Die Gartenlaube (1877)/Heft 46
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No. 46. | 1877. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Die neuen Maschinen waren unter militärischer Bedeckung sicher und glücklich im Fabrikhofe angelangt, aber noch standen sie in der Verpackung, wie sie angekommen waren, und für’s Erste war auch keine Aussicht vorhanden, sie in Gang zu bringen. Denn der Kampf, welcher zwischen den Arbeitern und dem Arbeitgeber herrschte, war in eine neue Phase getreten. Es schien, als hätte man sich überzeugt, daß die Mittel, welche man bisher angewandt, nicht die richtigen gewesen waren und daß man zu anderen Waffen greifen müsse, wenn es gelingen sollte, den verhaßten Preußen empfindlich zu treffen oder, was noch besser war, ganz zu beseitigen. Seit einigen Tagen waren die Arbeiten in der Fabrik eingestellt worden. Die Glocke, welche die Arbeiter Morgens zu ihrem Tagewerke rief, hatte vergebens geklungen. Keiner hatte ihr Folge geleistet. Der Strike war demnach zu vollem Ausbruche gekommen und somit schwere Verluste für den Besitzer unabwendbar.
Es waren trübe und sorgenvolle Tage für Reinhard, die Tage, welche diesem Ereignisse folgten. Er hatte den Schlag langsam herannahen sehen und war doch nicht im Stande gewesen, ihn abzuwehren. Die neuen Maschinen, die es ihm möglich gemacht hätten, die unruhigsten und aufsässigsten Köpfe unter seinen Leuten zu entlassen und nur diejenigen beizubehalten, die er als ruhig und zuverlässig erkannt hatte, waren zu spät angelangt. Jetzt, da sich auch diese zu offener Widersetzlichkeit hatten hinreißen lassen, lag eine solche Sonderung nicht mehr in seiner Hand. Er mußte abwarten, ob sie vielleicht durch eigenes Nachdenken wieder auf den rechten Weg kommen würden, aber seine Hoffnung darauf war nur schwach. Er wußte nur zu gut, daß die Unzufriedenheit mit den Löhnen nur den Vorwand bieten mußte, und daß der eigentliche Grund in dem Hasse gegen die Nation lag, welcher er angehörte. In der ganzen Gegend herrschte schon seit lange ein Geist der Unzufriedenheit und Widersetzlichkeit gegen Alles, was deutsch war. Die ganze Bevölkerung – und sie bestand vorwiegend aus Fabrikarbeitern – schien entschlossen, bei der nächsten Gelegenheit in offene Empörung auszubrechen. Das Leben und das Eigenthum aller Deutschen war bedroht, und ihre Lage wurde mit jedem Tage gefährlicher. Bei diesem Stande der Dinge hätte auch der Muthigste einsehen müssen, daß die Kraft des Einzelnen zum Schutze nicht ausreichte.
Es war daher eine von sämmtlichen deutschen Besitzern des Elmslebener Districts unterzeichnete Bittschrift an die zuständige Behörde abgegangen, in welcher man dringend um ein Militärdetachement gebeten hatte. Die Antwort hatte zustimmend gelautet, und man konnte demnach die Ankunft der zugesagten Mannschaft in der nächsten Zeit erwarten. Aber welche Gewaltthätigkeiten konnte man bis dahin erfahren haben!
Dies alles hatten die beiden Männer – Max und Kayser – besprochen, als sie im Comptoirzimmer des Ersteren auf- und niederschritten. Das Gespräch war ernst gewesen, hatte aber seltsamer Weise nicht wieder zu jenen scherzhaft gemachten und ernst gemeinten Vorwürfen geführt, mit welchen in früherer Zeit Kayser dergleichen Verhandlungen zu beschließen pflegte. Im Gegentheil, seine Stirn war heiter geblieben bis zuletzt, und als er jetzt seine Handschuhe anzog und sich zum Gehen anschickte, spielte sogar ein Lächeln um seine Lippen.
„So wird es am besten sein,“ sagte er, nochmals stehen bleibend, „drei Männer – Sie, der von seinen Verletzungen wieder hergestellte Jantzen und Kramer – sind in der That nicht ausreichend, beides, Fabrik und Wohnhaus im Fall der Noth zu vertheidigen. Es ist also das Klügste, letzteres aufzugeben, damit man seine Kräfte nicht zersplittere. Die werthvollsten Sachen bringen Sie verabredetermaßen in die Fabrik. Und was Ihre Schwester anbelangt, so macht sie heute entweder Hanna oder Paula einen Besuch und wird durch irgend einen Vorwand daselbst zurückgehalten. Meine Mündel werde ich in’s Geheimniß ziehen. Sie kennt weder Angst noch Nervenzufälle und wird uns ein guter Verbündeter sein.“
Er reichte Max die Hand und machte einige Schritte gegen die Thür. Aber er hatte augenscheinlich noch Etwas auf dem Herzen, denn ehe er sie erreicht hatte, blieb er wieder stehen.
„Sehen Sie, mein Junge,“ sagte er, „ich hatte mir eigentlich vorgenommen, in Ihre Angelegenheiten ferner kein Wort mehr hineinzureden. Aber Sie sind mir persönlich zu lieb geworden, als daß ich’s lassen könnte. Es ist mir schon oftmals eingefallen, daß über Sie ein ganz absonderliches Fatum herrscht, das stets das Zusammenwirken günstiger Umstände verhindert hat. Zuerst bei dem Kaufe der Fabrik waren die Conjuncturen gut, aber die Waare fehlte Ihnen; dann waren die Arbeiter da, aber die Maschinen waren alt und – wie ich ja selbst eingestehen muß – leisteten nicht genug. Nun hat sich das geändert. Jetzt sind Tuche in Menge und treffliche Maschinen neuester Construction vorhanden, aber für das Eine fehlt der Absatz und für die anderen die Hände, sie in Gang zu bringen. Ziehen Sie eine Lehre daraus! Lassen Sie sich jetzt die günstigste aller Conjuncturen, die sich Ihnen bietet, nicht wieder entschlüpfen! Ein Vermögen, [770] wie man so bald ein zweites nicht findet, liegt für Sie da, Sie dürfen nur die Hand ausstrecken, sich nur danach bücken – und Sie können auch nur einen Augenblick zögern, zuzugreifen?“
„Aber, lieber Freund, was muthen Sie mir zu!“ sagte Max ungeduldig. „Sie können doch nicht von mir verlangen, daß ich so alles Zartgefühl verleugnen soll, einer Dame einen Antrag zu machen nach einer so flüchtigen Bekanntschaft. Ein Heirathsantrag ohne vorhergegangene Werbung! Ebenso gut könnte ich Ihrer Mündel die Pistole auf die Brust setzen und das Leben oder die Börse fordern.“
„Zartgefühl! Werbung!“ sagte Kayser, die Unterlippe vorstreckend. „Wenn ich Ihnen aber sage, daß man Ihnen dergleichen subtile Präliminarien gern erläßt?“
„Ich aber kann sie mir nicht erlassen. Die Achtung, die ich mir selbst und meiner künftigen Gattin schuldig bin, würde mich von einer solchen Brutalität zurückhalten.“
„Schön gesagt! Wenn ich ihr diese Worte wiederhole, so ist die Eroberung noch sicherer, als sie jetzt schon ist. – Sie sind der stolzeste, unbeugsamste Bursche, den ich gesehen habe. Auch nicht das kleinste Zugeständniß kann man Ihnen abpressen. Ich glaube, wenn ich das schönste Gut der Gegend und noch so ein Hunderttausend dazu Ihnen entgegentrüge, Sie würden sich besinnen, sie mir abzunehmen.“
„Wer weiß?“ sagte Max lachend. „Wenn Sie der Geber sind, würde sich mein Zartgefühl vielleicht weniger sträuben.“
„So? Nun, wir wollen sehen, was sich machen läßt. – Adieu, mein Junge! Es bleibt bei unserer Verabredung.“
„Natürlich,“ sagte Max, ihn bis zur Thür begleitend.
Kayser’s Schritte waren kaum auf den Steinplatten des Hofes verhallt, als Kramer eintrat mit der Nachricht, daß eine Deputation der Arbeiter draußen stehe, welche bitte, vorgelassen zu werden.
„Es sind einige der besseren Leute darunter,“ fuhr Kramer in seinem Berichte fort, „vielleicht haben sie die Absicht, einzulenken. Sie mögen erfahren haben, daß Hülfe im Anzuge ist, und wollen versuchen, was noch von Ihnen in der letzten Stunde zu erpressen ist. Was werden Sie thun, Herr Hauptmann?“
„Meine Pflicht, Kramer – unter allen Umständen: meine Pflicht! Wenn ich es mit derselben hätte vereinbaren können, bei den jetzigen Zeitläuften eine Zulage zu bewilligen, so hätte ich es nicht bis zum Aeußersten kommen lassen. – Laß die Leute eintreten!“
„Aber ich werde auch dabei bleiben, Herr. Es sind einige Gesichter dabei, die mir nicht recht gefallen wollen.“
Durch die geöffnete Thür traten fünf Arbeiter in’s Zimmer, die mit der Mütze in der Hand in einiger Entfernung von Reinhard sich aufstellten. Zwei davon waren Männer, denen man es ansah, daß sie ihr Lebelang hart gearbeitet hatten, gebeugte Gestalten, auf deren sorgendurchfurchten Gesichtern es zu lesen stand, daß ihnen die Noth des Lebens nicht fremd geblieben war. Die anderen Drei waren von anderem Schlage – kecke Gesellen mit hochgetragenem Kopfe und trotzig blickenden Augen.
„Guten Morgen, Leute!“ sagte Max, mit seiner tiefen, klangvollen Stimme ihren leisen Gruß erwidernd. „Ihr wollt mich sprechen? Was wünscht Ihr von mir?“
Einer der Männer, den man augenscheinlich schon vorher zum Sprecher gewählt hatte, trat vor, und als er vor seinem Herrn stand in einer Bewegung, die ihn einige Minuten lang am Sprechen hinderte, die arbeitsharten Hände, in denen er unentschlossen seine Mütze drehte, zitternd in der Aufregung der ungewohnten Situation – da fühlte Max trotz des Conflictes, der zwischen ihm und jenen Männern herrschte, daß ein aufrichtiges Wohlwollen, der herzliche Wunsch, ihr schweres Leben ihnen leichter gestalten zu können, in seiner Brust sich lebhafter, als je zuvor, regte.
„Sprecht, Laßmann! Was habt Ihr mir zu sagen?“ fragte er, und sein Ton klang unter der Einwirkung jenes Gefühls weicher und freundlicher, als vorher. „Es ist ein guter Gedanke, daß Ihr gekommen seid, Ihr, den ich als einen meiner fleißigsten und zuverlässigsten Arbeiter kenne und schätze.“
„Ich danke Ihnen, Herr, daß Sie das sagen,“ antwortete der Mann tief Athem schöpfend. „Aber mein Fleiß hat mir nichts geholfen, Herr. Seit Monaten führe ich ein elendes Leben – es fehlt an Allem, und doch habe ich, wie Sie selbst sagen, fleißig gearbeitet.“
„Sprecht aufrichtig, Laßmann,“ sagte Max ernst, aber nicht unfreundlich, „könnt Ihr wirklich Eure Noth den niedrigen Löhnen schuld geben, die ich, wie Ihr behauptet, zahle?“
Es entstand eine Pause nach dieser Frage. Die Beantwortung schien dem Manne nicht leicht zu werden; denn ein einfaches Ja wäre eine schnell nachweisbare Unwahrheit gewesen, und gegen das Nein sträubte sich der Wunsch in ihm, aus der Unterredung mit Max einen möglichst großen Vortheil zu ziehen. Während er noch unentschlossen und zögernd dastand, nahm einer seiner Gefährten, einer der schlimmsten Köpfe, das Wort.
„Ein Mann, der fleißig arbeitet,“ sagte er mit heiserer, widerlicher Stimme, „muß, wenn es gerecht in der Welt zugeht, so viel verdienen, wie er und seine Familie braucht.“
„Ich habe nicht Euch aufgefordert, zu sprechen, Chartin,“ sagte Max scharf. „Wartet, bis Ihr gefragt werdet! Es wird auch die Reihe an Euch zu kommen. – Uebrigens ist ‚Brauchen‘ ein sehr relativer Begriff. Wo der Mann kein Säufer, das Weib keine liederliche Herumtreiberin ist und die Kinder zur Ordnung und Arbeit erzogen sind, da wird stets so viel vorhanden sein, wie zum Leben nothwendig ist. Im entgegengesetzten Falle aber – Ihr braucht nicht weit nach einer solchen Wirthschaft zu suchen – da wird die ganze Familie in Elend und Armuth verkommen, ohne daß man den geringen Löhnen die Schuld beimessen darf.“
Er hatte in seiner gewöhnlichen Weise schnell und mit kurzer, scharfer Accentuirung gesprochen. Seine Blicke, kalt und scharf wie Stahl, ruhten auf dem Gesichte des Arbeiters, den er mit dem Namen Chartin angeredet hatte, und der sich unter diesen Blicken augenscheinlich unbehaglich fühlte. Doch fand er bald seine gewöhnliche Unverschämtheit wieder, und während die Anderen unschlüssig zur Erde blickten, trat er plötzlich einige Schritte gegen Max vor und stellte sich ihm herausfordernd gegenüber.
„Derartige Beschuldigungen auszusprechen ist leichter, als sie zu beweisen,“ fing er grob an. Allein ein gebieterisches „Schweigt jetzt!“ seines Herrn und eine kräftige Handbewegung Kramer’s, die ihn wieder in die Reihen seiner Gefährten zurücktrieb, machte ihn plötzlich verstummen. Seine herausfordernde Haltung hatte augenscheinlich die Mißbilligung seiner besser gesinnten Cameraden erregt. Denn ohne auf seinen Zorn, den er deutlich zu erkennen zu geben sich bemühte, zu achten, wandte sich Laßmann wieder bescheiden an Max.
„Sie haben wohl Recht, Herr,“ sagte er, „der Verdienst könnte reichen für eine Familie, wo Jedes an Arbeit gewöhnt ist und wo Alles ordentlich zu Rath gehalten wird. Aber man kann doch auch auf unverschuldete Weise in Elend gerathen. Wenn Zeiten der Krankheit –“
„Da kommt Ihr zu dem richtigen Punkte, Laßmann,“ unterbrach Max die zögernde Anrede des Anderen. „Ihr habt es Euch aber selbst zuzuschreiben, daß Ihr diese bittere Erfahrung gemacht habt. Hättet Ihr meinen Rath befolgt, dann wäre Eure Unterstützungscasse jetzt in dem Zustande, Euch eine wirklich ausreichende Hülfe in Krankheitsfällen zu gewähren. Aber als Ihr meinen Vorschlag verwarft, dachtet Ihr nicht daran, welchen Schaden Ihr Euch selbst zufügtet. Ihr wolltet Opposition gegen mich machen um jeden Preis, selbst um den Eures eigenen Wohls. Das Mißtrauensvotum, das Ihr mir durch Eure Weigerung gabt, habe ich leicht verschmerzen können, denn es war ein ungerechtes. Auf Euer eigenes Haupt aber fallen die Folgen schwer genug. Nun müßt Ihr tragen, was Ihr verschuldet habt; ich kann Euch nicht helfen.“
„Sie sollten uns nicht so fortschicken, Herr,“ nahm jetzt der zweite der besseren Arbeiter, Jürgot, das Wort. „Wir gehören nicht zu denen, die wenig arbeiten wollen und viel Lohn dafür verlangen. Wir wollen nicht eine Verkürzung der Arbeitszeit. Aber Alles wird theurer –“
„Dieses Uebel, Jürgot, trifft mich ebenso, wie Euch.“
„Es mögen auch für Sie harte Zeiten sein, Herr, aber für uns sind sie härter –“
„Darüber kann ich besser urtheilen, als Ihr. Ich zweifele, daß Jemand von Euch mit gleich großen Sorgen zu kämpfen hat wie ich.“
„Wir würden mit einer kleinen Erhöhung des Lohnes zufrieden sein,“ fuhr Jürgot fort.
[771] „Und ich sage Euch, daß ich nicht im Stande bin, auch nur die kleinste zu bewilligen.“
„Unsere Forderung, Herr, ist nicht unbillig und ungerecht,“ sagte Laßmann.
„In diesem Augenblicke doch! Ihr müßt es Euch selbst sagen, daß ich zu einer Zeit, wo alle Geschäfte darniederliegen, wo meine Einnahmen spärlicher fließen, als je vorher, meine Ausgaben nicht vergrößern kann. Ich wiederhole Euch, Ihr verlangt Unmögliches von mir.“
„Die Zeiten werden wieder besser werden.“
„Wir wollen dies abwarten. Es wird dann immer noch Zeit sein, Euer Verlangen in Erwägung zu ziehen.“
„In meinem Hause ist Krankheit und Elend, Herr. Soll ich ohne Hülfe heimkehren?“
„Ihr thut mir leid, Laßmann, aufrichtig leid. Daß gerade Ihr es seid, der unter den Folge Eures thörichten Beschlusses zu leiden hat, bedaure ich herzlich. – Ich wiederhole Euch heute, was ich schon damals sagte: Schafft Euch für solche Ausnahmefälle eine auf Gegenseitigkeit gegründete Aushülfe! – Von mir könnt Ihr nicht verlangen, daß ich um dieses einen Falles willen die Löhne meiner sämmtlichen Arbeiter erhöhe.“
Nach diesen Worten herrschte einige Augenblicke lang Stillschweigen im Zimmer. Die Arbeiter blickten finster und niedergeschlagen zu Boden und schienen unschlüssig, was sie beginnen sollten. Max war an eins der Fester getreten und schaute in den Hof hinaus. Da ließ sich wieder Chartin's heisere Stimme vernehmen:
„Sie sollten sich zweimal bedenken, ehe Sie uns mit diesem Bescheide gehen lassen. Die Zeiten sind vorüber, wo die Herren ungestraft die Arbeiter schinden und treten durften. Jetzt greifen wir zur Selbsthülfe. Wenn im Wildunger District die Kugel des Arbeiters die Fabrikanten nachgiebiger gemacht hat, so kann das hier auch geschehen, und wenn man erst damit begonnen hat, die Maschinen zu zerstören, so sehe ich nicht ein, weshalb man nicht bei den Fabriken aufhören sollte. Nehmen Sie sich in Acht, Herr Max Reinhard! Sie können ein sehr stiller und sehr geduldiger Mann sein, ehe Sie es sich versehen.“ –
Er hatte kaum geendet, als Kramer's derbe Gestalt sich zwischen ihn und seinen Herrn schob und Kramer's eiserne Faust fest seine Schulter umklammerte. Max aber winkte ihn zurück.
„Ihr habt gehört,“ sagte er dann, sich zu den anderen Arbeitern wendend, „welche Drohungen Euer Gefährte gegen mich ausgestoßen hat. Ihr werdet mir zu Zeugen gegen ihn dienen. Und nun will ich noch ein letztes Wort zu Euch sprechen: Wenn Ihr Euch durch böswillige Einflüsterungen nicht hättet die Augen blenden lassen, dann hättet Ihr bereits einsehen müssen, daß ich nicht zu den Arbeitgebern gehöre, deren einziges Streben danach geht, reich zu werden, sei es auch durch die Noth und das Elend ihrer Arbeiter. Ihr hättet einsehen müssen, daß ich das Aeußerste that, was in meinen Kräften stand, als ich trotz der gänzlichen Geschäftsstille den Betrieb der Fabrik auf dem bisher eingehaltenen Standpunkte erhielt und erst dann an eine Beschränkung der Arbeitskräfte dachte, als mir bei einem Theil meiner Arbeiter Böswilligkeit und Trotz entgegentrat. Ich kenne die schlimmen Köpfe unter Euch ganz genau, und diese werden niemals wieder Arbeit bei mir finden, selbst wenn sie mich darum noch bitten sollten. Sie werden ihre Wohnungen räumen, um besseren Leuten Platz zu machen. Aber ebenso gut kenne ich auch meine brauchbaren und fleißigen Arbeiter,“ und er wandte sich bei diesen Worten der Seite zu, wo Laßmann und Jürgot standen, „und ihnen könnt Ihr in meinem Namen versprechen, daß das Geschehene vergessen sein soll, wenn sie sofort zu ihrer Pflicht zurückkehren wollen. Auf weitere Versprechungen kann und will ich mich jetzt nicht einlassen. Aber wenn Ihr bedenkt, daß ich billig und gerecht gegen Euch handle, jetzt, wo der Druck der geschäftsstillen Zeit hart auf mir lastet, dann, dächte ich, solltet Ihr mir auch zutrauen, daß ich in besseren Zeiten noch besser für Euch sorgen werde.“
„Und mit diesen ungewissen Versprechungen hoffen Sie uns hinzuhalten?“ fragte einer der Gefährten Chartin's höhnisch.
„Euch habe ich keine Versprechungen gemacht, entgegnete Max ruhig. „Ihr Drei gehört nicht mehr zu meinen Arbeitern; mit Euch und Eures Gleichen habe ich nichts mehr zu thun.“
„Oho, das wollen wir sehen. Sie haben sich gewaltig verrechnet, wenn Sie glauben, wir werden stille halten und ruhig zusehen, wenn man uns unter die Füße tritt. Und wenn Sie bei der beabsichtigten Entlassung der Arbeiter auf Ihre neuen Maschinen rechnen, so mögen Sie sich vorsehen. Wenn man sie einmal beseitigt hat, so kann man das auch zum zweite Male thun.“
„Es wird Euch diesmal schwerer werden, denn sie sind bereits an Ort und Stelle und daher leichter zu vertheidigen. Uebrigens warne ich Euch. Zusammenrottung – Landfriedensbruch und räuberischen Ueberfall ahndet das Gesetz mit schwerer Strafe. Nun aber geht! Ich habe Euch Nichts weiter zu sagen.“
Es schien, als wollten die drei frechen Gesellen sich diesem Befehle widersetzen. Kramer aber öffnete die Thür, und als hinter derselben die handfeste Gestalt Jantzen's sichtbar wurde, entschlossen sie sich zum Abgange. Auf dem Hofe machten sie noch einmal Halt, um unter heftigen, drohenden Geberden eine Unterredung mit einander zu halten, an welcher Laßmann und Jürgot sich nicht betheiligten. Nur widerwillig folgten sie endlich der mehrmals wiederholten Aufforderung Kramer's, den Fabrikhof zu verlassen. – –
„Ich möchte gern wissen, Kramer,“ sagte Max, als nach Verlauf einiger Zeit dieser wieder zu ihm in's Comptoir trat, „wie Laßmann so in's Elend gerathen ist. Ist es allein die Krankheit seiner Frau, welche die Wirthschaft so zurückgebracht hat?“
„So ist es. Ich hätte gewünscht, Herr, daß Sie ihm eine Zulage hätten bewilligen können – der arme Bursche verdient es.“
„Du weißt, daß ich das nicht konnte, denn was des Einen Recht ist, ist auch das des Anderen. Aber eine Unterstützung will ich ihm zukommen lassen. Ich will mit Marie darüber sprechen – sie hat den rechten Kopf für solche Sachen. Und wenn ich diese Krisis überstehen sollte, dann, Kramer, wollen wir Maßregeln treffen, daß solche Nothstände ferner nicht vorkommen können. Mir liegen Pläne im Kopfe, an deren Ausführung ich mit allen Kräften arbeiten will. Hoffentlich werden meine Arbeiter mich dann auch bereits in so weit kennen gelernt haben, daß sie willig auf meine Maßnahmen eingehen.“
Es war an demselben Morgen, aber einige Stunden früher, als Hanna in der Villa Kayser am Fenster ihres Zimmers stand und gedankenvoll in die Gegend hinausblickte. Die Prophezeiung ihres Onkels war zur Wahrheit geworden: das seit mehreren Wochen anhaltend schöne Wetter hatte sich verändert. Ein kalter Wind jagte graue Wolken, aus denen von Zeit zu Zeit ein feiner Sprühregen herabrieselte, vor sich her und schüttelte die Wipfel der Linden, welche den weiten Rasenplatz vor dem Hause im Halbkreise umgaben. Er bog die schlanken, hochstämmigen Rosen, den Stolz des Besitzers, wie Garben zusammen und regte sogar den kleinen Weiher, dessen glatte Fläche sonst unter breitblättrigen Wasserpflanzen ruhig wie ein Spiegel dalag, bis zum Wellenschlagen auf. Es waren Tage, die eher dem Herbste, als dem Hochsommer anzugehören schienen, düstere, unfreundliche Tage.
Was Hanna stiller und ernster gemacht, das war nicht blos das trübe Wetter. Sie war erst kurze Zeit im Hause ihres Onkels, und dennoch hatte sie in dieser Zeit mehr erlebt und mehr empfunden, als in ihrem ganzen bisherigen Leben. Es war ihr, als sei sie früher nur schlafwandelnd einhergegangen, als sei sie jetzt erst erwacht, als habe sie jetzt erst begonnen zu leben. Und doch war auf dieses frisch erblühte Seelenleben bereits ein Reif gefallen. Einige Aeußerungen ihres Onkels, verbunden mit dem, was sie an jenem Abende bei Reinhard’s erlebt und beobachtet, hatten ihr zu denken gegeben. Wie hatte sie nur glauben können, daß dieser ernste Mann, dessen geschäftliche Interessen so complicirt und weitverzweigt, dessen Gedanken von so unendlich wichtigeren Dingen in Anspruch genommen waren, ihr, dem unbedeutenden Mädchen, mehr, als etwa nur ein flüchtiges Wohlgefallen schenken würde! Konnte das, was sie [772] für Liebe genommen, nicht eine ganz gewöhnliche, ganz nichtssagende Galanterie sein, die er jedem jungen Mädchen widmete? Hatte sie nicht wahrgenommen, daß auch Paula sich seiner Aufmerksamkeit zu erfreuen gehabt, und hatte ihr Onkel ihr nicht lächelnd erzählt, daß er die Sorge für seine Mündel bald in andere Hände niederzulegen hoffe? Und sie hatte so thörichte Gedanken gehegt – Gedanken, die hoffentlich Niemand ahnte, die sie selbst sich kaum eingestehen mochte.
Solche Gedanken beschäftigten sie auch wieder, als sie jetzt am Fenster ihres Wohnzimmers stand und in den regengrauen Morgen hinausblickte. Die Landschaft rings umher war wie in grauen Schleier gehüllt; kein Ton, als das Rauschen der Bäume im Winde und das monotone Tropfen des Regens auf den Fensterbrettern ließ sich hören. Eine tiefe Traurigkeit bemächtigte sich des jungen Mädchens. Es schien ihr, als sei das vor ihr liegende Leben schal und geschmacklos und der Mühe nicht werth, es zu durchleben. Dabei hatte sie Niemand, bei dem sie Trost suchen konnte – Niemand, von dem sie voraussetzen durfte, daß er eine innigere Theilnahme für sie hege.
Die Wehmuth wollte sie übermannen, aber sie kämpfte sie tapfer nieder. Entschlossen trat sie vom Fenster zurück – sie wollte arbeiten – sich beschäftigen. Sie fühlte dunkel, daß Arbeit der beste Tröster aller kummerbeladenen Seelen ist. – Aber wem schaffte ihre Arbeit Nutzen? Wenn sie einen Menschen hätte, für den sie sorgen könnte, für den sie nothwendig wäre! Anfangs hatte sie gehofft, sie werde sich ihrem Onkel nützlich machen können, aber sie hatte in seinem ganzen Haushalte keine Lücke entdecken können – die Dienerschaft war reichlich und wohlgeschult; sie war hier, wie überall, entbehrlich.
Es klopfte an ihrer Thür – man rief sie zum Frühstücke hinab. Hastig trat sie in ihr Schlafzimmer, um ihr in Unordnung gerathenes Haar zu glätten. Als sie in den Spiegel blickte, erschrak sie über ihr bleiches Gesicht, aber Niemand würde diese Veränderung bemerken, dachte sie, Niemand sich darüber beunruhigen.
Ihr Onkel hatte bereits am Tische Platz genommen als sie in’s Frühstückszimmer trat, und nickte ihr, von seinem Teller aufblickend, einen guten Morgen zu.
„Komm’, Kind!“ sagte er, „ich habe nicht Zeit, lange zu warten. Es wird bereits eingespannt, denn ich muß zu Reinhard und nach Elmsleben. Voraussichtlich werde ich in der Stadt lange aufgehalten werden – ich dürfte kaum vor Abend zurückkehren. Wenn Du willst, kannst Du mitkommen; ich habe ein paar bekannte Familien in der Stadt, bei welchen Du Deine Besuche machen kannst.“
„Ich danke, Onkel, ich möchte lieber zu Hause bleiben.“
„Auch gut – handle ganz nach Deinem Belieben! – Reich’ mir Dein Glas herüber! Du willst nicht Wein? Seltsamer Geschmack das! Dann nimm wenigstens ein Stück von diesem Rebhuhn! Auch keinen Appetit? Den Henker auch – Euch Mädchen lernt kein vernünftiger Mensch verstehen. Da lobe ich mir einen Jungen. Der würde hier in’s Geschirr gehen, daß es eine Freude wäre.“
„Es thut mir leid, Onkel, daß ich Dir diese Freude nicht machen kann,“ sagte Hanna lächelnd.
„Was issest Du denn eigentlich gern – Kuchen, Confitüren? Dort liegt mein Taschenbuch – notire mir’s! Dann bringe ich Dir was Du wünschest mit.“
„Du bist sehr freundlich, lieber Onkel, aber ich mache mir nicht viel aus Süßigkeiten.“
„Nun, wie Du willst. – Laß’ Dir übrigens die Zeit nicht lang werden, wenn ich fort bin! Vielleicht wird Fräulein Reinhard später kommen, das heißt, wenn es uns gelingt, sie zum Fortgehen zu bewegen. Ich fürchte, die Fabrik ist kein sicherer Aufenthaltsort mehr für sie.“
„Was sagst Du, Onkel?“ fragte Hanna mit bleichem Gesichte.
„Nun, zum Erschrecken und Bleichwerden ist gerade noch kein Grund vorhanden,“ sagte Kayser einlenkend. „Reinhard hat die besten Aussichten, wenn seine Lage jetzt auch etwas prekär ist. In einigen Tagen wird er hoffentlich aus allen Sorgen sein. Es wäre ein Glück sowohl für ihn, wie für unseren flotten Junker, wenn zwischen den Beiden erst Alles klar wäre.“
„Du glaubst also, Onkel, daß sie eine ernste Neigung für einander fühlen?“
„Neigung? – Nun, warum sollten sie nicht? Wenigstens scheint eine solche von ihrer Seite vorhanden zu sein, und nach meiner Erfahrung ist dies die Hauptsache. Denn wenn eine Frau Neigung für einen Mann empfindet, oder, was für den Erfolg gleichbedeutend ist, doch wenigstens Neigung, ihn zu heirathen, so wird sich die Sache viel leichter machen, als im umgekehrten Falle. Steht bei ihr erst fest: dieser soll es sein – dann geht sie mit einer Ausdauer und einer Verschlagenheit zu Werke, daß sie in neunundneunzig unter hundert Fällen das Wild stellen wird – darauf kannst Du Dich verlassen. – Bitte, sei so gut mir den Käse herüber zu reichen! – Nun, was sagst Du?“
„Du magst Recht haben, Onkel – es mag solche Frauen geben. Aber einige Ausnahmen wirst Du doch auch kennen gelernt haben?“
Diese Frage, verbunden mit dem Blicke, der sie begleitete, frappirte ihn augenscheinlich. Vielleicht regte sich sein Gewissen beim Anblicke des holden unschuldigen Gesichtes ihm gegenüber, vielleicht auch tauchte das Bild seiner liebenswürdigen Nachbarin vor den Augen seines Geistes auf.
„Nun, einige Ausnahmen mag es wohl geben,“ sagte er einlenkend, „und Du bist eine solche, wie ich glaube. Aber ich möchte wetten, daß Du in die Dreißig kommen wirst, ohne einen Mann zu bekommen. Fräulein Reinhard ist auch von der Sorte, und sie liefert gleichfalls einen Beleg für meine Behauptung. – Unser Junker Paul ist dagegen anderer Art – der weiß, was er will. Keck zugreifen, ohne lange Zeit zur Besinnung zu lassen, das ist bei ihm die Losung. Und damit kommt er zum Zweck – wir werden es erleben.“
„Und Du glaubst, Onkel, daß sie mit einander glücklich leben werden?“
„Gewiß glaube ich das, denn Reinhard ist ein verständiger Mann, der die Welt kennt und nichts Unmögliches verlangt. Und was sie betrifft, so muß sie sich sagen, daß sie einen Mann braucht, der sie ein Bischen in Ordnung hält. Außerdem binden solide Interessen fester und dauerhafter, als Neigung, Liebe und Sympathie oder wie alle diese Dinge heißen mögen.“
Hier entstand eine kleine Pause im Gespräch, während welcher Kayser sich sein letztes Glas Wein einschenkte. Als er es austrank, blickte er zu seiner Nichte hinüber und sah ihre Augen auf sich gerichtet. Vielleicht war es die Wirkung dieses Blickes, die ihn wieder einlenken machte.
„Ich bin durchaus nicht der Mann, der diese Regungen wegleugnen oder gar verdammen will,“ sagte er. „Aber heut’ zu Tage kommt ein Mann selten dazu, den Gegenstand seiner Anbetung zu heirathen, und wenn er es thut, dann gelangt er oft zu spät zu der Einsicht, daß Geld zu einer glücklichen Ehe nöthiger ist, als Liebe.“
Er hatte sein Frühstück beendet und stand auf.
„Morgenroth, leuchtest mir zum frühen Tod.“ Der dieses volksthümliche Lied sang, sah es an sich selbst erfüllt. Am 18. November 1827 starb zu Stuttgart Wilhelm Hauff (geboren am 29. November 1802) noch nicht fünfundzwanzig Jahre alt. In so jugendlicher Blüthe raffte der Tod ihn jählings dahin, als er eben erst die geistige Sprühkraft seines Lebens zu äußern begonnen. Sein Name erstrahlte eben zu einem Sterne dichterischen Ruhmes, das deutsche Volk aber begann zu ihm aufzuschauen wie zu einem Liebling, dem herrliche Hoffnungen winken. Alle diese Hoffnungen sanken mit ihm in’s Grab.
Fünfzig Jahre sind nun verflossen, und noch immer strahlt in keuschem Glanze sein Name, noch immer ist er einer der
[773][774] Lieblinge unserer Jugend, und Viele, Viele, die ihn aus seinen Schriften kennen, beklagen es, daß er so früh schon dem Leben entrissen wurde. Wer von diesen fände es nicht recht und würdig, daß heute ein neuer Kranz auf sein Grab gelegt werde, und daß man das Volk an dasselbe rufe, um dem zu früh verschiedenen Dichter ein Gedächtniß zu weihen? Seine Dichter und Denker zu ehren, ist eines Volkes Stolz und Pflicht, und Wilhelm Hauff gebührt diese Ehre, weil er im echtesten Sinne ein deutscher Volksschriftsteller war.
Seines Lebens Wege von der Wiege bis zum frühen Grabe waren eben und sonnenbeschienen von der Liebe der Eltern, der Geschwister und zuletzt noch eines jungen, heiteren Weibes.
Nach dem Besuche der Tübinger Latein- und der Klosterschule zu Blaubeuren an der schwäbischen Alp öffneten sich ihm die Pforten jener Studienwelt, welche auf altgewohnter breiter Bahn abzuwandeln gleichsam ererbtes Gesetz für jeden Württemberger Sohn der gesellschaftlich anspruchsvolleren Familien ist. Diese Bahn geht durch das klösterliche niedere Seminar, dann in’s Stift als Jünger der Tübinger Hochschule; von da, wenn nicht in die Pfarre oder Schulstube, so in ein anderes Amt oder in die freie Berufswelt. Als er ins Stift nach Tübingen kam, um dort vier Jahre lang, 1820 bis 1824, Philologie, Philosophie „und leider auch Theologie durchaus zu studiren, mit heißem Bemühen“, war er immerhin nur ein schwächlicher Bursche, aber im Geiste nahm er lebendigsten Antheil an Allem, was jugendliche Gemüther in jener Periode begeisterte: die Sehnsucht nach freiheitlicher Gestaltung des politischen Lebens und die Hoffnung auf Deutschlands Einheit. In seinen wenigen Liedern, die zumeist in jenen Studentenjahren entstanden, hat er austönen lassen, was seine Seele davon erfüllte. „O, weile hier,“ ruft er die Freiheit an, „wirf ab die Adlerflügel! Du schweigst? Du meidest ewig Deutschlands Hügel?“
„Das schöne Land soll ganz vergessen sein?
Noch denkst du fein; es wird dich wiedersehen,
Wird auch dein Geist dann längst mein Grab umwehen.“
Der wüsten Außenseite des Burschenschaftswesens konnte er, eine feine, weiche Natur, keinen Geschmack abgewinnen, aber dem inneren Schmelze des brüderlichen Studentenlebens erschloß er sein volles Gemüth. Er gehörte einer unpolitischen Verbindung an, die sich „die Feuerreiter“ nannte und die in glücklichem Gemisch sämmtlicher Facultäten und gar verschiedener Charaktere um ihre vierzehn gleichgesinnten Genossen ein enges Freundschaftsband schlang, welches dieselben auch noch weit über die Universitätszeit hinaus zusammenhielt. Hauff, der durch sein in prächtigen blauen Augen sich spiegelndes geistvolles Wesen und seinen heiteren Sinn der Liebling dieses Kreises war, erfreute ihn manchmal mit einem Gebilde seiner nach poetischem Ausdruck verlangenden Phantasie. Ein Stück seiner Novelle „Der Mann im Monde“: die Kirche, trug er einmal aus seinem Manuscripte in jenem Kreise vor, wie ein Genosse desselben erst nachträglich berichtet hat. Ebenso das muntere Trinklied und die schwungvoll patriotischen Lieder zur Feier des 18. Juni, des Waterloofestes, welches alljährlich von den Burschenschaftern auf dem schattigen Wöhrd, dem Festplatze Tübingens, gefeiert wurde. Welch ein Stolz auf sein Volk, das diese Schlacht geschlagen, diese Siege über den Eroberer errungen, athmete in diesen Liedern! Enttäuscht genug über die Folgen jener Siege für die inneren Verhältnisse des Vaterlandes, lebte doch in ihm die Hoffnung von dessen endlicher Wiedergeburt, wie sie erst ein halbes Jahrhundert später aus Traum zur Wirklichkeit wurde. Und noch heute klingt es beherzigenswerth, wie Hauff damals die Jugend zum Kampf für die Erreichung der Ideale aufforderte:
„Drum tretet muthig in die Kämpferbahn!
Noch gilt es ja, das Ziel uns zu erringen.
Für’s liebe Vaterland hinan, hinan!
Doch nur von innen kann das Werk gelingen,
Und nicht durch Völkerzwist, durch Waffenruhm,
Nein, unser Weg geht durch Minerva’s Hallen;
Laßt uns vereint zum Ideal, zum höchsten, wallen,
Erschaffen uns ein echtes Bürgerthum!“
Diese Gedichte, selten noch beachtet, kennzeichnen in ihrer Gesinnung Wilhelm Hauff auch als Einen aus jenem schwäbischen Dichterkreise, der mit Altmeister Uhland so wuchtig und gesinnungsvoll für die Hoffnungen der ganzen deutschen Nation eintrat, als sie unter das Joch der engherzigsten Metternich’schen Reaction gebeugt wurde. Deutschland, möchte man sagen, war damals im Lager dieser Sänger. Wie auch sonst Hauff in der innigsten Fühlung zum Volksgemüth stand, beweisen seine zwei allbekannten, vielgesungenen Lieder: „Reiters Morgengesang“ (Morgenroth, leuchtest mir zum frühen Tod) und „Soldatenliebe“ (Steh’ ich in finst’rer Mitternacht). Dieser Zug nach der Seele des Volksthümlichen geht durch sein ganzes literarisches Schaffen mit immer wachsender Bestimmtheit.
Nachdem Hauff mit den Studien fertig und glücklich der philosophiae doctor geworden, stand es bei ihm fest, als Schriftsteller seine vielversprechenden Talente zur Geltung zu bringen. In edlem Ehrgeiz erfaßte er die Aufgaben dieses Berufs in hochidealem Sinne. Unklar noch, in welcher Art er seine stürmische Kraft dafür einsetzen solle, war er doch von dem heiligsten Ernst erfüllt, die Gunst des Publicums nur mit den edelsten Mitteln gewinnen zu wollen. Gelegen kam ihm demungeachtet eine Anstellung als Hauslehrer beim damaligen württembergischen Kriegsrathspräsidenten, späteren Kriegsminister Freiherrn von Hügel in Stuttgart; sie gab ihm nicht nur einen festen Boden für die ersten Versuche in der Literatur, sondern in einem feinen und geselligen Hause auch die Gelegenheit zu einer Fülle neuer Anregungen und zu näherer Bekanntschaft mit dem Leben der Wirklichkeit, welches ihm doch wesentlich noch im Licht romantischer Vorstellungen erschien. In zwei glücklichen Jahren, bis 1826, zog er diesen geistigen Gewinn aus seiner Stellung und schied daraus mit einer Mappe voll schriftstellerischer Arbeiten, die er nun hoffnungsfreudig der Oeffentlichkeit übergeben wollte. Eine Reise durch Deutschland und nach Berlin war als ein erster Abschluß dieser geistigen Vorbereitung anzusehen.
In Berlin nahm man den jungen Mann mit jener erhebenden Herzlichkeit auf, mit welcher damals jedes neue literarische Talent als ein Mitglied der geistigen Republik begrüßt wurde. Wilhelm Hauff kam mit seinem ersten junger Ruhm; im Stuttgarter Morgenblatte hatten bereits einige seiner kleinen Novellen und Genrebilder gestanden; sein Märchen-Almanach war erschienen, und der erste Band seiner Mittheilungen aus den „Memoiren des Satans“. Aus allen diesen Arbeiter leuchtete ein frischer, heller Geist, eine anmuthige Phantasie, ein oft sehr glücklicher Humor, dem zwar zu größerer Wirkung noch die Lebenserfahrung mangelte, aber der von den achtungswerthesten Instincten in Bewegung gesetzt wurde. Es war dies besonders in dem bruchstückartigen Werk der „Memoiren des Satans“ der Fall, in welchem er mit Laune und Satire das Studententreiben jener Zeit, die Streitfragen der Philosophie, gesellschaftliche Unsitten und dergleichen mehr zu geißeln suchte. Heute ist Vieles davon wegen der Anspielungen auf längst verschwundene Verhältnisse unverständlich und wirkungslos geworden. In ihrem vollen Reiz dagegen haben sich die Märchen Hauff’s erhalten, die er in freiem Phantasiespiel und mit echt poetischem Sinn älteren Erzählungen nachdichtete.
In schneller Folge erschienen 1826 und 1827 die meisten der anderen Arbeiten Hauff’s, wie sie in dessen fünf Bänden gesammelter Schriften, die nach seinem Tode Gustav Schwab herausgab, sich befinden. Zwei Jahre somit nur hat der junge Dichter Zeit gehabt, sich zu entfalten und aus der Wirkung seiner Schriften auf das Publicum die Erkenntniß zu schöpfen, welchen der eingeschlagenen Wege er weiter verfolgen müsse, um das erstrebte Ziel zu erreichen. Denn als solches Ziel schwebte ihm vor, ein populärer Schriftsteller seiner Nation zu werden und für das Edle gegen das Gemeine und Flache in der Literatur einzutreten. Unter solchem Gesichtspunkte muß man die verhältnißmäßig große Fruchtbarkeit betrachten, die Hauff in so kurzer Frist entwickelte, das Irren und Tasten seiner Phantasie nach verschiedenen Richtungen, jene kriegslustige Stimmung, die dem Ehrgeiz entsprang und sich in satirischen Sittenbildern, in humoristischen oder ernsten Angriffen auf literarische Zustände und Personen so häufig Luft machte.
In dieser Beziehung hat seine zuerst im „Morgenblatt“ erschienene Novelle „Der Mann im Monde“ eine gewisse literarhistorische Bedeutung. Sie gilt mit Recht als eine glückliche und erfolgreiche Satire gegen die Clauren’schen Romane, welche mit ihrer sentimentalen Lüsternheit und geistarmen Liebelei damals noch eine in Mode stehende Lieblingslectüre des Leihbibliotheken-Publicums bildeten. Hauff ahmte in seiner Novelle Styl und [775] Manier Clauren’s (Carl Heun’s) nach und veröffentlichte sie sogar unter dem Namen des vielgelesenen Berliner Schriftstellers. Jedenfalls nahm das Publicum mehr in scherzhafter, denn in ernsthafter Weise diesen Spott beifällig auf, denn bei vielen gelungenen satirischen Einzelnheiten war das Hauff’sche Werk doch im Ganzen für eine Persiflage zu unbestimmt gehalten. Es folgte daher auch in der „Controverspredigt“ ein directer Angriff Hauff’s gegen Clauren nach, in dem er mit beißendem Witze und schneidiger Schärfe den Charakter von dessen Mimili- und Vergißmeinnicht-Erzählungen bloßstellte und mit sittlicher Entrüstung das Publicum zum Abfall von dieser verwerflichen Literatur aufforderte. Der Aufruf hat sicherlich dazu beigetragen, der Clauren-Mode ein schnelles Ende zu bereiten, aber hauptsächlich ist der Hauff’sche Feldzug dagegen charakteristisch für den sittlichen Grundzug, der seinem Unternehmer eigen war und den er allen seinen Werken einprägte.
Die Mehrzahl derselben besteht bekanntlich aus Novellen, die dem romantischen Zuge jener literarischen Epoche durch eine gewisse Vorliebe für Geheimnißvolles und grell Phantastisches entsprechen, aber in einer Art stillen Kampfes mit dieser Richtung die Stoffe dem frischesten Leben der Gegenwart entnehmen, dem der Salons, der Künstlerwelt, dem literarischen Getriebe, in welchem der junge Mann sich bewegte. So „Die Bettlerin vom Pont des Arts“, „Die Sängerin“, „Othello“. Diese Arbeiten sind an und für sich geschmackvoll gehaltene Erzählungen, aber man spürt doch in ihnen die ringende Jugendkraft, welche nach höheren Aufgaben verlangt. Die Verbindung des Romantischen darin mit dem Wirklichen verräth uns die Absicht des Dichters, durch poetische Unterhaltung weittragendere Wirkung auf das Publicum auszuüben, es auf sich selbst und seine unmittelbaren Lebensinteressen aufmerksam zu machen und die Literatur auch in Roman und Novelle, mehr als bisher geschah, in den Dienst der nationalen deutschen Aufgaben zu stellen. Diese Bestrebungen wurden in Hauff mehr und mehr zu klaren Ueberzeugungen. Die herzigen, künstlerisch vorzüglich gehaltenen „Phantasien im Bremer Rathskeller“, eine Zwiesprache mit sich und seinem Lebenszwecke, sind bereits völlig durchzogen davon. Auch in den „Rittern von Marienburg“ sprach er sich schon deutlich darüber aus, indem er den historischen Roman als den Hebel des nationalen Volksthums bezeichnete. Was die Walter Scott’schen Romane für die britische und zuletzt für die ganze literarische und lesende Welt bedeuteten, sollten ähnliche deutsche historische Romane für das deutsche Publicum bewirken: Liebe zum Vaterlande, Kenntniß seiner Geschichte und Sitten und Freude daran. So meinte er der „blauen Wunderblume“ der Romantik an altem, ehrwürdigem Gemäuer auf heimischem Boden einen ihrer würdigen Platz zu geben, die Phantasie Wirkliches aus der vaterländischen Geschichte umranken zu lassen. „Wir ahnen,“ schrieb er darüber, „in der Geschichte des Landes und Volkes, die uns Professoren auf Kathedern vortragen, daß es nicht immer die Könige und ihre Minister waren, die Großes, Wunderbares, Unerwartetes herbeiführten. Da oder dort hat die Tradition den Schatten, den Namen eines Mannes aufbehalten, von dem die Sage geht, er habe großen und geheimnißvollen Antheil an wichtigen Ereignissen gehabt. Solche Schatten, solche fabelhafte Wesen schafft die Phantasie des Dichters zu etwas Wirklichem um. In den Mund eines solchen Menschen, in sein und seiner Verbündeten geheimnißvolles Treiben legt er die Idee, legt er den Keim zu Thaten und Geschichten, die man im Handbuche nur als geschehen nachliest, vergebens nach ihren Ursachen forschend. Indem solche Figuren die Ideen persönlich vorstellen, bereiten sie dem Leser hohen Genuß, und oft ein um so romantischeres Interesse, je unscheinbarer sie durch Bildung und die Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft anfänglich erscheinen.“
Es lag nahe, daß der geborene Schwabe zunächst in der Geschichte seines eigenen Heimathlandes nach Stoffen solcher Art suchte, um seine Gestaltungskraft daran zu erproben. Der „Jud Süß“, der berüchtigte allmächtige Vertraute des Herzogs Karl Alexander, nach dessen Tode er 1738 schmählich in einem eisernen Käfig gehenkt wurde, bot sich ihm als eine ungemein interessante und dabei im Volke Württembergs förmlich populäre historische Persönlichkeit. In einer sehr anziehenden Novelle schilderte Hauff diesen Mann auf der Höhe seines Glückes als liebenden Vater und das verhängnißvolle Geschick seiner edlen Tochter in Folge seines Sturzes. Diese romantische Behandlung der Geschichte des Juden Süß durch Hauff ist so sehr in die Auffassung des Volkes übergegangen, daß bei demselben die wahre Historie dagegen nicht mehr aufzukommen vermag, Beweis genug, wie glücklich hier der Dichter die sich gestellte Aufgabe zu lösen verstand.
Tiefer war der Griff in die schwäbische Geschichte mit dem Roman „Lichtenstein“, dem einzigen größeren, den Hauff und zwar in einer Hast schrieb, als ahnte er seinen nahen Tod. Die Sagen, welche die Geschichte des gewaltthätigen Herzogs Ulrich, seine Leiden, seinen endlichen Sieg und seine eigene Läuterung nach so herben Prüfungen umschweben, bildeten für eine so echte Dichternatur, wie Hauff, eine verführerische Gelegenheit, seine Phantasie damit zu versetzen und sie künstlerisch gestaltend darauf wirken zu lassen. In der Begeisterung, die ihn erfüllte, aus diesem dankbaren volksthümlichen Stoff alles das zu machen, was er sehnsüchtig in der Auffassung eines nationalen Dichterberufs bisher erstrebt, schuf er einen der besten unter den deutschen historischen Romanen. Ohne Klügelei und Tendenzhascherei formte sich die Erzählung aus einem Guß zu einem plastischen Gemälde der wilden Kriegszeit Herzog Ulrich’s, der das zerschlagene und verhandelte Württemberg des Grafen im Bart wiederherstellte. Dichtung und Wahrheit fließen hier geschickt verwoben in einander. In bestrickendem Reiz und alle jene Personen gehalten, in denen der Dichter das echt Volksthümliche zum Ausdruck bringen wollte und die sich in so glücklicher Art, dramatischen Lebens voll, aus dem Gemälde schwäbischer Sittenzustände und politischer Kämpfe abheben, von Georg von Sturmfeder und seiner Braut Maria von Lichtenstein an bis zu dem buckeligen, ränkevollen Kanzler Ambrosius Volland.
Die Aufnahme dieses Romans war in ganz Deutschland eine der günstigsten, die einem solchen Buche werden kann. Mit freudigster Genugthuung sah der junge Dichter, dessen Wangen noch von der Erregung bei dieser Herzensarbeit glühten, den Traum des Ehrgeizes erfüllt, den er uns in seinen „Phantasien im Bremer Rathskeller“ auch verrathen. Zu der Geliebten, deren Herz und Hand er sich gesichert, durfte er nun wirklich glänzenden Auges sprechen: „Ein berühmter Dichter bin ich jetzt und mochte ich werden, nur daß Du von mir hörtest und stolz zu Dir sagtest: ‚Der hat Dich einst geliebt.‘“
In Schwaben gar heimelte der Roman „Lichtenstein“ in so hohem Maße an, daß er im Nu populär und in alle Häuser, bis in die einfachsten Hütten der Alp, als ein vaterländisches Brevier getragen wurde. Und noch heute wird Lichtenstein von jedem Württemberger wie ein Evangelium der alten schwäbischen Geschichte angesehen; wie Hauff diese Epoche dichterisch verklärt, so lebt sie in den Gedanken und Gefühlen des Volkes. Jedes Schwabenkind, kaum daß es lesen kann, vertieft sich in dieses Buch mit Entzücken, und wenn alljährlich zu Pfingsten Tausende aus allen Winkeln des Schwabenlandes wie in heiliger patriotischer Pflichterfüllung nach dem neu wieder auferbauten Felsenschlößlein Lichtenstein freudigen Herzens pilgern, dann erinnern sie sich all der populären Personen aus dem Roman, als seien es liebe, alte Bekannte, und sie sprechen ihnen manch’ Wörtlein nach, das der Dichter ihnen in den Mund gelegt. Wohl keinen schöneren Erfolg kann ein Schriftsteller sich wünschen, als mit einem seiner Werke so innig dem Herzen seines Volkes verbunden zu sein – und wer sagte da nicht, indem er solch ein Werk als das Vermächtniß eines trefflichen Jünglings betrachten muß, mit tiefem Bedauern: er ist zu früh gestorben!? Wie tief seine Schriften in das deutsche Volk gedrungen sind, das bezeugt am besten die Thatsache, daß gelegentlich der fünfzigsten Gedächtnißfeier seines Todes die Rieger’sche Verlagsbuchhandlung in Stuttgart mit der sechszehnten Auflage der Gesammtausgabe der Hauff’schen Werke vor’s Publicum tritt. Vom „Lichtenstein“ und den „Märchen“ sind außerdem noch Prachtausgaben erschienen.
Aber indeß sein „Lichtenstein“ ihm alle Herzen gewann, schlich der Tod schon tückisch an das seine und saß lauernd bei ihm, als er an dem Entwurf eines neuen ähnlichen Romans arbeitete, der in der neuesten Heldengeschichte Tirols spielen sollte. Eine Reise nach Paris unternahm er noch in heiterster Lebenslust. Nach Stuttgart zurückgekehrt, erhielt er die Redaction des [776] Cotta’schen „Morgenblattes“, eine Belohnung für seine bisherigen Thaten. Im Februar desselben Jahres (1827) führte er das längst geliebte Bäschen – seine Braut führte denselben Familiennamen wie er – mit dem er in scherzendem Uebermuth noch einen wirklichen Liebesroman gespielt, als sein Weib heim. Die Musen und das Glück schienen ihn zu ihrem Günstling erkoren zu haben. Als ihm dann noch eine Tochter geboren wurde, athmete er in trunkener Lust auch diese neue Lebensfreude ein. Die Seele hob sich in mächtigeren Schwingen; das Auge leuchtete mit berechtigtem Selbstbewußtsein und im Vollgefühl selbstständiger Kraft zu höheren Zielen der dichterischen Laufbahn empor. Die Freiheit, deren Jünger und Sänger ja auch er war, sandte ihm vom griechischen Meere Grüße, die ihn in Begeisterung versetzten – die Seeschlacht bei Navarin hatte die türkische Flotte vernichtet. Alles ging bei ihm dann in Fieberkämpfe über. „Laßt mich!“ rief er, „ich muß hin; ich muß es Müller sagen“ – dem Sänger der zündenden Lieder für die griechische Freiheit, der ihm als Freund ein paar Wochen zuvor durch jähen Tod entrissen worden. In diesem Nervenfieber endete dann sanft sein junges Leben.
Groß und allgemein war die Trauer um seinen Verlust. An seinem Grabe, von zahlreichen Freunden schmerzvoll umstanden, ehrten ihn die Nachrufe eines Uhland, eines Schwab, eines Karl Grüneisen. Seine Büste vom Bildhauer Wagner, Daunecker’s Schüler, erhob sich darnach über der Gruft; Epheu umrankte sie; treue Liebe und Erinnerung der Freunde, dankbare Empfindungen nachfolgender Geschlechter hielten oft davor eine stille Messe für den todten Dichter. Verwittert ist schon das Steinbild, aber lebendig in großer Kraft ist noch das Andenken im Volke an Wilhelm Hauff, und nur eines Wortes bedürfte es, daß Tausende freudig ihr Scherflein beitrügen, um die Liebe der Nachwelt für ihn durch ein neues sichtbares Denkmal zu bezeugen.
Auch von unserer Fahrt von Pont à Mousson nach Commercy, von hier nach Bar le Duc und von da nach Clermont en Argonne und unserm Aufenthalt an diesen Orten wäre mancherlei zu berichten, was des Erzählens werth sein möchte und mittheilbar sein würde. Indeß eile ich an dem hier Gesehenen und Gehörten vorüber und erwähne nur, daß wir Commercy am 23. August erreichten, und daß der Kanzler hier im Hause des Grafen Macore de Gaucourt wohnte, ferner, daß er und wir mit ihm in Bar le Duc, einer schön gelegenen Mittelstadt, in der das große Hauptquartier am 24. eintraf, der Bank gegenüber bei einem Herrn Pernay einquartiert waren, und daß hier ein großer Theil der beiden baierischen Armeecorps vor dem König vorbeidefilirte, endlich, daß wir am 26. gegen Abend in Clermont anlangten, wo wir mit Ausnahme von Keudell und Hatzfeldt in der auf der linken Seite der Hauptstraße gelegenen Knabenschule Unterkunft fanden.
Clermont liegt malerisch in einer Senkung der hier nicht hohen, mit Laubwald bedeckten Hügelkette der Argonnen neben und auf einem kegelförmigen Berge mit einer Capelle. Die lange Grande Rue ist voll Bagagewagen und Kutschen, dicker gelber Koth auf dem Pflaster; denn es hat kurz vorher einige tüchtige Regenschauer gegeben. Hier und da sächsische Jäger. Bei sinkender Sonne gehe ich auf steinernen Stufen mit Abeken am Abhang hinter dem Hause nach der alten gothischen Kirche hinauf, die, von hohen Bäumen umgeben, auf der halben Höhe des Berges steht. Sie ist offen, und wir treten hinein in die Dämmerung, in der man Kanzel und Altar nur in Umrissen sieht. Die ewige Lampe wirft ihren rothen Schein auf die Bilder an den Wänden, und durch gemalte Fenster fällt ein Restchen Abendlicht auf den Fußboden. Wir sind allein. Alles ist tief still wie eine Gruft. Nur gedämpft dringt von unten her das Stimmengewirr und Rädergerassel der Menschenmenge, die den Ort durchfluthet, das Tramp-Tramp durchmarschirender Truppen und das Hurrahrufen derselben vor dem Hause des Königs zu uns herauf.
Als wir hinunter kommen, ziehen gerade die „Maikäfer“ vorbei. Der Minister ist fort und hat hinterlassen, daß wir zu ihm ins „Hôtel des Voyageurs“ kommen und da mit ihm essen sollen. Unser Küchenwagen ist nämlich erst spät oder noch gar nicht eingetroffen. Wir gehen hin und finden im kegelschubartigen Hinterzimmer, wo Alles voll Lärm und Tabaksqualm, bei ihm noch Platz und Atzung. Ein Officier mit langem dunklem Barte und einer Johanniterbinde speist mit uns. Es ist Fürst Pleß. Er erzählt, daß die gefangenen französischen Officiere in Pont à Mousson sich unverschämt betragen und die ganze Nacht gezecht und gespielt haben. Ein General hat durchaus einen besondern Wagen für sich verlangt, was ihm natürlich nicht gewährt worden ist. Man spricht dann von den Franctireurs und ihrer uncommentmäßigen Kriegführung, und der Chef bestätigt, was wir schon Abeken berichtet, daß er denen, die wir diesen Nachmittag an der Straße als Gefangene trafen, sehr ernstlich die Levite gelesen. „Ich sagte ihnen: Vous serez tous pendus; vous n’êtes pas soldats; vous êtes des brigands, des assassins. Der Eine fing dann laut zu flennen an.“ Der Kanzler ist sonst nichts weniger als hart. In Bar le Duc erzählte er uns: „Vorige Nacht fragte ich die Schildwache draußen vor der Thür, wie es ihr ginge, und wie es mit dem Essen stünde; da erfuhr ich, daß der Mann seit vierundzwanzig Stunden nichts gegessen hatte. Ich ging hinein, suchte die Küche, schnitt ihm einen tüchtigen Knust Brod herunter und trug ihn ihm hinaus, was ihn sehr vergnügt zu stimmen schien.“
Der Minister ist im ersten Stock untergebracht worden; wir haben den Schlafraum im zweiten inne, wo es anfangs von Meublement nichts als zwei Bettstellen, jede mit Matratze, und zwei Stühle gab. Die Nacht ist bitterkalt, und ich habe nichts als meinen Regenmantel zur Decke, aber es geht ganz leidlich, und wie müssen die Soldaten thun, die unten neben der Landstraße im Schlamme der Aecker campiren!
Am Morgen wird unsere Schlafstube zugleich Bureau, Speisesaal und Theezimmer. Durch Theißen’s kunstreiche Hände ist uns aus einem Sägebocke, auf den ein Backtrog gestellt wurde, einer Tonne, auf die zur Erhöhung ein niedriger Kasten kam, und einer ausgehobenen Thür, die vom Künstler über Backtrog und Kasten gelegt wurde, ein stattlicher Tisch bescheert worden, an dem der Bundeskanzler mit uns frühstücken und diniren wird, während in der Zwischenzeit zwischen Frühstück, Mittagsbrod und Thee die Räthe und Secretäre die weltbewegenden Gedanken, die der Graf in der Stube unter uns denkt, an diesem Tisch in Depeschen, Instructionen, Telegramme und Zeitungsartikel verwandeln und säuberlich zu Papier bringen. Ein rissiges, gichtbrüchiges Waschbecken, welches Wilisch, als einstiger Seemann im Pesteln geschickt, mit Hülfe von Siegellack wieder dicht gemacht hat, und ein großer eiserner Topf aus der Küche, der die nothwendigen Zimmergeräthschaften vervollständigt, werden verschämt den Speisenden und Arbeitenden zusehen. Als Leuchter werden uns wie dem Minister leergetrunkene Weinbouteillen – die Champagnerflaschen eignen sich erfahrungsgemäß am besten dazu – geliefert, in deren Hälsen Stearinkerzen ganz ebenso hell brennen wie in den Tüllen silberner Kandelaber. Weniger gut als zu Geräth, Geschirr und Beleuchtung werden wir uns jetzt und später zu dem nöthigen Waschwasser verhelfen, da sogar Trinkwasser schwer zu haben ist, weil die Menschenmasse, die seit zwei Tagen die Brunnen des kleinen Clermont aussaugt, das vorhandene Naß für sich und die Pferde herausgepumpt hat. Nur Einer von uns jammert über diese und andere kleine Mißlichkeiten. Die Uebrigen scheinen sie mit mir guten Humors als das Salz unserer Expedition zu betrachten.
Wir bleiben mehrere Tage hier, und es wird fleißig gearbeitet auf der Tischplatte, was ihr, die eigentlich ihres Zeichens eine Stubenthür, gewiß noch nicht passirt ist und ihr vermuthlich lange im Gedächtnisse bleiben wird. Sehr wichtige Dinge, schon in Herny merklich, dann in Bar le Duc deutlicher erkennbar, sind in der Vorbereitung begriffen: wir werden uns, „wenn es Gottes [777] Wille ist“, eine bessere Westgrenze erobern. Der Chef kommt wiederholt auf die Sachsen, besonders die „kleinen Schwarzen“, und darauf zurück, daß sie sich „am 18. sehr brav geschlagen. In Deutschland sollte man das erfahren, aber sie selbst sprechen in ihren Blättern höchst bescheiden davon.“
Als ich hier zum ersten Male zum Minister gerufen werde, um einen Auftrag zu erhalten, sehe ich, daß er kaum besser untergebracht ist als wir. Er hat die Nacht auf einfacher Matratze am Fußboden geschlafen, seinen Revolver neben sich. Er arbeitet an einem Tischchen, auf dem kaum beide Ellbogen ruhen, in der Ecke neben der Thür. Die Stube ist auf’s Nothdürftigste ausgestattet; von Sopha, Lehnsessel u. dgl. ist nicht die Rede. Der, welcher seit Jahren die Weltgeschichte macht, in dessen Kopfe ihre Ströme sich concentriren, um, nach seinen Plänen verwandelt, wieder daraus hervorzugehen, hat kaum, wo er sein Haupt hinlege, während stupide Hofschranzen in bequemen Himmelbetten vom Nichtsthun ausruhen.
Ich überspringe wieder allerhand Bedeutsames, um möglichst rasch zum nächsten Culminationspunkte meiner Erinnerungen zu kommen. Sonntag, den 28., große Nachricht. Wir ändern mit der ganzen Armee, soweit sie nicht um Metz bleibt, die Marschrichtung und gehen, statt nach Westen auf Chalons zu, nach Norden am Fuße der Argonnen hin, nach dem Ardenner Walde und der Maasgegend. Am 29. früh zehn Uhr brechen wir auf. Das anfangs regnerische Wetter bessert sich. Wir passiren verschiedene Dörfer und zuweilen ein hübsches Schloß mit Park. An der Straße baierische Lager, Linieninfanterie, Jäger, Chevauxlegers, Kürassiere. Wir fahren durch das Städtchen Varennes und an dem kleinen, zwei Fenster breiten Hause vorüber, vor dem Ludwig der Sechszehnte auf seiner Flucht vom Postmeister von St. Menehould verhaftet wurde und in dem sich jetzt das Sensenlager der Firma Nicot-Jacquesson befindet. Dann weiter durch andere Dörfer, an andern Lagern, an preußischer Artillerie vorüber nach Grand Pré, wo der Minister auf der Grande Rue rechts, zwei oder drei Häuser vom Markte, Quartier nimmt. Der König wohnt in der nicht weit davon entfernten Apotheke, links vom Wege nach dem düstern alten Schlosse über dem Städtchen. Die zweite Staffel des großen Hauptquartiers, bei der sich der Prinz Karl, der Prinz Luitpold von Baiern, der Großherzog von Weimar und der junge Erbgroßherzog von Mecklenburg befinden, ist in dem nahen Dorfe Juvin untergebracht. Auf dem Markte einige französische Gefangene. Abends kommen noch etliche hinzu. Der Chef speist beim Könige. Erfahre, daß die Bewegung nach Norden dem Marschall Mac Mahon gilt, der mit einer starken Truppenmacht hier oben nach Metz hinzieht, und daß man für morgen einen Zusammenstoß mit ihm erwartet.
Als ich am nächsten Morgen hörte, daß König und Kanzler gleichzeitig wegfahren wollten, um dem großen Kesseltreiben nach dieser zweiten französischen Armee beizuwohnen, faßte ich mir, eingedenk der Worte, die letzterer nach seiner Rückkunft von Rezonville zu mir gesprochen, und des ein andermal von ihm citirten Spruches: „Wer sich grün macht, den fressen die Ziegen“, ein Herz und bat ihn, als der Wagen vorgefahren, mich mitzunehmen. Er entgegnete: „Ja, wenn wir nun aber die Nacht draußen bleiben, was soll da aus Ihnen werden?“ Ich erwiderte: „Einerlei, Excellenz; ich werde mir dann schon zu helfen wissen.“ – „Nun, dann gehen Sie mit!“, sagte er lächelnd. “Er that dann noch einen Gang nach dem Markte, während dessen ich vergnügt Reisetasche, Regenmantel und Tagebuch holte, und als er wiederkam und einstieg, setzte ich mich an seine Seite. Glück muß man haben, und seine Schuldigkeit muß man thun, daß man welches hat.
Es war kurz nach neun Uhr, als wir abfuhren. Zuerst ein Stück auf der Straße zurück, die wir Tags vorher gekommen waren, dann links durch Weinberge hinauf und über mehrere Dörfer in hügeliger Gegend, wo allenthalben marschirende oder ausruhende Truppencolonnen und Geschützparks vor uns und rechts im Thale zu sehen waren, nach dem Städtchen Busancy, wo wir um elf Uhr ankamen und auf dem Marktplatze Halt machten, um den König zu erwarten.
Unterwegs war der Graf sehr mittheilsam. Er befürchtete unter Anderm, daß es heute zu nichts kommen werde, was preußische Artillerieofficiere, die hart vor Busancy über’m Straßengraben bei ihren Kanonen standen, von ihm darauf angeredet, mit betrübter Miene auch meinten. „Das geht, wie mir’s zuweilen auf Wolfsjagden in den Ardennen, die hier beginnen, auch ging,“ sagte er. „Da waren wir halbe Tage hoch oben im Schnee und hörten, daß man die Fährte eines Wolfes gespürt hatte. Aber wenn wir dann nachfolgten, war er entwischt. So wird’s heute mit den Franzosen auch sein.“
Später, nach mancherlei Anderem, erzählte er seine Erlebnisse am Abend des 18. noch einmal. Sie hatten die Pferde eben zu Wasser geschickt und standen in der Dämmerung bei einer Batterie, welche feuerte. Die Franzosen schwiegen, „aber während wir dachten, ihre Geschütze wären demontirt, concentrirten sie nur ihre Kanonen und Mitrailleusen seit einer Stunde zu einem letzten großen Vorstoße. Plötzlich fingen sie ein ganz fürchterliches Feuern an, mit Granaten und ähnlichen Geschossen – ein unaufhörliches Krachen und Rollen, Sausen und Heulen in der Luft. Wir wurden vom Könige, den Roon zurückschickte, abgeklemmt. Ich blieb bei der Batterie und dachte, wenn wir zurückgehen müssen, setzest du dich auf den nächsten Protzkasten. Wir erwarteten nun, daß französische Infanterie den Vorstoß unterstützen würde, und da hätten sie mich gefangen nehmen können, wenn ich auch ein rollendes Revolverfeuer auf sie unterhalten hätte. – Endlich kamen die Pferde wieder, und nun machte ich mich fort. Aber wir waren aus dem Regen in die Traufe gerathen. An der Stelle, wo wir hinritten, schlugen gerade die Granaten ein, die vorher über uns weggeflogen waren. Am andern Morgen sahen wir die Schweinskuhlen, die sie gewühlt hatten.
So mußte denn der König noch weiter zurück, was ich ihm sagte, nachdem die Officiere mir das vorgestellt hatten. Es war nun Nacht. Der König äußerte, daß er Hunger habe und was essen möchte. Da gab es aber wohl zu trinken, Wein und schlechten Rum von einem Marketender, aber nichts zu beißen als trocken Brod. Endlich trieben sie im Dorfe ein paar Coteletten auf, gerade genug für den König, aber nichts für seine Umgebung, und so mußte ich mich nach etwas Anderem umsehen. Majestät wollte im Wagen schlafen, zwischen todten Pferden und Schwerverwundeten. Er fand später ein Unterkommen in einer Schenke. – – Der Bundeskanzler,“ fuhr der Graf fort, „mußte sich wo anders unter Dach zu bringen suchen. Wir ließen den Erben eines der mächtigsten deutschen Potentaten (der Erbgroßherzog [778] von Mecklenburg war gemeint) bei dem Wagen Wache stehen, daß nichts gestohlen würde, und ich machte mich mit Sheridan auf, um nach einer Schlafstelle zu recognosciren. Wir kamen an ein Haus, das noch brannte, und da war es zu heiß. Ich fragte in einem anderen – voll von Verwundeten. In einem dritten – auch voll von Verwundeten. Ebenso hieß es in einem vierten, ich ließ mich aber hier nicht abweisen. Ich sah oben ein Fenster, wo es dunkel war. ‚Was ist denn da oben?‘ erkundigte ich mich. – ‚Lauter Verwundete.‘ – ‚Das wollen wir doch untersuchen,‘ und ich ging hinauf, und siehe da: drei leere Betten mit guten und, wie es schien, ziemlich reinlichen Matratzen. Wir machten also hier Nachtquartier, und ich schlief ganz gut. (‚Ja,‘ hatte Bohlen gesagt, als der Kanzler uns die Historie in Pont à Mousson das erste Mal erzählte, ‚Du schliefst gleich ein, und ebenso Sheridan, der sich – ich weiß nicht, wo er’s hergekriegt – ganz in weiße Leinwand eingewickelt hatte, und der in der Nacht von Dir geträumt haben muß; denn ich hörte mehrmals, wie er murmelte: ‚O dear count!‘ – ‚Hm, und der Erbgroßherzog, der sich mit guter Manier in die Sache fand und überhaupt ein recht angenehmer und liebenswürdiger junger Herr ist,‘ bemerkte der Minister. – ‚Das Beste bei der Geschichte war übrigens,‘ sagte Bohlen, ‚daß eigentlich gar keine solche Noth um Unterkommen gewesen wäre. Denn unterdessen hatten sie entdeckt, daß nahe dabei ein elegantes Landhaus für Bazaine in Stand gesetzt worden war – mit guten Betten, Sekt im Keller und was weiß ich Alles – höchst fein – und da hatte ein General von uns sich einlogirt und hatte ein opulentes Abendmahl mit seiner Gesellschaft gefunden.‘) Ich hatte den ganzen Tag nichts als Conmmißbrod und Speck gehabt. Jetzt kriegten wir ein paar Eier – fünf – wozu später noch einige kamen. Die Anderen wollten sie gekocht, ich aber esse sie gern roh, und so stahl ich mir ein paar, zerschlug sie an meinem Degenknopfe und trank sie, was mich sehr erfrischte. Als es später wieder Tag geworden war, genoß ich das erste Warme seit sechsunddreißig Stunden – eine Suppe, die ich bei General Goeben bekam, bei dem ich während eines Unwetters Zuflucht suchte. Es war nur eine Erbswurstsuppe, sie schmeckte aber ganz vortrefflich.“
In der Zwischenzeit hatte der Kanzler von einem Soldaten ein Huhn gekauft, das aber ungekocht war. Später bot ihm ein Marketender ein gebratenes an. Bismarck nahm es, bezahlte dafür und reichte dem Manne noch obendrein das von dem Soldaten erworbene ungekochte Huhn. „Wenn wir uns im Kriege wiedertreffen,“ sagte er, „so geben Sie mir’s gebraten wieder! Wo nicht, so hoffe ich, daß Sie mir’s in Berlin zurückerstatten.“
Der Marktplatz in Busancy war voll Officiere, Ulanen, Husaren, Feldjäger und Fuhrwerke. Nach einer Weile kamen Sheridan und Forsythe auch an. Halb zwölf Uhr erschien der König, und gleich nachher ging es weiter, da Nachricht eingetroffen, daß die Franzosen unverhofft Stand hielten. Etwa vier Kilometer von Busancy gelangten wir auf höheres Terrain mit kahlen Senkungen rechts und links, jenseit deren wieder Höhen waren. Plötzlich ein dumpfer Knall aus der Ferne. „Ein Kanonenschuß,“ sagte der Minister. Noch eine Strecke weiter hinauf sah ich über der Senkung links auf einer baumlosen Bodenerhebung zwei Colonnen Infanterie aufgestellt und vor ihnen Geschütze, die feuerten. Es war aber so weit, daß man die Schüsse kaum hörte. Der Chef wunderte sich über meine guten Augen und setzte die Brille auf. Kleine weiße Nebelkugeln über der Senkung, über welcher die Kanonen standen, schwebten drei bis vier Secunden in der Luft und verschwanden dann mit einem Blitz – es waren Shrapnells. Die Geschütze waren offenbar deutsche und schienen ihre Geschosse nach dem Abhang auf der anderen Seite der Vertiefung vor ihnen zu schleudern, auf dem oben ein Wald zu bemerken war. Vor demselben mehrere dunkle Linien, vielleicht Franzosen. Noch weiter rechts in der Ferne schob sich eine hohe Bergnase mit drei oder vier großen Bäumen auf der Spitze in’s Land hinaus; sie bezeichnete nach der Karte das Dorf Stonn, wo, wie ich später hörte, der Kaiser Napoleon dem Gefecht zusah.
Das Feuern links hörte bald auf. Bairische Artillerie, desgleichen blaue Kürassiere und grüne Chevauxlegers jagen auf der Straße im Trabe an uns vorüber. Ein Stück weiter, wo wir durch ein kleines Gebüsch fahren, hören wir ein Geknatter, etwa wie eine langgezogene, nicht präcise abgegebene Pelotonsalve. „Kugelspritze!“ sagt Engel, sich auf dem Bocke umdrehend. Nicht fern von da, an einer Stelle, wo bairische Jäger im Straßengraben und in einem Kleefelde rasten, steigt der Minister zu Pferde, um mit dem König, der vor uns ist, weiter zu reiten. Die Jäger scheinen viele Marode zu haben, und wir stärken einige davon mit einem Schluck Cognac. Batterie auf Batterie saust an uns vorüber, bis endlich die Straße für uns wieder frei wird. Gerade vor uns erscheinen abermals weiße Granatenwölkchen über dem Horizont. Es geht da in ein Thal hinab, welches wir aber noch nicht sehen. Der Kanonendonner wird deutlicher, ebenso das Knarren der Mitrailleusen. Endlich wird auf ein Stoppelfeld rechts von der Chaussee, von der es links in eine breite Niederung hinunter geht, hinübergelenkt. Vor uns steigt der Boden zu einer sanften Höhe an, auf welcher der König etwa tausend Schritt von den Wagen und Pferden, die ihn und sein Gefolge hergebracht haben, mit dem Minister und einer Anzahl von Fürstlichkeiten, Generälen und anderen höheren Officieren Stellung genommen hat. Ich folge ihnen über Sturzacker und Stoppelfeld und beobachte nun seitwärts von ihnen bis zum sinkenden Abend die Schlacht von Beaumont.
Vor uns streckt sich ein breites, nicht sehr tiefes Thal aus, auf dessen Sohle sich tiefgrüner Laubwald hinzieht. Weiterhin offene Gegend, die sanft ansteigt, und in der nach rechts hat das Städtchen Beaumont mit seiner großen Kirche sichtbar ist. Zur Rechten davon wieder viel Wald bis an den Horizont. Ebenso ist links auf dem Thalrande im Hintergrunde Gehölz, nach welchem eine Chaussee mit Pappeln führt. Vor dem Gehölz ein kleines Dorf. Man sieht jetzt deutlich die Geschütze feuern. In Beaumont scheint es nach der dunklen Rauchwolke, die über dem Orte steht, zu brennen, und bald darauf geht auch in dem Dorfe am Walde links Qualm auf. Das Schießen war jetzt nicht mehr sehr heftig. Erst war es in der Gegend des Städtchens, dann zog es sich nach links hin, zuletzt erfolgten auch Schüsse aus dem Walde auf der Thalsohle, wahrscheinlich von der Artillerie, die vorher an uns vorbei gefahren war. Eine Zeit lang hielt im Vordergrund zu unserer Linken hinter einem Dorfe, welches die Karte Sommauthe nannte, bairische Cavallerie. Um vier Uhr etwa brach sie auf und verschwand drunten im Gehölz. Etwas später steigt andere Reiterei von der Chaussee hinter der Stelle, wo die Wagen halten, in die Senkung, über der wir zuerst Kanonenfeuer und Shrapnells gesehen, hinab, um, wie es scheint, auf Stonn weiter zu gehen. Am Saume des Waldes über dem brennenden Dorfe vor uns zur Linken wird dem Anschein nach lebhaft gekämpft. Einmal starkes Aufleuchten und dumpfer Knall darnach. Vermuthlich ist ein Munitionswagen aufgeflogen.
Es will dämmern. Der König sitzt jetzt auf einem Stuhle, neben dem man, da ein scharfer Wind weht, ein Strohfeuer angezündet hat, und beobachtet die Schlacht durch seinen Feldstecher. Der Kanzler thut desgleichen, indem er auf einem Rain Platz genommen hat. Man sieht jetzt auch das Blitzen der platzenden Granaten und die Flamme der Feuersbrunst in Beaumont. Die Franzosen ziehen sich immer weiter zurück, und der Kampf verschwindet hinter dem Kamme der baumlosen Höhen, die links von dem Gehölz über dem brennenden Dorfe den Horizont abschließen. Die Schlacht, die von Anfang an ein Rückzugsgefecht des Feindes gewesen zu sein scheint, ist gewonnen. Wir haben den Wolf des Ministers oder werden ihn haben.
Auf dem Rückwege nach Busancy wurde es allmählich ganz dunkel. Auf den Höhen und in den Senkungen neben der Straße begannen Lagerfeuer zu flackern, neben denen Silhouetten sich hin und her bewegten. Die Chaussee war voll baierischen Fußvolks. Eine Strecke weiterhin blinkten auch die Pickelhauben preußischer Infanterie – es waren die Königsgrenadiere. Zuletzt Colonnen von Fuhrwerken, die sich bisweilen verfahren hatten, sodaß es für uns Aufenthalt gab. Einmal bemerkte der Kanzler: „Ich möchte wissen, ob der Grund, daß wir hier stecken bleiben, derselbe ist, wie damals, wo fünf Schwaben, die Klöße gegessen hatten, einen Hohlweg verstopften.“
Am andern Morgen fuhren König und Kanzler weiter nach Vendresse, wobei sie unterwegs das Schlachtfeld vom vergangenen Tage besichtigten. Ich durfte den Minister wieder begleiten, und er war wieder ungemein mittheilsam und der Frage zugänglich. Er sprach zunächst von der grausamen Kriegführung [779] der Franzosen und ihrer steten Verletzung der Genfer Convention, „die freilich nicht viel tauge und in der Praxis kaum durchzuführen sei“. Dann erzählte er, daß die Rothhosen gestern keine große Vorsicht an den Tag gelegt und keinen besonders nachhaltigen Widerstand geleistet hätten. „Bei Beaumont wurden sie am hellen Morgen in ihrem Lager von einer Schleichpatrouille schwerer Artillerie überfallen. Wir werden’s heute sehen: die Pferde liegen erschossen an den Piquetpfählen, viele Todte in Hemdsärmeln, ausgepackte Koffer, Schüsseln mit gekochten Kartoffeln, Kessel mit halbgahrem Fleisch und dergleichen.“ Er kam dann auf Borck, den Schatullenmeister des Königs, von diesem auf Bernstorff, unsern Gesandten in London, und von dem auf seinen Nachfolger auf dem Botschafterposten in Paris, von der Goltz, zu sprechen (der nach seiner Schilderung ein Geistesverwandter Arnim’s gewesen sein muß). Darauf charakterisirte er Radowitz, wobei er äußerte: „Man hätte sich vor Olmütz mit der Armee eher in Positur setzen sollen.“ – – „Statt an Rüstung zu denken, beschäftigte er den König in Verfassungskleinigkeiten, einer wetterauer Grafenbank und anderen mittelalterlichen Scherzen, mit Etiquettesachen und dergleichen. Einmal hatten wir Nachricht, daß Oesterreich in Böhmen 80,000 Mann zusammenzöge und viele Pferde kaufe. Man sprach davon beim Könige, und Radowitz stand dabei. Plötzlich trat er mit der Miene des Bestunterrichteten heran und sagte: ‚Oesterreich hat in Böhmen 22,493 Mann und 2005 Pferde‘ – Sprach’s und drehte sich mit dem Bewußtsein um, wieder einmal imponirt zu haben.“
Vor Beaumont stiegen der König und der Minister zu Pferde, um nach der Stelle zu reiten, wo die „Schleichpatrouille“ gearbeitet hatte. Ich folgte ihnen zu Fuße, während die Wagen nach dem Städtchen hinfuhren, um zu warten. Das betreffende Feldstück lag rechts von der Straße, etwa achthundert Schritt von ihr entfernt. Vor demselben, nach dem Walde der Thalsohle hin, befinden sich heckenumgebene Aecker, auf denen etwa ein Dutzend todte Deutsche liegen – Thüringer vom 31. Regiment. Die Lagerstelle selbst sieht entsetzlich aus. Alles blau und roth von französischen Todten, die zum Theil von den geplatzten Granaten ganz unbeschreiblich übel zugerichtet sind, schwarz von Pulver, starrend von geronnenem Blute, auf einem Flecke sechs beieinander, von denen dreien die Köpfe, einem Unterleib und Eingeweide weggerissen sind, während einer, dem man das Gesicht mit einem Tuche bedeckt hat, noch gräuelvoller entstellt zu sein scheint. Ein Stück weiter liegt eine Hirnschale wie eine Schüssel, daneben das Gehirn wie ein Kuchen. Käppis, Mützen, Tornister, Papiere, Jacken, Schuhe, Wichs- und Kleiderbürsten sind umher gestreut. Offenstehende Officierskoffer, Pferde an Pfahl und Halfter erschossen, an erloschenen Kochfeuern Kessel mit geschälten Kartoffeln oder Schüsseln mit Fleischstücken zeigen, wie unverhofft die Unsern und mit ihnen das Verderben gekommen sind. Auch eine bronzene Kanone ist stehen geblieben. Ich nehme mir von einem Todten eine Messingmedaille mit, die er an einer Gummischnur auf der bloßen Brust trägt. Ein Heiliger ist darauf, also wahrscheinlich ein Amulet; es hat den armen Burschen aber nicht „gefroren“ gemacht. Marketender und Soldaten gehen suchend herum. „Sind Sie ein Doctor?“ ruft man mir zu. – „Ja, aber kein Arzt. Was wollen Sie?“ – „Dort liegt Einer; der lebt noch.“ Es war richtig, und er wurde auf einer mit Leinwand bespannten Tragbahre fortgeschafft. Eine Strecke weiter am Feldwege, der nach der Chaussee führt, war wieder Einer auf den Rücken hingestreckt, der, wie ich mir ihn näher besah, die Augen verdrehte, und dessen Brust noch athmete, obwohl eine Flintenkugel ihn in die Stirn getroffen hatte. Es mochten auf einem Raum von fünfhundert Schritt in’s Geviert wohl anderthalbhundert Leichen sein, darunter nicht mehr als zehn oder zwölf von den Unsern.
Ich hatte wieder einmal genug von solchen Bildern und beeilte mich, nach Beaumont zu den Wagen zu kommen. Auf dem Wege dorthin sah ich rechts von der Landstraße in einem rothen Steinbruche eine Masse Gefangener. „Circa siebenhundert,“ sagte der Lieutenant, der sie bewachte. Am Markte und um die hochgelegene Kirche waren wieder zahlreiche gefangene Rothhosen, darunter mehrere höhere Officiere. Ich fragte einen sächsischen Jäger, wo die Wagen des Königs seien. „Sind schon fort – vor einer Viertelstunde – dort hinaus.“ Also verspätet – fatal! Ich eile nach in der angegebenen Richtung, und es gelingt mir, den Kanzler am Rande des Waldeck über dem Dorfe, das Tags vorher brannte, einzuholen. Er hat gewartet und schon nach mir zurückschicken wollen, sich aber mit dem Gedanken beruhigt: „Der Doctor kommt nicht um. Der bleibt zur Noth des Nachts bei einem Wachtfeuer und fragt sich hernach schon wieder zu uns.“
Er erzählte dann, was er inzwischen erlebt, unter Anderm: „Bei der Kirche bemerkte der König einen Musketier, der verwundet war, reichte ihm die Hand, ohne Zweifel zu großer Verwunderung der französischen Officiere, und fragte, was er für ein Metier habe. – Er wäre Doctor der Philosophie. – ‚Nun, dann werden Sie gelernt haben, Ihre Verwundung philosophisch zu ertragen,‘ sagte der König. – ‚Ja,‘ antwortete der Musketier, das hätte er sich schon vorgenommen.“
Unterwegs holten wir in einem Dorfe marode Baiern ein. „Heda, Landmann!“ rief der Bundeskanzler dem einen zu, „wollen Sie ’mal Cognac trinken?“ Natürlich wollte er und ein anderer und ein dritter ebenfalls, und so tranken sie und noch ein paar aus des Ministers Feldflasche und bekamen dann noch jeder seine Cigarre.
Eine halbe Meile weiter hatte der König für sich und die Fürstlichkeiten in seinem Gefolge in einem Dorfe ein Frühstück arrangiren lassen, an welchem der Chef auch theilnahm, während ich mir auf einem Steine meine Notizen machte und dann den Holländern, die neben dem Orte in einem großen grünen Zelte ihre Hülfsambulanz aufgeschlagen hatten, Verwundete herbeischaffen und pflegen half.
Abends nach sieben Uhr waren wir nach langer Fahrt in Vendresse, wo der Kanzler im Hause der Wittwe Baudnot Wohnung nahm.
Ein reifkalter Spätherbsttag – die Erinnerung daran verweist mich nun schon auf viele, viele Jahre zurück – hatte mich wieder einmal zu einem mir befreundeten Förster eines dem Jagdschlosse Moritzburg nahe gelegenen Revieres hinausgeführt, mit dem ich der Feldjagd obliegen wollte, die damals in jener Gegend noch recht ergiebig war. Von früh morgens an bis zur späten Tagesneige, die dann doch endlich Halali gebot, waren wir, außer bei einem kurzen Mittagshalte, ununterbrochen auf der Suche geblieben, als mein lieber Jagdgeber den friedlichen Klang der Vesperglocke vom hinter dem Walde verborgenen Kirchdorfe her dahin deutete: wir sollen der Schenke zueilen. Beschleunigten Schrittes wandte daher der Gute sich einer an der nahen Heerstraße gelegenen Ausspannung zu, um hier vor dem Heimgang erst noch ein wenig zu rasten, sowie dabei seinen trocken gewordenen Gaumen durch ein „Einfaches“ (Lagerbier kannte man zu jener glücklichen Zeit in dieser Gegend noch gar nicht) anzufrischen, dem dann freilich auch noch – nur aus sanitätlicher Rücksicht, wie der durstige Nimrod behauptete – einige „Brände“ nachgeschluckt wurden. Bei dieser nichts weniger als schwelgerischen Zeche konnte mein Jägersmann aber doch mit bewundernswerther Ausdauer stundenlang sitzen bleiben, folgte er doch wahrscheinlich dabei nur einem seiner beliebten Waidsprüche:
„Ich sitze gern im Schenkenhaus;
Dort schlägt kein Reis das Aug’ mir aus.“
Mir aber war’s eben auch recht, in der verräucherten Gaststube, die mit ihrer glänzend schwarzen Balkendecke und mächtigen Holzsäule inmitten des dämmergefüllten Raumes eine höchst gemüthliche war, ausharren zu müssen. Hat doch ein solches Local mit seinen ständigen wie wechselnden Insassen, den Wirthsleuten [780] und den Gästen, für mich von jeher eine ganz besondere Anziehungskraft ausgeübt, und so auch heute.
Da saß am großen grünen, von einem Holzgerüst umgebenen Kachelofen, dem eine schon recht behagliche Wärme entströmte, beim Schein eines Talglichtes, das geknickt in einem höchst primitiven Drahtleuchter umherschwankte, eine Gruppe Frachtfuhrleute, kernfeste, wetterharte Gestalten, in ihren blauen Ueberhemden und plumpen Aufschlagstiefeln gar prächtig anzuschauen, welche hier bereits zum Abend ausgespannt hatten und nun ihr reichlich aufgetragenes wohlduftendes und gewiß auch recht schmackhaftes Mahl verzehrten. Vortrefflich hierzu stimmte der Hintergrund. Diesen bildete ein in Tabaksqualm schier verhüllter großer vergatterter Ausschank, hinter dessen mit allerhand inhaltreichen seltsam geformten Flaschen, mächtigen Biergläsern und sonstigen Trinkgeschirren, wie blank geputzten Zinnmaßen besetzter Brüstung die wohlbeleibte Wirthsgestalt auftauchte. Das unvermeidliche grüne Sammetkäppchen auf dem dicken Schädel, wartete dieser Biedere hier selbstgefällig seines Amtes und war jeden Augenblick bereit, die durstigen Kehlen seiner Gäste zu netzen.
Andererseits füllten nun auch noch heimkehrende Landleute, zumeist Waldarbeiter, wie der ihnen anhaftende eigenthümliche Haidegeruch es gleich verrieth, die Schenke, und diese ergötzten mein Auge nicht minder durch ihre charakteristischen Erscheinungen als die schon vorher Geschilderten. Ganz besonders aber fesselte von den Hinzugekommenen meine Aufmerksamkeit ein großer, starkknochiger, trotz seines schneeweißen Haares noch völlig ungebeugter, wetterfester Mann; er war, wie ich sogleich erfuhr, der älteste und bravste Waldarbeiter des ganzen Forstbezirkes und namentlich auch bei den Königsjagden in Moritzburg ein unentbehrlicher Treibmann, meinem Jagdgeber und Gewährsmann also auch ein alter Bekannter. Daher begrüßte der muntere Alte seinen Vorgesetzten, als er seiner ansichtig geworden, in zutraulichster Art mit einem „Guten Abend, Herr Förster! ’s freut mich, Sie hie zu treffen, denn das paßt mer g’rade, Ihnen hinte noch was zu erzählen.“ Und nun stattete er seinem aufmerkenden Brodherrn folgenden originellen Bericht ab:
„Heute Morgen, als ich mit meinem Schiebbock auf’s Revier nach dem hintern Holzschlage ’nausfuhr, da stand gar nich weit vom Schmäligswege, wo der spitze Feldzippel sich in’s Holz ’reinschiebt, ein ganzer Schwarm großmächtiger Vögel, solch Zeug ich in meinem ganzen Leben noch nich gesehen. Das waren doch Kerle, wie die Truthühner.“
Auf des Försters Vermuthung: es seien wohl wilde Gänse gewesen, welche dort in dem anstoßenden Stücke Saat gelegen, entgegnete aber der Alte:
„O nee – die Sorte kennen mer genau, haben doch dergleichen Aeser vergangenen Herbst mei Bissel Wintersaat, das ich hinterm Hause stehen hatte, in eener Nacht total ruginirt. Nee, nee, dergleichen Beester waren’s nich; denn sie hatten ooch nich etwa Latschen, sondern ganz gehörig lange Beene. Und rennen konnte das Teufelsviehzeug, als es vor mir flüchtig wurde, g’rade wie die Windhunde.“
Nun schoß uns sozusagen das Blatt – dieser Beschreibung nach hatte der gute Mann Trappen gesehen. War dies doch auch gar nicht so unmöglich, da auf weiter gelegenen, nachbarlichen Fluren dann und wann einmal ein Stück dieses stattlichsten Federwildes geschossen wurde. Ja, in nicht allzu ferner Umgegend, bei Großenhain nämlich, wo die weitgedehnten Flächen ein recht günstiges Terrain dazu bieten, hatten bisher fast jedes Jahre wenigstens einige Exemplare dieser seltenen Vogelgattung Stand gehalten. Daher konnte ja wohl leicht auch einmal ein auf dem Striche befindliches oder versprengtes Gesperre dieser Ungewöhnlichen sich hierher verirrt haben. Mein darnach lüstern gewordener Waidmann beschloß augenblicklich, des andern Morgens mit mir Auslug nach den Vermutheten und im glücklichen Falle Jagd auf sie zu halten, und beorderte demnach vor Allem auch den gemüthlichen Berichterstatter, den alten „Bienenlob“, wie er allgemein genannt wurde, dazu, uns zu begleiten.
Frohgemuth, weil um eine aufregende Jagdhoffnung reicher, machten wir uns auf den Weg, dem traulichen Jägerheim zu, und ich konnte hier kaum den andern Tag erwarten, an welchem wir dem seltenen Wilde nachzuspüren gedachten.
Nach unruhig vollbrachter Nacht, während welcher ich mich im Traume mit riesengroßem, phantastisch geformtem Geflügel umhergebalgt hatte, dämmerte endlich der Morgen, und ich verließ schleunigst das Lager. Rechtzeitig meldete sich dann auch alsbald unser „Bienenlob“ im Forsthause, und auch wir, der Förster und ich, säumten nun keinen Augenblick länger, für Alles wohl vorbereitet, zum vorgenommenen Ausfluge aufzubrechen. Vorerst galt es hierbei, dem Orte, wo der Alte gestern die „Beester“ gesehen, zuzusteuern. Deshalb wanderten wir wohl anderthalb Stunden weit hinaus, ehe wir nur in die Nähe des Feldstückes kamen, wo die fraglichen Vögel gestanden haben sollten. Von hier aus, den Wind wohl beachtend, schlichen wir nun mit aller Vorsicht bis zu der erwähnten Stelle, von wo aus gestern die heute Gesuchten entflohen sein sollten.
Trotz des hier genommenen sorgfältigsten Umblickes, wobei auch der vom Förster wohlweislich eingesteckte Feldstecher seine Dienste leisten mußte, war weit und breit keine Feder zu erblicken, auch etwaige Fährten nicht zu sehen, da wir uns auf hochgrasigem und haideüberwuchertem Terrain, beziehungsweise auf schon seit mehreren Tagen hartgefrorenem Feldboden befanden. So erwies sich denn unsere erste Ausschau nach den Ersehnten als gänzlich erfolglos, ja auch nicht einmal zu weiteren Hoffnungen berechtigend. Dennoch sahen wir nicht kleinmüthig von jedem weiteren Schritte ab; vielmehr ward nun der freilich etwas gewagte Anschlag zum Beschluß erhoben: Nero, den vortrefflichen, mit ungewöhnlich feiner Nase begabten und seiner englischen Abstammung zufolge weithin suchenden Hühnerhund zu lösen, und die vor uns ausgebreitete Fläche abrevieren zu lassen, um dadurch wenigstens über das „Sein oder Nichtsein“ der Begehrten an dieser Stelle in’s Klare zu kommen. Zu diesem Zwecke nahmen wir beiden Schützen vorläufig eine kleine Erhöhung ein, von der man Alles, so weit das Auge ringsum, selbst das bewaffnete, reichte, überblicken konnte, den Nero aber ließ der Förster durch unsern braven Führer von derjenigen Stelle aus, wo dieser gestern die Laufvögel hatte forteilen sehen, die vorliegenden Fluren absuchen. Das Jagdgebiet sofort flüchtig nehmend, stieß er wohl hier und da einen lose sitzenden Hasen vor sich heraus, bis er plötzlich anzog, und zwar in höchst auffällig markirter Weise. Rascher schlugen jetzt unsere Herzen, und als der Kluge vollends fest vorstand und wir nun ohne Zögern, mit dem gehörigen Abstand voneinander, auf den Hund zuschritten, da hegten wir von Neuem die beste Hoffnung. Freilich hatten wir erwartet, daß, stieße Nero wirklich auf die gesuchten Trappen, diese sofort vor ihm flüchtig werden würden, aber gern ließen wir jetzt diese Annahme als eine irrige gelten, trösteten wir uns doch damit, daß es sich ja ereignen könne, daß dieses für uns unberechenbare Wild auch einmal einem umsichtigen Vorstehehunde aushielte.
In diesem tröstlichen Glauben schritten wir gespannt, aber auch auf’s Bedächtigste vorwärts. Kaum waren wir jedoch nur annähernd auf Schußweite herangekommen, so bewegten sich vor dem Hunde auch schon die hohen Schmälen. Deshalb ließ der Förster, rasch entschlossen, den Hund einspringen, sodaß die Flüchtlinge alsbald schwirrend vor ihm aufstanden und uns veranlaßten, rasch hinter einander vier Schüsse unserer Büchsflinten darnach abzugeben. Dieses kleine Rottenfeuer brachte wirklich ein Stück der weithin Beschossenen zu Falle, welches nun auch sofort vom Hunde apportirt ward. Aber wir fanden nicht, was wir gesucht hatten. Die immerhin recht starken, aber von uns doch gleich erkannten Vögel, von denen wir jetzt ein Exemplar in Händen hielten, waren nur ein Flug Birkwild, der uns geäfft hatte. Da nun auch dieses Geflügel nur ausnahmsweise im Reviere vorkam, so glaubten wir jetzt zuversichtlich, der gute, ehrliche „Bienenlob“ habe gestern auch nur solches gesehen und die ihm – unserer Meinung nach – unbekannten Vögel seien ihm nur in seinem überraschten Sinne so übertrieben groß und schnelllaufend vorgekommen, wie er es uns in seiner drastischen Art beschrieben. Als daher der Förster dem herangekommenen Alten in bester Laune lachend vorhielt, daß in diesem Falle einmal seinen Augen die gestern von ihm gesehenen „Beester“ und deren „Beene“ etwas zu groß, auch ihr Laufen als zu schnell erschienen, und ihm zum Beweise des Gesagten nun die eben erlegte Beute vorzeigte, da schüttelte der greise Mann unwirsch, ja ordentlich zornig, das graue Haupt und sprach:
„Solch wildes Hühnervolk, von der die Bürkhinne hie ist“ – er erkannte die Wildgattung auf den ersten Blick – „das [781] habe ich in meinem Leben wahrscheinlich mehr gesehen als Sie, Herr Förster. Solch Zeugs gab’s früher hie, wo noch nich jeder Schwanz weggeschossen wurde, zu Haufen. Ja, in jener Zeit, als ich noch jung und Sie noch nich geboren waren, da kollerten die Rackers im Frühjahre, eso im März ’rum – obig der Ecke auf den weiten Brüchen hinterm Auer, da wo der Wildzaun d’ran hingeht, bis nunger an die Altenteiche – wie die alten Trommeln, und springen that dabei die verrücktige Bande, wie besessene Kobolde. Nee, nee – die Art kennen mer noch zu genau von früher her, als daß mer sie etwa mit dem
mir gestern vor’s Gesicht gekommenen groben Zeuge verwechseln könnten. Das war eine ganz andere Bande, wie die, von der die lumpige Bürkhinne hie herstammt.“
Nun, uns verdroß diese etwas derbe Zurechtweisung keineswegs; unsere Enttäuschung wandelte sich dadurch in neue, froheste Hoffnung um, denn an der Wahrhaftigkeit unseres gekränkten Belehrers brauchten wir keinen Augenblick zu zweifeln. Darum ward mit frischem Muthe weiter nach den Mysteriösen gesucht und nicht, wie wir bereits beschlossen, dem in das Holz hereingestrichenen Birkwild nachgezogen. Vielmehr ging es nun immer weiter hinaus auf die Fluren, wobei kein Feld, kein Acker, brachliegend oder bestellt, keine Wiese oder sonstiges Stück offenes Land unberührt gelassen wurde. Alles, alles gingen wir mit größter Gewissenhaftigkeit ab, den Hund dabei jetzt nur noch kurz suchen lassend, aber nirgends wollte das „langbeenige Viehzeug“ zum Vorschein kommen. Da wandten wir uns noch zuguterletzt einem wüsteliegenden Stücke Rodeland, das früher Bauernbusch gewesen und äußerstes Grenzstück im Reviere war, zu, weniger in der Voraussetzung, hier noch unsere Sehnsucht erfüllt zu sehen und das Gesuchte zu finden, als vielmehr dabei nur gelegentlich einen weiterhin liegenden kleinen Waldteich abzugehen und dort vielleicht noch ein paar Enten zu schießen. Da der Boden vor uns ein wenig hügelig war und man von seinen Erhöhungen aus weithin Alles übersehen konnte, ward noch einmal verlorener Weise mit dem Feldstecher Umschau gehalten, und mit so geschärftem Blicke auch dieses öde Stück auf’s Sorgfältigste durchforscht, bald vom Förster, bald von mir. Auch „Bienenlob“ versuchte es einmal damit, behauptete aber: durch diese „Röhre“ sähe er gar „nischt“, da könne er ebenso gut in einen Sack „’neingucken“. So war denn [782] das verschmähte Glas eben wieder zu seinem Besitzer zurückgekommen und abermals von diesem zu neuem Auslug benutzt worden, als ich in dessen Mienen eine auffallende Erregtheit wahrnahm, ja seine Hand zittern sah. Und mit einem: „Der Satan soll mir gleich einen Waidmann setzen, wenn dort die Teufelsbraten nicht stehen,“ reichte der Förster mir den Gucker, und beschrieb mir genau den Fleck, wo er das hohe Federvieh zu sehen geglaubt. „Da über den dürren Haidestreifen hin, genau in der Richtung des dort stehenden Kiefernkuschels, rechts von dem alten Stocke auf der kleinen fahlen Blöße, da stehen sie – ich will keinen Finger je wieder krumm machen, wenn’s nicht trifft.“
Rasch fand ich mich zurecht, schaute scharf hinauf nach dem mir bezeichneten, etwa fünfhundert Schritte entfernten Plätzchen – und wirklich! da standen und saßen die Vermutheten und endlich doch Gefundenen leibhaftig vor meinem erstaunten Auge. Wir waren gut gedeckt und zudem im besten Winde; diese seltsamen Gäste schienen keine Ahnung von ihren Beobachtern zu haben. Dennoch kauerten wir uns alle Drei vorsichtig auf den Boden hinter dichten Anflug nieder und beriethen hier, wie wohl am besten bis auf Schußweite, wenn auch nur für den Büchsenlauf unserer Doppelzeuge, an die Erschauten hinanzukommen sei. Nach Einigung der Ansichten hierüber, wobei der alte „Schneesieber Bienenlob“ ganz vortreffliche Taktik bekundete, schlichen der Förster und ich mit unsäglicher Vorsicht, jede irgend geeignete Deckung wahrnehmend, dem scheuen Wilde zu, während der Waldarbeiter mit dem Hunde auf dem Entdeckungsposten ausharren mußte, um für etwaige Vorkommnisse freien Ueberblick zu behalten. So kamen wir, und zwar zu unserem eigenen Erstaunen, wirklich bis auf ein paar hundert Schritte an die inzwischen ganz ruhig Gebliebenen hinan, als sie nun doch auf einmal rege wurden und zu enteilen sich anschickten. Da schossen wir, Alles auf’s Spiel, nämlich auf eine Kugel setzend, genau zugleich die Büchsenläufe unserer Gewehre den Flüchtigen über die Köpfe hinhaltend, nach den vor der Hand nur erst im Laufen Begriffenen ab, und zu unserer Freude blieb ein Stück der Trappen, nach vergeblichem Bemühen mit den anderen fortzukommen, zurück und verschwand bald hinter einem Haidebusche, während die Davongeeilten in die Höhe und zum Fluge kamen, dann aber ebenfalls schnell hinter Hügelland des nachbarlichen Grenzrevieres, wo sie wieder einzufallen schienen, unseren Blicken entschwanden.
Rasch ward nun der Hund herbeigeholt und, an der Leine behalten, auf den Anschuß gesetzt, von wo aus uns sehr bald das kluge Thier, nachdem wir ihn von der erst angenommenen Fährte der Entflohenen, die wir auf dem den Tag über weich gewordenen Boden nicht unschwer erkennen konnten, abgeführt hatten, auf die untrügliche Spur des Angeschossenen brachte und darauf fortleitete, bis er, die Nase herumwerfend, plötzlich seitwärts abbog und uns nun direct auf Schweiß brachte, der allenthalben an den langen Grashalmen und Schmälen sich zeigte. So konnten wir denn jetzt ohne Gefahr den Hühnerhund frei weitersuchen lassen, der auch, nur erst von der Leine gelöst, sogleich flüchtig auf der nicht mehr zu verfehlenden Spur fortschoß, in wenigen Minuten schon zurückkehrte und stolz, als wüßte er, was Hohes ihm zur Beute geworden, den glücklichen Fang – einen jungen Trapphahn! – herzubrachte.
Gern theilten wir unsere herzinnige Freude darüber mit dem getreuen, braven „Bienenlob“, dem anstelligen Anstifter der geglückten Jagd, der darob aber nicht wenig stolz war. Hatten wir doch in der That nur ihm allein unseren heutigen Waidmannsegen zu verdanken. Ein verabreichter doppelter Tagelohn brachte dem Genügsamen noch einen geschätzten materiellen Gewinn, der ihm schließlich doch noch weit über das Vergnügen ging, welches er unverkennbar an der Erlegung der von ihm so bezeichnend beschriebenen „langbeenigen Beester“ hatte.
Mir aber war an diesem Tage außer dem gehabten Hochgenuß der Jagd auch noch der geworden: zum ersten Male in meinem Leben Trappen in Freiheit gesehen zu haben. Nicht mindere Freude gewährte mir am andern Tage die Gelegenheit, an der prächtigen Jagdbeute, dem erlegten Trappen, direct nach der Natur studiren zu können, so daß ich die mir lebhaft im Gedächtniß gebliebene Gruppe, wie ich sie durch’s Fernglas beobachtet, darnach ausführen und sie nun, nach langen Jahren, an dieser Stelle meinen „Wild-, Wald- und Waidmannsbildern“ einverleiben konnte.
Der Schnee knirschte unter den Füßen der beiden Wanderer, die rüstigen Schrittes auf der holprigen Straße zwischen den beiden Dörfern Bergen und Hammer dem letzteren Orte zueilten. Es war der Lehrer Rößler mit seinem Bruder, einem stattlichen Manne in den besten Jahren, der in einer Stadt der benachbarten Provinz gleichfalls ein Lehreramt bekleidete und nach jahrelanger Trennung gelegentlich eines freudigen Familienereignisses zu seinem etwas älteren Bruder auf Besuch gekommen war. Er hatte die Ferienzeit bei demselben zugebracht. Walter – das war der Name des jüngeren Bruders – hatte noch einige Tage über die Ferien hinaus Urlaub genommen, die er gleichfalls in Bergen bei der Familie seines Bruders Ernst verleben wollte. Letzterer hatte für heute den Unterricht seinem Adjuvanten überlassen, um vor der Abreise seines Bruders diesen noch mit dem Collegen Dreher in dem etwa eine Meile von Bergen entfernt liegenden Hammer bekannt zu machen. Zu diesem Zweck sehen wir die beiden Wanderer auf dem Wege nach Hammer.
Ernst erzählte seinem Bruder, wie Dreher ein ausgezeichneter Lehrer, gleichzeitig aber ein außerordentlich ängstlicher und schüchterner Mensch sei, der sich durch die geringfügigste Kleinigkeit in’s Bockshorn jagen lasse und dadurch schon vielfach Veranlassung zu heitern Scenen gegeben habe. Walter, ein lebensfroher, stets zum Scherzen aufgelegter Mann, hörte aufmerksam zu, und der Plan zu einem kleinen Ulk war bald in seinem Kopfe fertig. Nach R., der Regierungshauptstadt, war vor Kurzem aus einem entfernten Bezirke der Schulrath Bartsch versetzt worden.
„Hat Bartsch schon in Eurer Gegend die Schulen revidirt?“ So fragte Walter im Vorwärtsschreiten seinen Bruder. Als dieser verneinte, fuhr er fort: „Dreher kennt also den neuen Schulrath noch nicht – gut, dann giebt es einen Hauptspaß.“
Walter entwarf nun einen Schlachtplan, und Ernst erklärte sich einverstanden. Wohlgemuth rückten die beiden Brüder in Hammer ein, aus dessen Schule ihnen lauter Gesang der versammelten Schuljugend entgegenschallte.
„Ich bin der Schulrath Bartsch aus R.,“ – so redete der jüngere Rößler den beim Eintritt der beiden Männer in das Schulhaus aus der Schulstube ihnen entgegenkommenden Lehrer Dreher an, der bei diesen Worten ehrerbietig sein Käppchen zog und einen tiefen Bückling machte. „Ich habe,“ fuhr Walter fort, „die Schule in Bergen revidirt und nun zu gleichem Zwecke in Begleitung Ihres Collegen Rößler zu Fuß die kurze Strecke hierher zurückgelegt, da ich des ewigen Fahrens bei meinen Revisionen nachgerade müde geworden bin. Wie lange sind Sie schon auf dieser Stelle, und wie ist dieselbe dotirt?“
Dreher, dem bei der barschen Anrede des Pseudo-Schulraths alles Blut in’s Gesicht gestiegen war, erwiderte mit zitternder Stimme: „Ich bekleide die hiesige Lehrerstelle seit siebenzehn Jahren; das Einkommen derselben beläuft sich außer freier Wohnung und fünf Morgen Ackernutzung auf jährlich hundertundsechszig Thaler.“
„Hm, hm,“ meinte der Schulrath, „ein ganz bedeutendes Einkommen, eine vorzügliche Stelle, und dabei hört man nichts als Klagen über die unauslängliche Dotirung der Landlehrerstellen. Sie müssen ja gewaltige Ersparnisse machen, lieber Dreher.“
„Es reicht gerade zur Noth aus, Herr Schulrath,“ wagte Dreher einzuwenden. „Wenn man Frau und vier Kinder hat, so ist an’s Sparen nicht zu denken.“
„Also schon verheirathet,“ fuhr ihn der Schulrath stirnrunzelnd [783] an; „ich bin kein Freund vom Heirathen in so jugendlichem Alter. Wie alt sind Sie?“
„Einundvierzig Jahr,“ stotterte Dreher.
„Das wäre, meinte der Schulrath, „das Alter, wo Sie allenfalls ans Heirathen denken könnten. So aber ist durch das frühe Heirathen und den Besitz eigener Kinder nun schon alles Interesse von der Erziehung fremder Kinder abgelenkt; die arme Gemeinde wirft das theure Geld für den untauglich gewordenen Schulmeister zum Fenster hinaus, und der saure Schweiß des Bauern wird in allerhand Flitterstaat und Leckereien für Frau und Kinder des Schulmeisters vergeudet.“
Dreher war blaß geworden; all’ der Flitterstaat und die Leckereien, die er seiner besseren Hälfte und seinen Sprößlingen, wenn sie ihn in der Stadt aus den glänzenden Schaufenstern so verlockend anlachten, so gern gekauft hätte, wenn nicht sein spärliches Einkommen, von dem er nach der Ansicht des Schulraths so große Ersparnisse machen sollte, ein gebieterisches Veto eingelegt hätte, tanzten vor seinen Augen; der Angstschweiß trat ihm auf die Stirn, und um denselben abzutrocknen, zog er sein Sacktuch aus der Tasche, der bei dieser Gelegenheit eine große Schnupftabakstose entrollte.
„Ich glaube gar, Sie schnupfen,“ zeterte der Schulrath. „Einen unverkennbaren Tabaksgeruch habe ich bereits beim Eintritt in dieses Haus wahrgenommen. Rauchen Sie, schnupfen Sie?“
„Nur ab und zu ein Mal,“ hauchte Dreher, der vollständig in sein Nichts zurückgeschleudert war.
„Also um einem Dorfschulmeister,“ so donnerte der Schulrath, „Gaumen und Nase zu kitzeln, müssen in der tropischen Hitze von Cuba und Havanna Tausende von Sclaven auf den Tabaksfeldern ihre Gesundheit zu Grabe tragen! Herr, denken Sie an die ewige Gerechtigkeit?“
Dem armen Dreher fingen die Sinne an zu schwinden; er hatte nie geahnt, welch kolossaler Sünder er sei, und er seufzte aus tiefinnerster Brust: „Ich habe nie Cuba oder Havanna, sondern immer nur bescheidentlich Uckermärker oder Pfälzer, das Dutzend zu Zweiundeinhalb, geraucht.“
„Beschönigen Sie Ihre Laster nicht!“ herrschte ihn der Schulrath an. „Es ist leicht und angenehm, der fleißigen Bauern saueren Verdienst zu verprassen und ihnen dafür nichts als blauen Dunst vorzumachen. Ich werde auf Ihre Führung für die Folge ein besonders wachsames Auge richten.“
Eine Antwort schwebte auf Dreher’s Lippen, aber ein donnerndes: „Haben Sie Etwas einzuwenden?“ des Schulraths und ein leises: „Um Gottes willen, schweigen Sie! Der Schulrath kennt sich nicht in seinem Zorn,“ Rößler’s verdammten ihn zum Schweigen.
„Womit beschäftigten Sie sich, als ich eintrat?“ fuhr der Schulrath etwas ruhiger fort, indem er in das Schulzimmer trat.
„Mit Singen,“ antwortete Dreher.
„Was können die Kinder singen?“
„‚Guter Mond, du gehst so stille.‘“
„Warum nicht: ‚Goldne Abendsonne‘?“
„Ich wollte es nächstens einüben.“
„Man sieht, richtiges Verständniß chronologischer Reihenfolge fehlt Ihnen gänzlich. Die Abendsonne kommt vor dem goldenen Monde und mußte auch vor diesem eingeübt werden. Singen: ‚ungenügend‘. Verstanden?“
„Zu Befehl, Herr Schulrath!“
„Nun zum Rechnen! Rechnen ist die größte Kunst und Wissenschaft des Lebens, die nur wenige Menschen verstehen, namentlich Sie nicht, lieber Dreher, wie Sie vorhin bereits bewiesen haben.“ Dreher nickte verständnißinnig. „Wer auf der Stufenleiter der Addition und Multiplication vermöge logarithmischer Gleichungen bis in die höchsten Potenzen der Geometrie, Trigonometrie und Algebra eingedrungen ist, dem erscheint alles andere menschliche Wissen ein proportionirter und kubischer mathematischer Unsinn.“
Das schien unserm Freund Dreher vollständig einzuleuchten; er nickte noch immer beifällig und blickte bewundernd auf den Schulrath, dessen Lippen soeben diese enorme Weisheit entquollen war.
„Was ist richtig,“ wandte sich der Schulrath an die Kinder. „Sieben und vier ist elf, oder sieben und vier sind elf?“
Lange Pause; Niemand meldet sich zur Antwort.
„Nun, lieber Dreher, was meinen Sie zu diesem wichtigsten Lehrsatz des Pythagoras?“
„Ich meine,“ erwiderte der vollständig perplexe Dreher, „daß es wohl richtig heißen dürfte: sieben und vier macht elf.“
„Bravo!“ rief der Schulrath. „Nun ein zweites Exempel. Ein Vater stirbt und hinterläßt sechs Söhne; jeder derselben hat eine Schwester. Zu vertheilen sind 14,000 Thaler. Wie viel kommt auf jedes Kind?“
Die möglichsten und unmöglichsten Antworten erfolgten, die alle den Schulrath nicht befriedigten; derselbe wandte sich nun mit seiner Frage an Dreher, der indessen die ausweichende Antwort gab, man müsse da seiner Ansicht nach doch zunächst wohl genau wissen, ob der Vater das Geld baar oder in rumänischen Eisenbahnactien hinterlassen habe, da in letzterem Falle eine Differenz nicht ausgeschlossen sei.
Diese Antwort befriedigte den Schulrath weniger. Vergeblich versuchte er dem armen Dreher die Möglichkeit klar zu machen, daß sechs Brüder nur eine Schwester zu haben brauchten, welche die Schwester jedes Einzelnen unter ihnen sei. Dreher berief sich auf die unumstößliche Thatsache, daß aus seiner Ehe vier Kinder, zwei Knaben und zwei Mädchen, entsprossen seien und daß er denselben niemals 14,000 Thaler hinterlassen werde.
Das stimmte denn endlich den harten Schulrath weich. Er ließ sich sogar so weit herab, die Dienstwohnung und die Familie des Schulmeisters in Augenschein und ein Gläschen vom Besten, den des Schulmeisterleins Keller bot, anzunehmen, und als der herzhafte Labetrunk erst die Zunge gelöst hatte, da legte er die lästige Maske ab. „Alter College,“ sagte er, „sehen Sie mich ’mal genau an! Sehe ich aus wie ein bärbeißiger Schulrath?“ Dreher riß bei der jovialen Anrede die Augen noch weiter auf als früher und beim vollen Glase, bei Schwarzbrod und frischer Butter, Wurst und Käse und anderen Delicatessen wurde demnächst die neue Bekanntschaft besiegelt, bis der einbrechende Abend zur Heimkehr mahnte. – – – – – – Aber die Rache schläft nicht. Walter Rößler hatte bereits vor mehreren Tagen von seinen Angehörigen herzlichen Abschied genommen und war nach S., dem Orte seiner Anstellung, zurückgereist; da klingelte durch die holprige Dorfstraße von Bergen lustig ein Schlitten, welchem vor dem Schulgebäude ein älterer Herr mit strenger Amtsmiene entstieg. Es war der Schulrath Bartsch aus R., der Rößler’s Schule zu revidiren gekommen war.
Die Revision hatte einen befriedigenden Verlauf genommen; der Schulrath drückte herablassend dem Schulmeister die Hand, indem er belobigend äußerte: „Ich bin außerordentlich zufrieden mit den Leitungen Ihrer Schule und werde mich bemühen, Ihnen eine staatliche Anerkennung auszuwirken. Und nun, lieber Rößler, schließen Sie für heut die Schule und begleiten Sie mich zu Ihrem Collegen Dreher nach Hammer, dessen Schule ich noch revidiren möchte! Ich bin schon tagelang nicht vom Schlitten heruntergekommen und möchte deshalb, da die Sonne so verlockend lacht, die kurze Strecke zu Fuß zurücklegen, fürchte jedoch, ohne Ihre freundliche Begleitung den Weg zu verfehlen.“
Ein jäher Schreck durchzuckte den armen Rößler; was dann, wenn Dreher, wie zu befürchten stand, die beabsichtigte Revision in Zusammenhang mit dem neulichen Ulk brachte? Er schützte Leibweh, Geschäfte, kranke Kuh und Gott weiß was noch Alles vor; er malte dem Schulrath den Weg in den gräßlichsten Farben und rieth ihm, ja zu Schlitten und ohne ihn zu fahren – es half Alles nichts; der Schulrath beharrte bei seiner Bitte, die selbstverständlich dem armen, belobigten Rößler endlich Befehl sein mußte. Mit schwerem Herzen nahm er den Mantel um und Hut und Stock zur Hand; einsilbig marschirte er neben dem Schulrath her und zerbrach sich den Kopf, wie er sich wohl am schicklichsten aus der Affaire ziehen könne. Sein Auge umflorte sich, als der sonst so ersehnte Kirchthurm von Hammer vor seinen Augen auftauchte, und als sie am Friedhofe vorübergingen, da wünschte er sich zehn Fuß tief unter die Erdoberfläche, dahin, wo kein Schulrath mehr das arme Dorfschulmeisterlein revidiren und beunruhigen kann. Und endlich standen sie, so langsam Rößler auch ging, vor dem Schulhause, in dessen Thür soeben mit freudestrahlendem Gesicht College Dreher erschien. Rößler [784] zupfte ihn an Rockschooße, ohne hindern zu können, daß Dreher beide Hände ausstreckte und mit der einen des Schulraths, mit der andern Rößler’s Rechte herzhaft schüttelte und dabei ausrief:
„Guten Tag, lieber Rößler! Gut bekommen? Und schon wieder so ein Stück von Schulrath da? Willkommen, alte Haut, heißt Du auch Bartsch, wie der vorige?“
Ach, wäre doch der Himmel eingestürzt und hätte den armen Rößler begraben, der fort und fort so energisch Dreher’s Rockzipfel bearbeitete, daß die Nähte drohten aus den Fugen zu gehen! Bleich war sein Gesicht; starr waren seine Augen auf den Schulrath gerichtet, der endlich der peinlichen Scene ein Ende machte, indem er sich an Dreher wandte und in gemessenem Tone sprach: „Ich bin der Schulrath Bartsch aus R. Ich habe die Schule in Bergen revidirt und nun zu gleichem Zwecke in Begleitung Ihres Collegen Rößler die kurze Strecke hierher zu Fuß zurückgelegt, da ich –“
„Des langen Fahrens bei Gelegenheit der Revisionen müde bin,“ unterbrach ihn Dreher laut lachend. „Ja, ja, ich kenne das, weiß, warum die Herren Schulräthe so gern auf Schusters Rappen reiten – kann selbst ein Lied davon singen, denn Du mußt wissen, alte Seele, daß ich von demselben Schrot und genau ein solcher Schulrath bin, wie Du, kleiner Schäker.“
Der Schulrath war erstaunt einige Schritte zurückgetreten, Dreher aber fuhr, obschon Rößler ihm wiederholt in’s Ohr raunte: „Um Gotteswillen, Dreher, halt ein! Das ist ja der wirkliche Schulrath,“ ohne Unterbrechung fort: „Wer zweifelt daran? Und in seinem Zorn kennt sich so ein Schulrath nicht? Nicht wahr, Rößler? Na komm her, alter Freund und Bürstenbinder! Du kannst Dir Deine Revision ersparen; die Fragen, die Du mir vorlegen willst, hat Dir der Rößler eingepaukt, ebenso gut, wie die Anrede; ich werde Dir also nur gleich Auskunft geben. Ich bin siebenzehn Jahre auf der hiesigen Stelle, aus deren Einkünften ich Nichts erspare, ausgenommen ab und zu eine geschenkte Wurst, die ich dann mit irgend einem halb verhungerten Schulrath verzehre. Ich bin einundvierzig Jahre alt, verheirathet und Vater von vier Kindern, die von mir niemals vierzehntausend Thaler erben werden. Ich schnupfe und rauche, aber keine Havanna und Cuba, wie die Herren ‚Schulräthe‘, die uns armen Dorfschulmeistern damit nur blauen Dunst vormachen. Meine Kinder singen nach wie vor: ‚Guter Mond du goldne Zwiebel‘, mit welchem Gewächs meine bessere Hälfte heute die Wurst braten wird, mit der ich dem Herrn Schulrath demnächst den Mund stopfen werde.“ Sprach’s und von seinem Rocke löste sich der Schooß, den Rößler soeben abgerissen hatte, der Schulrath aber rief wuthbebend:
„Herr, sind Sie von Sinnen? Wissen Sie, wen Sie vor sich haben? Ich werde Sie lehren, wie Sie sich Ihrem Vorgesetzten gegenüber zu betragen haben!“
Dreher lachte noch immer, Rößler aber wankte schlotternden Kniees an den Schulrath heran und flehte: „Ein Wort, Herr Schulrath!“ – Aus dem einen Worte aber wurden viele und als bei der langen Beichte Rößler’s des Schulraths Gesicht immer freundlicher, Rößler’s immer trüber und Dreher’s, der schließlich mit offenem Munde dastand und sich wieder, wie vor acht Tagen, mit seinem Sacktuch den Angstschweiß von der Stirn trocknete, immer länger geworden war, als endlich Rößler und Dreher, von Reuegefühlen überwältigt, ein gemeinschaftliches „Gnade, Gnade!“ anstimmten – da konnte der Schulrath nicht länger widerstehen. Er sprach: „Es sei Euch vergeben! Es möge Gnade vor Recht gehen! Aber merkt Euch für die Folge als elftes Gebot: Du sollst den Namen Deines Schulraths nicht unnützlich führen.“
Dreher aber soll so lange, bis ihm das Revisionsprotocoll vom Kreisschulinspector mitgetheilt wurde, doch noch von geheimen Zweifeln geplagt worden sein, ob er es wirklich mit einem Schulrath zu thun gehabt oder ob ihm College Rößler nicht vielleicht einen noch größeren Schabernack gespielt habe, als mit der ersten Revision.
Mormonen in der Schweiz. Es ist Thatsache, daß in verschiedenen Cantonen sich Gemeinden der berühmten „Heiligen der letzten Tage“, wie die Mormonen sich nennen, befinden, meines Wissens im Berner Oberland eine, in Toggenburg, nicht weit von Zwingli’s bekannter Geburtsstätte, eine andere und die bedeutendste wohl in Herisau im Canton Appenzell. Ich selbst hatte Gelegenheit dieses Frühjahr einer schweizer Mormonenversammlung beizuwohnen, als gerade ein Prediger aus Utah celebrirte. In seinem Vortrage bemühte er sich, den Gläubigen aus den Verfolgungen, die seine Brüder – wie ja von jeher die Verkünder der Wahrheit – zu erdulden hätten, vorzüglich aber aus den Wundern, die sich noch täglich, wie in den ersten Christengemeinden in Utah ereigneten, die Göttlichkeit des Mormonenthums zu beweisen. Anknüpfend an die Erzählung einer wunderbaren Heilung, die der Redner selbst an seinem Sohne durch Händeauflegen bewirkt haben will, schilderte er die glücklichen Zustände im neuen Zion so verführerisch, daß es nicht Wunder nimmt, wenn schon eine Anzahl Schweizer Heimath und Familie verließen, um nach Utah auszuwandern.
Beim Abschiede hatte ich eine Broschüre erhalten: „Antworten auf Fragen in Betreff der Lehren der Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage“, herausgegeben von J. S. Horne in Bern. Interessant ist in diesem Heftchen besonders die mit zahlreichen Stellen der heiligen Schrift begründete Beweisführung, daß Gott die Vielehe erlaubt, ja selbst eingesetzt habe. Ich bemerke indessen zur Beruhigung, daß nach den eigenen Religionsvorschriften die praktische Ausführung der Polygamie den Mormonen nur in Utah selbst gestattet ist, da sie in jeder Hinsicht den Staatsgesetzen zu gehorchen wünschten, und auch da nur den Gottesfürchtigsten, von denen zu erwarten sei, daß sie eine zahlreiche Nachkommenschaft fromm und gläubig erziehen würden.
Leider bin ich nicht in der Lage, Angaben über die Anzahl und Verbreitung der Mormonen in der Schweiz zu machen, so viel steht indessen fest, daß die alljährlich von Utah entsandten Prediger an der Hand von zahlreich in den untern Volksclassen verbreiteten Tractätchen nicht ohne Erfolg ihr Bekehrungswerk betreiben, und mit Recht kann man schon daraus, daß eine Monatsschrift für die schweizer Mormonen, „Der Stern“ aus dem obengenannten Verlage neben dem guten Absatze von verschiedenen anderen Schriften über Mormonismus schon seit einigen Jahren fortbesteht, auf zahlreiche Anhänger schließen. Man muß hoffen, daß es über kurz oder lang gelingen wird, Sicheres hierüber festzustellen und nötigenfalls dieser Lehre mit ihren verderblichen socialistischen und unmoralischen Grundsätzen schon jetzt im Entstehen entgegenzutreten.
Weihnachts-Katalog. Alljährlich gehen uns aus den Kreisen unserer Leser zahlreiche briefliche Klagen zu, daß ihnen die Auswahl literarischer Festgeschenke Schwierigkeiten bereitet. Sehr erfreulich ist es uns daher, die Anfragenden dieses Mal auf ein großes Verzeichniß vorzüglicher Bücher, Atlanten und Musikalien verweisen zu können, das unter dem Titel „Weihnachts-Katalog“ soeben (von Fr. Volckmar in Leipzig) ausgegeben wurde. Da die hervorragendsten Verlagshandlungen dem Unternehmen die Anzeigen ihrer beliebtesten Werke, Jugendschriften etc. mit Beifügung schöner Portraits, Illustrationen und Titelverzierungen zugewendet haben, empfiehlt sich der typographisch musterhaft ausgestattete Volckmar’sche Weihnachts-Katalog zugleich als ein auch an sich selber interessantes und schmuckes Bilderbuch. Jede Sortimentshandlung wird auf Verlangen denselben gern ihren Kunden zur Durchsicht überlassen.
Von einer jungen Frau geht uns aus dem thüringischen Städtchen N. eine rührende poetische Klage zu, die wir trotz ihrer dichterischen Schwächen hier nicht unterdrücken wollen; vielleicht, daß dadurch das Glück, das sie so sehr vermißt, doch zu der einsamen Mutter zurückkehrt. Das Gedicht, dessen ersten Theil wir streichen, lautet in seinen Schlußstrophen:
Oft saß ich bei der Lampe Schein
Beim kranken Kind, voll Sorg’ und Leid,
Und pflegt’ und wachte ganz allein –
Und er war fern bei Lustbarkeit.
Beliebt ist er bei Sang und Schmaus.
Für uns: ein Gruß, ein kurzes Wort –
„Lebt wohl“ – so eilt er aus dem Haus,
„Die Freunde warten; ich muß fort.“
Was klag’ ich denn? Ich hab’s nicht schlecht,
Und dennoch zürn’ ich dem Geschick
Gar oft; vermiß ich nicht mit Recht
Sein Fragen nach der Kinder Glück?
O, wenn er doch dies Blatt einmal
Zu Händen nähm’ im Zeitvertreib!
Vielleicht ließ enden er die Qual
Und blieb’ daheim bei Kind und Weib.
L. in E. Nein, der Verleger einer Zeitung hat nicht das Recht, der Kreuzbandsendung eines abgedruckten Inserats die geschriebene Rechnung einzulegen. Der Verleger ist unbedingt strafbar.
Eine Harzerin. Bitten um Einsendung der schönen Hardanger Braut. Entscheidung erfolgt umgehend.