Wilhelm von Humboldt’s „Freundin“
Ueber die persönlichen Verhältnisse, in welchen die durch Wilhelm von Humboldt’s „Briefe an eine Freundin“ berühmt gewordene Frau Doctorin Charlotte Diede gelebt, sind vielfache Irrthümer verbreitet. Das Publicum befindet sich trotz des regen Interesses, welches die Briefe seit ihrer Veröffentlichung fortwährend gefunden haben, noch immer in einem gewissen Dunkel über die Person der „Freundin“. Zum Theil gilt dies auch von einem Aufsatze, den die „Gartenlaube“ in ihrer Nr. 45, S. 716 bis 718 vom Jahre 1869 veröffentlicht hat.
Ich theile über die Beziehungen Wilhelm von Humboldt’s zu seiner Freundin mit, was ich darüber als Verwandter der Letzteren weiß, und sehe es als einen Act, ja als eine Pflicht der Pietät gegen die Doctorin Diede an, so manchen Unrichtigkeiten und wohl gar Verdächtigungen, welche in Anschauung ihrer und zugleich anderer dabei Betheiligter vorgekommen und von Vielen geglaubt worden sind, entgegen zu treten, wenn nicht schon an und für sich das Leben einer Frau, welche ein Wilhelm von Humboldt eines solchen Reichthums von Briefen werth hielt, interessant genug wäre, um den Lesern und Leserinnen derselben einige nähere Nachrichten darüber wünschenswerth erscheinen zu lassen.
Die Doctorin Charlotte Diede, geb. Hildebrand war – dies bemerke ich zur Legitimation meiner Mittheilungen über sie – die leibliche Schwester meiner Mutter, zugleich Cousine meines Schwiegervaters und dessen vertraute Freundin von Jugend auf. Ich bin unter ihren nahen Verwandten der einzige noch Lebende und habe sie in Kassel seit dem Jahre 1824 bis zu ihrem Ableben oft genug besucht, mit ihr persönlich von Angesicht zu Angesicht häufig verkehrt, vielfache Unterredungen mit ihr gehabt und bei ihr manche von W. von Humboldt an sie eigenhändig geschriebene Briefe gelesen. Sie war unter den sieben Kindern des Pastors und Superintendenten Friedrich Ernst Hildebrand zu Lüdenhausen im Fürstenthum Lippe-Detmold und seiner Ehefrau Dorothee Sophie Falkmann (einer Tochter des Oberförsters Falkmann zu Blomberg, später zu Siekholz bei Blomberg) das dritte Kind, laut des Kirchenbuchs zu Lüdenhausen im Jahre 1769 geboren und daselbst am 22. Mai desselben Jahres getauft. Ihre vollständigen Taufnamen waren Ernestine Charlotte Marie und ihre Gevatterinnen Charlotte Luise Falkmann zu Blomberg und die Regierungsräthin Valentini zu Detmold.
Charlottens Vater, mein Großvater, war ein viel gelehrter, tief denkender, in der Ideenwelt lebender, sogar in Traumvisionen zuweilen bis zum magnetischen Hellsehen sich vertiefender Mann. Mit Glücksgütern gesegnet, machte er in eigener Equipage Badereisen. Bekanntlich war es 1788 zu Pyrmont, wo damals Charlotte Hildebrand und Wilhelm von Humboldt sich zum ersten Male sahen und kennen lernten. Später sah sie ihn nur noch einmal, da er auf einer Reise von Berlin nach Paris sie auf einen Tag in Kassel besuchte. Für solche Leser der Briefe, welche Pyrmont kennen und besuchen, mag vielleicht, die Notiz einiges Interesse haben, daß die erste Begegnung Beider in der Hauptallee stattfand und zwar an der Bank unter der größten, heute noch dort befindlichen Linde, nahe der Eingangsthür zu dem kleinen Concertsaale (späterhin Spielsaale, jetzigem Lesezimmer). Hier war Nachmittags zur Zeit des Kaffeetrinkens Charlottens Lieblingssitz. Der Baum wird unter Bekannten mitunter auch heute noch die „Humboldt-Linde“ genannt. Außerdem hatten sie noch besonders bevorzugte Plätze, wo sie gern zu verweilen pflegten, z. B. die Bank unter der Linde am Südende der Hauptallee, östlich von dem Fontaine-Bassin, von der man die Aussicht auf das fürstliche Schloß hat, sodann auch eine Bank neben dem jetzt durch zahlreiche Goldfische und zur Curzeit durch blühende Nymphäen sich auszeichnenden Fischweiher an dem Westende der Cursaal-Allee mit der Aussicht nach dem Dorfe Holzhausen etc., vornehmlich aber weilten sie gern auf dem Königsberg, da, wo das Denkmal zur Erinnerung an den dortigen Aufenthalt des Königs Friedrich’s des Zweiten errichtet worden.
Charlottens Mutter war eine ausgezeichnete Hausfrau und vielbegabte Erzieherin ihrer Kinder, besonders der Töchter. Der Bruder der Mutter, Charlottens Onkel – er stand im Dienste des genialen Grafen Wilhelm von Schaumburg-Lippe – war der Oberförster Falkmann zu Baum bei Bückeburg. Dessen Vater, Charlottens Großvater, war in dem bückeburgischen Domanialforste Blomberg-Siekholz beamtet gewesen. Dieses Verhältniß führte die Hildebrand’schen Kinder von Lüdenhausen mitunter nach Baum, wo sie in Waldesluft gern verweilten.
Zu Hause wurden sie mit einem für Landpredigerfamilien nicht gewöhnlichen Aufwande erzogen. Während der Vater den Söhnen und Töchtern streng wissenschaftlichen und selbst gelehrten Unterricht in umfassender Weise ertheilte, wurde für die Töchter eine Gouvernante aus der sogenannten französischen Schweiz gehalten, um dieselbe fremde lebende Sprachen, vornehmlich die französische, auch praktisch erlernen zu lassen: zur Zeit, da Charlotte und ihre drei Jahre jüngere Schwester (meine Mutter) heranwuchsen, ein Fräulein Hofmaier, welche später, in gleicher Eigenschaft, aus dem ländlichen Predigerhause von Lüdenhausen nach Kassel kam, um dort bei der Erziehung der Kinder des Landgrafen von Hessen in gleicher Eigenschaft zu dienen.
Als Charlotte zu jungfräulicher Blüthe herangewachsen war, kam mein Großvater in den traurigen Fall, sich einer lebensgefährlichen Bauchoperation unterziehen zu müssen. Unter nahen Verwandten im Lippe’schen waren einige Aerzte besten Rufes und Ansehens. Diese riethen aber, und er selbst entschloß sich, die Operation durch den als besonders geschickten Operateur damals berühmten Regimentsarzt Meyer in Rinteln (eine Meile entfernt von dem Dorfe Lüdenhausen) ausführen zu lassen, was mit glücklichstem Erfolge geschah.
Unmittelbar hieran schloß sich ein Verhältniß, welches für Charlottens fernern Lebensweg durchaus entscheidend wurde. Der [265] Regimentsarzt Meyer, ein ebenso angesehener Arzt wie reicher Mann, hatte eine Tochter von gleichem Alter der ersteren, die, wenn auch nicht geistig gleich hochbegabt und wissenschaftlich gebildet, doch nicht weniger schön und liebenswürdig war, als Charlotte. Ihr Name war Luise. Mit dieser trat Charlotte, da nach der Wiederherstellung ihres Vaters beide Familien in nahen freundlichen Umgang miteinander kamen, in das Verhältniß innigsten Vertrauens und lebenslänglicher Freundschaft.
Als die Töchter nach der Genesung des Vaters bei Meyer's in Rinteln zu Besuch waren, stand dort ein hübscher junger Lieutenant, Namens Wiederholt, in Garnison. Er gewann die Luise Meyer lieb und wurde von ihr wieder geliebt. Beide verlobten sich mit einander, da noch Niemand außer Charlotte darum wußte. Das Verhältniß konnte aber doch nicht lange verborgen bleiben. Der Lieutenant Wiederholt, in dem Bewußtsein seines redlichen Sinnes und tüchtigen Strebens, warb bei ihrem Vater um die Hand Luisens. Dieser, voll Liebe für seine Tochter, aber zugleich, und zwar eben deshalb, bei seinem Reichthume und Ruhm als Arzt, ein mit ihr hoch hinaus wollender Mann, erklärt: seine Luise gebe er keinem Lieutenant zur Frau; die wäre eines Generals werth. Der kühne junge Bewerber, nicht verzagt über einen solchen Bescheid, nimmt seinen Abschied aus hessischen Diensten und tritt als Officier mit und unter dem als General berühmten Grafen Wilhelm von Bückeburg in königlich portugiesischen Militärdienst. Er avancirt unter der siegreichen Führung des genannten Feldherrn rasch zum Generalmajor. Als solcher kehrt er zurück in seine hessische Heimath und wird auch zu Kassel mit dem durch seine Tüchtigkeit in Portugal errungenen Range eines Generals wieder in hessischen Militärdienst aufgenommen.
Inzwischen hatten die beiden Liebenden ihre Verbindung, trotz der weiten Entfernung von einander, niemals aufgegeben oder abgebrochen, vielmehr durch regelmäßige Correspondenz beständig treu fortgesetzt und unterhalten. Der Briefwechsel durfte aber, damit der alte Meyer nicht dazwischen träte und ihm ein Ende machte, nicht direct von Person zu Person, nicht unmittelbar von Portugal nach Rinteln, von Rinteln nach Portugal geschehen; er mußte über Lüdenhausen gehen. Charlotte Hildebrand war die Vermittlerin desselben zwischen beiden Liebenden. Die Briefe von beiden Seiten gingen zunächst an sie, und Charlotte besorgte ihre Weiterbeförderung von dem einsamen Dorfe aus. Für solchen heimlichen, und bei der Lage der Sache allerdings nicht tadelfreien, aber andererseits doch auch zu entschuldigenden und naheliegenden Liebesdienst, hat sie im Laufe späterer Erlebnisse schwer büßen müssen; nicht etwa durch ihre Freunde, den General Wiederholt und Luise Meyer, nein, diese haben ihr für ihre Liebe und Freundschaft nur Liebe und Freundschaft wieder erwiesen.
Sobald Ersterer als General in das hessische Militärcorps wieder einrangirt und in Kassel stationirt war, eilte er nach Rinteln, zeigte dem alten Regimentsarzte Meyer sein Diplom als General, erinnerte ihn an seinen frühern Bescheid, warb in alter ungeschwächter Liebe von Neuem bei dem zwar freudig überraschten, aber doch auch in etwas beschämten Vater um seine Tochter Luise und erhielt das Jawort. Das Paar nahm seinen Wohnsitz in Kassel und lebte dort in den glänzendsten Kreisen und Verhältnissen.
Charlotte Hildebrand war und blieb die vertrauteste Freundin der Beiden und nahm, oft und auf längere Zeit in Kassel bei Wiederholt's zum Besuche anwesend, an ihrem häuslichen und Familienglücke lebhaften Antheil. Ihre körperliche Schönheit, ihre hohe Geistesbildung und Begabung erregten bald Aufmerksamkeit in den reichsten und vornehmsten Gesellschaftscirkeln der hessischen Residenzstadt, in welche sie durch ihre hochgestellten Freunde eingeführt wurde. In solchen Kreisen fand auch ein allgemein als sehr reich bekannter junger Mann Zutritt, der cavaliermäßig in Kassel lebte und großen Aufwand machte. Er hatte mit Charlottens ältestem Bruder, Ferdinand Hildebrand, zu Göttingen und mit ihrem Vetter und Jugendfreunde H. Schönfeld, meinem vorhin schon erwähnten nachmaligen Schwiegervater, in Marburg gleichzeitig studirt und war Beiden, sowohl wegen des ungewöhnlichen Luxus, den er schon auf Universitäten trieb, wie durch sein ausschweifendes liederliches Leben und demoralisirtes Wesen bekannt. Ich erzähle über ihn nur, was ich von meinem Oheim und meinem Schwiegervater sowie auch von meiner seligen Mutter zum Oeftern gehört habe. Jener reiche vornehme junge Mann war der Dr. jur. Diede. – Charlotte Hildebrand, den Glanz liebend, in ihrer Jugendfrische davon verblendet, ließ sich in ihrer ländlichen Arglosigkeit von dem bei jeder Gelegenheit ihr eifrig den Hof machenden Dr. Diede so weit bethören, daß sie sich mit ihm verlobte.
Es ist aber völlig irrig, was der Berichterstatter der „Gartenlaube“ in der vorhin bezeichneten Nummer Seite 717 darüber verbreitet hat: daß nämlich Charlotte durch ihre Eltern gedrängt worden sei und diese von ihr „streng verlangten, ihr Jawort zu geben“ zu ihrer Verheirathung mit dem Dr. Diede, der sich inzwischen in Begleitung seines Reitknechts auch in Lüdenhausen persönlich präsentirt hatte. Statt Charlotte zu der Verbindung zu rathen, hatte vielmehr ihr Vater sie gewarnt; er hatte, aufgefordert von seinem ältesten Sohne, auf die allerentschiedenste Weise seiner Tochter von einer Vermählung mit dem Dr. Diede abgerathen und von ihr streng verlangt, ihr Jawort ihm nicht zu geben, er selbst aber als Vater das seinige ebenso streng verweigert, ja sogar, als dies nichts gefruchtet, zugleich mit seinem genannten Sohne, ihr angekündigt, daß Beide, Vater und Bruder, wenn sie den Dr. Diede dennoch zum Manne nehmen würde, fortan alle Gemeinschaft mit ihr abbrechen und aufgeben würden. Und dies ist, als Charlotte das Weib Diede’s geworden, auch wirklich geschehen. Beide haben seitdem niemals Charlotte wiedergesehen und wiedersehen wollen. Der Vater starb schon im Jahre 1800, der Bruder aber erst 1834 als Pastor zu Berlinghausen.
Unter allen ihren Geschwistern ist die Doctorin Diede nachher nur mit meiner Mutter in näherer persönlicher Verbindung und bis kurz vor ihrem Ableben auch in brieflicher Correspondenz geblieben. Meine Mutter war, solange sie unverheirathet, bis 1798, oft auf Wochen und Monate bei der Doctorin Diede in Kassel zum Besuche. Aber der Glanz und das Glück der Letzteren war von kurzer Dauer. Der Mann war durch sein früheres ausschweifendes Leben dermaßen körperlich und geistig herunter gekommen und entnervt, daß er unmöglich eine Frau von so eminenten körperlichen und geistigen Eigenschaften, wie Charlotte, beglücken konnte. Dabei beherrschte ihn tief eingefleischte Eifersucht und Argwohn schlimmster Art gegen seine Frau, und es fehlte in den Kreisen seiner Gesellschaftsgenossen nicht an Solchen, durch welche ohne Arg oder aus Muthwillen jene üblen Eigenschaften in Dr. Diede nur immer mehr Nahrung erhielten. Ich mag nicht sagen, aber mein Schwiegervater und meine Mutter haben mir oft davon erzählt, bis zu was für Rohheiten und Auftritten schmutzigster Art im Aufflammen seiner Leidenschaft der Dr. Diede sich gegen seine Frau vielfach hat hinreißen lassen, sogar bis zu öffentlichen Scandalscenen zur äußersten Kränkung seiner Frau; so berauschte er sich – um Eines doch zu erwähnen – wenn Charlotte auf einem Balle mit einem Herrn tanzte, woran er in seinem eifersüchtigen Argwohne Anstoß nahm, in Spirituosen, taumelte dann in den Tanzsaal hinein und warf sich plötzlich nahe vor seiner dahertanzenden Frau hin, so daß diese über ihn zu Boden stürzen mußte etc.
Unter solchen Umständen ist es wohl zu verstehen, wie sich das Herz der Frau von dem Manne zurückgestoßen fühlen, ja allmählich von ihm abwenden mußte, und es erscheint, wenn auch an und für sich tadelnswerth und nach den Gesetzen der Moral nicht zu rechtfertigen, nur gar zu natürlich und erklärlich, daß die durch ihren Mann so beleidigte und fortwährend gequälte Frau gegen Aufmerksamkeiten, die ihr von andern Herren in befreundeten Kreisen erwiesen wurden, auf die Dauer nicht ganz unempfindlich blieb und sie nicht immer gleichgültig und kalt zurückwies. Auf ein verwundetes Herz wirkt es wie ein wohlthuender heilender Balsam, wenn es Zeichen theilnehmenden Mitgefühls bei Andern findet. Welch eine Aufgabe für ein tief verletztes und gereiztes Gemüth, in solchen Verhältnissen und Beziehungen stets das Richtige zu treffen!
Meine Mutter sprach ihre Schwester, für welche sie sonst stets nur herzliche Schwesterliebe und Theilnahme hatte, in dieser Hinsicht nicht unbedingt frei von tadelnswerther Verirrung, namentlich nicht in ihrem Verhalten zu einem jungen lebensmuthigen Lieutenant von H., welcher der Doctorin Diede den Hof gemacht unter dem Scheine, daß dies nicht ihr, der Frau Diede, sondern der bei derselben zum Besuche anwesenden Schwester gelten sollte. Das wäre aber das Aeußerste gewesen, was jemals der [266] Frau hätte nachgesagt werden können. Zu unsittlichen Schritten sei es dabei sicher nicht gekommen. Ueberhaupt hätten darüber höchstens nur allerlei leichtfertige Mißverständnisse und grundlose Vermuthungen stattfinden können.
Ich würde gänzlich vermieden haben, hiervon nur das Geringste zu erwähnen, wenn ich nicht mehrfach erfahren hätte, daß gerade hierüber die schwersten und grundlosesten Verdächtigungen gegen meine Tante weit und breit Eingang gefunden haben.
Das tiefe eheliche Zerwürfniß zwischen dem Dr. Diede und seiner Frau nahm seinen Fortgang bis zum Ehescheidungsprocesse. Diesen hat, soweit ich habe erfahren können, nicht der Mann, sondern die Frau eingeleitet, ohne zu ahnen, was für unsägliche Widerwärtigkeiten, Aergernisse und Verbitterungen bei solchem Schritte vorzukommen pflegen, und wie selbst der gewinnende Theil noch Verlust dabei erleidet. Die Acten dieses Processes, der in Kassel geführt wurde, zu Gesicht zu bekommen, habe ich mich vergeblich bemüht. Die Doctorin Diede selbst aber hat gelegentlich, wie ich selbst aus ihrem Munde gehört, im spätern Leben mit tiefer Gemüthsbewegung und großem schmerzlichem Ernste sich dahin ausgesprochen: daß eine Frau lieber Alles in der Ehe ertragen, als zu einem Ehescheidungsprocesse gegen ihren Mann schreiten sollte. Das Ende war, daß sie Titel und Namen ihres Mannes beibehalten durfte, übrigens beide Theile voneinander geschieden leben und Jeder sein vor der Verheirathung gehabtes, in die Ehe mitgebrachtes Vermögen und Gut für sich als Eigenthum haben und behalten sollte.
Es kam für Charlotte eine schwere Zeit tiefer Noth und Dürftigkeit. Der General Wiederholt lebte nicht lange mehr. Seine Wittwe, ihre Freundin Luise, stand ihr noch zur Seite, verheirathete sich dann aber wieder an einen Mann Namens Lotheisen, der einen hohen Posten in dem Ministerium zu Kassel, wenn ich nicht irre im Finanzministerium, bekleidete; sie selbst starb auch frühzeitig. Als geschiedene Frau des Dr. Diede mochte Charlotte, so lange dieser dort lebte, nicht in Kassel bleiben. Sie hatte ihr ererbtes Vermögen an den braunschweigischen Staat verliehen. Dieser aber wurde von dem Königreiche Westphalen unter Jerôme verschlungen und mit ihm Charlottens ganzes Einkommen für ihren Lebensunterhalt. Sie hat davon nichts gerettet.
In ihrer Armuth zog sie zunächst zu einer damals noch lebenden Schwester ihrer verstorbenen Mutter, geb. Falkmann, oder vielmehr zu ihrem Stiefsohne, ihrem alten Freunde, meinem spätern Schwiegervater, dem Pastor Schönfeld nach Veelkirchen im Lippischen, bei dem jene auf der Pfarre wohnte. Dort konnte ihres Bleibens jedoch auf die Dauer nicht sein. Ihre Tante lebte nicht lange mehr. Meine Eltern in Lage waren auch nicht im Stande, besonders wegen der damaligen Unwohnlichkeit des Pfarrhauses und bei einer wachsenden Kinderschaar, ihr aus eigenen Mitteln das zum Leben Nothwendige zu geben. Um wo möglich und leichter, wie sie meinte, im Braunschweiger Lande selbst für die Wiedererlangung ihres Darlehns bei dortigen Staats- oder Landschafts-Cassen Schritte thun zu können, zog Charlotte nach Holzminden und wohnte eine Zeitlang daselbst. Das half ihr aber nichts. Später zog sie nach Göttingen, wo sie in dem Erdgeschoß eines Gartenhauses vor dem Woender Thore Wohnung fand, dessen oberes Stockwerk Studenten englischer Nationalität inne hatten, wie sie mir, da ich sie während der Jahre von 1824 bis 1827 von Göttingen aus als Student in Kassel zuweilen besuchte, mehrmals erzählt hat; sie zeigten sich anfänglich als rohe, ungezogene und wilde Burschen, wenigstens ihr gegenüber, bis endlich Einer derselben, Namens Stappelton, aus vornehmer Familie und selbst unter Curatel der berühmten englischen Minister Castlereagh und Canning, das Unglück hatte, in einer Schlägerei mit Handwerksburschen fast tödtlich verwundet zu werden. Da leistete die arme Charlotte, die für sich selbst hülflose Frau, dem reichen hülfsbedürftigen englischen Lordssohne, als ihrem Hausgenossen, Dienste einer wahren barmherzigen Schwester. Sie kam dadurch in unmittelbare Correspondenz mit den beiden genannten Curatoren ihres englischen Pfleglings. Ich habe später die betreffenden Briefe bei ihr in Kassel gesehen und gelesen. Aus diesen machte sie sich aber wenig im Vergleich mit ihrem größten Schatze, von dem sie, wie sie sagte, alle Tage lebe und zehre und der, neben der Bibel, ihren ganzen Reichthum und Trost ausmache: nämlich die Briefe von Wilhelm von Humboldt. Sie sprach mit einer kindlichen Freude davon, daß und wie der von ihr zu Göttingen in seiner Todesgefahr bis zur völligen Wiedergenesung gepflegte, früher so wilde und gegen sie rücksichtslose englische Studiosus Stappelton hinterher, so lange er und sie dort gewohnt hätten, gegen sie stets so zahm und sanft wie ein Lamm gewesen und nicht müde geworden sei, sich ihr dankbar, wie ein Kind, zu erweisen. Sie erinnerte dabei an das, was im Alterthum von Androclus in der Höhle des Löwen erzählt wird.
Schon in Göttingen hatte die Doctorin Diede ihren Lebensunterhalt durch Verfertigung künstlicher Blumen zu erwerben gesucht. Dies setzte sie mit noch größerem Fleiße fort, als sie schließlich wieder nach Kassel sich zurückbegeben hatte und dort die ersten Jahre nach ihrer Rückkehr in einem Gartenhause vor dem holländischen Thore, die letzten Jahre ihres höhern Alters aber in stiller Zurückgezogenheit von Leben und Welt vor dem Wilhelmshöher Thore wohnte. Anfänglich waren ihr noch alte dort lebende Freunde oder Freundinnen, z. B. die erst in hohem Alter verstorbene Frau Hofmaier, behülflich in der Verwerthung der von ihr fabricirten Blumen, welche nicht allein von den Damen am kurfürstlichen Hofe zu Kassel, sondern sogar am Hofe der Bourbonen gesucht und gern gekauft wurden, weil sie die gleichartigen Pariser Fabrikate an naturmäßiger Schönheit übertrafen. Dies kam daher, weil Charlotte ihre Blumen mit dem ihr eigenen wahren Kunst- und Schönheitssinne herstellte, für jede einzelne Blume, Knospe oder Blüthe, jedes einzige Blättchen, Gräschen und Federchen, oder was es sein mochte, in ihrem Garten umher natürliche Exemplare als Modelle suchte und gebrauchte und darnach das jedesmal originelle Kunstwerk mit echt genialem Künstlergeschmacke und geschickter Hand ausführte. Es war ein glücklicher Gedanke, daß Wilhelm von Humboldt ihr rieth, zur Abwechselung und Erholung von ihrer Arbeit einmal Karl Ritter's Erd- und Völkerkunde zur Hand zu nehmen und zu lesen; sie erfuhr dadurch, daß in ähnlicher Weise, wie sie selbst bei Verfertigung ihrer Blumen, auch die Verfertiger der echten kunstvollen Shawltücher in Kaschmir verfahren, indem sie für jedes einzelne Muster oder Gemälde in einem solchen Tuche ihre Modelle in der Natur selbst suchen und wählen aus den Spiegelbildern, welche in den krystallklaren Gewässern Kaschmiriens von den sie umgebenden reichen und reizenden Blumen- und Laubgewinden sich darstellen und, obwohl auf fließendem Grunde, für ein kunstsinniges Auge sich schauen und fassen lassen: ein freies künstlerisches Schaffen, welches ohne Zweifel sogar noch die mit Recht berühmten kunstvollen Stickereien der ehemaligen Gobelins zu Paris, die in dem Commune-Aufstande 1871 zerstört wurden, übertrifft.
Dadurch allein schon, daß sie jene Beschreibung der Entstehung und Herstellung echter Kaschmirischer Shawltücher in Karl Ritter's großem Werke gefunden und gelesen, fühlte sich die kunstsinnige Frau, wie sie mir einmal sagte, für alle Mühe, die ihr das Studium der Erdkunde von Karl Ritter verursacht habe, für ihre Person reich belohnt und ihrem verehrten verewigten Freunde, der ihr dazu geraten habe, zu beständigem Danke verpflichtet. Aber gerade ihre Genialität gereichte der Künstlerin, was auch sonst wohl schon oft bei wahren Künstlern der Fall gewesen ist, im Kampfe mit der Welt gewiß nicht wenig zu desto tiefer gefühltem Schmerz und Leid.
Wie ihr aus tiefster Noth durch W. von Humboldt’s Edelmuth Großmuth geholfen und sie von demselben bis an sein Lebensende unterstützt wurde, das ergeben dessen herrliche Briefe an sie nur zum Theil. So lange er lebte, hatte sie nicht von der drückenden Noth der Armuth zu leiden. Aber durch seinen am 8. April 1835 zu Tegel erfolgten Tod wurde sie von Neuem in tiefe Noth und in den für ihre hohen Lebensjahre doppelt schweren Kampf um’s Dasein gestürzt, zumal bei dem Umschwunge des Zeit- und Modegeschmacks ihr künstlerisches Schaffen nicht mehr so einträglich blieb wie früher. Davon zeugten seitdem in verstärktem Grade ihre Briefe an meine Eltern oder gelegentlich ihre persönlichen Aeußerungen gegen meinen Vater, meinen Schwiegervater und auch gegen mich selbst, wenn Einer von uns, was von Zeit zu Zeit geschah, sie in Kassel besuchte.
In ihrer tiefen Sorge kommt ihr der Lichtgedanke, die Briefe von W. von Humboldt durch den Druck zu veröffentlichen, aber zuvor faßt sie den Entschluß, dieselben im Original dem Könige [267] Friedrich Wilhelm dem Vierten von Preußen vorzulegen. Sie zögert nicht, diesen in ihrer Seele plötzlich aufgekommenen glücklichen Gedanken mit einer ehrfurchtsvollen Immediatvorstellung von ihrer Hand an den König auszuführen, zugleich um Rücksendung der Vorlagen nach allerhöchster Notiznahme bittend. Aber nun wartet und wartet sie auf die Rücksendung dieser Briefe nach ihrer Meinung eine lange Zeit, doch die Rücksendung erfolgt nicht, ebenso wenig eine Antwort. Sie fürchtet und glaubt, daß nun auch dieser ihr einziger Reichthum ihr verloren gehen könne. Wer so oft und viel, wie sie, des Theuersten verloren hat, ist leicht geneigt zu fürchten, noch immer mehr von Neuem zu verlieren. In ihrer schweren Sorge darum schrieb sie an meinen Vater und fragte, was sie, ohne irgend einen Bekannten oder Freund in Berlin zu haben, den sie um Rath und Hülfe bitten möchte, nun thun könne und solle, um wieder in den Besitz der Briefe zu kommen. Mein Vater rieth ihr, sie möchte einfach noch einmal an den König schreiben und um Rücksendung der Briefe bitten. Dies thut sie in geziemender Form. Und siehe! darauf erhält sie mit umgehender Post ein Handschreiben von der Königin Elisabeth. In dem Schreiben erklärt die Königin im Auftrage ihres königlichen Gemahls, daß dieser für die Mittheilung der handschriftlichen Briefe von W. von Humboldt lebhaft danke, daß der König dieselben der Reihe nach zu lesen angefangen habe und mit großem Interesse zu lesen fortfahre, daß es ihm bisher wegen Mangel an Zeit und Muße nur nicht möglich gewesen sei, mit der Lectüre zu Ende zu kommen, daß er aber gern alle die Briefe vollständig gelesen haben möchte, ehe er sie zurückgäbe, und deshalb die Absenderin ersuche, dieselben noch einige Zeit in seiner Hand zu belassen, da sie dann bald und vollständig in der vorgelegten Ordnung zurückerfolgen sollten. Vorläufig übernehme die Königin gern, in Verbindung mit ihrem Gemahl, als ein Zeichen des Dankes für die Mittheilung der Briefe, der Freundin W. von Humboldt’s, den der König fortwährend hochehre, eine Anweisung auf sechszig Karolins zu übersenden mit der königlichen Zusicherung, daß die Empfängerin auf Lebenszeit eine gleiche Pension alljährlich aus dem Fonds des Schwanenordens erhalten solle.
Kurze Zeit hernach erfolgten mit einem wiederholten königlichen Dankschreiben für die Mittheilung und den hohen Genuß, welcher dadurch dem Könige bereitet sei, die sämmtlichen Briefe wohlgeordnet in der Urschrift an die Doctorin Diede zurück. Diese theilte den Brief der Königin ohne Verzug meinen Eltern mit. Ich selbst habe ihn seiner Zeit gelesen. Voll Dank und Jubel schrieb die Empfängerin dabei an meinen Vater, in ihrem Herzen von dem nun der schwere Sorgenstein wegen des täglich Nöthigen in dieser Welt abgehoben sei, habe sie einen Altar erbaut, auf dem sie jeden Tag, jeden Morgen die Opfer ihres Dankes darbringe, nächst Gott, dem Könige Friedrich Wilhelm dem Vierten und der Königin Elisabeth von Preußen für die durch diese ihr zu Theil gewordene Gnade, welche ihr ein sorgenfreies Alter sichere bis an ihr Lebensende. – Das letztere erfolgte in der Nacht vom 15. zum 16. Juli 1846, nachdem sie einige Zeit vorher beim Hervorholen eines Kleides aus einem Schranke, durch ein Fehltreten auf den Saum des Kleides in ihrer Wohnstube einen unglücklichen Fall auf ebenem Fußboden und dabei einen Bruch des Schlüsselbeines an der Schulter erlitten hatte.
Es ist eine Pflicht der Pietät, daß ich hier auch dankbar der Beweise von theilnehmender Liebe und Freundschaft gedenke, welche der Verstorbenen von der Frau Oberstin Greven zu Kassel, später zu Frankfurt, und von der Frau Majorin Dotmar zu Kassel in früheren Jahren ihres leidenvollen Lebens zu Theil geworden sind. In späteren Jahren bis zu ihrem Ableben erhielt sie gleiche Beweise von der Frau Oberappellationsgerichtsräthin Duysing und ihren Töchtern zu Kassel.
Dies sind wahrhaftige geschichtliche Thatsachen. Wahrhaft indignirend ist dagegen, was in Beziehung auf die Doctorin Diede und ihre Briefe von W. von Humboldt schon bald nach deren erster Veröffentlichung und auch noch späterhin in öffentlichen Blättern verbreitet worden ist, theils zur Verdächtigung und Verunglimpfung des großmüthigen Königs Friedrich Wilhelm des Vierten von Preußen, theils zur Verherrlichung Alexander von Humboldt’s, als ob nämlich nicht der König, sondern Dieser die bezügliche Pension der Doctorin Diede bis an ihr Lebensende gewährt hätte. Dies ist völlig falsch. Ist es doch bekannt genug durch Varnhagen’s Briefwechsel mit Alexander von Humboldt, daß dieser, so groß und berühmt als Naturforscher und Schriftsteller, in Beziehung auf die Freundin seines verstorbenen Bruders seinen Spott trieb, als über „des Pfarrers Tochter von Taubenheim“. Auch ist nicht unbekannt, daß Alexander von Humboldt ihre Briefe an seinen Bruder durch Verbrennen vernichtet und durch diese That gewiß einen wahren Schatz von reichen Zeugnissen eines ungewöhnlich begabten Geistes und Gemüthes, sowie eines in Freud' und Leid viel geprüften weiblichen Herzens und Lebens zerstört hat. Denn wenn Wilhelm von Humboldt nicht wirklich in den zahlreichen Briefen Charlottens einen solchen Schatz gefunden, so hätte er den Briefwechsel schwerlich bis an sein Lebensende fortgesetzt. Die Humboldt’schen Briefe an Charlotte sind bekanntlich nach dem Tode der Letzteren, durch eine Freundin derselben, die bekannte Schriftstellerin Therese, geborene Struve, herausgegeben worden.