieder in den Brief blickend. „Ich lese dies aus folgendem Passus heraus – höret: ‚Nur eine tiefe und innige Liebe und der edle, großherzige Charakter des Weibes können einen Mann damit aussöhnen, der Empfangende – nicht der Gewährende zu sein.‘“

„Ja, er schreibt das, und ich gebe ihm darin Recht. Zwingen aber die Verhältnisse zu einer reichen Partie, selbst ohne Liebe, dann, fürchte ich, wird ein stolzer Mann eine unheilbare Wunde empfangen, die für das Glück seiner Ehe sehr verhängnißvoll werden kann. – Was schaust Du mich so fragend an, Marie? Ein armes Mädchen kann ohne Schaden für ihr eheliches Glück einen reichen Mann heirathen, denn für sie liegt nichts Demüthigendes darin, die Empfangende zu sein. Ist der Mann doch naturgemäß dazu verpflichtet, für seine Familie zu sorgen.“

Er beugte sich, als er so sprach, zu ihr nieder, um ihre Stirn zu küssen, dann trennten sie sich. – –

Als Max, ehe er sich zur Ruhe legte, die Straße entlang ging, um nachzusehen, ob in der Fabrik und im Dorfe Alles ruhig sei, da dachte er noch einmal über das heute Erlebte nach, und klarer als je stand vor seiner Seele, daß er nicht noch ein Wesen, das er liebte, in seine Sorgen hineinziehen dürfe. „Es wäre Wahnsinn, wenn ich meiner Schwäche nachgeben würde – Wahnsinn, ein Haus auf so schwankendem Grunde zu erbauen. – Soll ich sie, die ich liebe, vielleicht nach wenigen Jahren verkümmert und gebrochen sehen unter der Last der Sorgen, die ihr an seiner Seite bevorstehen? Immer besser ein muthiges Entsagen, als ein langes Elend! – Ich sehe es ein, mir bleibt nur die Wahl zwischen einem ehelosen Leben – oder einer reichen Heirath.“

(Fortsetzung folgt.)




Fritz van der Kerkhove.
Nachdruck verboten.


Im verflossenen Juni waren in Paris in einem Kunstlocale der Rue Lafitte hundert kleine in Oel gemalte Landschaften ausgestellt, vor welchen mancher Maler Herzklopfen bekam und mancher Weltmensch für eine Stunde zum Träumer wurde. Diese Landschaften, diese gemalten Naturgedanken, so eigenartig, von so wunderbarem Ausdruck, von so schmerzlicher Gewalt und wahrhaft abgründiger Tiefe – wer schuf sie? Ein Kind. Fritz van der Kerkhove starb am 12. August 1873 im Alter von zehn Jahren und elf Monaten. Eine Seele, die den schwächlichen Körper verzehrte. Armer Fritz! Armer kleiner Märtyrer!

Von seinem siebenten Jahre bis zu seinem Tode malte und skizzirte Fritz etwa sechshundert Motive. Sein Vater, ein hochgeachteter Kaufmann in Brügge und geschickter Dilettant in der Genremalerei, legte wenig Werth auf des Knaben Arbeiten, welche ihm mehr absonderlich als bedeutend erschienen.

Nach des Kindes Tode zeigte der Vater einige der Täfelchen dem flämischen Dichter Siret, mit welchem er bis dahin nur oberflächlich bekannt gewesen. Siret, der Poet, erkannte darin, was dem Dilettanten entgangen war: den lebendigen Pulsschlag, den Genius, das Wunder.

Als er auch die übrigen gesehen, veranlaßte er Herrn van der Kerkhove zu einer öffentlichen Ausstellung von hundert der vorzüglichsten Bilder in Brügge, welcher Ausstellungen in Antwerpen, Gent und Brüssel folgten. Aber der Neid der zünftigen Maler ertrug das Genie des Kindes nicht. Es entstand in den belgischen Kunst- und anderen Journalen eine Polemik, welche man für unmöglich halten würde, hätte Siret sie nicht gesammelt und seinem Bande über Fritz van der Kerkhove beigegeben. Mit Schmerz muß ich sagen, daß diese Polemik über zwei Drittheile des Bandes ausfüllt, was um so mehr befremdet, da sie doch von Künstlern stammt, von denen man vor Andern Hoheit des Gemüthes verlangen darf. Auf die gehässigste Weise sah sich Herr van der Kerkhove Monate lang als Betrüger verdächtigt und genöthigt, auf die unwürdigsten Fragen zu antworten, er, dessen Charakter in Brügge so hoch geschätzt ist. Seid ihr, normal begabte Künstler, denn weniger, wenn ihr eine Wundererscheinung anerkennt? Wünschet nicht, ein Fritz van der Kerkhove zu sein! Der Knabe litt unter seinem Genius, wie unter einem Dämon. Oder könnt ihr Wunderkinder überhaupt leugnen? Schrieb Mozart nicht mit vierzehn Jahren eine Oper? Verfaßte Victor Hugo nicht schon mit neun Jahren bemerkenswerthe Gedichte, und schrieb er nicht ein paar Jahre später, das Gerstenzuckerstängelchen im Munde, eine Tragödie „Irtamène“? Veröffentlichte der unglückliche Chatterton mit vierzehn Jahren nicht drei Bände Gedichte, welche nicht nur große geschichtliche Momente, sondern die höchsten metaphysischen Fragen in Fülle zum Gegenstande hatten? Und hinterließ der kleine, mit sieben Jahren verstorbene Graham nicht mehrere gehaltvolle Messen und Streichquartette? Spielte Henry Vieuxtemps nicht mit elf Jahren schon so meisterhaft die Geige, daß de Bériot dem Vater erklärte, er könne dem Kinde nichts mehr lehren, es spiele so gut wie er? Und war in Paris im diesjährigen „Salon“ nicht ein großes, wunderschönes Blumenstück von unbedingt künstlerischem Werthe ausgestellt? Es war von dem elfjährigerr M. de Hadencq gemalt.

Die Ansicht der belgischen Maler war (mit wenigen Ausnahmen) bis nach ihrer vollständigen Wiederlegung diese: Herr van der Kerkhove habe selbst die Landschaften gemalt und, da in den Gemäldeausstellungen seine Genrebilder keine Anerkennung gefunden, diese Landschaften für Werke seines verstorbenen Kindes ausgegeben.

Es liegt, abgesehen von der Thatsache, daß Herr van der Kerkhove niemals von einem Freunde oder Bekannten an einer Landschaft, sondern stets an Genrebildern malend getroffen worden, in jener Anklage ein auffallender Widerspruch. Die Künstler, welche über Kerkhove’s Genrebilder bisher die Achseln gezuckt hatten, hielten ihn nun plötzlich für fähig, die wunderbarsten Landschaften gemalt zu haben. Und diese Landschaften entbehren gerade jener beiden Eigenschaften, welche Herr van der Kerkhove, wie so mancher Dilettant, besitzt: die Routine und das Ansprechende, während sie sich durch eine ganz eminente Eigenartigkeit und eine fast erschreckende Gedankentiefe auszeichnen.

Außerdem zeugt noch ein Umstand für die Aechtheit von Fritzens Autorschaft: die Landschaften sind nicht auf Leinewand, sondern auf hölzerne Brettchen gemalt, oft auf Wände und Deckel von Cigarrenkisten. Denn Fritz malte auf jedes Brett, das er fand. In einer seiner Landschaften befinden sich in der Ecke drei kleine runde Löcher, wie man sie in jenen Cigarrenkisten findet, welche durch rothe Bänder geschlossen sind. Der Gedanke aber, Herr van der Kerkhove habe absichtlich solch primitive Tabletten gewählt, um Fritzens Autorschaft glaubwürdiger zu machen, ist empörend, denn er führt nothwendig zu dem Schlusse, der Vater habe längst auf den Tod seines Kindes speculirt, da er schon wenige Tage nach dessen Hinscheiden Herrn Siret die Landschaften zeigte. Noch tief gebeugt über des Kindes Verlust – wie furchtbar muß Herr van der Kerkhove unter jenen Verdächtigungen und Anklagen gelitten haben! Die Rechtfertigung, die Beweise kamen und schlugen den Neid zu Boden, aber vom Kampfe ist Herrn van der Kerkhove, wohl für’s ganze Leben, eine Wunde im Herzen geblieben. – Er hat jene hundert ausgestellten Bilder, die eine so entsetzliche Explosion hervorbrachten, dem belgischen Staate zum Geschenk gemacht.

Und nun zu den Landschaften selbst! Sie sind unsäglich einfach, unsäglich schwermüthig und – mit Ausnahme zweier, welche einen Feuerregen darstellen – unendlich verschieden. Von Nummer eins bis Nummer hundert läßt sich eine Vervollkommnung entschieden wahrnehmen. Die größten dieser Bilder [766] übertreffen nie die Größe einer Schreibmappe. Was an ihnen beim ersten Hinblicken auffällt, ist der tiefe, männliche Ernst.

Sie geben die Naturanschauung nicht nur eines Mannes, sondern sogar eines ungewöhnlich ernsten, tiefsinnigen Mannes. Der Ausdruck mancher Bilder packt das Gemüth wie eine plötzliche Offenbarung ungeahnter Schmerzen. Und doch sind alle diese Motive höchst einfach, manchmal sogar unscheinbar. Ein Waldrand an einem Wasser oder an einem ganz gewöhnlichen Wege, oder Ufersand und dahinter das träumende Meer oder in der Ferne träumende Felsen. Hinter einigen Bäumen ein altes, sehr trauriges Haus, in welchem gewiß unglückliche Menschen wohnen, und vor den Bäumen ein melancholisches Bächlein mit einer Holzbank.

Uebrigens sind nur in wenigen von Fritzens Bildern die Gebäude ein Gegenstand, wenn ich so sagen darf; meistens sind sie Häuser eines in unendlicher Ferne liegenden Dorfes, beinahe wie schwarze Punkte hingemalt, aber von einer Wirkung! Die kleinsten der Bilder – oft nur fünf Centimeter hoch und zwölf Centimeter lang – haben zum Gegenstand das Einfachste, was man sich denken kann: ein Stückchen Weg und ein paar Bäumchen oder ein Felsstück. Auf allen Bildern aber ist der Himmel die Hauptsache. Viele haben nur einen Finger breit Erde, und alles andere ist Himmel, Himmel. Es ist, als ob Fritz eigentlich im Himmel lebte und aus Versehen auf die Erde kam, wo ihn alles mit Schwermuth erfüllte und wo seine Seele vor Durst nach dem Himmel verging. Wer diese Bilder nicht sah, kann sich keinen Begriff von der schmerzlichen Gewalt machen, mit welcher sie die Seele des Beschauers an sich ziehen, an sich fesseln und nicht wieder losgeben. Ein sensibler Mensch, der den Muth hätte sie in seine Stube zu hängen, müßte gar bald sagen: „ich habe nicht sie: sie haben mich.“

Die beiden Bilder, aus welchen es Feuer regnet, sind nur Himmel. Vielleicht dachte Fritz dabei an den Untergang der Welt. Die Flammen sind nicht gesondert, sondern sehen aus wie entzündete und wirbelnde Luft. Braunschwarzes Gewölk speit das düster rothe Feuer aus, und ein rasender Sturm peitscht es niederwärts.

Mit Ausnahme dieser beiden und zweier wehmüthig mattblauer Himmel sind alle grau, wie ja auch der flandrische Himmel meist grau ist. In diesem Grau ziehen dunkle und helle Wolken in dichten Gruppen von solcher Natürlichkeit, daß man glaubt, ihre Schichten herabkommen zu sehen. Nirgend ist heller Sonnenschein. Auf einem und dem anderen Bilde ist der Horizont durch Nebel hindurchgefärbt, während über ihm Gewölk in schweren Massen liegt. Oder mitten aus dem Gewölk tritt ein greller Flecken, hinter welchem man die Sonne ahnt, hervor. Wenn dieser Himmel über dem Meere liegt, so hat er einen drohenden Anblick; man fühlt, daß der Sturm bald kommen und das wie todt daliegende Meer aufrütteln wird.

Aber die kleinsten, die unscheinbarsten dieser Bilder sind die rührendsten, die ergreifendsten. Und wodurch? Hier ist z. B. ein Stückchen Weg, kaum einen Finger breit, mit einigen Grasbüscheln und einigen zarten, schmächtigen Bäumchen, die sehr wenig Laub haben und sehr traurig sind. Hinter und über ihnen träumt ein sanftgrauer, schwermüthiger Himmel unendliche Träume. Ein Maler, welcher mit mir vor diesen gemalten Melancholien stand, sagte: „Dieses Kind muss doch ein Wesen aus einer höheren Welt gewesen sein, um dies schaffen zu können.“ Auf einem anderen stehen an einem schlafenden dunkeln Wasser zwei Feldsteine mit röthlichen Brüchen und große üppige Waldbäume, herbstlich gefärbt. Alles im Abendschatten. Braunrothes Laub lugt hier und dort zwischen dem dunkeln Grün hervor. Die Harmonie und Wärme des Colorits sind wahrhaft magisch. Und der Ausdruck, das Leben! Eine ergreifende Sprache!

Fritz sah die Natur nicht nur mit den Augen, sondern auch mit der Empfindung. Die höchste Aufgabe der Kunst, die Natur auszudrücken, ihren Geist, ihre Seele und ihre Physiognomie – Fritz hat sie gelöst mit kindlicher Hand und mit dem Herzen des Poeten.

Nebst dem Himmel sind die Bäume die Hauptsache in seinen Bildern. Diese Bäume, so einfach, so wahr, sind manchmal unerhört reich, manchmal dürftig belaubt, so dürftig, daß man Mitleid für sie fühlt. Hier nach einer Seite geneigt, als wären sie einer innern Sehnsucht nachgewachsen, dort aufrecht, hier jämmerlich vom Winde mißhandelt, dort in ruhiger Kraft gedeihend; hier in einer Gruppe sich ängstlich zusammen thuend, wie ein paar Unglückliche, von Gott und den Menschen verlassen, dort in der Ferne ein Wäldchen bildend, eine weiche, dunkle, duftige Linie – alle diese Bäume leben. Sie träumen; sie empfinden; sie ruhen; sie sind bewegt; sie frieren; sie haben Angst; sie rufen uns an; sie sind traurig; sie wollen sterben; sie sind resignirt.

Ich brauche wohl kaum zu erwähnen, daß Fritz in seinen Landschaften keinerlei Staffage, weder Menschen noch Thiere malte. Seine poetische, spiritualistische Naturanschauung läßt dies leicht errathen. Um so mehr ist zu bedauern, daß der Vater aus Pietät für sein Kind nach dessen Tode in beinahe jede Landschaft eine Knabengestalt malte, welche betrachtend steht oder sitzt. Als ob dies nöthig gewesen wäre! Im Gegentheile. Dieses gemalte Männchen erinnert daran, daß die Landschaften auch gemalt sind. Denn man vergißt diesen Umstand vollständig. Die kleinste Miniaturlandschaft wächst vor uns, wird lebensgroß und lebt, und wir stehen davor oder mitten darin, in der wirklichen Natur. Aber das gemalte Männchen reißt uns zuletzt aus der Täuschung, die vollständig war. Es ist dies ein Beweis, daß der Vater van der Kerkhove die Natur nicht versteht, wie Fritz sie verstand, folglich diese Bilder auch nicht malen konnte. Es ist unleugbar, daß das Männchen in diesen Landschaften stört, welche so ganz Stimmung, so ganz Ausdruck sind.

Eines ist noch hervorzuheben: die Luft. Es ist erstaunlich. Auch um die kleinsten Bäumchen glaubt man herum gehen zu können. Von der Durchsichtigkeit einer kleinen Winterlandschaft kann ich vielleicht einen Begriff geben, wenn ich mit getreuester Wahrheit sage, daß sie aussieht, als ob sie auf Glas gemalt wäre. Oft, wenn man, von der Wahrheit eines Gegenstandes, eines Licht- oder Wasserstreifens, eines Schattens, einer Einsenkung oder Erhöhung frappirt, hinzutritt, findet man erstaunt, daß sie durch ein primitives Pünktlein oder ein verzittertes Strichlein, einen Farbenspritzer oder eine Gruppe von haarfeinen in die Farbe gegrabenen Linien hervorgebracht wurde. Die Lichtstreifen im Wasser werden meistens durch solche eingegrabene Linien erzeugt. Alles, Alles ist, wie ein Maler in Paris sagte, „wunderbar, daß man darüber den Verstand verlieren könnte.“ Diese Bilder vereinigen in ihrer äußeren Behandlung die Feinheiten des erfahrenen Malers mit der kühnen, unfehlbaren Intuition des Genies.

Fritz malte an keiner Staffelei. Er setzte sich auf den Boden, legte sich auch wohl hin, neben sich den Farbenkasten und ein Stück Holz, welches ihm als Palette diente. In der linken Hand hielt er das Brettchen, auf welches er malte, in der rechten das Messer, mit welchem er die Farben auftrug; denn Fritz malte fast ausschließlich mit dem Messer, einem Taschenmesser mäßiger Größe. Er strich, nachdem er die Hauptfarben in dicken Massen aufgetragen, mit einem Hölzchen oder mit dem Daumen der Hand sie über und durch einander, im Sinne der Form, welche er hervorbringen wollte. Den Pinsel gebrauchte er nur zu feinen Details, namentlich zum Laub der Bäume, welches er wunderschön und wahr hervorbrachte, indem er mit dem Pinsel rasche, aber wohlberechnete faserige oder runde Spritzer auf das Bild drückte.

Manche seiner Landschaften wollen aus einiger Entfernung gesehen werden, namentlich jene, in welchen der Himmel den größten Raum einnimmt. Wo der Himmel, in der Nähe gesehen, ein Chaos von grauer, weißer und schwarzer Farbe zeigt, erblickt man, sich ein wenig zurückziehend, einen großartigen, geballten Wolkenzug, dessen Ausdruck unbeschreiblich ist. Diese Himmel haben eine Sprache.

Manche andere Bilder gewinnen, je näher man zu ihnen hintritt, besonders jene, welche kleine Bäume und Gesträuch, Wasser und Gräser haben. Man entdeckt dann eine Fülle origineller, feiner, reizender Details. So sehen z. B. die zarten, durchsichtigen Laubpartien kleiner Bäume aus, wie ein Theil eines Farrnkrautes, durch das Mikroskop betrachtet. Fritzens Colorit ist von einer Mäßigung und Harmonie, wie man sie nur bei großen Malern zu finden gewohnt ist. Nirgends, mit Ausnahme dreier Bilder, welche zu buntes Gemäuer haben, stört ein Ton; nirgends thut sich eine Farbe mit unedler Aufdringlichkeit [767] hervor. Ueberall ist Schönheit und Wohllaut. Die Pariser Künstler haben ohne Ausnahme diesen Gemälden volle Anerkennung und in mancher Beziehung die größte Bewunderung gezollt. Diese Landschaften sind eben so bedeutend, daß man den Maßstab, welchen man sonst bei Arbeiten sehr begabter Kinder anlegt, hier gar nicht gebrauchen kann. Man steht vor den durchaus künstlerischen Gemälden eines zwanzigjährigen Genies.

Das Urtheil der Pariser Presse läßt sich in dem Satze zusammenfassen: „Fritz van der Kerkhove’s Landschaften sind natürlich keine Meisterwerke, aber sehr bedeutende Gemälde, welche durch ihre Eigenartigkeit, die Poesie, die staunenswerthe Tiefe und Macht ihres Ausdrucks jedem Landschaftsmaler, selbst den größten Meistern, zum Vorbilde dienen können.“

Fritz van der Kerkhove war ein schwächlicher Knabe. Er kränkelte von der Geburt bis zum Tode. Er litt beständig an Kopfschmerz und schlief, mit Ausnahme der Nacht vor seinem Tode, nicht ein einziges Mal einen guten, ununterbrochenen Schlaf. Er aß auffallend viel; sein Durst war krankhaft. So viel der Knabe auch trank, er konnte niemals seinen Durst löschen. Der kleine Märtyrer starb an einem Blutergusse in’s Gehirn. Im fünften Jahre fing er an Bilderbogen zu malen und bald konnte man nicht genug Bilder für ihn aufbringen. Etwas später ließ ihm der Vater Unterricht im Zeichnen geben. Als Fritz über die Striche und die primitivsten Formen hinaus war, duldete seine mächtige Individualität kein gehorsames Copiren mehr; aus den Grundzügen der Vorlage schuf seine Phantasie Eigenes. Wenn der Vater ihm aufgab, einen der Kupferstiche, mit welchen die Wände seines Ateliers bis zum Boden bedeckt waren, zu copiren, so fing der arme Fritz gewissenhaft an nachzuzeichnen, allein schon nach zehn Minuten konnte der Vater nur noch mit Mühe und Noth in der Zeichnung seines Söhnchens einige Punkte des Kupferstichs erkennen. Was er sah, war eine ganz andere.Landschaft, eine von Fritz componirte. Des Knaben Kränklichkeit machte ein strenges Verfahren gegen ihn unmöglich. Mußte er doch oft wochenlang wegen seines Kopfleidens die Schule versäumen.

Von seinem siebenten Jahre an zeichnete er nicht mehr; er malte nur und zwar auf seine eigene Weise. Er zeichnete seine Landschaften nicht, ehe er sie malte. Die Motive dazu nahm er aus den Spaziergängen und aus seiner Phantasie. Für die wenigen Gebäude, die er malte, fand er Vorlagen in den Kupferstichen, niemals aber copirte er; er sah nur vielmehr die wichtigen Verhältnisse davon ab. Die fabelhafte Schnelligkeit, mit welcher Fritz malte, ergiebt sich aus der Zahl der Bilder, welche er in vier Jahren schuf: sechshundert. Sein Vater sagt, Fritz habe einmal an einem Tage siebenzehn Bilder entworfen. Selten malte er eins fertig, ohne inzwischen mehrere andere zu entwerfen. Wiederholt nahm er sie vor und arbeitete sie nach und nach aus. Herr van der Kerkhove sagt, er sei überzeugt, daß, wenn Fritz durch Kränklichkeit, durch beständiges Leiden nicht so oft am Malen wäre verhindert worden, er statt sechshundert Bilder zweitausend würde gemalt haben. Auf den Spaziergängen hatte er Auge und Empfindung für Alles. Er sah Farben und Farbenabtönungen, welche sein Vater absolut nicht sah, und sprach darüber mit einem Verständnisse, wie man es nur bei feinen und erfahrenen Künstlern findet. Wenn der Vater Kerkhove etwas an Fritzens Bildern corrigiren wollte, dann fing der Knabe bitterlich zu weinen an, lief zu seiner Mutter und klagte ihr, der Vater wolle seine Landschaft „verderben“. Es ist natürlich, daß der geniale Fritz das Eingreifen der platten Routine in seinen eigenartigen Schöpfungen nicht ertrug. Jeder Pinselstrich seines Vaters auf dem Bilde war für ihn ein Dolchstich in’s Herz. Was der Vater glattlecken oder zudecken wollte, das war ja eine unbegriffene Schönheit, ein unverstandenes Gefühl, ein Gedanke, eine Ueberzeugung. Er sah und empfand eben anders als der Vater. „Laß sie doch! Es sind ja meine Bäume,“ sagte er mit Thränen.

Der arme Fritz litt so viel, so beständig und in jeder Weise. Es stand in seinem Antlitz geschrieben, wie sehr er litt. Sein blasses Gesicht hatte die Züge eines Kindes und den Ausdruck eines Mannes, eines tiefsinnigen Mannes. In dem übermäßig großen dunklen Auge lag ein Gedankenernst, der Manchem unheimlich war, und sein Mund war immer schmerzlich, auch wenn er lächelte. Fritz war groß, aber schmal gebaut; nur der Ansatz des Halses, die Hand- und Fußgelenke waren kräftig. Sein Kopf war unförmlich groß, und er trug ihn wie eine schwere Last.

Für grammatikalisches Lernen zeigte er weder Lust noch Leichtigkeit, dagegen liebte er Geschichte und Geographie. Ueber Alles aber liebte er die hohen und tiefen Dinge, das Unbekannte. Er stellte immer Fragen darüber und weinte, wenn man ihm keine befriedigende Antwort gab. Ja, diese Dinge quälten ihn; die Abgründe zogen ihn an. War er doch selbst ein Abgrund.

„Wer ist denn Gott?“ frug er immer wieder. Er hatte eine Vorliebe für den Friedhof, und wenn er einen Leichenwagen sah, so lief er ihm nach. Als seine Mutter ihn einmal fragte, warum er dies thue, antwortete er, er hoffe immer, eine Seele aus dem Wagen fliegen zu sehen.

Armer Fritz! Er hatte wohl eine Ahnung, daß er nicht lange leben werde. Wenn man ihn ein und das andere Mal mehr als gewöhnlich liebkoste, dann wurde er traurig und fragte: „Muß ich denn bald sterben?“

Sein Gemüth war sanft und weich; er hatte ein Bedürfniß, einen Durst nach Liebe. Immer hielt er die Hände seiner Mutter oder seines Vaters und schmiegte sich an ihren Körper. Jedem Bekannten, der kam oder ging, reichte er die Hand. Seine Spielkameraden beteten ihn förmlich an. Ich darf nicht vergessen, daß Fritz auch für die Musik ungewöhnlich begabt war. Er sang eigenartige, improvisirte Melodien, suchte auf dem Claviere wohltönende Accorde dazu und fand sie, obgleich er keinen Unterricht im Clavierspiele hatte.

Niemals aber sang er vor Andern, selbst nicht vor seinen Eltern. Oft standen diese vor der Thür und lauschten seinem leisen, wunderbaren Gesange. Trat man dann ein, so verließ er mit einer heiligen Schamröthe auf den erschrockenen Zügen das Zimmer.

Aber der Wunderknabe hatte außer der Malerei und der Musik noch eine Leidenschaft: die Armen. Mit ihnen theilte er sein Brod; mit ihnen litt er. Er wählte vorzugsweise arme Kinder zu Spielcameraden und ging häufig mit ihnen nach Hause. Sah er, daß sie kein Spielzeug hatten, so lief er, holte seines und brachte es ihnen. Wenn er zum Spielen auf die Straße ging, so ließ er sich ungeheure Brodschnitten geben und füllte seine Taschen mit frischem oder getrocknetem Obste für die armen Kinder. Läuteten Arme am Hause und er sah sie vom Fenster aus, so lief er in die Küche und plünderte Teller und Schüsseln in und auf dem Schranke, oder er ging in die Vorrathskammer und schleppte, so viel seine Arme zu tragen vermochten, zur Hausthür, wo „seine Freunde“, Kinder, Frauen und Greise, ihm die liebevollen Hände küßten.

An einem kalten Wintertage, als Arme um Essen baten, und Frau van der Kerkhove, welche sehr wohlthätig ist, sagte, es thue ihr leid, sie könne heute nichts mehr geben, da schlich Fritz, nachdem er die Vorrathskammer geschlossen gefunden, in den Keller, nahm Brode, geräuchertes Fleisch und Kartoffeln und brachte es, keuchend unter der Last, auf die Straße, wo er den heimwärts gehenden Bettelnden nachlief. Gute, barmherzige Seele! Später, als er, am Fenster stehend, Sperlinge vor dem Hause picken sah, fragte er seine Mutter: „Wer sorgt für die Vögel?“

„Gott,“ erwiderte sie. Er blickte eine Weile stumm den Vögeln zu und sagte dann: „Warum sorgt Gott nicht auch für die Armen?“ O, diese wußten, was sie an Fritz verloren. Als er todt war, brachten sie ihm Blumen und weinten an seinem Sarge. Und noch jetzt sieht man häufig Arme einen Blumenstrauß auf sein Grab niederlegen.

Soll man Fritz van der Kerkhove beklagen, daß er der Kunst und dem Leben entrissen wurde, noch ehe er in ihre Reife getreten?

Nein, ihn nicht. Belgien ist zu beklagen, das Land, welchem die Entfaltung und der Ruhm dieses wunderbaren Genies verloren ging. Dich, guter Fritz, armer Märtyrer, Dich beklage ich nicht. Was Du in späteren Jahren mit Deinem Herzen und Deinen Gedanken in dieser Welt würdest gelitten haben, das vermögen ein paar verwandte Seelen zu ermessen, und diese sagen feuchten Auges: „Wohl Dir, Fritz!“



[768]
Blätter und Blüthen.


Zur Geschichte der Socialdemokratie. Im Anfange dieses Jahres, unmittelbar vor den Reichstagswahlen, erschien inmitten der hochwogenden socialistischen Agitationen Franz Mehring’s bedeutsame Schrift „Zur Geschichte der deutschen Socialdemokratie“. Das Büchlein kam damals zu spät, um noch einen gründlichen Einfluß auf die Wahlbewegung zu gewinnen, aber es fand schnell einen so großen Leserkreis, daß bereits nach sechs Wochen kein Exemplar mehr im Buchhandel zu haben war. Unzweifelhaft bekundete sich hierin ein starkes Bedürfniß des Publicums nach Aufklärung und Belehrung über den Gegenstand, und diese Theilnahme spornte den Verfasser an, sein Thema von Neuem aufzunehmen, das heißt statt der vielfach gewünschten zweiten Auflage eine neue und möglichst erschöpfende Bearbeitung des Stoffes zu bieten. So ist aus der ursprünglichen Skizze ein ausführliches Gemälde, aus der Broschüre ein zweihundertdreißig Seiten umfassendes Buch geworden, das unter dem Titel „Die deutsche Socialdemokratie, ihre Geschichte und Lehre“ soeben in Bremen (bei Schünemann daselbst) erschienen ist. Wir glauben nur eine Pflicht zu erfüllen und Unzähligen unserer Leser einen Dienst zu erweisen, wenn wir die Aufmerksamkeit auf diese Arbeit lenken, die, unserem Urteile nach, zu dem Besten und Wirksamsten gehört, was bisher im Verlaufe eines langen und immer heftiger sich gestaltenden Streites über die Socialdemokratie geschrieben wurde.

Mehring’s Buch zeichnet sich vor anderen nicht blos durch Gemeinverständlichkeit und bündige Uebersichtlichkeit aus, nicht blos durch die Schönheit der Sprache und den Glanz seiner stil- und schwungvollen Darstellung, der eigentlich fesselnde Kern des Ganzen ist vielmehr die hier überaus glücklich erreichte Vereinigung schildernder Lebendigkeit mit der kritischen Schärfe eingehender wissenschaftlicher Untersuchung. Durch die Erzählung ihres Ursprungs, ihrer Verläufe und Entwickelungen, durch die brillant gezeichneten Charakterbilder ihrer verschiedenen Propheten und Apostel werden wir zu tieferer Erkenntniß dieser Bewegung und ihres innersten Wesens geführt. Dies geschieht in dem ersten Abschnitt, während der zweite Theil eine Reihe von theoretischen Erörterungen der wichtigsten einschlagenden Fragen bietet, zusammen neun verschiedene Abhandlungen, unter denen sich Meisterstücke kritischen Scharfsinns befinden. Der Standpunkt des Verfassers ist ein leidenschaftsloser; durchweg erhalten die Leser den Eindruck eines zwar schneidig zugespitzten, aber gerechten, auf ernster Prüfung beruhenden, von leerer Declamation und landläufiger Verdammungsphrase sich fernhaltenden Urtheils. Vertrauen zu den gebotenen Mittheilungen auch muß es erwecken, daß Mehring früher ein Vertheidiger der hier von ihm geschilderten Partei gewesen, bis er erkannte, daß sein Glaube an ihre Entwickelungsfähigkeit ein Irrthum war, daß „die Gedanken des modernen Communismus und des modernen Staats sich scheiden wie Feuer und Wasser“. Er selbst sagt von seinem Buche: „Vielleicht ist es geeignet, jungen und schwärmerischen Gemüthern die lange Reihe bitterer und schmerzlicher Erfahrungen zu ersparen, durch welche ich mich zur völligen Klarheit über die gleißenden Phantasmagorien des Socialismus hindurchringen mußte.“ (Der Preis des Buches ist nur 4 Mark.)




Audiatur et altera pars. Zur Berichtigung des in Nr. 16 der „Gartenlaube“ 1877, Seite 264 bis 267 befindlichen Aufsatzes „Wilhelm von Humboldt's Freundin, authentische Mittheilungen von ihrem Neffen Chr. Fr. Melm“, möge folgender, im Originale mir vorliegender Consistorial-Bescheid dienen.

„In Sachen
des Regierungs-Procurators Diede allhier, Klägers,
contra Seine Ehegattin, geborne Hildebrand, Beklagtin,

Wird nunmehr die Ehe quoad vinculum getrennt, dem Kläger sich anderwärts zu verheirathen gestattet, der Beklagtin aber dieses ausdrücklich untersagt und dieselbe in alle durch diesen Proceß verursachte Kosten fällig verurtheilt. V. R. w. Publ.

     Cassel, den 21. Februar 1794.“
(Siegel.)

Der Verfasser des oben erwähnten Aufsatzes wird hieraus sich überzeugen, wer der schuldige Theil, wer der Kläger und wer die Beklagte in diesem Ehescheidungsprocesse gewesen ist, auch ob die schonungslosen, theils unwahren Aeußerungen über den am 6. Mai 1840 hierselbst verstorbenen, unter seinen Mitbürgern beliebten und in gutem Rufe gestandenen Rath Dr. Diede auf Wahrheit begründet waren, und ob es nicht geboten gewesen, die veraltete Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen, statt sie in einem so viel gelesenen Blatte, wie die „Gartenlaube“, zu veröffentlichen.

Die Pietät, deren sich der Verfasser jenes Aufsatzes gegen seine seit langer Zeit hingegangene Tante rühmt und die er als Bestimmungsgrund der Veröffentlichung anführt, möchte sich übrigens in keiner Weise bethätigt haben, indem insbesondere das Verhältniß, in welchem die verstorbene Tante zu einem nun auch längst verstorbenen Lieutenant v. H. gestanden, der Erwähnung nicht bedurft hätte und, wenn ein solches bestanden haben sollte, ebenwohl der Vergessenheit hingegeben, hätte unberührt bleiben können. Berühren will ich aber noch zur Belehrung des Neffen der Verstorbenen, daß in den von der Hand des verstorbenen Diede niedergeschriebenen Notizen vom 1. Februar 1794 bemerkt ist: „den 1. Februar 1794 mußte sich diese Frau, welche sich der unedlen Liebe zu einem verrätherischen Freunde ergeben und die Pflichten der ehelichen Liebe sowohl als häuslichen Treue und Sittlichkeit übertreten, auf immer von mir trennen und ward den 21. Februar d. Cons.-Bescheid von mir geschieden.“

Uebrigens will ich noch bemerken, daß nach eingezogener Erkundigung die betreffenden Ehescheidungsacten längst vernichtet worden sind.

     Kassel, im Mai 1877.
Ferdinand Schotten,
Geh. Justizrath a. D.


Noch eine Erinnerung an 1870. Als im Jahre 1870 die deutschen Arbeiter in Paris vertrieben wurden, hatte sich, wie anderswo, auch in Zürich ein Arbeitercomité gebildet, das die armen Vertriebenen an der Grenze in Empfang nahm, sie in Zürich pflegte und sie dann weiter in die deutsche Heimath beförderte. Zu jener Zeit brachte unser alter Mitarbeiter Temme (von dem wir, nebenbei gesagt, in nächster Zeit wieder einen größeren Beitrag veröffentlichen werden) eines Morgens einen Brief zur Post. Während er am Schalter warten mußte, hatte sich auf einmal still ein Haufen Menschen hinter ihm aufgestellt. Als er seine Briefe abgegeben hatte und sich zum Gehen umwandte, sah er fünfundzwanzig bis dreißig Menschen vor sich, ihm sämmtlich unbekannt, tüchtige Gestalten, brave deutsche Gesichter. Einer von ihnen trat vor; er gab sich ihm als ein deutscher Arbeiter in Zürich zu erkennen, der von dem Comité dort den Auftrag habe, seine Begleiter – aus Paris vertriebene deutsche Arbeiter – in der Stadt umherzuführen. Da habe er Temme gesehen und seine Freunde auf ihn aufmerksam gemacht. Und Alle hatten verlangt, ihn zu begrüßen.

So waren sie ihm gefolgt und hatten gewartet, bis er an dem Postschalter fertig war. Temme blieb überrascht stehen. Als das Comitémitglied ausgesprochen, kamen die Leute Mann für Mann an den allen Herrn heran, gaben ihm die Hand und sagten: den Temme von der „Gartenlaube“ hätten sie begrüßen müssen; sie hätten Alles von ihm gelesen – Alles, Alles, versicherten sie. Ob diese unerwartete Huldigung unserem alten Freunde nicht mehr Freude bereitet hat, als etwa ein – Bändchen im Knopfloch?




Friedrich von Baden. Wenn wir unter Anknüpfung an das Regierungsjubiläum des Großherzogs von Baden (24. April dieses Jahres) in Nr. 18 unserem Festartikel ein aus dem Jahre 1863 stammendes Portrait des Gefeierten beifügten, so geschah dies, wie wir gleichzeitig


Großherzog Friedrich von Baden.


erklärten, weil sich im Drange der Zeit ein Bildniß des Großherzogs von neuestem Datum so schnell nicht herstellen ließ. Wir erachteten es schon damals für unsere Pflicht, ein solches unsern Lesern später einmal zu bieten, und freuen uns, dies heute mit dem obenstehenden Portrait thun zu können.




Drei Kinder! Ein armer Bürgerschullehrer in Sachsen hat sieben Waisen hinterlassen, die im Alter von zwei bis sechszehn Jahren stehen, fünf Mädchen und zwei Knaben. Von diesen haben vier Mädchen Aufnahme in wohlthätigen Familien gefunden. Dagegen stehen die beiden Knaben, Alfred, neun Jahre alt, und Theobald, fünf Jahre alt, sowie die vierzehnjährige Elisabeth noch unversorgt da. Die wenigen Verwandten können sich der Kinder nicht annehmen; auch fehlen die Mittel, um sie in Pflege zu geben; sollen die wohlerzogenen und wohlgebildeten Kinder eines verdienten Lehrers als Gemeinde-Arme verkümmern? Sicherlich giebt es noch kinderlose Ehepaare genug, die ihr Herz nicht an einen Hund oder eine Katze, an einen Kanarienvogel oder einige Blumenstöcke verloren haben und denen hiermit die Gelegenheit geboten wird, ein armes Kind und mit ihm sich selbst glücklich zu machen. Wer bietet dem einen oder dem andern Waisenkinde eine neue Heimath?




Berichtigung. In einem unserer Drucksätze wurde der Flächeninhalt Montenegros irrthümlich mit „fünfundzwanzig“ (Nr. 43, Seite 722) statt mit fünfundsiebenzig Quadratmeilen angegeben.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.