Die Gartenlaube (1877)/Heft 44
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No. 44. | 1877. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Jan that den Mund auf. Aber der Lärm der beiden durcheinander schreienden Parteien, die er, ohne es zu wollen, geschaffen hatte, machte es ihm unmöglich zu Worte zu kommen. Da riß er seine Fiedel vom Gürtel und that ein paar schrille Bogenstriche.
„Er spielt auf. Er spielt auf. Still!“ rief es und lachte es. Endlich trat ein Moment leidlicher Ruhe ein.
„Ihr Genter, sperrt die Ohren auf!“ rief er, den Moment benutzend, mit gellender Stimme. „Große Neuigkeit! Der Präsident ist todt.“
Die Wirkung dieser Worte war eine augenblickliche. Ein leises Gemurmel wie von Hunderten sich gegenseitig Fragender rollte durch die Halle und über den Platz; dann folgte unmittelbar ein concentrisches Vordrängen gegen den Tisch, auf welchem der Sprecher stand. Auch die Abgeordneten traten mit erschreckten Mienen herzu.
„Der Präsident todt, sagt Ihr?“ rief es fragend von allen Seiten.
„Mausetodt! Hat das Ende vom Waffenstillstand nicht abgewartet. Wußte, daß er Gent nicht retten konnte. Mord und Brand geht wieder los. Ihr seid verloren mit sammt euren Cleve’schen.“
„Er lügt, er lügt,“ brüllte Nikol, und suchte zu ihm vorzudringen. Aber vergebens; die Menge um Jan stand Schulter an Schulter. Das Gefühl seiner Sicherheit erhöhte seine Zuversicht.
„Ich lüge nie,“ sagte er stolz.
„Von wem willst Du, Hund, denn Deine Neuigkeit haben, da Du doch gefangen eingebracht worden bist?“
„Von wem? Von wem anders, als von Einem, der hundert Augen und hundert Ohren hat? Höre und sinke in die Kniee, du Schneiderseele: Vom 'Hugh'.“
„Vom 'Hugh',“ raunten ihm die Umstehenden leise nach, indem sie sich bedeutsame Blicke zuwarfen.
„Ein Feind Burgunds ist er. Ein französischer Spion!“ schrie Nikol.
„Hört doch! Kann man dümmer sein, als dieser großmäulige Baßtrompeter? Ein Gelderer französisch! Das wäre gerade so viel wie: der Clever ist ehrlich.“
„Königsbeleidiger! Hochverrath! Schlagt ihn todt! Schlagt ihn todt!“ wüthete Nikol und fuchtelte mit seiner Eisenstange in der Luft umher, aber kräftige Arme wehrten ihrem Niederfalle.
„Frieden,“ rief Jan. „Frieden! ... Volk von Gent, er soll mich todtschlagen. Ich biete ihm einen Vergleich. Ich will für die Wahrheit sterben. Er soll mich verschlingen mit Haut und Haar, der lange Menschenfresser, wenn ich ihm nicht beweise, daß er ... ein Esel ist.“
Unmäßiges Gelächter begrüßte den Vorschlag.
„Beweise, beweise!“ rief es rings. „Aber beweisen mußt Du, Fiedler, sonst geht Dir’s schlecht.“
Jan that einen Geigenstrich und setzte sich in Positur.
„Vielwerthe Zuhörer,“ hub er würdevoll nach Art der Rhetoriker an: „Wisset ihr wohl, wie’s der Neuntödter mit dem Hornkäfer macht? Seht, weil er ihm von oben nicht beikommen kann, so faßt er ihn fein säuberlich mit dem Schnabel und trägt ihn auf seinen Thronsitz. Das ist aber allemal ein Dornstrauch. Dem Käfer ist dabei kreuzwohl zu Muthe; er kommt ja auf den Thron und braucht nicht einmal zu fliegen. Aber warte nur, Käferlein! Hat dich dein Patron erst oben, dann spießt er dich langsam an einen Dorn und frißt dich bei lebendigem Leibe von unten auf. Nun saget doch, ob es nicht gerade so der Clever mit euch klugen Leuten macht und zumal mit seinem Posaunenbläser da? Faßt er den nicht auch mit seinem sanften Schnabel und hebt ihn mit sich in die Höhe? Und er dünkt sich wunders was. Aber warte nur, Meckerbock! Du gehst auf’s Eis, um zu tanzen, und darum sage ich: du bist ein Esel.“
Zwei Fiedelstriche beschlossen die Argumentation.
„Der versteht’s,“ flüsterte es unter den Abgeordneten.
„Er hat Recht. Das ist bewiesen,“ lachte es unter den Arbeitern.
„Das ist nichts bewiesen. Königsschänder! Galgen und Rad! Gebt Raum!“ tobte Nikol, und eine freie Bahn zwischen den nächsten Köpfen ersehend, faßte er seinen Goedentag an der untersten Spitze und holte zum tödtlichen Schlage mit dem Keulenende aus. Der Fiedler bog sich vor dem drohenden Verderben bis an den äußersten Rand des Tisches, aber ehe noch der Schlag gefallen war, schnellte er plötzlich der Länge nach in die Höhe, schwenkte den Fiedelbogen dem Schloßhofe zu und rief: „Sie kommen. Sie kommen. Das ist der Adler, der den Aasgeier zwingt.“
Aller Augen richteten sich seitwärts. Selbst Nikol’s Kopf wandte sich, während sein Arm, zum Schlage erhoben, in der Luft blieb. Pferdegetrappel tönte durch das Portal. Getümmel
[734] nahte. Abgesessene Reiter bahnten rücksichtslos eine breite Gasse zwischen den Tafeln über den Schloßhof. „Platz für die Herzogin von Burgund!“ rief es, und rechts und links flog auf die Seite, was im Wege stand. Beim Scheine der Pechfackeln sah man die Herzogin vom Zelter steigen. Ein hochgewachsener junger Mann war vor ihr abgesprungen und hob sie aus dem Sattel. Sie schritt mit ihrem Gefolge geradeswegs auf die Halle zu. Ein weiterer Trupp Bewaffneter schloß den Zug. – Neugierig, aber schweigend gaffte das Volk. Noch schien Niemand etwas Auffallendes in dem Ereigniß zu finden; war doch die Herzogin anscheinend wiedergekommen, wie sie ausgeritten war. Nur Nikol's Auge bohrte sich immer stierer in die nahende Gruppe. Die Worte des Fiedlers, die Art wie die Bewaffneten mit dem Volke umsprangen, das hatte seinen Argwohn, die hohe Gestalt des jungen Ritters, soweit sie erkennbar, aber seine Aufmerksamkeit erregt.
„Hollah. was ist das?“ rief er plötzlich, als die bahnbrechenden Reiter näher vorgedrungen waren, und mit glühenden Augen streckte er sich vor wie zum Sprunge.
„Die Cleve'schen werden grob,“ meinte ein Anderer.
„Das sind im Leben keine Cleve'schen,“ rief ein Dritter.
„Seht doch die Helme, seht doch die Farben!“ entgegnete Jener.
„Platz für die Herzogin von Burgund!“ erscholl es jetzt dicht vor der Halle, und vor den wuchtigen flachen Hieben nach beiden Seiten zurückprallend, drängten und preßten sich Arbeiter und Pöbel so dicht zusammen, daß selbst Nikol, unfähig ein Glied zu rühren, sich in ihrer Mitte wie eingemauert fand. Eine breite Gasse von Spalier bildenden Bewaffneten hielt den Zugang in die Halle offen. Die Abgeordneten aber ordneten sich, ihre Sessel zurückschiebend, um die Herzogin in corpore zu begrüßen. Von dem hochgewachsenen jungen Ritter an der Hand geführt, betrat Maria den Säulengang. Ihr wirres Haar unter dem spitzen Hut und ihre gerötheten Wangen deuteten auf einen ungewöhnlich scharfen Ritt, ihre unruhigen Blicke auf eine tiefe innere Erregung. Vor der Halle hielt ihr Begleiter an und überflog mit einem stolzen, forschenden Blicke das Innere des Raumes, doch schien er nicht zu finden, was er suchte, denn er wandte sein Haupt gebieterisch rückwärts und rief mit befehlender Stimme einem älteren Ritter zu:
„Der Herzog ist nicht zugegen. Lasset alle Stadtthore besetzen!“
„Es geschieht soeben, Herr,“ war die Antwort.
„Sperret die Einfahrt zum Schloßhof! Niemand kommt von hinnen. Wer Widerstand leistet, wird niedergemacht. Ihr selbst mit hundert Hakenschützen suchet den Herzog!“
Der alte Ritter eilte durch die Reihe der Bedeckung zurück, und jetzt erst gewahrte man, daß hinter dieser noch ein langer Zug in Grau Gekleideter und mit Luntenflinten Bewaffneter folgte; sie trugen Filzkappen mit grünen Zweigen; eine Hälfte dieser Kriegsleute nahm der Ritter mit sich.
Es war kein Zweifel mehr. Nikol ging ein schreckliches Licht auf – sein Königstraum war in Gefahr; ein plötzlicher Wechsel, ein Ereigniß war eingetreten.
„Verrath! Ueberfall! Kronenraub!“ brach er plötzlich mit Donnerstimme los, die noch erhobene Eisenstange hoch über sich in der Luft schwenkend. „Brecht Bahn, läutet Sturm! Schlagt sie nieder! Hoch der König von Burgund! Hoch Cleve!“ Und „Hoch Cleve!“ scholl es ihm aus hundert Kehlen, vereinzelt oder in Gruppen, wie seine Rotte unter dem Arbeitervolk stand, in dröhnenden Rufen nach, und mit gewaltsamer Anstrengung der Arme hoben sich Knittel und Spieße über der Menge hervor, während ihre Träger[WS 1] sich von drei Seiten zu dem Führer durcharbeiteten, der an der Spitze eines Trupps, wie ein Rasender Alles vor sich niederstoßend, geradeswegs auf den „Kronenräuber“ durchzubrechen strebte.
Das war der Augenblick, welchen Maximilian für Maria gefürchtet, als er sie noch beim Absteigen vom Zelter dringend gebeten hatte, sich mit dem Hoffräulein in ihre Zimmer zurückzuziehen und abzuwarten, bis er mit Cleve in der Halle abgerechnet haben würde. Aber sie war nicht zu bewegen gewesen, den Geliebten allein der Gefahr zu überlassen. Dieses kindlich-schreckhafte Gemüth konnte sehr wohl wirklichen Muthes, nicht bloßer Anwandlung dazu, fähig sein, wenn ... ihr Herz dabei in Frage kam, und sie hatte ein richtiges Urtheil über sich ausgesprochen, als sie ihm geantwortet: an seiner Seite werde sie die wirkliche Tochter ihres Vaters, ja, werde seine Beschützerin werden. Denn allerdings konnte nur ihre Gegenwart und ihre Vollmacht allein dem Prinzen das Recht, für sie zu handeln, und damit einen gewissen Schutz für ihn selbst verleihen. Daß Cleve die Abgeordneten in der Halle um sich versammelt habe, war ihnen bekannt geworden, als sie, nach dem tollen Ritt durch das Brüsseler Thor sprengend und die den Plätzen der Stadt zuwogenden Menschenmassen erblickend, unter Hugo's Führung auf Seitenstraßen dem Schlosse zugeeilt, zuletzt aber dennoch genöthigt waren, sich den Weg durch die Menge zu bahnen. Ihr ganzes Heil hatten sie nach kurzer Besprechung auf dieser Strecke in überraschendem Auftreten in der Versammlung erkannt, aber selbst wenn es Maximilian gelingen sollte, mit seiner Geleitsmacht sich Cleve's zu versichern, so ließ sich doch bei den Abgeordneten nur von der Autorität der Herzogin selbst auf Entgegenkommen hoffen.
Unter solchen Umständen war es Maria's liebendem Herzen unmöglich erschienen, Maximilian zu verlassen, zumal das für sie Schrecklichste, ein Zusammenstoß mit feindlichen Pöbelmassen im Schloßhofe selbst, gar nicht in Frage stand. Jetzt aber war Alles anders gekommen. Anstatt dem Herzog von Cleve sah sie sich dem wuthentbrannten Pöbel gegenüber. Hier war ihre Autorität gleich Null. Hugonet's und Imbercourt's blutige Häupter schwebten vor ihren Augen; Nikol's furchtbarer Drohruf erschütterte alle ihre Nerven – sie zitterte wie Espenlaub.
Wenn dagegen irgend etwas im Stande gewesen wäre, Maximilian's Kampfbegierde auf den Höhepunkt zu treiben, so war es dieser Anblick. Die jugendliche Braut, die rechtmäßige Herrin dieses Landes, bedroht vom Pöbel, mißachtet in ihrer Hauptstadt an seiner Seite zu sehen, war zu viel für ihn. Das Blut schoß ihm in den Kopf, sein Auge sprühte. Ohne eine Secunde zu verlieren, schob er sie rückwärts in die Halle, rief Hugo zu: „Schützt Eure Herrin, Ritter!“ zog sein Schwert und stürzte sich mit dem Ruf: „Hie Maria von Burgund!“ Nikol's Rotte entgegen.
Aber wunderbar – kaum hatte er sich in dem wüsten Durcheinander, das entstanden war, bis auf Schwerteslänge den Weg zu ihm gebahnt, als der Riese, die Eisenstange fallen lassend und mit den Armen in der Luft herum fuchtelnd, vor seinen Augen plötzlich lautlos zusammenbrach. Ein allgemeiner Aufschrei folgte. Die Pöbelhaufen blieben, wie versteinert von dem Anblick, mit weit aufgerissenen Augen und noch erhobenen Waffen festgebannt an der Stelle, wie Jeder stand – ihr Häuptling, ihre Seele war gefallen; was sollten sie beginnen? Sein Loos theilen? Und was für ein Loos? Welche unsichtbare Hand hatte ihm den Tod gebracht? War ein Blitz vom Himmel gefahren? Denn von den Bewaffneten der Herzogin – das stand fest – war noch Niemand mit ihm handgemein geworden.
Die gleiche Frage that sich auch Maximilian, als er sich so plötzlich der unwürdigen Aufgabe überhoben sah, seine Hand mit dem Blut des Volks zu beflecken. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
„Ecco Signor mio!“ meldete Junker Fürwittig, der, neben ihm auftauchend, eine klafterlange Eisenstange mit rothem Maßzeichen daran mühsam niederwarf. „Hier lege ich Euch das Schwert des grimmigen Riesen zu Füßen. Es muß wohl ein Schneider gewesen sein, wie Ihr seht.“
„Du, Fürwittig?“ rief erstaunt Maximilian. „Du selbst hättest –“
„Con permesso, mi Principe! Da Ihr mich immer noch auf die Sporen vertröstetet, so habe ich mir einstweilen das Maß dazu genommen. Schmächtig wie ich bin, konnte ich mich zu dem groben Gesellen durchwinden und habe ihn todtgestochen. Es war kein Kunststück.“
„Heia!“ jubelte jetzt zur nicht minderen Ueberraschung Maximilians die gellende Stimme seines alten Freundes, des Fiedlers, vom Tische her durch die Menge – und zwei schrille Geigenstriche begleiteten sie über den Platz hinweg. „Heia, Bürger von Gent, der lange Schreihals hat das Zeitliche gesegnet. Der Clever hat das Weite gesucht. Der Sohn des Weißkönigs mit den Fünfzigtausend ist da, und der spaßt nicht. Füget euch drein, sage ich, und folget wieder eurer rechtmäßigen Herzogin! Sonst könntet ihr für euren Durst faßweise zu trinken bekommen, aber Blut statt Wein, und: 'aus wär' der Schmaus'.“
[735] Es war ein Wort zur rechten Zeit. Die Arbeiter, die in Erwartung eines Festabends und ohne Waffen gekommen waren, hatten ohnehin von Anfang an keine Neigung verspürt, um unerklärter Vorkommnisse willen an Thätlichkeiten theilzunehmen, und sich für den Fiedler nur als Verfolgten und als humoristische Persönlichkeit interessirt. Zudem sahen sie in der Herzogin und den Abgeordneten das rechtmäßige Regiment vertreten. Und für was sollten sie sich auch noch schlagen, wenn der herzogliche Schutzpatron wirklich das Weite gesucht hatte? Was war überhaupt der Zweck der ganzen Begebenheit? Des Fiedlers Wort fiel so entscheidend in den aufgeregten Haufen, daß, gleichsam als ob bei allen diesen verzweifelten Gestalten ein und derselbe Nervenstrang angezogen worden wäre, eine nach der anderen die erhobene Waffe heimlich sinken ließ, ja sichtlich bemüht war, sie an derselben verschämten Stelle wieder zu verbergen, wo sie bei ihrem ersten Auftreten einen so zweideutigen Platz gefunden hatte.
Mit einem einzigen Blicke erfaßte Maximilian die Lage der Dinge. Einige Schritte zurücktretend, um besser gesehen zu werden, hob er sein Schwert empor und rief mit klangvoller Stimme:
„Höret mich, ihr Genter! Die Herzogin, eure Gebieterin, verzeiht Jedem, der sich gegen sie vergangen, wenn er zum Gehorsam zurückkehrt. Aber Gesetz und Ordnung wird hergestellt werden. Denn so wenig wie ihr mit dem Kopfe nach unten, so wenig vermag der Staat mit den Füßen in der Luft zu stehen. Erwartet in Frieden den Ruf zu Braten und Wein! Die Herzogin will euch den Schmaus gewähren. Aber betragt euch fein säuberlich, wie geladene Gäste, und nicht auf die Art, die der Clever euch gelehrt! Hinweg mit den Spießen, hinweg mit den Knitteln! Halloh, ihr Schützen, nehmt ihnen die Waffen und gebt ihnen Kellen und Löffel dafür! Keine Rücksicht, keine Gnade – den Knittel oder den Kopf!“
Die Wirkung dieser energischen Worte war eine mehr als drastische; sie war eine tragikomische. Denn kaum waren die Hakenschützen dem Befehle gemäß in die Reihen gebrochen, um nach Waffen zu suchen, so gab es deren schon nicht mehr. Lachend wiesen die friedlichen Arbeiter mit den Fingern auf den Boden, um den Soldaten die Spieße und Keulen zu zeigen, die jetzt von ihren Besitzern mit der unschuldigsten Miene schmählich verleugnet wurden.
„Victoria!“ jubelte Jan und sprang vom Tische.
„Siehe da, meine heldenmüthige Braut!“ wandte sich Maximilian lächelnd zu Maria zurück, „mit denen wären wir fertig trotz Hugonet und Imbercourt.“
„O Max,“ rief sie mit Thränen des Dankes, „Gott sei dafür gepriesen in Ewigkeit! Dieser Stunde will ich gedenken mein Leben lang. Noch beben mir die Glieder von dem Ritte, wie in wilder Jagd, mit den Hufschlägen der Cleve'schen hinter uns, aber von dieser furchtbaren Scene erzittert mir das Herz. Und doch droht uns noch immer das Schlimmste vom Clever selbst.“
„Beruhige Dich, Geliebte! Mein Ehrenhold ist der rechte Mann für ihn. Jetzt aber ein Wort mit den Herren Abgeordneten! Sie scheinen Dich ansprechen zu wollen. Unterrichte mich schnell, wer und was ihre Führer sind!“
Und ihn auf die Seite nehmend, setzte ihn Maria von dem Nothwendigsten in Kenntniß.
Eben erst waren die Abgeordneten im Stande gewesen, Maximilian voll in's Gesicht zu sehen. Längst schon hatten sie im Verlauf der Ereignisse unter sich gefragt und hin und her gerathen, wer der Begleiter Maria's sein möge. Wohl wäre ihnen in ihrer jetzigen Bedrängniß unter allen Prinzen Maximilian von Oesterreich, sowohl wegen des Rufes, der ihm voran ging, wie wegen der Macht, die er gegen Frankreich in die Wage werfen konnte, der erwünschteste gewesen, aber schließlich mochte es sein, wer es wollte – er kam ihnen wirklich als Erlöser aus einer Gefahr, deren Furchtbarkeit sie zu ihrem Schrecken kennen gelernt hatten. Als daher der Vicepräsident plötzlich voll freudiger Zuversicht ausrief: „Bei Gott, Erzherzog Maximilian! Er ist es; ich sah ihn in Trier,“ da zog ein einstimmiges Beifallsgemurmel durch ihre Reihen, und freudig folgten sie seiner Aufforderung, die Herzogin mit dem edlen Prinzen zu bewillkommnen.
Maria hielt Maximilian's Rechte, als die Vertreter ihrer Staaten sich ehrerbietig vor ihr verneigten.
„Gnädiges Fräulein,“ begann der Vicepräsident, „die Stadt Gent und die Vierstaaten sind glücklich, ihre erhabene Gebieterin mit dem edlen Prinzen als Retterin aus großer Noth zu begrüßen.“
Voll Hoheit hob sich Maria empor. Die Anrede stand in zu großem Gegensatz zu den Scenen tiefster Erniedrigung, die man sie in der jüngsten Zeit hatte erleben lassen, als daß sie ihr nicht das traurige Bild derselben wieder vor die Seele geführt hätte.
„Und das sagt ihr mir jetzt,“ erwiderte sie, Maximilian's Hand lassend und einen Schritt vortretend, mit tiefem Vorwurf, „jetzt, nachdem ihr mich von meinen Freunden getrennt, meine edle Stiefmutter verbannt, meine Räthe hingerichtet habt? Gott verzeihe euch, was ihr gethan! Ich selbst kann ihm nur knieend danken, daß er mich die Prüfung gnädig bestehen ließ. Denn durch sie bin ich mit dem Prinzen vereinigt worden, den ich liebe und dessen starker Arm mich künftig schützen wird. Ja – höret es Alle – ich bin nicht mehr gesonnen, mir einen fremden Prinzen zum Gemahl aufdrängen zu lassen, weder von unberufenen Dritten, noch von meinen Unterthanen. Aus meiner Hand sollt ihr euren neuen Regenten empfangen – hier steht er.“
„Ja, hier steht er, der neue Regent. Und er dankt Euch, schönes Bäschen,“ erklang plötzlich zu ihrer Linken die treuherzig sonore Stimme des Herzogs von Cleve, der unbemerkt durch die Thür hinter den Abgeordneten eingetreten war und, wie der gerufene Wolf, in diesem Augenblicke neben ihr auftauchte.
Sprachlos vor Erstaunen starrte Maria auf den gleichsam dem Boden entstiegenen, unwillkommensten aller Gäste. Sprachlos blickten Präsident und Abgeordnete auf den gefürchteten Peiniger, den sie glücklich entflohen geglaubt hatten. Aber sie kannten ihn schlecht. Je kleiner das Raubthier, je frecher. Als er auf die falsche Nachricht von der Gefangennahme Maximilians die Halle verlassen, war er zu Pferde gestiegen, um in Begleitung eines Dieners die Herzogin mit seinem Sohne am offengehaltenen Brüsseler Thore zu empfangen und mit ihr, ehe sie noch von Maximilian's Anwesenheit Kenntniß habe, das Protocoll über das Verlöbniß und die Regentschaft unterschriftlich zu vollziehen. Das dichte Gewoge des Volkes hatte auch ihn genöthigt, auf Umwegen das Thor zu gewinnen. Aber siehe da, als er es erreicht, hatte er es geschlossen gefunden, eine verdächtige Wache gesehen und noch rechtzeitig durch Rufe Vorübereilender erfahren, daß die Herzogin mit fremdem Hülfsvolke dem Schlosse zugesprengt sei. Sofort schlug nun auch er den Rückweg ein, aber es war nur noch möglich, Schritt für Schritt zum Schloßplatze zu gelangen; hier mußte er sogar absitzen, um überhaupt das Schloß erreichen zu können. Am Portale erwartete ihn Verno mit der Schreckenskunde, daß Maximilian nicht gefangen, daß die Herzogin in fremder Begleitung, aber mit geringer Bedeckung geradeswegs nach der Halle gegangen sei. Von einem ihrer Reitknechte aber habe er auf seine Frage nach dem Prinzen Adolf erfahren, derselbe sei mit den tausend Reitern auf der Straße nach Brüssel dicht hinter ihnen drein gewesen. „Ah!“ hatte der Herzog triumphirend ausgerufen. In diesem Augenblicke erscholl die Donnerstimme Nikol's „Verrath! Ueberfall! Kronenraub!“ und Cleve, verwegen, wie er war, und vertrauend auf die Menge des bewaffneten Pöbels vor der Halle, zögerte keinen Augenblick in seinem Entschlusse. Verno auf alle Fälle Befehle hinterlassend, schlüpfte er in's Schloß, flog in fieberhafter Eile durch die Corridore zu ebener Erde und erschien, unbekannt mit dem, was in den letzten Minuten geschehen, mit der unbefangensten Miene neben Maria.
„Ja, hier steht der neue Regent, und er dankt Euch, schönes Bäschen,“ wiederholte er lächelnd und um so zuversichtlicher, als er die Bestürzung in Maria's Mienen, wie in denen der Abgeordneten las. Dann aber, als ob er erst jetzt den Prinzen bemerke, der über solche Frechheit schier verwundert dastand, trat er mit sichtlicher Freude auf diesen zu:
„Ah, wen erkenne ich? Mein gnädigster Herr! Ihr hier? Welche freudige Ueberraschung!“
„Ich lese sie in Euren Zügen,“ erwiderte ironisch Maximilian.
Er aber ließ sich nicht beirren, und es war ein Schauspiel für Götter und nicht minder für eingeweihte Sterbliche, wie den mit verschränkten Armen von fern beobachtenden Hugo, diese beiden Gegner, von denen der eine den anderen in seiner Gewalt wußte, der andere aber dasselbe von jenem zu glauben [736] vorgab, unter den höflichsten Formen hinter der Maske fechten zu sehen.
„Euer Gnaden kommen doch mit guten Nachrichten von Kaisers Majestät?“ fragte mit äußerster Höflichkeit Cleve.
„Mit den besten, Herzog,“ war die lakonische Antwort.
„Und machen vermuthlich einen kurzen Abstecher von Cöllen?“
„Einen längeren, Herzog, zu dauerndem Aufenthalt.“
„Euer Gnaden, Euer Gnaden!“ wiegte Cleve besorglich den Kopf. „Kaisers Majestät wird erschrecken über die Gefahren, denen Ihr bei so unruhigen Zeiten in fremden Landen Euer kostbares Leben aussetzet.“
„Beruhigt Euch, Herzog! Ich wünschte manchem Anderen, daß sein Leben hier so wohl geborgen sei, als das meine.“
„Jedenfalls dient es mir zu Beruhigung, daß ich Eurer Hoheit eine sichere Bedeckung von tausend Reitern anbieten kann, mit denen mein Sohn soeben durch das Thor von Ypern eingeritten ist.“
Bei diesem mit besonderem Nachdruck ausgespielten Trumpf bemerkte der Schlaue mit Vergnügen, wie Maria zusammenschrak. Maximilian’s Züge konnte er nicht beobachten. Derselbe wandte eben den Kopf seitwärts, um Hugo einen unruhig fragenden Blick zuzuwerfen. Hugo’s Antwort beschränkte sich auf ein ironisches Lächeln.
„Ich danke für Eure Güte, Herzog,“ erwiderte beruhigt der Prinz. „Mein eigenes Geleite wird für mich und Andere genügen.“
„Dennoch kann ich mir nicht versagen, für Eurer Gnaden Schutz auch sonst Sorge zu tragen. Ich habe“ – und ein stolzes Selbstgefühl sprach aus seinen Augen – „einige Macht über die unruhigen Köpfe in Gent. Wenn es Euch beliebt, Euch selbst davon zu überzeugen, so gestattet – – “ Und er wandte sich dem Volke zu, das neugierig gaffend dreinschaute, suchte mit dem Blicke über die Köpfe hinweg offenbar nach einer die Anderen überragenden Persönlichkeit und redete, als er sie zu seinem stillen Schrecken nicht fand, die Menge nur mit um so herzgewinnenderen Tönen an.
„Ihr lieben Brüder, theuren Freunde, ihr machet mich staunen. Ich hörte noch nichts von dem herzlichen Zuruf, mit dem ihr eure geliebte Herzogin zu begrüßen kamt. O, ich weiß, ihr wartetet auf mich, den durch euren und der Staaten Willen zu eurem Sprecher Erwählten. Aber jetzt bin ich da; jetzt dürfen eure Herzen sich in Jubel ergießen, und so stimmet denn ein mit mir in ein einmüthiges 'Heil der Herzogin, Heil!’“
Begeistert streckte er die Rechte empor, daß sie wie ein Signal in der Luft ragte.
Aber o Schrecken! Kein Gegensignal erwiderte das Zeichen; keine Posaunenstimme antwortete darauf; das ihm einst so lieblich tönende Echo war ... verstummt. Aber noch mehr – was war das? Auch die Hunderte, ja Tausende des Volkes, die dort leibhaft vor ihm standen, warum hatten auch sie die Sprache verloren? Vorsichtig genug, hatte er nur der Herzogin Heil gerufen – und dennoch Stille?
Noch einmal, als wäre es ein böser Traum und keine Wirklichkeit, hob er mechanisch den Arm, und noch einmal stieß er krampfhaft ein „Heil, Heil!“ hervor. Vergebens! Keine Antwort, kein Laut. Nur höhnisch zum Lachen verzerrte Mienen starrten ihm schadenfroh entgegen.
Maria wandte sich von dem peinlichen Auftritte ab. Auch in Maximilian kämpften schon großmüthigere Regungen mit den strengen Geboten der Nothwendigkeit. Da machte der Fiedler, er, der bis dahin bescheiden hinter dem Lehnsessel des Herzogstisches verborgen gestanden hatte, rasch entschlossen der Sache ein Ende. Mit einem Satze sprang er auf den Tisch, hob den Bogen und rief:
„Es lebe der Sohn des Weißkönigs! Prinz Teuerdank–Heil!“
Und „Heil, Heil!“ fielen einmüthig Abgeordnete, Arbeiter, Soldaten und selbst das Gesindel ein.
Maximilian erhob mit strengem Blicke und würdevoller Haltung die Hand. „Genug, alter Freund!“ rief er dem Fiedler zu. „Dank Euch, aber genug!“ Der Fiedler sprang vom Tische. Stille trat ein.
„Kommen wir zum Schluß, Herzog! Ihr seht, Eure Macht beim Volke würde mich nicht mehr schützen, ja, sie genügt nicht einmal zu Euerer eigenen Sicherheit.“
„O dieses Volk, dieses Volk!“ knirschte Cleve vor Scham und Wuth. „Aber mit den Reitern, die mein Sohn bringt, will ich es züchtigen.“
„Hoffet auch nicht auf Euren Sohn, Herzog!“ fuhr Maximilian ernst, fast mitleidig, fort. „Die Thore Gents sind für ihn geschlossen.“
Aber dieses Mal strafte ihn der Augenschein Lügen, denn eben eilte durch die Gasse im Schloßhofe schnellen Schrittes eine gedrungene Gestalt mit weißer Feder auf schwarzem Barrett, und in erstaunten Ausrufen rief es: „Der Prinz! Der Prinz!“
„Wahrlich, das ist er,“ entfuhr es mit fast erschrockenem Tone Maximilian. Cleve’s Augen leuchteten. Aber ein Blick auf das unstäte Aussehen des ohne jede Bedeckung daher Eilenden genügte für den alten Fuchs, um Unheil zu wittern, und während alle Anwesenden, durch ein so unerwartetes Ereigniß gefesselt, sich dem Prinzen entgegenwandten, zog er sich vorsichtig einige Schritte hinter Maria und Maximilian zurück.
Wie richtig sein Argwohn, zeigte sich sogleich. Mit unsicherem Blicke stürzte Prinz Adolf in die Halle und ohne aufzublicken, sich vor Maximilian auf die Kniee niederlassend, stammelte er:
„Verzeihung, gnädiger Herr!“
„Ha!“ murmelte Cleve für sich und that heimlich einen weiteren Schritt rückwärts, der ihn der Gesichtslinie der nächsten Abgeordneten entzog.
„Wie soll ich das verstehen, Prinz?“ ließ Maximilian mit finster zusammengezogenen Brauen den vor ihm Knieenden an. „So haltet Ihr Euer Wort? Ihr suchtet mit Euren Reitern vor mir Gent zu gewinnen, und nun ich Euch dennoch zuvorgekommen ...?“
„Bei Gott, Ihr irret, Herr,“ fiel ihm der Prinz in die Rede. „Ja, bei meiner Ehre, ich hielt mein Wort. Aber kaum war ich auf der Heerstraße nach Brüssel eine Strecke geritten, so sah ich auch schon unsere Reiter auf dem Rückwege. Was thun? Fast gedankenlos hielt ich an und lenkte die Zügel rückwärts. Aber kaum hatte sich Huy’s Stute gewendet, so griff sie in’s Gebiß und ging mir durch, unaufhaltsam ... ihrem alten Herrn entgegen, zumal dann, als Ihr gleich darauf in der Ferne vor uns hersprengtet – fast hätte ich Euch noch am Thore eingeholt.“
Mit lächelndem Blicke sah Maximilian auf Maria.
„Wahrlich,“ sagte diese, den Prinzen mit leichter Handbewegung einladend, sich zu erheben, „Ihr seid an mir gerächt, Prinz – ich habe Todesängste ausgestanden, als ich die Hufschläge hinter mir hörte.“
„Und wo sind jetzt Eure Reiter?“ fragte Maximilian.
„Sie werden vor der Stadt halten, denn sie konnten mir nicht schnell genug folgen. Kaum war ich durch das Thor gesprengt, als Eure Wache es hinter mir schloß.“
„Und was seid Ihr gesonnen zu thun?“
„Ich habe Euch Urfehde gelobt,“ sagte freimüthig der Prinz, „und wollte draußen in Geduld erwarten, ob das Schicksal hier für oder gegen Euch entscheide, um fortan Euch oder meinem Herrn Vater zu dienen.“
„Ei, Herr Herzog, höret doch! ...“ wandte sich Maximilian rückwärts.
Aber siehe da – Cleve war verschwunden.
„Wo ist der Herzog?“ fragte er überrascht die Umstehenden.
„Wo ist er?“ wiederholten Alle, Einer den Andern fragend. Aber Niemand wußte Auskunft zu geben; Einige wollten zwar bemerkt haben, daß Cleve sich schrittweise zurückgezogen, aber sie hatten die Bewegung dem Unwillen des Herzogs über die bittende Stellung seines Sohnes zugeschrieben und nicht weiter auf ihn geachtet.
Da trat der Fiedler vor. Er kam von der Verbindungsthür.
„Herr,“ meldete er, „der Herzog ist ...“ und statt jeder weiteren Bezeichnung blies er über die Finger hinweg. „Aber ... noch einen Anderen habe ich gesehen.“
„Wen?“
„Den Rothbärtigen.“
„Ha! Den müssen wir haben. Berichte!“
Der vorige Abschnitt schloß an der französischen Grenze. Daß wir sie überschritten, sagten uns die Dorfbezeichnungen. Man liest an den betreffenden Tafeln: „Département de la Moselle“. Die Straße war voll Fuhrwerke und Truppen, jeder Ort voll Einquartierung. In der überall hügeligen, theilweise bewaldeten Gegend waren hie und da kleine Lager im Entstehen, Pferde an Pfählen, Kanonen, Pulverwagen, Marketender.
Kamen nach Forbach. (Ich muß die Fülle meiner Erinnerungen zusammendrängen, und so sei gestattet, in kurzangebundenem Tagebuchstile weiter zu erzählen. Auch Lücken und Sprünge und zwar bisweilen solche, die Bedeutendes unberührt lassen, wird man mir erlauben müssen, da ich fast nur Äußerlichkeiten mitzutheilen versprochen habe.) In der Stadt französische Schilder an Werkstätten und Kaufläden, doch die Namen der Inhaber meist deutsch, z. B. Schwarz, Boulanger. Manche von den Einwohnern grüßen in die Wagen; die Mehrzahl macht ein verdrießliches Gesicht. Alle Fenster voll blauer Preußen.
So geht es fort über Thal und Hügel, durch Wäldchen, durch Dörfer nach Saint Avold, wo wir bald nach vier Uhr eintreffen und allesammt mit dem Kanzler auf der Rue des Charrons Nr. 301, im Hause eines Herrn Laity einquartiert werden. Einstöckiges Haus mit weißen Jalousien, nur fünf Fenster in der Front, aber tief; hinten hübscher Obst- und Gemüsegarten. Der Minister bewohnt das eine Vorderzimmer; die Uebrigen haben die hintern Stuben inne, wo sich auch das Bureau etablirt. Es wird fleißig gearbeitet (was ich in der Folge als selbstverständlich unerwähnt lassen werde). Abends sieben Uhr essen wir mit dem Grafen in der an dessen Zimmer anstoßenden Stube, die auf den mit Gartenanlagen geschmückten kleinen Hof hinaussieht. Die Unterhaltung bei Tische lebhaft. Chef hält einen Ueberfall nicht für unmöglich. Unsere Vorposten stünden nur drei Viertelstunden von hier und weit auseinander. Man spricht von allerlei Dingen, von der vielen Wäsche, die unser mit seiner Frau abgereister Wirth – er soll ein verabschiedeter Officier sein – zurückgelassen, von Steinmetz, von Bier, dem der Minister nicht wohl geneigt ist, und dem er einen guten Kornbranntwein vorzuziehen erklärt, von den Mormonen, von Religionsfreiheit etc.
Die Nacht ruhig verlaufen. Früh kommt Feldjäger mit Depeschen. Ist Montag, den 8. von Berlin weg, heute, den 12. hier, also, obwohl er mehrmals Extrapost genommen, nicht schneller gereist, als ich. Vormittags, während der Chef beim König, mit den Räthen in die große hübsche Stadtkirche, in der uns ein Caplan herumführt. Nachmittags, wo der Minister ausgeritten, nach dem preußischen Artilleriepark am Berge hinter dem Orte. Um vier Uhr mit dem Bundeskanzler und den Andern gespeist. Der Minister war weit weggewesen, um seine beiden Söhne, die als Gemeine bei den Gardedragonern dienen, aufzusuchen, hatte aber erfahren, daß die Cavallerie schon bis Luneville vorgeschwärmt. Er ist sehr gut aufgelegt. Als das Gespräch sich auf Mythologisches lenkt, äußert er, daß er „niemals Apollo leiden gekonnt“. Hätte „Einen aus Einbildung und Neid geschunden (Marsyas) und aus ähnlichen Gründen die Kinder der Niobe todtgeschossen“. – „Er ist der echte Typus eines Franzosen; ’s ist einer, der es nicht ertragen kann, daß Jemand besser oder eben so gut die Flöte spielt wie er.“ Auch daß er’s mit den Trojanern gehalten, hätte ihm nie zugesagt. Sein Mann wäre der ehrliche Vulcan gewesen, und noch besser hätte ihm Neptun gefallen – vielleicht wegen des Quos ego! was er aber nicht sagte.
Am 13. weiter nach Faulquemont oder Falkenberg. Durch hügelige, meist auch waldige Gegend an allerlei Kriegsbildern vorüber. Die Chaussee bedeckt mit Wagenzügen, Geschützen, fahrenden Lazarethen, Armeegensd’armen, Ordonnanzen. Unabsehbare Reihen von Infanterie auf der Straße und zur Rechten quer durch die Stoppelfelder auf den hier abgesteckten Colonnenwegen. Bisweilen sieht man einen umfallen, und hier und da liegen Marode in den Gräben; denn die Augustsonne brennt grimmig hernieder. Endlich durch eine dicke Staubwolke in das Städtchen hinein, wo ich bei Bäcker Schmidt einquartiert werde. Der Minister ist mit dem Könige nach dem Dorfe Herny weiter gefahren. Den ganzen Tag Durchmarsch von Truppen, darunter auch hessische Infanterie. Die Sachsen stehen in der Nachbarschaft. Nachmittags bringen preußische Husaren in einem Wagen mehrere Gefangene, darunter einen schwarzbraunen Turco, der seinen Fez mit einem Civilhute vertauscht hat. Meine Wirthsleute sind sehr höflich und gutmüthig; er spricht geläufig, sie nur gebrochen Deutsch. Wollen, was sie unverlangt auftragen, nicht bezahlt nehmen.
Sonntag, den 14., fort zum Minister. Tiefblauer Himmel, starke Hitze, von der es über den Feldern flimmert. Links von der Straße hessisches Fußvolk, das Feldgottesdienst hält, die katholischen Soldaten in einem, die protestantischen ein Stück davon in einem zweiten Ringe um den Geistlichen. Letztere singen: „Eine feste Burg ist unser Gott.“ Kommen in Herny an, wo der Minister in einem langen, niedrigen weißen Bauernhause mit Aussicht auf die Düngerstätte wohnt. Ziehen zu ihm, ich mit Abeken zusammen. Hatzfeld’s Stube ist zugleich Bureau. Der König hat sein Quartier beim Pfarrer gegenüber der hübschen, alterthümlichen Kirche, deren Fenster Glasmalereien zeigen. Das Dorf ist eine langgestreckte Gasse mit dicht an einander stehenden Häusern, die sich unten nach dem kleinen Bahnhofe abzweigt. In letzterem arge Verwüstung, herumgestreute Papiere. Neben dem Gebäude Soldaten mit zwei französischen Gefangenen. Nach vier Uhr mehrere Stunden dumpfer Kanonendonner aus der Gegend von Metz hörbar. Beim Thee sagte der Kanzler: „Das hätte ich vor vier Wochen auch nicht gedacht, daß ich heute mit den Herren meinen Thee in einem Bauernhause zu Herny trinken würde.“ Dann war unter Anderm von Gramont die Rede, und der Graf wunderte sich, daß Jener nach Wörth und Spicheren nicht in ein Regiment eingetreten wäre, um seine Dummheit zu sühnen. „Ich hätte es anders gemacht 1866, wenn es nicht gut gegangen wäre,“ fügte er hinzu. Als er sich auf sein Zimmer, beiläufig ein sehr ländliches Stübchen mit wenig Möbeln, zurückgezogen, wurde ich zweimal zu ihm gerufen, um Aufträge zu empfangen.
Am nächsten Morgen bald nach vier Uhr wurde in die Parterrestube, in der Abeken und ich schliefen, gemeldet: „Excellenz geht gleich fort; die Herren sollen sich parat machen.“ Sofort stand ich auf und packte. Es war indeß ein Mißverständniß; mit den Herren waren nur die Räthe gemeint. Gegen sechs Uhr fuhr der Kanzler mit Graf Bohlen fort; Abeken, Keudell und Hatzfeld folgten zu Pferde. Wir Andern blieben vorläufig in Herny, wo es zunächst genug Beschäftigung gab, und wo wir uns später anderweit nützlich machen konnten. Wiederholt gingen in dicken, gelbgrauen Staubwolken große Züge Infanterie durch das Dorf, unter Anderm drei preußische Regimenter, zum Theil Pommern, große schöne Leute. Die Musik spielte: „Heil Dir im Siegerkranz“ und: „Ich bin ein Preuße.“ Wir trugen in Eimern und Krügen Wasser herzu und reichten es während des Marsches – denn sie durften nicht Halt machen – in die Reihen und Glieder hinein. Unser Wirth heißt Matthiote; er spricht übrigens ein wenig Deutsch, seine Frau nur das französische Patois der Gegend; beide zeigen wenig guten Willen. Nach drei Uhr kommen unsere Reiter zurück, etwas später auch der Minister. Inzwischen haben sich Graf Henckel und der Reichstagsabgeordnete Bamberger eingestellt, desgleichen ein Herr von Olberg, der Präfect oder etwas der Art werden soll. König und Kanzler haben, wie man bei Tische hört, eine Art Recognoscirungstour bis etwa eine Meile vor Metz gemacht, zu der sich auch Steinmetz eingefunden hat. Die außerhalb Metz stehende französische Arrièregarde ist gestern von unseren Leuten angegriffen und in die Festung hineingeworfen worden. Beim Thee erzählt der Minister unter Anderm, daß er zweimal, in San Sebastian und zwischen Petersburg und Schlüsselburg, in Gefahr gewesen, von einer Schildwache erschossen zu werden.
[739] Am 16. früh halb zehn Uhr geht es wirklich weiter. Landrath Jansen, Mitglied der Freiconservativen im Reichstag, der mittlerweile eingetroffen, um eine Stelle in der Verwaltung der eroberten Landstriche einzunehmen, fährt mit uns. Ueber weite, etwas gewellte Ebene auf die Hügelkette am rechten Moselufer zu, in der sich der Kegel des Mousson mit seiner Ruine weithin auszeichnet. Mehrere stattliche Dörfer mit hübschen Mairien und Schulen passirt, die Chaussee vortrefflich. Auf dem Wege wieder Alles bunt von Soldaten, darunter auch kleine Detachements sächsischer Reiter. Endlich nach drei Uhr über den Berghang in das Moselthal hinab und nach Pont à Mousson hinein. Stadt von etwa achttausend Einwohnern zu beiden Seiten des Flusses, schöne Steinbrücke, große alte Kirche auf dem rechten Ufer. Wir fahren über die Brücke und dann über den Markt, auf dem sächsische Infanterie auf Stroh lagert, und biegen dann in die Rue Saint Laurent ein, auf welcher der Minister mit Abeken, Keudell und Graf Bohlen in einem von rothblühenden Schlingpflanzen umrankten Schlößchen an der Ecke der Rue Raugraf einquartiert ist. Er wohnt in einem großen Hinterzimmer der ersten Etage des Hauses und sieht in den kleinen Garten hinter dem letzteren hinaus. Das Bureau richtet sich in der linken Hinterstube des Erdgeschosses ein, und in der rechts gegenüber gelegenen soll gespeist werden. Der Landrath, ich, Secretär Bölsing und die mobilen Chiffreurs wurden ebenfalls auf der Rue Saint Laurent, etwa zehn Häuser weiter, auf der anderen Seite der Straße, wo sie an einem kleinen Platze endigt, in einem Hause untergebracht, das nur von französischen Damen bewohnt zu sein scheint. An den Ecken verschiedene Bekanntmachungen, eine, die unsern Sieg vom 14. verkündigt, eine wegen Aufhebung der Conscription, eine dritte, in welcher der Maire – es muß gestern oder vorgestern hier ein Angriff auf unsere Truppen stattgefunden haben – die Einwohner zur Besonnenheit ermahnt. Ferner ist befohlen, daß letztere bei Nacht Lichter an die Fenster zu stellen und Läden und Hausthüren aufzulassen haben; auch müssen Alle ihre Waffen auf das Rathhaus abliefern.
Den größten Theil des Nachmittags abermals ferner Kanonendonner zu vernehmen. Abends bei Tische erfährt man, daß wieder bei Metz gekämpft wird, und daß es hart hergeht. Jemand bemerkt, vielleicht gelänge es nicht, die Franzosen, die sich von dort nach Verdun zurückziehen wollen, aufzuhalten. Der Minister erwidert scherzhaft: „Molk, der kaltherzige Bösewicht, sagte, ein solches Mißgeschick wäre gar nicht zu beklagen; denn dann hätten wir sie sicher.“ Von anderen seiner Aeußerungen noch die, nach welcher ihm „die kleinen schwarzen Sachsen, die so intelligent aussehen,“ bei seinem gestrigen Besuche derselben ungemein gefallen haben. Er meinte die Jäger oder das 108. Regiment.
In der folgenden Nacht einige Male durch den tactmäßigen Tritt durchmarschirenden Fußvolkes geweckt. Es sind, wie man früh im Bureau wissen will, Hessen gewesen. König und Minister sind schon bald nach vier Uhr fort, nach Metz zu, wo heute oder morgen Hauptschlacht zu erwarten. Gehe früh sechs Uhr, da es einmal nichts zu thun giebt, mit Willisch spazieren. Zuerst stromaufwärts über die Pontonbrücke der Sachsen hinaus, die auf dem linken Ufer einen großen Fuhrpark (Wagen aus Dörfern bei Dresden dabei) aufgestellt haben. Wir schwimmen über den Fluß und wieder herüber. Dann Besuch der Kirche auf der rechten Seite des Wassers, wo ein außerordentlich schönes Grab Christi mit den schlafenden Wächtern. Besonders die letzteren wahre Meisterwerke der Zeit des Ueberganges aus dem Mittelalter in die Renaissance. Zurück in's Bureau, wo noch immer Feierabend ist. Habe daher Zeit, mit Jansen und Willisch dem Gipfel des Mousson und seiner Ruine einen Besuch abzustatten. Steil hinauf durch die Weinberge. Droben von den Trümmern der Burg, in die sich ein recht ansehnliches Dorf eingenistet hat, weite, wunderschöne Aussicht. Alle Höhen mit Reben bepflanzt; unten schlängelt sich, etwa so breit wie die Saale bei Giebichenstein, lichtblau im Grünen die Mosel. Rechts und links im Thale und auf den Hügeln Dörfer und Schlößchen. Auf den weißen Straßen hier und da wie Ameisenzüge Colonnen mit blitzenden Helmen und Waffen. Dichter Staubnebel hinter ihnen. Wieder hinunter in das kriegerische Getümmel und nach dem Bureau. Der Minister ist noch nicht zurück, aber man hat Nachrichten vom gestrigen Kampfe. Wir erfahren, daß es starke Verluste gegeben hat und der Durchbruch Bazaine's, der in Metz commandirt, nur mühsam verhindert worden ist. Hauptpunkt der Schlacht soll das Dorf Mars la Tour gewesen sein. Ein Kürassierregiment wäre fast ganz aufgerieben, und die Gardedragoner hätten gleichfalls schwer gelitten; keine Division, die nicht arg beschädigte Abtheilungen hätte. Heute indeß, wo wir, wie gestern die Franzosen, die Uebermacht hätten, wäre ein Sieg zu erwarten. Ganz sicher scheint das jedoch nicht zu sein. Man ist in Folge dessen etwas unruhig, hat kein rechtes Sitzfleisch. Man geht nach dem Markt und der Brücke, wo allmählich Leichtverletzte zu Fuß und Schwerverwundete in Wagen eintreffen. Man geht auf die nach Metz führende Chaussee hinaus, wo wir einem Zuge von etwa hundertundzwanzig Gefangenen begegnen. Meist kleine dürftige Leute, doch auch hochgewachsene, breitschulterige Burschen darunter, Garden, an den weißen Litzen auf der Brust erkennbar. Man geht wieder nach dem Markte. Man geht in den Garten hinter dem Hause, „wo der Hund begraben liegt“ – der Hund eines Herrn Girard Aubert nämlich, wie ein rührendes Epitaphium in Versen sagt, dessen Verfasser vermuthlich unser Wirth ist. Er soll ein alter Herr und jetzt mit seiner Frau verreist sein.
Endlich, gegen sechs Uhr, kommt der Kanzler zurück. Es hat heute keine Schlacht stattgefunden, aber wahrscheinlich giebt es morgen wieder etwas. Der Chef hat seinen während eines großen Reiterangriffs bei Mars la Tour durch einen Gewehrschuß in den Oberschenkel verwundeten ältesten Sohn, Graf Herbert, besucht, der im Feldlazareth von Mariaville liegt. Inzwischen ist der amerikanische General Sheridan in der Stadt eingetroffen. Er wohnt am Markte im Croix Blanche und hat um eine Zusammenkunft mit unserm Kanzler gebeten. Gehe auf dessen Wunsch zu ihm und sage ihm, daß Graf von Bismarck ihn im Laufe des Abends erwarte. Der General, ein kleiner corpulenter Herr von etwa fünfundvierzig Jahren mit dunklem Schnurr- und Zwickelbärtchen, spricht den allerechtesten Yankeedialekt. Er hat seinen Adjutanten Forsythe und (als Dolmetscher) den New-Yorker Journalisten Mac Lean bei sich. In der Nacht wieder starke Durchmärsche, diesmal, wie ich höre, von Sachsen.
Am nächsten Morgen erfahre ich im Bureau, daß der König und der Minister schon um drei Uhr weggefahren sind. Es wird ungefähr auf dem Schlachtfelde von vorgestern gekämpft. Unruhig, ungeduldig, Näheres zu erfahren, machen wir uns zu einem Gange in der Richtung nach Metz hin auf. Kommen bis etwa vier Kilometer von Pont à Mousson. Begegnen Leichtverwundeten, die einzeln, paarweise und in größeren Gesellschaften der Stadt zu wandern. Viele tragen ihr Gewehr noch, Andere gehen an Stöcken; Einer hat sich einen rothen französischen Reitermantel umgehangen. Sie haben vorgestern bei Mars la Tour und Gorze mitgefochten. Ueber die heutige Schlacht bringen sie nur Gerüchte mit, gute und schlechte, was sich dann in der Stadt in Uebertreibungen wiederholt. Zuletzt behalten die guten Nachrichten die Oberhand, Gewisses aber giebt es auch am späten Abend noch nicht. Wir essen ohne den Minister, der bis Mitternacht vergeblich erwartet wird. Zuletzt hört man, daß er mit Sheridan und Graf Bohlen beim König im Dorfe Rezonville ist.
Freitag, den 19. August, wo wir mit Bestimmtheit erfuhren, daß Tags vorher die Deutschen gesiegt – eine feste Burg ist unser Gott! – fuhren Abeken, Keudell, Hatzfeld und ich hinaus nach dem Schlachtfelde. Zuerst zwischen den Pappeln der Chaussee durch das anmuthige Moselthal. Rechts der Fluß, links über der bald breiten, bald schmalen Thalsohle Weinberge mit Villen und hübschen Dörfern unter Burgruinen. Wir passiren die Orte Vendières, Arnaville und Novéant. Dann hinauf nach Gorze, einem Städtchen, das sich großentheils in langer, schmaler Gasse durch eine Senkung in der Hügelkette zur Linken zieht. Die Räthe stiegen hier aus, um zu Pferde weiter zu gehen. Ich und unser getreuer Kanzleidiener Theiß suchen uns mit dem Wagen durch die Fuhrwerke, die sich in der engen Hauptstraße verfahren haben, hindurch zu helfen, es ist aber unmöglich. Von unserer Seite kommen Leiterwagen mit Heu, Stroh, Holz und Bagage, von der andern Gefährte aller Art mit Verwundeten sowie Munitionskarren, und so [740] bleiben wir nach kurzer Zeit stecken. Fast alle Häuser des Ortes sind durch Genfer Fähnchen als Lazarethe bezeichnet, und beinahe an allen Fenstern sehen wir Leute mit verbundenem Kopfe oder dem Arme in der Binde.
Nach etwa einstündigem Warten rückten wir langsam vorwärts und nach einer Weile waren wir hinaus auf die Hochfläche seitwärts vom Orte. Erst Wald, wo uns ein heftiges, aber rasch vorübergehendes Gewitter überfiel. Dann eine weite gewellte Ebene mit Stoppelfeldern, durchschnitten von Straßen, die meist mit Pappeln bepflanzt waren. Rechts in der Ferne mehrere Dörfer und darüber hinaus Hügel und Senkungen mit Gehölz. Nicht weit von Gorze zweigt sich zur Rechten ein Weg ab, der uns nach Rezonville gebracht hätte, wo ich den Minister und unsere Reiter wieder treffen sollte. Meine Karte gab aber in Betreff derselben keinen Rath. Die Straße war hier ganz einsam; ich glaubte, auf jenem Wege zu nahe nach Metz hinzukommen, und so ließ ich auf der Chaussee weiterfahren, die uns erst an einen einzeln stehenden Meierhof, wo Haus, Scheune und Stall voll Verwundeter waren, dann nach Mars la Tour brachte.
Schon unmittelbar hinter Gorze Spuren von Gefechten: Kugelgruben im Erdboden, abgeschossene Baumzweige, einzelne todte Pferde. Weiterhin wurden letztere häufiger; an einzelnen Stellen zählte man zwei bis drei neben einander; an einer lag eine Gruppe von acht solchen Cadavern. Die meisten waren furchtbar aufgeschwollen und streckten die Beine in die Luft, während die Köpfe schlaff auf der Erde lagen. Bei Mars la Tour ein Lager von Sachsen, im Dorfe ein Haus abgebrannt. Frage hier einen Ulanenlieutenant, wo Rezonville. Weiß es nicht. Wo König? An einem Orte etwa drei Stunden von hier, wobei der Officier nach Osten zeigt. Eine Bauernfrau, die uns die Lage von Rezonville beschreiben soll, zeigt ebenfalls dahin, und so fahren wir in die Straße hinein, die nach dieser Richtung führt und uns nach einer Weile in das Dorf Vionville bringt. Kurz vor dem Orte sehe ich rechts auf dem Rande zwischen Stoppelfeld und Chausseegraben den ersten Todten, einen preußischen Musketier. Er sieht im Gesichte schwarz wie ein Turco aus und ist furchtbar aufgedunsen. Im Dorfe alle Häuser voll Schwerverwundeter, auf der Straße deutsche und französische Hülfsärzte und Krankenpfleger mit der Genfer Kreuzbinde.
Ich beschließe, Minister und Räthe hier zu erwarten, da ich meine, daß sie auf alle Fälle und bald hier durchkommen müssen. Durch eine Seitengasse links von der Straße, in deren Graben unter einem Bündel blutiger Lappen ein abgeschnittenes Menschenbein hervorsieht, hinüber auf das Schlachtfeld. Etwa vierhundert Schritt vom Dorfe zwei parallel laufende circa dreihundert Fuß lange Gruben von geringer Breite und Tiefe, an denen noch gearbeitet wird, und neben denen große Haufen von deutschen und französischen Todten liegen. Einige halb entkleidet, die meisten noch in Uniform, alle grauschwarz und schrecklich geschwollen. Es mögen zweihundert Leichen sein, die hier zusammengebracht sind, und immer noch führt man Karren mit neuen herbei. Viele sind ohne Zweifel schon beerdigt. Weiterhin steigt das Schlachtfeld ein wenig an, und hier scheinen besonders viel Leute gefallen zu sein. Ueberall ist der Erdboden mit französischen Mützen, mit Pickelhauben, mit Tornistern, Waffen, Uniformen, Wäsche, Schuhen und herumgestreuten Papieren bedeckt. Dazwischen liegen einzelne Todte auf dem Gesicht oder dem Rücken, dem einen ist das ganze rechte Bein, dem andern der halbe Kopf abgerissen. Hier und da ein Einzelgrab, das ein Holzkreuzchen oder ein mit dem Bajonnet hinein gespießtes Gewehr bezeichnet. Der Leichengeruch sehr merklich, bisweilen, wenn der Wind von einer Gruppe Pferdecadaver herweht, fast unerträglich.
Es wird Zeit, zu dem Wagen zurückzukehren, auch habe ich genug von dem Bilde der Wahlstatt. Gehe einen andern Weg, aber auch hier wieder Haufen von Todten, diesmal lauter Rothhosen, und Massen von umhergeworfenen Kleidungsstücken, Hemden, Schuhen, Papieren und Briefen, Dienst- und Gebetbüchern. Der Minister ist nicht gekommen, und es ist vier Uhr. Wir kehren daher auf näherem Wege, auf dem ich inne werde, daß wir die beiden langen Seiten eines Dreiecks umfahren haben, statt die kurze zu wählen, nach Gorze zurück. Hier treffen wir Keudell, dem ich unser Mißverständniß und unsern unglücklichen Umweg erkläre. Er ist mit Abeken und Hatzfeldt beim Chef in Rezonville gewesen. Letzterer hat sich während der gestrigen Schlacht mit dem König etwas weit vorgewagt und sich eine Zeit lang in Gefahr befunden. Hat dann die Schwerverwundeten eigenhändig mit Wasser erfrischt. Sehe ihn Abends neun Uhr wohlbehalten in Pont à Mousson anlangen. Essen hier Alle wieder mit ihm. Die Unterhaltung bei Tische dreht sich natürlich in der Hauptsache um die letzten beiden Schlachten und ihren Gewinn und Verlust. Die Franzosen haben Massen von Leuten auf dem Platze gelassen. Der Minister sah ihre Garde bei Gravelotte reihen- und haufenweise von unserer Artillerie hingestreckt. Aber auch unsere Verluste sind ungeheuer. Erst die vom 16. sind genau bekannt. Eine Menge von preußischen Adelsfamilien werden Trauer anlegen müssen. „Wesdehlen und Reuß in Ein Grab gelegt,“ sagt der Chef, „Finkenstein todt, Rahden (der Mann der Lucca) durch beide Backen geschossen, eine Masse von Regiments- und Bataillonscommandeuren gefallen oder schwer verwundet. Das ganze Feld bei Mars la Tour war weiß und blau von gefallenen Kürassieren und Dragonern.“ Es hat nämlich eine große Reiterattacke gegen die vordringenden Franzosen stattgefunden, die zwar von der feindlichen Infanterie und Artillerie im Stil von Balaklawa abgewiesen worden ist, aber insofern genützt hat, als sie den Gegner aufhielt, bis Verstärkung eintraf. Die Söhne des Kanzlers sind dabei tapfer mit drein geritten, und der ältere hat drei Schüsse bekommen, einen durch das Bruststück des Rockes, einen auf die Uhr und einen durch den [741] Oberschenkel. Der jüngere scheint unverletzt davon gekommen zu sein, und der Chef erzählt, daß er bei der Umkehr zwei Cameraden, die ihre Pferde verloren, mit kräftigen Armen aus dem Getümmel gerettet habe. Gestern ist noch mehr Blut geflossen, aber wir haben gesiegt. Am Abend wich die Armee Bazaine's definitiv nach Metz zurück, und die gefangenen Officiere selbst sagten dem Minister, daß es nun mit ihrer Sache zu Ende. Die Sachsen, die gestern und vorgestern ungeheure Märsche gemacht haben, stehen auf der Straße nach Thionville, und damit ist Metz rings von unseren Truppen eingeschlossen. Schließlich wurde bei Tische viel von der barbarischen Kriegführung der Rothhosen gesprochen, die auf die Genfer Kreuzfahne und sogar auf einen Parlamentär geschossen haben sollen.
Am 20. früh kam ein Herr von Kühlwetter an, der Civilcommissär oder Präfect im Elsaß oder in Lothringen werden soll. Um elf Uhr machte der Kronprinz, der fünf Meilen von hier auf dem Wege von Nancy naoch Chalons stehen sollte, dem Kanzler seinen Besuch. Nachmittags ging ein Zug von zwölfhundert Gefangenen, darunter zwei Wagen mit Officieren, von preußischen Kürassieren bewacht, durch die Rue Notredame. Abends bei Tische waren Sheridan und seine Begleiter Gäste des Chefs, der sich mit dem General in gutem Englisch unterhielt.
Am nächsten Tage gab es auch für uns Soldaten von der Feder wieder gehörig zu thun, und ich bekam mehrmals Aufträge vom Minister. Abends beim Thee fragte er, als ich ins Zimmer trat:
„Wie geht's Ihnen, Herr Doctor?“
Ich sagte: „Danke, Excellenz, gut.“
„Haben Sie denn auch was gesehen?“
„Ja, das Schlachtfeld bei Vionville, Excellenz.“
„Schade, daß Sie unser Abenteuer vom 18. nicht mit erlebt haben.“
Und nun erzählte er ausführlich seine Erlebnisse von gestern, wie ich sie im folgenden Abschnitte, durch Anderes ergänzt, mittheilen werde.
Montag, den 22. August. Der Minister ist nicht recht wohl. Dysenterie? Gott behüte ihn davor! Es wäre schlimmer als eine verlorene Schlacht. Graf Herbert ist von Mariaville hier angekommen und liegt oben im Zimmer seines Vaters. Seine Wunde ist schmerzhaft, scheint aber vorläufig nicht gefährlich. Bei Tische wird unter Anderem wieder von der ungehörigen Kriegführung der Franzosen gesprochen, und der Minister erzählt, daß sie bei Mars la Tour einen unserer Officiere – es soll Finkenstein gewesen sein –, der verwundet auf einem Steine gesessen, umgebracht haben. Die Einen behaupten, erschossen, die Andern, durch einen Degenstich. Der Chef meint, daß er lieber erstochen als erschossen sein möchte.
Zu den großen Fortschritten, deren sich die neuere Heilwissenschaft zu rühmen hat, gehört die Beurtheilung der Krankheiten nach dem Satze: „Jede Wirkung muß eine Ursache haben“, und die Erfahrung, daß nicht nur mechanische Störungen unserer Körpermaschine Krankheiten hervorrufen, sondern daß auch, und zwar vornehmlich chemische Veränderungen der Säftemasse dieselben bedingen. Vor allen sind es die schleichenden Gifte, welche unbemerkt gewisse Krankheiten erzeugen, deren Ursache bisher meist selbst dem aufmerksamsten Arzte entgangen ist, so lange aber die Ursache nicht erkannt war, konnte selbstverständlich auch die Krankheit nicht gehoben werden.
Ein besonderes Verdienst hat sich in jüngster Zeit Dr. Oidtmann in Linnich erworben, indem er den Einfluß der Küchenmetalle auf die menschliche Gesundheit einer eingehenden Prüfung unterzog und zu dem Resultate gelangte, daß viele Krankheiten, welche in Form von Unterleibsleiden, Schwächezuständen, nervösen Erscheinungen und dergleichen bisher als Eigenkrankheiten aufgefaßt wurden, dem minimalen Genusse giftiger Metallverbindungen zuzuschreiben seien, welche durch metallene Küchengeschirre allmählich in den Speiseflüssigkeiten aufgelöst werden und, in ganz geringer Dosis dem Körper alltäglich zugeführt, nach und nach einen chronischen Krankheitszustand hervorrufen, welcher allen Medicamenten Trotz bietet – denn seine Ursache wird nicht erkannt, dagegen fortwährend dem Grundleiden neue Nahrung geboten und so dem Körper neues Vergiftungsmaterial zugeführt.
Dr. Oidtmann hat in einem trefflichen Buche, welches lieferungsweise im Selbstverlage des Verfassers erscheint und „Die Gesundheitswacht am häuslichen Herde“ betitelt ist, den deutschen Hausfrauen und ihren Hausärzten eine bezügliche Reform der Gesundheitswirthschaft vorgeführt und in eingehenden Capiteln nachgewiesen, was und wo es für unsere private Gesundheitspflege Noth thut.
Besonders wird auf die Einwirkung der Speisebereitung in diesen Schriften Rücksicht genommen, aber nicht nur, wie man dies schon bei früheren populären Schriftstellern findet, in Bezug auf die Zubereitung der Speisen und die Ingredienzien, welche zu denselben nöthig sind, sondern – und hierauf hat Dr. Oidtmann zum ersten Male hingewiesen – auch in Betreff der Gefäße, in welchen die Speisen zubereitet werden, und der Geschirre und Instrumente, mittelst deren wir die zubereiteten Speisen unserem Organismus zuführen.
Eine große Hauptrolle in der Verursachung solcher schleichenden Krankheiten spielt nun das Blei, und zwar sowohl in seiner metallischen Erscheinung, wie auch in seinen chemischen Verbindungen. Daß dieses Metall überhaupt einen schädlichen Einfluß auf den Organismus ausübe, ist schon lange bekannt, und sind auch die krankhaften Symptome, welche das Blei im Organismus herbeiführt, schon lange mit dem Ausdrucke der „Bleikrankheiten“ bezeichnet worden. Die Bleivergiftung des Blutes entsteht durch allmähliche Aufnahme von Bleipartikelchen und Ueberführung derselben in die verschiedenen Organe des menschlichen Körpers. Besonders ist hier die Einathmung von Bleidünsten oder das Verschlucken kleiner Dosen Blei während längerer Zeit zu erwähnen. Man findet daher die Bleikrankheit vornehmlich bei solchen Handwerkern und Industriellen, welche mit Farben zu thun haben, die großentheils aus Blei zusammengesetzt werden, wie das Bleiweiß und die Mennigfarben. Ebenso findet sich die Bleikrankheit bei Schriftgießern und Töpfern sehr häufig, indem Ersteren das meist aus Blei bestehende Schriftmetall jahraus jahrein durch die Hand geht und letztere zur Glasur der Töpfe das Blei, wie wir bald genauer kennen lernen werden, in mannigfacher Weise verwenden.
Die Erscheinungen, welche die Einverleibung fast unscheinbarer Massen von Bleiverbindungen in dem Körper hervorrufen, bestehen bei den Einen in Anfällen von heftigen Schmerzen im Unterleibe, welche mit der Zeit eine hartnäckige Verstopfung und Auftreibung zur Folge haben, wozu sich später Zeichen von allgemeiner Erkrankung, Abmagerung und gelbfahler Gesichtsfarbe gesellen. Bei den Anderen treten den rheumatischen ähnliche Schmerzen in den Gelenken und besonders im Rücken ein, und es entstehen aus diesen rheumatischen Affectionen sehr oft Lähmungen der Extremitäten; bei anderen Menschen äußert sich die Bleiwirkung durch eine allgemeine Gefühllosigkeit, Eintreten von Krämpfen, Muskellähmungen, Zittern und Epilepsie. Wird bei diesen Leuten die Ursache nicht erkannt und dringt durch den Zwang des Berufes allmählich immer mehr von dem fein vertheilten Gifte in das Blut ein, so entsteht unter Einleitung von Kopfschmerz plötzlich Melancholie und Delirium mit vollkommener Geistesverwirrung, welche einen oder mehrere Tage anhalten und unter convulsivischen Erscheinungen zum Tode führen kann.
Nun giebt es viele Kranke, welche durchaus nicht zu jenen den obengeschilderten Krankheitsformen ausgesetzten Berufsclassen zählen und doch an ähnlichen Symptomen leiden. Es erinnert uns dann die Form der Krankheit stets an chronische Metallvergiftung. Der Arzt glaubt aber meistens diese bei dem betreffenden Patienten ausschließen zu müssen, weil derselbe ja mit den Metallgewerben nichts zu thun hat. Dabei wird meist übersehen, das die moderne Küchenindustrie sich aus technischen und ökonomischen Rücksichten mit wachsender Kühnheit des Bleimetalls zur Versetzung der Metall-Legirung und des [742] Emails der Gefäße bemächtigt hat. Oft giebt ein eiserner Milchkochtopf, welcher innen schön weiß und blank verzinnt, das heißt mit einer bleihaltigen, weichen Legirung überzogen ist, Veranlassung zu Krämpfen und Lähmungen bei einem Kinde und zu anderen Krankheitsformen des chronischen Bleivergiftungsgebietes. Daher sollte man bei den so häufig vorkommenden Krämpfen der Kinder stets nach den Milchnäpfen fahnden, um sich zu überzeugen, ob solche nicht mit bleihaltigen Stoffen ausgepicht sind; auch thönerne Kochtöpfe, welche ebenfalls zum Kochen der Kindermilch benutzt werden, sind oft mit einer Glasur bedeckt, welche drei Achtel Bleigehalt führt. Die Milch laugt nach und nach das kieselsaure Blei aus der Glasur heraus, und das Mattwerden derselben ist das beste Zeichen, daß sie von den im Topfe gekochten Speiseflüssigkeiten chemisch angegriffen wird. Auch die hohen Milchtöpfe, in welchen die Landleute ihre Milch zum Säuern abstellen, enthalten sehr viel Blei, welches allmählich in die Milch übergeführt wird.
Die Eß- und Schöpflöffel aus Compositionsmetall, die metallenen und thönernen Kaffeekannen, die zinnernen und verzinnten Ausschankgefäße, die glasirten thönernen Kaffeetassen „für arme Leute“, die Siebe und Trichter von Blech und Zinn geben einen Anhaltspunkt für die Ausbreitung, die das Blei in Küchen- und Eßgeschirren zum Verderben des Volkes gewonnen hat. Zu diesen gefährlichen Instrumenten treten noch die mit Oelfarben angestrichenen Holz- und Blechgeschirre hinzu.
Das Blei, als Metall verschluckt, übt keine besondere giftige Wirkung aus, indem es in metallischer Form ebenso wieder aus dem Körper ausgeschieden wird. Kommt es dagegen mit Luft, Wasser, Milch, Suppe und namentlich mit bestimmten sauren Flüssigkeiten in Berührung, so verwandelt es sich in ein giftiges Salz, das kohlensaure Bleioxyd. Man glaubte früher, das einzige giftige Bleisalz sei das kohlensaure Blei, aber jetzt weiß man, daß es jede Bleiverbindung ist, welche die Wirkungen erzeugt, und daß alle Bleisalze Gifte sind, sobald sie durch die Haut, durch Mund und Magen, oder durch Nase und Lunge dem Organismus zugeführt werden. Die gefährlichste Verbindung ist das essigsaure Bleioxyd, welches sich besonders in der Küche durch Kochen säuerlicher Gemüse in bleihaltigen Töpfen, durch Sauerkrautbrühe, saure Bohnen und ähnliche Speisen bildet, ebenso wenn Salat in bleihaltigen Geschirren bereitet wird.
Am meisten aber kommen dem Arzte in seiner Praxis Bleikrankheiten vor, welche durch den schädlichen Einfluß des Bleiweiß auf den Organismus verursacht werden und die sogenannte Malerkolik hervorrufen, eine krankhafte Affection des Unterleibes, welche man besonders bei Malern und Anstreichern, die viel mit Bleiweiß arbeiten, beobachtet. Die Bleisalze finden ihren Weg bei diesen Arbeitern entweder durch die Haut oder die Lungen in den Organismus, hauptsächlich aber auch dadurch, daß diese Leute vor den Mahlzeiten sich nicht gehörig waschen und dadurch beim Essen Blei in den Magen bringen. Das Gift ist in der Luft äußerst fein vertheilt und wird im Laufe der Jahre in so kleinen Mengen eingeathmet, daß, ähnlich wie bei den Pflanzendüften, der geschickteste Chemiker kaum im Stande ist, das Blei in der Luft nachzuweisen. Man hat beobachtet, daß in Fabriken, wo das Bleiweißpulver trocken verarbeitet wird, nicht allein die Arbeiter litten, sondern auch Pferde, Hunde, Ratten in der Nähe der Fabrikräume in Folge der Wirkung des Bleies krank wurden und starben. Arbeiter, welche sich damit befassen, Brüsseler Spitzen durch Einstampfung von Bleiweiß in die Fasern anzuweißen, athmen ebenfalls unbewußt das giftige Salz ein, und es kommt sehr häufig vor, daß man in den Eingeweiden von Frauen, welche sich mit Spitzenweißen beschäftigen, nach deren Tode Bleisalz nachweisen konnte. Schauspieler, welche bleiweißhaltige Schminke anwenden, Fabrikanten von glänzenden Karten, welche viel Bleiweiß brauchen, Leute, die in frisch gemalten Zimmern schlafen, die mit Bleiweiß bestrichen sind, werden von Bleikrankheiten befallen.
Es ist klar, daß die heftigen Symptome bei der Bleiweißvergiftung erst allmählich eintreten, die anfänglichen milderen Symptome übersehen oder auf eine andere Ursache bezogen werden können; so kommen den Aerzten, welchen großentheils technische Kenntnisse abgehen, sehr viele Krankheits- und Siechthumsfälle zur Behandlung, in welchen sie die ursprüngliche Krankheitsursache, das unbewußt fortgesetzte Bleilecken nicht ahnen, durch welches, wie schon oben angedeutet, die Schleichwirkungen des Bleies als Krankheitserzeuger hervorgerufen wurden. Es war daher gewiß an der Zeit, wenn Dr. Oidtmann, dessen Untersuchungen wir hier folgen, eingehende Belehrung hierüber in das Publicum zu bringen suchte.
Eine der nichtsnutzigsten Arten von Bleiunfug im Küchenhaushalte ist der Gebrauch sogenannter „zinnerner“ Eßlöffel, die nicht von Zinn, sondern von Blei sind. Das Krankheitselend und Siechthum, welches durch den Gebrauch dieser Eßlöffel in den niederen Volksclassen und am Dienstbotentische der Herrschaft erzeugt wird, ist ein unberechenbar großes. Die gesundheitsschädlichen Löffel kennzeichnen sich schon oberflächlich dadurch, daß sie, aneinandergeschlagen, keinen richtigen Klang wie die harten echten zinnernen Löffel, geben. Weiter sind diese Löffel rauh und glanzlos und stets mit einem Häutchen von kohlensaurem Bleioxyd bedeckt; sie biegen sich wie Wachs, und man kann mit ihnen schreiben und zeichnen, wie mit dicken Bleistiften. Wird dieser wichtige Haushaltungsartikel, wie das oft vorkommt, in sauren und heißen Speisen liegen gelassen und täglich abgeleckt, so entstehen selbstverständlich die Symptome der Bleikrankheit, und der aufmerksamste Arzt kommt nicht auf die Grundursache des Leidens seines Patienten, weil ihm die Oxydirungs- und Löslichkeitsverhältnisse der Metalloberfläche, als er das Studium der Vergiftungslehre auf der Universität betrieb, nicht mitgetheilt worden sind.
Eßlöffel von weichem Blei, welche man besonders bei den ärmeren Volksclassen findet, sind nicht die einzigen schädlichen. Küchenlöffel, auch verzinnte eiserne Löffel und Compositionsmetalle aller Art taugen nichts mehr, seitdem solche billiger fabricirt werden, um die guten Löffel aus rein klingendem Bankazinn zu verdrängen. Jene Löffel mit dem silberscheinigen Ueberzug sind überaus schädlich, da neben Blei auch Zink und Wismuth in der Legirung enthalten sind. Um Ungläubigen, deren es noch sehr viele giebt, und welchen die rationellen Nachweise von Krankheitsursachen als Hirngespinnste erscheinen, einen Beweis zu geben, daß die obenerwähnten Thatsachen auf experimentalen Nachweisen beruhen, möge man folgenden Versuch anstellen: man esse einen Teller saurer Milch mit einem bleiernen Löffel, und man wird nachher einen metallischen Nachgeschmack am harten Gaumen spüren, ähnlich wie wenn man aus einer bleiverzinnten Kanne Wasser getrunken hat; es ist dasselbe Widerspiel des metallischen Geschmackes, das uns auch zum Bewußtsein kommt, wenn wir ein mit einem Messer durchschnittenes Stück eines sauren Apfels verzehren. Es bedeckt sich die blanke Eisenklinge sofort mit einer schwarzen Brühe von aufgelöstem Eisen und das Apfelstück schmeckt bekanntlich nach Eisentinte, weshalb man jetzt, um diesen Uebelstand zu vermeiden, besondere Hornklingen statt Stahlklingen für das Dessertobst eingeführt hat. Jede Köchin weiß, daß, wenn Aepfelschnitte in einen eisernen Topf mit Wasser geworfen werden, das klare Wasser alsbald schwarz wird, wie verdünnte Tinte, und daß die Aepfelschnitzel buchstäblich in Eisenwasser schwimmen. Sollte in saurer Milch die Zinn-, Blei- und Zinklegirung der Löffel sich gegen die Milchsäure viel anders verhalten, als das Eisen gegen die Apfelsäure? Der Unterschied ist nur der, daß jene Metalle keine schwarzgefärbte, also keine erkennbare, sondern eine farblose und um so giftigere Metallbrühe liefern.
Außer den Löffeln und den bleihaltigen Metallgeschirren mit metallischem Aussehen enthalten noch viele andere Gegenstände der Küche Bleisalz, welches durch allmählichen Gebrauch ausgelaugt werden kann. Die Preßglas-Geschirre, besonders die dickwandigen englischen Preßgläser, die zu Trink- und Speisegeräthen verwendet werden und allenthalben als gesuchte Waare im Handel sind, enthalten nicht weniger als achtunddreißig Procent Bleiglätte. Wenn auch das Auslaugen des Bleies aus diesen Bleigeschirren weniger leicht von Statten geht, so sollten dieselben doch niemals zum längeren Aufheben von Essiggurken, Zwiebeln, eingemachten Früchten und Compoten, namentlich aber nicht als Salatschüsseln gebraucht werden.
Weiter enthalten die meisten irdenen Geschirre, Töpfe und Thonwaaren Bleisalz. Um die irdenen Geschirre schön dauerhaft und durch Flüssigkeit möglichst unangreifbar zu machen, werden sie im Innern glasirt. Von der zweckmäßigen Zubereitung dieser Ueberzüge hängt die Schädlichkeit oder Unschädlichkeit derselben [743] ab, da dieser Glasurüberzug als wesentlichen Bestandtheil Bleioxyd enthält.
Es giebt drei Arten von bezüglichen Glasuren. Erstens: irdene Glasuren, welche aus Kieselerde, Thonerde und Alkalien bestehen, am Porcellan und Steingut verwendet werden und durchaus nicht gesundheitsschädlich sind.
Zweitens: bleihaltige Glasuren, aus Bleiglanz und Lehm beim Brennen entstanden, welches die gewöhnliche Topfglasur ist; aus einer richtigen Mischung und unter entsprechender Temperatur erzeugt, ist diese Bleiglasur in den gewöhnlich in der Küche vorkommenden Flüssigkeiten nicht löslich und daher unbedingt empfehlenswert. Wenn dagegen ein Theil Bleioxyd mit der Kieselsäure nicht gehörig verbunden ist, so laugt sich das Blei leicht aus und kann zu schleichender Vergiftung Veranlassung geben.
Die dritte Art des Glasirens sind Emailglasuren, welche ebenfalls Zinn- und Bleioxyd enthalten.
Wenn man in einem irdenen Geschirre destillirtes Wasser abdampft, so enthält die letzte Quantität der zurückbleibenden Flüssigkeit Bleioxyd und giebt mit Schwefelwasserstoffwasser einen schwarzen Niederschlag von Schwefelblei. Will man sich überzeugen, ob ein Geschirr nach den richtigen gesundheitsgemäßen Gesetzen der Technik glasirt ist, so muß man es vor der erstmaligen Benutzung mit Essig füllen, den Essig acht bis zehn Stunden in den Töpfen stehen lassen, dann denselben herausnehmen und einige Tropfen Schwefelammonium zugießen, welches man in jeder Apotheke für billigen Preis haben kann. Wenn sich dann kein schwarzer Niederschlag oder keine hellbraune Färbung zeigt, so sind die Töpfe als der Gesundheit nicht gefährlich zu betrachten, da kein Bleisalz durch den Essig ausgelaugt worden ist.
Die Mangelhaftigkeit der deutschen Kochgeschirrfabrikate macht sich mit jedem Tage fühlbarer, und wir müssen mit Bedauern constatiren, daß gemeinschädliche Artikel in sehr bedeutender Masse in den Handel gebracht werden. –
Nicht nur in der Küche begegnen uns mannigfache schädliche Bleiverbindungen, welche krankmachend auf den Menschen einwirken, sondern insbesondere finden wir im täglichen Leben die mannigfachsten Gegenstände, welche, mit Bleifarben angestrichen, von Hand zu Hand gehend, Bleivergiftungen erzeugen können; hauptsächlich sind es die Kinderspielwaaren und hier besonders die in neuerer Zeit so sehr beliebten gefärbten Gummi-Artikel, welche vornehmlich Zinkverbindungen enthalten und leicht Unterleibskrankheiten: Diarrhöe, nervöses Zittern, Krämpfe und dergleichen, bei Kindern herbeiführen können.
Auch vor dem gefärbten amerikanischen Ledertuche, welches als Verdeckung an Kinderwagen, sowie zu Bettunterlagen häufig benutzt wird, wollen wir an dieser Stelle warnen. Dasselbe enthält sehr concentrirte Bleiverbindungen, die durch das Auf- und Abklappen der Wagendecke abgeschabt und in feinvertheiltem Staubzustande dem kindlichen Organismus durch die Athmungsorgane zugeführt werden. Es ist mehrfach im Laufe der letzten Jahre die Beobachtung gemacht worden, daß sonst ganz gesunde Kinder an Symptomen der Bleivergiftung erkrankt sind, und man errieth erst allmählich den Grund der Erkrankung in den bleihaltigen Schutzdächern des Kinderbettchens. Der Bleigehalt des erwähnten Stoffes ist so bedeutend, daß aus einem 15 Gramm (1 Loth) wiegenden Stückchen Zeug ein Bleikorn von 6 1/2 Gramm Gewicht dargestellt werden konnte. Jeder kann die Probe leicht selbst bewerkstelligen, wenn er ein Stückchen grauen amerikanischen Ledertuches, welches wie Zunder brennt, etwa von der Größe einer Visitenkarte auf einem Teller anzündet und verkohlen läßt. Bald sieht man in der Asche viele deutlich metallglänzende Bleikügelchen herumtanzen.
Durch die Forschungen einer rationellen Gesundheitswissenschaft werden in nicht gar langer Zeit, ebenso wie man jetzt die Symptome mannigfacher Krankheiten auf eine Bleivergiftung zurückzuführen im Stande ist, auch noch viele andere bis jetzt unbekannte Krankheitsursachen entdeckt und auf industrielle Mißstände zurückgeführt werden. Durch das Ineinandergreifen der technisch-wissenschaftlichen und ärztlichen Lehren wird die öffentliche Gesundheitspflege sich zum Heile des Volkes immer mehr und mehr entfalten. Ebenso wie dem deutscher Reichstage demnächst ein Gesetzentwurf über die Verfälschungen der Lebensmittel und deren wahrhaft erschreckendes Umsichgreifen vorgelegt werden wird, hoffen wir sicher auch zu Gesetzen zu gelangen, welche das Volk vor den üblen Einflüssen der gemeinschädlichen Erzeugnisse der Industrie zu schützen im Stande sind.
Den Gefallenen zum Andenken, den Lebenden
zur Anerkennung, den künftigen Geschlechtern
zur Nacheiferung!
Weihespruch von Kaiser Wilhelm.
Das war ein Tag! Rings auf dem Strom die Schiffe mit beflaggten Masten
Und auf den Schiffen lust’ge Leut’, so viel nur Kähn’ und Dampfer faßten!
In Rüdesheim ein jedes Haus geschmückt mit grünem Laubgewind’!
Vom Thal bis aufwärts zu dem Berg sich eine Blumenranke spinnt.
Schau’ her, da hat der Küfer Schaar die Ehrenpforte gar von Tonnen,
Von mächt’gen Fässern aufgebaut. Fürwahr, ein Stücklein, klug ersonnen! –
Und mancher Reimspruch ziert den Bau, die Weisheit, die man lernt allein
Beim Becher. Sieh, die Flaschen dort! Respect! Das ist der Kaiserwein.
Und dort, von Trauben, welche Pracht! Wie’s roth und blau und goldig glänzet!
Die Winzer sind’s; die haben hier das schimmernde Portal bekränzet.
Vorwärts! Empor zum Niederwald! Da ist der Platz für’s Denkmal schon,
Und Meister Schilling sehn wir dort, des Sachsenlandes wackren Sohn.
Der Rothbart schmunzelt gar vergnügt im Zwiegespräch mit dem Genossen;
Der Baumann und der Bildner gehn schon lange Hand in Hand geschlossen.
Das Monument für Kaiser Max, das Schiller-Denkmal sagt’s zu Wien:
Wo einig waltet Doppelkraft, wird doppelt schöner Sieg verlieh’n.
Der Grundstein! Ei, zwei Flaschen Wein, sie ruh’n schon in dem Felsenbette.
Ach, wer von solchem Nektar doch daheim zwei volle Fäßlein hätte!
Die Urkund’ dort auf Pergament, die Zeitungsblätter klein und groß,
Die Münzen – alles das versenkt man bald in seinen dunklen Schooß.
Horch, horch, ringsum lebendig wird’s. Es tönt herauf von Asmannshausen
Der Menge heller Jubelklang, der Hurrahruf – ein wildes Brausen!
Vorreiter sprengen durch den Busch; die Menge drängt zu uns sich hin.
Im Kreis der Festgenossen stehn der Kaiser und die Kaiserin.
Der hinter ihm ist „unser Fritz“, Prinz Wilhelm. Hier der Schlachtendenker,
Der Moltke, dort Prinz Friedrich Karl. Wer zählt ringsum die Hüteschwenker?
Die tausende! Wie Wogen wälzt es sich von allern Seiten her;
Des Waldes grünes Blätterdach sah nie ein solches Menschenmeer.
[745] WS: Das Bild wurde auf der vorigen Seite vervollständigt [746]
Der Redner spricht; dem Kaiser sehn wir jetzt ihn einen Hammer reichen.
Des Kaisers Rechte weiht den Stein; er weiht ihn mit drei Hammerstreichen,
Und wie das Eisen niederfällt, da ruft bei jedem Hammerschlag
Der Donner aus Kanonenmund der Berge rollend’ Echo wach.
Da werden in den Dörfern rings die Glocken allzumal geschwungen;
Da tönt der Deutschen Heergesang, die „Wacht am Rhein“, von allen Zungen. –
Still, rede nicht! Der Grundstein liegt. Nun mögen frisch die Meister bau’n. –
Gott geb’, daß wir in Frieden noch auch dieses Werks Vollendung schau’n!
Daß mit der Einheit fest im Bund der Geist der Freiheit möge walten! –
Die Zeit ist ernst. Das Pfaffenthum, des Mittelalters Spukgestalten,
Sie droh’n uns noch – und schlimmer schier vor jener Schaar uns grauen muß,
Die einen Wahlspruch auf’s Panier nur schreibt, den Wahlspruch: Weltgenuß!
Die Zeit ist ernst und sorgenvoll. Auf mancher Stirne ruht die Wolke.
Doch wissen wir: Der deutsche Geist, noch lebt er stark in unsrem Volke,
Und trotzen wird er jedem Feind; besiegen wird er jede Noth. –
Gott mit uns! Unsrem Vaterland getreu, getreu bis in den Tod!
Max sprach seine Befriedigung aus, daß es ihm vergönnt gewesen war, seinen Nachbarinnen einen Dienst zu leisten, und wieder wandte er sich mehr an die Tante, als an die Nichte. Fräulein Sidonie war durch dergleichen Aufmerksamkeiten von Seiten der jüngeren Männer ihres Bekanntenkreises nicht verwöhnt. Die glänzende junge Erbin war so ausschließlich der Gegenstand aller Aufmerksamkeiten und jeder Huldigung gewesen, daß man die ältere Dame des Hauses, die, wie man schnell merkte, nichts als ein gefügiges Werkzeug in den Händen der jüngeren war, darüber gänzlich vernachlässigt hatte. Es war nicht zu leugnen, daß Fräulein Sidonie unter dieser Vernachlässigung oftmals gelitten hatte, und selbst in Paula war oft ein heftiger Unwille dadurch erregt worden. Sie fühlte es wohl, daß der größte Theil der Schuld sie selbst traf. Aber sie war an die Tyrannei, die sie zwar in muthwilliger Weise ausübte, die aber dennoch das ganze Haus unter dem Drucke ihres Willens hielt, bereits so gewöhnt, daß es ihr trotz mehrfacher Bemühungen nicht hatte gelingen wollen, eine andere Stellung ihrer Tante gegenüber einzunehmen. Sie war immer wieder in den gewohnten Ton zurückgefallen, der die alte Dame in den Augen aller Besucher des Hauses auf eine untergeordnete Stufe hinabdrücken mußte.
Reinhard’s achtungsvolle Höflichkeit that ihrem Herzen daher sehr wohl. Sie wußte nicht, daß sein natürliches Tactgefühl in diesem Falle eine wirksame Unterstützung in dem Wunsche fand, seine Augen so oft wie möglich dem kleinen Ecksopha zuwenden zu dürfen, und daß seine Worte naturgemäß seinen Augen folgten. Hätte er die Absicht gehabt, an Tante Sidonie eine Eroberung zu machen, er hätte nicht geschickter zu Werke gehen können. Die Folge davon war, daß, als Jean die Flügelthüren des Frühstückszimmers öffnete, es des gebieterischen Blickes der Nichte kaum mehr bedurft hätte, Fräulein Sidonie zu der Einladung an Max zu veranlassen, an ihrem Frühstücke Theil zu nehmen. Ohne Zögern nahm er an. Und als Kayser, der, während Max sich den beiden anderen Damen gewidmet, sein Mündel wieder in einen ihrer scherzhaften Kriege verwickelt hatte, jetzt herbeikam, um der Tante seinen Arm zu bieten, folgte er, die beiden jungen Damen führend, dem voranschreitenden Paare in’s Nebenzimmer.
Hier zeigte es sich, daß Tante Siddy’s Bemühungen von dem besten Erfolg gekrönt waren. Das Arrangement der Tafel war der Art, daß Herr Kayser sich veranlaßt fühlte, seiner Nachbarin dankbar und liebevoll die Hand zu drücken. Der alte Portwein funkelte in den Krystallkaraffen mit einer Farbenpracht, die sein Herz mit wohlthuender Wärme erfüllte, und die Beefsteaks, die eben frisch vom Feuer auf silberner Schale aufgetragen wurden, schienen auf einer Stufe der Vollkommenheit zu stehen, die ihm ein beifälliges Murmeln entlockte.
Max hatte den Platz zwischen den beiden jungen Damen inne, so daß Hanna an seiner linken, Paula an seiner rechten Seite saß. Da Erstere zu ihrer Nachbarin Tante Siddy hatte und Kayser während eines guten Frühstücks niemals sehr gesprächig war, so fügte es sich, daß er vorzugsweise die Verpflichtung hatte, für die Unterhaltung der jungen Erbin zu sorgen. Muthwillig und geistfunkelnd, wie sie war, hielt sie ihren Nachbar fortwährend in Athem und zwang ihn zu einer Art geistiger Gymnastik, die seinem ernsten, ruhigen Wesen sonst fremd war. Es schien, als hätte sie es darauf abgesehen, ihn gleich am ersten Tage zu ihrem Sclaven zu machen. Durch ihre scherzhaften Neckereien hindurch drang immer wieder ein Ton so warmer, herzlicher Theilnahme, daß Max kein wirklicher Mann gewesen wäre, wenn er sich dadurch nicht ebenfalls hätte erwärmen lassen.
Zuweilen blickte Kayser mit einem listigen Funkeln seiner grauen Augen zu ihnen herüber, und das erinnerte Max an das Gespräch, welches sie erst gestern geführt, und das er so unceremoniell abgebrochen hatte. Zwar konnte er es keinen Augenblick vergessen, daß die junge Erbin durchaus nicht zu der Art von Frauen gehörte, die ihm bis jetzt einzig gefährlich geworden war; zwar lag in der kecken Aufrichtigkeit, mit der sie ihm ihr Wohlgefallen zeigte, eine gewisse selbstbewußte, des Erfolges sichere Souveränetät, die seinen männlichen Stolz verletzte und ihm als eine Beeinträchtigung seines Rechtes, selbst zu wählen, statt gewählt zu werden, erscheinen mußte. Allein Alles an ihr war so naturwüchsig und ungekünstelt – aus ihrem Auge blitzte ihm eine so funkelnde und sprühende Lebenslust entgegen, daß er sich dem Zauber ihres Wesens fast willenlos hingab. Seiner Nachbarin zur Linken konnte er sich unter diesen Umständen nur wenig widmen. Aber er ertappte sich einige Male darauf, daß, während er sich Paula zuwandte, sein Ohr scharf aufhorchte, Hanna’s an Tante Sidonie gerichtete Worte zu vernehmen. Der Schall ihres silbernen Lachens, das leise Streifen ihres Gewandes oder die Berührung ihrer Hand, wenn sie ihm einen Gegenstand reichte, that ihm wohl und rief die Empfindung einer erhöhten Lebenskraft in ihm wach.
Nach dem Frühstücke entfernte er sich bald, nachdem ihm zuvor die Meldung zugegangen war, daß der Uebelthäter gefunden und festgenommen worden sei. Paula’s Abschied von ihm war nicht weniger liebenswürdig, als ihr Willkommensgruß. Noch vom Balcon aus winkte sie ihm lächelnd einen Gruß zu, als sein leichter offener Wagen die Landstraße entlang rollte. Hanna’s Abschied dagegen hatte nur in einer Verbeugung aus der Ferne bestanden. Doch als er sich an der Thür noch einmal nach ihr umgewendet hatte, da war ihm ein so freundliches, leises Lächeln, und ein so sanfter, schüchterner Blick zu Theil geworden, daß er völlig befriedigt das Haus verlassen hatte.
Dem sonnenhellen Tage war ein milder, schöner Abend gefolgt. Draußen lag der warme Sonnenschein noch auf den Gipfeln der Kastanien- und Wallnußbäume, die zwischen dem Garten und den hohen Mauern der Fabrik ein dichtes Wäldchen bildeten. Aber in dem regelrechten Vierecke des Fabrikhofes herrschte schon Dämmerung, und dunkle Schatten lagerten auf seinem schwarzen, staubigen Steinpflaster. Noch dunkler war es in dem weiten Gemache, das der Besitzer sich zu seinem Comptoir eingerichtet hatte und das, im Erdgeschosse eines der Fabrikgebäude gelegen, vom Hofe aus durch eine mehrere Stufen hohe Treppe zu erreichen war. Das Zimmer war einfach, wie Alles, was zum Besitze Reinhard’s gehörte. Ein Stehpult in einer der Fensternischen, ein breiter Tisch in der anderen, Bücher, auf Borden an der Wand geordnet, und im Hintergrunde ein mit Leder bezogenes breites Sopha, groß und bequem genug, um dem [747] Besitzer auch zum Nachtlager dienen zu können, bildeten die ganze Einrichtung. In diesem Zimmer hatte Max schon manche Nacht zugebracht und von Stunde zu Stunde einen Rundgang um die Gebäude gemacht, sorgenvoll ausschauend, ob ein rother Schein an den Fenstern der Weberei oder eine züngelnde Flamme auf der Dachfirst des Magazins seinem Sorgen und Bangen nicht etwa mit einem Schlage ein Ende machen und ihn zwingen würde, sich als Besiegter von dem bis dahin muthvoll behaupteten Kampfplatze zurückzuziehen.
Draußen hatte die Feierabendglocke eben geläutet, und die Arbeiter strömten aus den verschiedenen Räumen dem großen Thore zu. Es war nicht zu verkennen, daß die Menge heute aufgeregter und tumultuarischer in’s Freie drängte, als je vorher. Die Verhaftung derjenigen, welche man der Zertrümmerung der Maschinen für verdächtig hielt, hatte augenscheinlich erbittert und zugleich überrascht. Man hatte gehofft, daß Max, eingedenk der ihm zugegangenen anonymen Drohbriefe, zu dieser Maßregel nicht schreiten würde. Nun aber hatte man sich überzeugen müssen, daß der Streich, den man gegen ihn geführt, schwer auf die Häupter der Schuldigen zurückgefallen war. Noch freilich waren die Folgen dieser Thatsachen nicht zu ermessen. Max wußte nicht, ob er hoffen dürfe, daß den Leuten die Augen über die Ungesetzlichkeit ihres Thuns geöffnet worden wären, oder ob sie sich durch die Aufreizungen einiger Böswilligen zu ferneren Gewaltthätigkeiten würden hinreißen lassen. Es ließ sich nicht verkennen, daß ein Theil der Arbeiter, diejenigen, die er als ruhige und gesetzte Männer kennen gelernt hatte, zu Geduld und Ausharren rieth, aber er wußte wohl, daß sie in der Minderzahl waren. Ihnen gegenüber stand eine gereizte Menge – eine Menge, die nicht nur den alten socialen Kampf des Arbeiters gegen den Arbeitgeber mit ihm kämpfte, sondern in welcher auch der religiöse und politische Fanatismus durch jedes sich darbietende Mittel gewissenlos erregt worden war. Er verschloß die Augen nicht gegen die Gefahren, welche ihn umringten und durch das heute Geschehene ihm möglicherweise näher gerückt worden waren, als je zuvor.
Durch den Eintritt Kramer’s wurde er in seinen Gedanken unterbrochen. Dieser hatte die Arbeiter entlassen und kam, um von seinem Gebieter die Befehle für den morgenden Tag einzuholen. Er und Jantzen waren die Einzigen, auf welche Max mit Sicherheit rechnen konnte. Beide hatten ihn begleitet, als er die Heimath verlassen, um sich in dem neuen Reichslande einen Heerd zu gründen. Kramer namentlich hatte schon seit manchem Jahre ihm und seiner Familie treue Dienste geleistet. Schon bei seinem Vater, als dieser noch nicht pensionirt worden, war Kramer Officierbursche gewesen, und ihm gefolgt, als er den Abschied genommen und sich mit seiner Pension als Oberst auf eine kleine ländliche Besitzung zurückgezogen hatte. Nach dem Tode des Herrn ging Kramer’s Liebe auf dessen Kinder über. Er hatte jede Sorge mit ihnen getragen, und jeder Kummer, der sie traf, fand ein Verständniß in der Seele des treuen Menschen. Auch heute trug seine Stirn dieselbe Sorgenfalte, die man auf der seines Herrn bemerken konnte.
„Sie sind fort, Herr Hauptmann,“ sagte er neben der Thür stehen bleibend und scharf in das Gesicht Reinhard’s blickend, „Alle sind ruhig fortgegangen. Ich hoffe, sie werden zum Nachdenken gekommen sein – wenigstens wird der größere Theil von ihnen sich scheuen, eine neue Gewaltthat zu unternehmen.“
„Wir wollen dennoch keine Vorsicht versäumen, Kramer. Wenn die neuen Stühle ankommen – ich habe Nachricht erhalten, daß sie bereits abgegangen sind – gedenke ich sie mit militärischer Bedeckung herbringen zu lassen. Bis dahin können wir nichts Anderes thun, als scharfe Wache halten. – Uebrigens ist eine Gewaltthat nicht gerade das, was ich jetzt fürchte. Mir scheint Arbeitseinstellung wahrscheinlicher.“
„Dadurch thäten die Leute sich selbst mehr Schaden, als Ihnen. Wovon sollen sie leben, wenn der Lohn aufhört?“
„Ich fürchte, Kramer, sie würden es länger aushalten können, als ich. Meinst Du, sie werden es sich nicht ungefähr ausgerechnet haben, um wieviel jeder arbeitslose Tag mich ärmer machen würde? Sie wissen es ganz gut, daß bei jetzigen Zeitläuften nicht eben viel dazu gehört, mich zu ruiniren. Daß aber dies das Ziel ist, dem sie nachstreben, davon bin ich überzeugt.“
„Es wird ihnen aber nicht gelingen. So niederträchtig kann es in der Welt nicht zugehen, daß eine gerechte Sache unterliegen soll.“
„Es ist schon manche gerechte Sache in dieser Welt gescheitert, mein armer Bursche,“ sagte Max mit schwachem Lächeln.
„Aber nicht, wenn man sie auf die richtige Weise angreift, wie Sie es thun,“ entgegnete Kramer hartnäckig. „Sie haben den richtigen Kopf dazu, Ihr Stück durchzusetzen. An Muth fehlt es Ihnen auch nicht, und was das Geld betrifft –“
„Ja, das ist der schwierige Punkt,“ sagte Max lachend, „das ist die Stelle, wo ich sterblich bin.“
„O, darüber bin ich außer Sorgen. Ich weiß, daß der Herr Oberst Ihnen ein hübsches Vermögen hinterlassen hat.“
„Du weißt aber auch, mein Alter, daß dieses hübsche Vermögen in der Fabrik steckt. Das ist in diesem Augenblicke eben keine sichere Capitalanlage, wie Du gestehen mußt.“
„Ihr Magazin liegt voll werthvoller Tuche – es wird einen hübschen Haufen Geld geben, wenn Sie die erst verkaufen können.“
„Die Sache ist aber eben: ich kann sie nicht verkaufen. Mache Dir keine Illusionen, mein lieber Freund! Du mußt es in’s Auge zu fassen und zu tragen versuchen: wenn es mir nicht bald gelingt, meiner Waare einen Markt zu eröffnen, dann bin ich unrettbar ruinirt, auch selbst ohne Arbeitseinstellung. Der Unterschied wäre einzig der, daß ich mich bei ruhigem Fortbetrieb der Fabrik länger halten könnte und folglich mehr Aussicht hätte, den günstigen Zeitpunkt abwarten zu können.“
„Und er wird nicht lange auf sich warten lassen – das prophezeie ich,“ rief Kramer.
„Wir wollen es hoffen – möglich ist es allerdings. Ich habe so viel Schritte gethan, Absatz für meine Tuche zu finden, daß ich kaum fürchten darf, es werden alle versagen. Ich habe mich an alte, treue Cameraden meines Vaters gewandt, die mir in der hervorragenden Stellung, welche sie jetzt einnehmen, von bedeutendem Nutzen sein können. Ob sie es aber wollen werden, ist immerhin sehr fraglich.“
„Nun, und wenn sie es nicht thäten, dann wäre es auch noch nicht das Aergste. Ich weiß noch ein Mittel, das ganz gewiß helfen wird.“
„Und das wäre, Kramer?“
„Eine reiche Frau, Herr Hauptmann.“
„Hast Du mir schon eine ausgesucht, mein Junge?“
„Thun Sie das nur selbst, Herr! Wenn Sie ernstlich wollten, könnte es Ihnen gar nicht fehlen.“
„Wer weiß? Nicht alle Menschen sehen in Deinem Herrn einen so fehlerlosen Helden, wie Du.“
„Ein Herr, wie Sie, Herr Hauptmann, kann dreist überall anklopfen. Wäre ich an Ihrer Stelle, dann wäre die Beste noch kaum gut genug für mich.“
„Du bist ein unverschämter Bursche, Kramer.“
„Ich würde sie Alle hinter mir herlaufen machen und mich um Gotteswillen bitten lassen, sie zu nehmen.“
„Alle, Kramer? Du liederlicher Don Juan, Du!“
„Dann würde ich mir die Reichste aussuchen; die, welche mir haufenweise Gold zubrächte, und dann –“
„Schäme Dich, Du geiziger, geldgieriger Mensch! Und nun scheere Dich hinaus, schließe das Thor und lege die Eisenstange vor! Ich muß nach Hause; Marie hat schon zweimal nach mir geschickt.“
„Ich gehe schon. Aber die Sache mit der Heirath sollten der Herr Hauptmann allen Ernstes in Erwägung ziehen. Wie viele Männer, die nicht zur Hälfte das waren, was Sie sind, haben reiche Partien gemacht und sind mit einem Schlage aus aller Noth und Sorge herausgekommen.“
„Weißt Du auch, Kramer, daß Du mich da zu einer ganz gemeinen That überreden willst?“ fragte Max ernster, als bisher.
„Gar nicht, Herr Hauptmann. Im Gegentheil, eine gute und menschenfreundliche That ist es. Die Welt ist voll hübscher und reicher Mädchen, die alle –“
„Die alle stille sitzen und auf dieses Prachtstück der Schöpfung warten, das Du Deinen Herrn nennst, he?“
„Die alle einen hübschen Preis zahlen möchten für einen guten und hübschen Mann, wie Sie sind.“
[748] „Preis zahlen! Du gewissenloser Seelenverkäufer, Du! Sieh mich an, Bursche! Wie hoch taxirst Du mich?“
„In Civil und mit der Fabrik obendrein sind der Herr Hauptmann wenigstens seine Hunderttausend unter Brüdern oder vielmehr Schwestern werth. Ich an Ihrer Stelle thäte es nicht billiger.“
„An zu großer Bescheidenheit leidest Du nicht, wie ich merke.“
„Und für die Berechtigung, die Uniform der glorreichen deutschen Armee zu tragen,“ vollendete Kramer mit schlauem Blinzeln, „für diese Berechtigung müßte noch ein hübsches Landgut darauf kommen. Anders thäte ich es nicht – auf keinen Fall.“
„Nun habe ich genug des Unsinns, Du unverschämter Patron. Mache, daß Du fortkommst! Ich will die Stube schließen.“ – –
Als Max einige Minuten später an der langen, rothen Mauer des Fabrikhofes hinging, die noch die Sonnengluth des heißen Tages ausströmte, mußte er noch einmal an das eben geführte Gespräch zurückdenken.
„Es ist richtig,“ sagte er zu sich, „alle meine Freunde sehen meine letzte Hoffnung nur in einer reichen Heirath. Wird mir denn wirklich kein anderes Mittel übrig bleiben? Ich habe es immer für ein unveräußerliches Menschenrecht gehalten, seine Lebensgefährtin nach seinem Herzen zu wählen. Muß ich mir dieses Recht durch die Ungunst der Verhältnisse verkümmern lassen? – Muß ich wirklich auf den Nutzen als auf das einzige Ziel meines Strebens und auf das Geld als den Gott hinblicken, dem ich jedes Opfer bringen muß, selbst das meines Glückes? Der Kampf, den ich kämpfe, fordert den ganzen Menschen, aber ich zweifle, daß der Sieg, wenn ich ihn erringe, der Opfer werth ist, die er gekostet. Und doch treibt die Nothwendigkeit mich vorwärts, die Nothwendigkeit, meine Pflicht gegen den Mann zu erfüllen, der mir einen Theil seines Vermögens anvertraut hat – für einen wackeren jüngeren Bruder zu sorgen und die Zukunft einer geliebten Schwester sicher zu stellen. Aber trotz dieses guten Zweckes sträubt sich ein Etwas in mir gegen diesen Schritt. Es ist nicht allein der Gedanke, eine Geldheirath schließen, mich des Vermögens eines Mädchens bemächtigen und sie selbst nothgedrungen mit in den Kauf nehmen zu müssen. Der Grund, der mich zurückschreckt, liegt tiefer. Es ist die Erkenntniß, daß für mich in dieser Ehe kein Glück zu erhoffen ist. Mein Herz lehnt sich auf gegen die reiche glänzende Erbin, die mich heute mit ihrer Gunst so auffällig beglückt hat. Ich fühle es, daß kein Zug der Sympathie mich zu ihr hinzieht. Welch eine herrische, anspruchsvolle Frau wird sie werden, herrisch und anspruchsvoll selbst in ihrer Liebe! Und wenn ich die Consequenzen ziehe – auf der einen Seite diese glühende, leidenschaftliche, an keine Selbstbeschränkung gewöhnte Natur mit dem heißen, französischen Blute in den Adern und dem ungezähmten heißen Lebensdrange in der Brust – und auf der anderen Seite kühle Abwehr – eisige Reflexion! – Gieb Acht, Max, was Du thust! Das kann eine Ehe werden, in der Mannesstolz und Manneswürde, Muth und Selbstachtung in die Brüche gehen.“ –
Er hatte während dieses Selbstgespräches eine kleine Pforte in der Gartenmauer erreicht, die er mit einem Schlüssel rasch öffnete. Tief aufathmend trat er von der dürren, staubigen Fahrstraße in den schattigen, kühlen Garten. Hier umgaben ihn wohlthuende Stille und Frische. Unter einer Gruppe breitästiger Linden luden zierliche Gartenmöbel zur Ruhe ein, und einige auf einem Tische umherliegende Gegenstände bekundeten, daß man diesen Platz kürzlich benutzt hatte – ein leichter Strohhut mit blauen Bändern, ein Arbeitskästchen mit kleinen, zierlichen Geräthschaften, daneben eine jener hübschen Frauenarbeiten, bei deren Anblick man unwillkürlich an die geduldigen, kleinen Finger denken muß, die daran genäht haben. Aus dem Arbeitskästchen strömte ihm, als er sich zu diesem kleinen Kunstwerke von Perlmutter, Stahl und Seide niederbeugte, ein feiner Veilchenduft entgegen. Plötzlich richtete er sich in die Höhe und zuckte zusammen. Leise Tonwellen waren, vom Abendwinde getragen, zu ihm gedrungen. Eine schöne Stimme sang ein Lied, dessen ernste, weiche Melodie sich schmeichelnd an sein Ohr legte. Noch war er zu weit vom Hause entfernt, um die Worte verstehen oder die Sängerin erkennen zu können. Aber je näher er kam, desto reicher und herrlicher quollen ihm die Töne entgegen; in der Stille des Abends wirkten sie mit einer Gewalt auf ihn, die ihn im Innersten erbeben machte. Jetzt erkannte er das Schubert'sche „Ave Maria“, und als er lauschend unter den Fenstern des Saales stehen blieb, vernahm er auch deutlich die Worte:
Wir schlafen ruhig bis zum Morgen,
Ob Menschen noch so grausam sind;
O Jungfrau, hör' der Jungfrau Sorgen,
O Mutter, hör' dein betend Kind!
Es war eine wunderbar süße Stimme, welche die Strophe sang; sie führte ihm das Bild des schönen Mädchens vor Augen, das er heute wiedergesehen, und an das er seit dem ersten Begegnen öfter gedacht, als er es sich selbst gestehen mochte. Die Sängerin drinnen konnte ebenso gut die glänzende junge Erbin sein, die er heute kennen gelernt, aber beim Ton dieser Stimme schweifte keiner seiner Gedanken zu ihr ab. Die Ueberzeugung stand fest in ihm, daß nicht sie, sondern Hanna die Sängerin sei, daß er Hanna drinnen bei seiner Schwester treffen würde. Die unaussprechliche Lieblichkeit des Tones entsprach so vollständig der Harmonie ihrer ganzen Erscheinung, daß er hierüber keinen Zweifel hegte.
Er verweilte draußen, bis das Lied beendet war. Dann hörte er, wie die Sängerin sich vom Flügel erhob und Marie ihren Dank aussprach. Und als er schnell die Treppe emporstieg, traten beide Mädchen, Arm in Arm, ihm oben auf dem Balcon entgegen. Herr Kayser folgte ihnen.
Die Elektricität als Heilmittel. Mehrfachen Anfragen gegenüber sei zu dem in Nr. 34 der „Gartenlaube“ erschienenen Artikel über diesen Gegenstand noch Folgendes bemerkt. Man hat ebenso wie zur Anwendung des faradischen auch zu der des galvanischen Stromes handliche Apparate construirt, welcher sich unter Umständen auch Laien bedienen können. Jedoch darf die Behandlung immer nur nach Anleitung und unter Aufsicht eines Arztes stattfinden, weil sonst leicht großer Schaden angerichtet werden kann. Die ersten leicht transportablen Apparate wurden hier in Dresden von Dr. Emil Stöhrer verfertigt; es waren das die bekannten, zur Anwendung des faradischen Stromes dienenden sogenannten Inductionsapparate. Später wurden von demselben Fabrikanten auch galvanische Handbatterien erfunden, die in verschiedenen Größen von zwanzig bis vierzig Elementen geliefert werden. Vorzügliche Apparate für beide Formen der Elektricität werden jetzt von verschiedenen Mechanikern hergestellt; so von Hirschmann und Krüger in Berlin, Baur und Fein in Stuttgart. Die Preise für Inductionsapparate schwanken zwischen vierzig und fünfundsiebenzig Mark, je nach Güte und Dauerhaftigkeit der Fabrikate; die galvanischen Handbatterien kosten in der einfachsten Ausstattung etwa siebenzig bis hundert Mark.
Ueber die anzuwendende Stromstärke läßt sich etwas Allgemeines nicht sagen: in dieser Hinsicht kann nur das Urtheil eines erfahrenen Arztes über jeden einzelnen Fall bestimmen.
Dresden
Fr. in N. Sie haben verehrter Freund, die Verpflichtung im Interesse der guten Sache sich zu schonen und dürfen am wenigsten jetzt – nach kaum überstandener Krankheit – in Ihre Kräfte hineinwüsten. Ich rufe auch Ihnen die wohlbekannten Worte zu:
Aber Eins bedenke Jeder:
Was er immer thut und treibt,
Ob mit Hammer oder Feder
Brod er schmiedet oder schreibt,
Daß die Mühsal des Erwerbens
Ihm sein Bestes untergräbt.
G. L. in Breslau. Das Gedicht. „Wenn Du noch eine Mutter hast,“ rührt nicht von Alb. Traeger her, wohl aber hat dieser Poet schon vor langen Jahren das schöne und vielbekannte Lied: „Wenn Du noch eine Heimath hast,“ gedichtet.
G. P. in Rostock. Sie fragen an, ob es Bürgerlichen gestattet sei auf dem Helm ihres Wappenschildes eine Krone zu führen und welche Form dieselbe haben darf. Warum soll Bürgerlichen das Führen einer Krone nicht erlaubt sein? Als Form würden wir eine – Narrenkappe vorschlagen.
- ↑ Es bedarf hier wohl nicht eines Hinweises auf die nationale und volksgeschichtliche Bedeutung des Niederwald-Denkmals. Die Presse hat in den Tagen nach der Grundsteinlegung das Fest und seine Idee so allseitig beleuchtet, daß wir glauben, uns hier auf die bildliche Darstellung dieser Feier und den obigen poetischen Weihegruß unseres Rittershaus um so mehr beschränken zu sollen, als unser Blatt, welches den Gedanken des Monuments und der Sammlung dafür bekanntlich zuerst angeregt, sich über dieses glorreiche nationale Unternehmen bereits früher (Nr. 33 von 1874) eingehend ausgesprochen hat.D. Red.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Täger