Die Gartenlaube (1875)/Heft 9
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No. 9. | 1875. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennige. – In Heften à 50 Pfennige.
„Sie sind ein wunderlicher Mensch, Landeck,“ versetzte Doctor Iselt. „Frau von Haldenwang hat Sie ausgesandt und Ihnen die nöthige Summe Geldes gegeben, deren Sie bei Ihrer Mission bedurften. Sie haben ihren Auftrag, ihr den unseligen Menschen vom Halse zu schaffen, glücklich ausgeführt, und nun sind Sie zu blöde, ihr dies selbst zu sagen.“
„Freilich, es mag Ihnen thöricht erscheinen – ich kann es Ihnen auch weiter nicht erklären – aber es ist einmal so – ich bringe es nicht über mich, und Sie sollen, während ich zu Rudolph Escher eile, um ihm den Wechsel zu bringen, der ihn rechtfertigt, zu Frau von Haldenwang gehen und ihr sagen, daß Maiwand abzieht. Sie sollen ihr seinen Revers übergeben, ihr sagen, daß ich das Wort, welches ich ihr gegeben, also voll und ganz gelöst – wollen Sie es?“
„Weshalb sollt’ ich nicht gern Frau von Haldenwang eine gute Nachricht überbringen?“ versetzte Doctor Iselt, „obwohl ich gestehen muß, daß Sie der wunderlichste Sterbliche sind, der mir je vorgekommen.“
„Und Sie reichen mir die Hand darauf, daß Sie von meiner Kriegslist nichts erwähnen?“
Iselt reichte, ein wenig zögernd, die Hand hin. Landeck zog sein Taschenbuch hervor und nahm die darin untergebrachten Papiere heraus, von denen er den von Maiwand ausgestellte Revers dem Doctor übergab.
„Sehen Sie hier, Doctor,“ sagte er dabei, „den Beweis, daß ich die Unwahrheit sagte, als ich Maiwand vorgab, ich trete als Verlobter der Frau von Haldenwang auf, und zum Zeugniß auf das Geld wies, das ich von ihr erhalten; die Banknoten die ich ihm gab, erklären sich ganz einfach durch diesen Brief. Da Sie so Viel erfahren haben, mögen Sie auch das wissen.“
Er gab ihm den Brief, den er am Morgen erhalten. Iselt öffnete ihn und las ein geschäftsmäßiges Schreiben der Expedition eines sehr weit verbreiteten Journals, womit dieselbe das Honorar für die in ihrem Blatte abgedruckten „Hellenischen Wanderungen“ übersandte und um Fortsetzung dieser mit so vielem Beifall aufgenommenen Mittheilungen bat. –
„Ah, also auch das erfährt man auf diese Art: Sie sind der Verfasser dieser die Frau von Haldenwang so entzückenden ‚Hellenischen Wanderungen‘. Wie hochmüthig, das zu verschweigen! Sie dachten wohl, es würde Ihrer Gelehrtenwürde Eintrag thun, wenn man erführe, daß Sie solche amusante und geistreiche Artikel zu schreiben verstehen?“
„Das nicht – aber wie konnte ich mich dazu bekennen, nachdem Frau von Haldenwang den ersten so übermäßig gelobt hatte!“
„Sie sind der eigenthümlichste Kauz, der mir vorgekommen ist,“ rief Iselt lachend aus.
„Und Sie, Doctor, hoffentlich der verschwiegenste aller Aerzte. Ich vertraue auch in diesem Punkte auf das Beichtsiegel. Vergessen Sie das nicht!“
Damit nahm Landeck den Brief wieder an sich, gab dem Doctor zum Abschied die Hand und eilte fort.
Iselt sah ihm eine Weile verwundert nach. Er schüttelte mehrere Male den Kopf und fragte sich höchst betroffen, ob er wirklich Landeck glauben solle oder nicht. Jedenfalls war seine Neugier in einem solchen Maße erweckt, daß er sich vornahm, Alles zu thun, nur durch kluges Sondiren bei Frau von Haldenwang Klarheit über die Situation zu erhalten, in welcher sich dieser „Hellene“ dieser „Helena“ gegenüber befände. So kam er bald nachher auf dem Gute an und wurde in den Salon geführt, wo Malwine gleich darauf erschien. Ein erster Blick in ihre Züge zeigte ihm, daß er keine Braut, wenigstens keine glückliche Braut vor sich habe: sie sah erregt, abgespannt aus und fixirte ihn mit eigenthümlich unsteten Blicken.
„Sie, Doctor? Was führt Sie her?“ fragte sie, „ist Jemand von den Leuten erkrankt, ohne daß ich es wüßte?“
„Nicht doch, gnädige Frau,“ versetzte Iselt lächelnd, „ich komme diesmal nicht als Arzt, sondern als ein Bote, der Herold in einer griechischen Tragödie, gesandt von einem fernen Heroen, um nach geschlagener Schlacht seine Großthaten zu verkünden. Ihr Heros hat Wunder gethan. Er hat diese Gefilde von einem Ungethüm befreit, die lernäische Schlange erschlagen, den nemeischen Löwen gebändigt, Alles, was Sie nur wünschen können, und zum Zeichen dessen läßt er durch mich die Haut des Löwen Ihnen zu Füßen legen – oder, was denselben Werth hat, dieses Blatt Papier.“
Malwine blickte erstaunt auf das Papier und dann in Iselt’s Züge.
„Um Gotteswillen, was bedeutet das?“ rief sie aus, „sprechen Sie deutlich!“
„Sprach ich nicht deutlich genug? Herr Landeck hat den Drachen bezwungen. Maiwand wird nie mehr auf Haldenwang erscheinen, hat Ihnen diesen Revers da ausgestellt und macht sich aus dem Staube, soweit er mit den fünfhundert Thalern [142] Reisegeld, die Herr Landeck ihm großmüthig geschenkt hat, nur irgend gelangen kann.“
„Und das, das Alles ist wirklich wahr?“ fragte Malwine, die Hände auf’s Herz pressend, während ihre Züge sich lebhaft vor freudiger Wallung rötheten. „Aber,“ fuhr sie im nächsten Augenblicke fort, „warum kommt nicht Landeck selbst, es mir zu sagen? Weshalb sendet er Sie, weshalb sagt es mir nicht sein eigner Mund?“
„Danach,“ rief Iselt aus, „habe ich ihn ebenfalls gefragt, und nur die Antwort erhalten, er vermöge es nicht über sich, wodurch ich gerade nicht klüger geworden bin.“
Malwinens Röthe wich wieder einer leichten Blässe.
„O, er hat Recht,“ sagte sie vor sich hinflüsternd, „er zürnt mir, er zürnt mir mit Recht – ich habe ihn so unwürdig beleidigt.“
„Sie haben ihn beleidigt?“ fiel Iselt, der die letzten Worte gehört hatte, ein; „das muß nicht eben schwer und unversöhnlich gewesen sein, gnädige Frau. Er hätte sich sonst nicht Ihretwegen in die Höhle des Löwen gewagt, auf die Gefahr hin, von diesem erwürgt zu werden, was wahrhaftig beinahe geschehen wäre, und dann noch sein sauer verdientes kleines Honorarcapital daran gewendet – ja so, das sollt’ ich ja nicht verrathen …“
„Was sollten Sie nicht verrathen?“
„Daß Landeck außer anderen Dingen, durch welche ihm das Werk gelang, auch noch das Geld aufwandte, welches ihm seine ‚Hellenischen Wanderungen‘ eingebracht – das sollte ich nicht verrathen und thu’ es doch mit einer gewissen Schadenfreude, weil ich neulich sah, wie wenig Sie daran dachten: Er sei fähig, so etwas zu leisten.“
„In der That?“ rief Malwine aus, „also hatte ich doch Recht.“
„Sie hatten Recht? Nein, Sie hatten Unrecht. Sehr!“
„Ich ahnte, ich wußte es ja, daß er sie geschrieben. Und es verstimmte mich, daß er mir dies nicht anvertrauen wollte …“
„Sie hatten die Aufsätze zu sehr gelobt, und nun bäumte sich etwas, das ihn zu einem weißen Raben unter den Schriftstellern macht, in ihm gegen solch ein Bekenntniß auf – die schüchterne Bescheidenheit.“
„Ah, wie wäre das möglich … es war der männliche gelehrte Hochmuth in ihm, der sich nicht herablassen wollte, die lobenden Worte, die eine Frau darüber fallen ließ, auch nur vom Boden aufzuheben.“
„Da täuschen Sie sich. Er hat mir gesagt, daß Ihre Begeisterung für seine Arbeit ihn schamroth und stumm gemacht … aber Sie werden ihn ja selbst sprechen.“
„Ja, ja,“ rief Malwine aus, „das das will ich auf der Stelle … wo ist Landeck? wo finde ich ihn? … ich will ihn sehen, ihm sagen, wie ich ihm danke – o, wie will ich ihm danken … sagen Sie mir, Doctor, wo ich ihn finde!“
„Er ist zum Hause Gotthard Escher’s geeilt, zu Ihrem Vetter Rudolph.“
Malwine klingelte. Ein Diener trat ein; er trug eine Karte in der Hand.
„Der Kutscher soll sofort anspannen und vorfahren, sofort!“ rief Malwine ihm entgegen. „Was haben Sie da?“
Der Diener legte die Karte auf den Tisch und antwortete:
„Herr von Maiwand ist soeben vorübergeritten und hat dem Gärtner in den Anlagen diese Karte gegeben.“
Malwine eilte, sie zu nehmen. Sie las unter dem Namen „Freiherr von Maiwand“ die mit Bleistift geschriebenen Worte: „wünscht Glück zur Verlobung und wird dafür sorgen, daß die Anzeige davon der Waisenhausverwaltung zu M. noch heute zugeht.“
Malwine blickte betroffen auf. „Welche Erbärmlichkeit!“ sagte sie dann. „Wissen Sie, was der boshafte Mensch damit sagen will, mit diesem Glückwunsche zur Verlobung?“
Sie schob die Karte dem Doctor hin. Dieser las sie und antwortete lächelnd:
„Er setzt, scheint es, Ihre Verlobung mit Landeck voraus.“
„Aber was, um’s Himmelswillen, kann ihn dazu berechtigen? Landeck kann ihm nichts gesagt haben, was ihn zu dieser Annahme verführte.“
„Würden Sie Landeck unversöhnlich zürnen,“ fragte Iselt, der durch eine solche Vertheidigung Landeck’s dem Versprechen welches er ihm gegeben, nicht untreu zu werden glaubte, „würden Sie ihm unversöhnlich zürnen, wenn er als das beste, ja, einzige Mittel, diesem Maiwand jede Hoffnung zu nehmen und ihn zum Abzuge zu bewegen, betrachtet hätte: die Erklärung, Sie seien – seine Braut?“
Malwine sah ihn ganz bestürzt an.
„Ist dem so, Doctor – ist dem so?“ sagte sie, tief aufathmend, nach einer Pause.
Der Doctor zuckte die Schultern.
Malwine wandte sich ab, wie um dem Doctor die Bewegung zu verbergen, die sich auf ihren Zügen ausdrückte. So trat sie hinaus auf die Schwelle der Fensterthür, welche auf die Veranda führte, dem Wagen entgegensehend, der nach einer Weile um die Ecke des Gebäudes bog. Der Diener, der zugleich erschienen war, brachte Tuch und Hut, und Malwine ging, ohne weiter ein Wort zu sagen, den Wagen zu besteigen. Dem Doctor winkte sie nur mit der Hand einen Abschiedsgruß zu und legte sich tief in den Wagen zurück, wie um einer weitern Unterredung mit ihm auszuweichen. Gleich darauf zogen die Pferde an, und der Wagen rollte fort.
Doctor Iselt sah ihm mit einem stillen Lächeln nach.
„Ich bin begierig, was daraus wird,“ sagte er für sich, „ob sie ihm seine Kriegslist – denn eine solche ist es ja in der That, sehe ich nun, blos gewesen, und er hat mich wenigstens nicht belogen –, ob sie ihm diese kecke Kriegslist verzeiht. Sie war doch dadurch stark aus den Angeln geworfen. Und eine verwegene Wendung war es. Wenn er klug ist, beweist er ihr, daß, wenn sie seine Erklärung Lügen straft, morgen im Tage Maiwand wieder da sein wird. Vielleicht rettet ihn das und macht ihr solchen Eindruck, daß sie am Ende gar – aus der Lüge Wahrheit macht.“
Unterdeß rollte der Wagen mit Malwinen dahin – auf einem ziemlich großen Umwege, da für Fuhrwerk die nächsten Brücken nicht benutzbar waren. Als Malwine endlich am Gartenthore ihres Oheims Gotthard angekommen und nun durch den Baumgang sich dem Hause näherte, erblickte sie durch das geöffnete Fenster eine unerwartet zahlreiche Versammlung in dem Wohnzimmer des Werkmeisters. Ohne anzuklopfen, trat sie rasch ein und wurde von Ausrufen freudigen Erstaunens begrüßt; erstaunt blickte aber auch sie auf die beiden überraschenden Gruppen, die sich ihrem Auge darboten: auf dem alten Roßhaarsopha im Hintergrunde des Zimmers saß der Onkel Gotthard, neben ihm, seine Hand in seiner Rechten haltend, der Oheim Gottfried Escher, wie es schien, in friedlichster Unterhaltung mit ihm; an dem Seitenfenster standen Rudolph, Elisabeth und Landeck, und Elisabeth schmiegte sich mit einem glückstrahlenden Gesichte an Rudolph, der sie umschlungen hielt, während seine Linke wie betheuernd auf dem Arme Landeck’s, zu dem er redete, lag.
„Malwine, rief der Fabrikant aus, „Du – und gerade jetzt?! Wahrhaftig, Du konntest in keinem glücklicheren Augenblicke in die Mitte Deiner Angehörigen treten, die ja jetzt sich alle zusammengefunden – und in Liebe und Treue sich wieder gefunden haben.“
Daß es so gekommen – es war das Werk dessen gewesen, der in diesem Augenblicke, bald erbleichend, bald erröthend, all’ die beredte Entschlossenheit verloren hatte, mit der er eben den Frieden gestiftet, der, als sei er sich einer furchtbaren Schuld gegen Malwinen bewußt, bei ihrem Eintreten zusammengefahren war und am liebsten jetzt sich völlig unsichtbar gemacht hätte.
Als er sich von Iselt getrennt, hatte er, den Weg zum Hause Gotthard’s wieder durch Herrn Escher’s Villa nehmend, diesen und Elisabeth in dem Pfade vor dem Wohnhause auf- und abwandelnd getroffen. Herr Escher, dem seine Eile aufgefallen war, hatte ihn angerufen und Landeck ihm mit dem Tone offenen Vorwurfs gesagt:
„Ich eile zu Ihrem Bruder, Herr Escher, um den hart getroffenen Mann aufzurichten. Sie haben ihm ein Leid zugefügt, das ihn schwer zu Boden drückt. Ob Sie recht daran thaten, das kommt mir nicht zu zu beurtheilen; ich weiß nur, [143] daß Sie bei diesem Allen Rudolph ein großes Unrecht gethan haben; ich habe hier auf meiner Brust den Beweis, daß seine Schuld nicht so groß ist, wie Sie wähnen, und diesen Beweis eile ich eben Ihrem Bruder zu bringen, damit der unglückliche Mann vor dem Schlaganfalle gerettet werde, der ihn bedroht. …“
Herr Escher starrte den Sprechenden tief erblassend an. Das Wort Schlaganfall hatte eine eigenthümliche Wirkung auf ihn. Gleich nachdem er seine Sendung an seinen Bruder abgesandt, hatte ihn etwas wie Reue und Unzufriedenheit mit sich selbst ergriffen, das Gefühl, eine unedle Rache genommen zu haben, ihn gedrückt – jetzt ergriff er tieferschüttert Landeck’s Arm und sagte:
„Sie sahen meinen Bruder? Sie wissen, daß … Kommen Sie! Ich will selbst nach ihm sehen, ich will Sie begleiten. Elisabeth, komme auch Du! Wenn er erkrankt, soll Alles zu seiner Pflege geschehen … kommen Sie!“
Er schritt hastig vorwärts. Elisabeth und Landeck schlossen sich ihm an.
„Das Beste wird sein,“ fuhr dieser dabei fort, „wenn Sie mir beistehen, Herr Escher, ihn vor dem Erkranken zu bewahren; wenn Sie helfen, ihm die Last vom Herzen zu nehmen. Beginnen Sie selbst damit, Rudolph’s Schuld in einem anderen Lichte zu sehen, als Sie dies bisher gethan haben! Dieses Licht war vollständig falsch, und Sie waren ungerecht gegen Ihren Neffen, dem nichts weiter zur Last fällt, als daß er in einem unglücklichen Augenblicke sich von einem Intriguanten und Lügner beschwindeln ließ – damals, als er noch viel zu jung war, um jenes Mißtrauen in sich hegen zu können, das reifere Menschen vor den Schlingen der Intriguanten bewahrt.“
Elisabeth warf Landeck einen Blick voll flammender Dankbarkeit zu; dieser fuhr doppelt lebhaft und warm zu reden fort. Er schilderte Escher den ganzen Hergang jenes Ereignisses, das einen so düsteren Schatten noch bis in diese Stunde hereinwarf; Escher hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen, ohne ein Wort zu reden; nur als Landeck ihm sagte, daß er den Beweis, wozu das Rudolph abgeschwindelte Geld verwandt worden, in seiner Brusttasche trage, blieb er stehen, als ob er das Blatt mit eignen Augen sehen wolle; gleich darauf winkte er wieder wie abwehrend mit der Hand und eilte nur noch stürmischer weiter zum Hause seines Bruders hinan.
Als sie oben in Gotthard Escher’s Garten angekommen waren, fanden sie Rudolph vor dem Hause auf der Bank sitzend und langsam das vor Gram umdüsterte Haupt erhebend, um die Nahenden überrascht anzustarren; erst als sie dicht vor ihm waren, erhob er sich, und eine noch größere Ueberraschung malte sich in seinen Zügen, als sein Oheim ihm bewegt die Hand entgegenstreckte und, athemlos vom raschen Schreiten auf dem ansteigenden Wege nicht weniger als von seiner inneren Bewegung, sagte:
„Rudolph, ich glaube, ich habe Dir ein Unrecht abzubitten, Dir nicht weniger wie Deinem Vater – ich komme das zu thun – nimm meine Hand, Rudolph, und – wo ist Dein Vater, wo ist er?“
Rudolph war so bewegt, daß er im ersten Augenblicke keine Antwort fand. Er blickte auf seinen Oheim, auf Elisabeth; der strahlende Ausdruck von Glück in Elisabeth’s Zügen schien ihm erst zu sagen, daß er sich nicht täusche, nicht träume. Mühsam nur brachte er die Worte hervor:
„Onkel Gottfried, das sagen Sie mir – Sie – und Sie glauben nicht mehr …“
„Wo ist Dein Vater, Rudolph?“ wiederholte in seiner Hast Herr Escher, der bereits weiterschritt und, ohne eine Antwort abzuwarten, nun in das Haus und das zur Rechten des kleinen Flurs liegende Wohnzimmer seines Bruders hinein eilte.
Gotthard Escher lag hier der Länge nach ausgestreckt auf einem alten schwarzen Roßhaarsopha. Es war dasselbe, das schon in beider Brüder Elternhause gestanden, auf dem sie beide schon als Knaben sich getummelt; am Fenster der kleine runde Tisch auf den geschweiften Beinen, es war der, welcher ihrer Mutter Arbeitstisch gewesen – und hinter dem Ofen der alte Lehnstuhl, war es nicht auch derselbe, in welchem ihr Vater des Abends von seiner Tagesarbeit geruht, in dem sitzend er sie, die wilden Buben, so oft an sich gezogen und zwischen seinen Knieen festgehalten und ihnen scheltend, doch mit weicher Hand die Scheitel gestrichen oder ihnen beigestanden, mit den Schulaufgaben für den andern Tag fertig zu werden?
Auf Gottfried Escher stürmten, als sein Blick durch diesen Raum schweifte, alle diese lange nicht mehr geweckten Erinnerungen ein; sie erschütterten ihn … er wurde sich selber fremd mit seiner langen gehässigen Entfernung von dem Bruder, der so treu sich zum Hüter dessen gemacht, woran sein gutes altes Herz hing, und als dieser Bruder sich nun aufrichtete und ihn mit den großen grauen Augen unter seinen dicken blonden Brauen her halb verwundert, halb wie hülfesuchend anblickte, da war es ihm, als leuchte ihm aus diesen Augen der Blick ihrer Mutter entgegen; er fühlte Thränen in seine Wimpern treten, und beide Hände ausstreckend trat er vor den Bruder hin, mit halblauter zitternder Stimme „Gotthard!“ ausrufend und „kannst Du mir je verzeihen, was ich gethan?“
Gotthard hatte die dargebotenen Hände nicht ergriffen. Er stützte sich mit den seinigen auf das Sopha, um sich aufzurichten. Er schaute nur mit dem hülfesuchenden Blick den Bruder an; er schüttelte den Kopf und sagte dann, vor sich niedersehend, mit einem Tone herzbrechender Niedergeschlagenheit:
„Du hast mir einen schweren Schlag gegeben, Gottfried. Ich habe genug bekommen damit. Es war ein harter Stoß am Ende eines langen Lebens. Ich wollte nur, ich hätte es nicht verdient gehabt um Dich. Aber ich habe es verdient gehabt – ich habe es. Ich habe Dir nichts zu verzeihen, Gottfried. Ich habe mich schwer an dem Sohne meines Vaters versündigt und bin gestraft dafür an meinem Sohne.“
Gottfried Escher ließ sich neben ihm auf dem Sopha nieder, und die Hand auf seine Schulter legend sagte er:
„Gotthard, sprich nicht so! Wie Du mir, so hatte ich ja Deinem Sohne Unrecht gethan: wir hielten beide störrisch an einem falschen Glauben fest, und daß wir ihn, ohne zu untersuchen, fest hielten in Argwohn und Härte, darin liegt unsere Schuld, nur ist die meine größer wegen dessen, was ich heute in meiner Verzweiflung an Dir that. Sieh auf und höre dort den Mann reden!“ er wies auf Landeck, der mit Rudolph und Elisabeth nach ihm eingetreten war; „dieser Mann weiß um Alles, und er hält einen Beweis in Händen, daß Rudolph nichts Schlechtes gethan, als er das Opfer einer Verführung wurde, der er zu widerstehen zu jung, zu arglos, zu unerfahren war … laß Dir Alles von ihm sagen! Er spricht mit der Wärme, welche nur die Wahrheit giebt – und dann verzeih’ Rudolph, wie Du mir verzeihst!“
„Nein, nein,“ rief hier Rudolph, dicht vor seinen Vater tretend, „ich will keinen Dritten zum Vertheidiger zwischen mir und meinem Vater. Sieh mich an, Vater, sieh mir in’s Auge, und wenn Du nicht genug darin liest, um zu wissen, daß ich nichts gethan, was mich unwürdig macht für immer, Dein Sohn zu heißen, dann frag’ Du selber mich, wie Alles gekommen und ich will Dir Red’ und Antwort stehen …“
Gotthard Escher sah zu ihm auf mit einem langen Blick, der milder und milder und endlich feucht wurde, der sich dann auf seinen Bruder und dann wieder auf Rudolph wandte – endlich sagte er wie erleichtert aufathmend, wie eine schwere Last von sich werfend:
„Ja, ja, Gottfried, Du hast Recht! Laß uns an einander glauben, laß uns glauben!“
„Du kannst glauben, Gotthard,“ fiel sein Bruder ein. „Um Dir zu zeigen, daß auch ich es thue, daß ich an Rudolph’s unverdorbenes Herz glaube, und wie sehr ich wünsche, Dich mit ihm und mit mir auszusöhnen, erfülle ich jetzt gern Deinen Wunsch und gebe Deinem Sohne mit vollem Vertrauen mein geliebtestes Kind zum Weibe – es war ja Dein Herzenswunsch, Gotthard; deshalb füg’ Du nun ihre Hände zusammen!“
„O Vater, wie gut Du bist!“ jubelte Elisabeth, sich stürmisch in ihres Vaters Arme werfend, während Rudolph in seiner Freude sich über die Hand Gotthard Escher’s beugte und sie stumm, keines Wortes mächtig an die Lippen preßte. –
Eine kurze Zeit nach dieser Scene war Malwine plötzlich in das Zimmer getreten und von den Ihren freudig umringt worden, während Landeck ein so großes Verlangen gefühlt hatte, sich schuldbewußt aus dem Kreis dieser Glücklichen zu stehlen.
„Also,“ sagte Malwine, nachdem ihr von allen Seiten in raschen Worten, was geschehen, erzählt worden, „also,“ sagte sie [144] zu Gottfried Escher gewendet, „Du zürnst Rudolph nicht mehr, und dann, nicht wahr, Oheim Gottfried, mein gestrenger Vormund, dann zürnst Du auch der eigenwilligen, leichtsinnigen Malwine nicht mehr, daß sie einst so scharf ihren Willen durchsetzte?“
„Wie sollt' ich Dir noch zürnen, Malwine?“ entgegnete er, „Du handeltest damals groß und edel. Daß ich erfuhr, wie Du bewogen wurdest, so zu handeln, dafür hilf mir hier Deinem griechischen Freunde Landeck danken! Er war der Mann, der mich auf den Grund der Dinge blicken ließ, der so eindringlich zu reden wußte, daß ich einsah, wie viel Unrecht ich in Gedanken begangen – und leider auch heute in meinem Handeln gegen Gotthard …“
„Ja, ihm, Landeck allein verdanken wir den Frieden, Malwine,“ rief hier Elisabeth, indem sie sich zu Landeck wandte und ihn, mit ihren beiden Händen seine Rechte umfassend, heranzog.
„Ihm – auch Ihr! Und Ihr wißt noch nicht einmal,“ sagte Malwine mit leiserer, schüchterner Stimme und offenbar plötzlich mit einer schweren Befangenheit ringend, „Ihr wißt nicht, was er für mich gethan, wie er für mich gekämpft und gesiegt hat …“
„O, reden Sie nicht davon!“ unterbrach Landeck sie beschämt, „Sie sehen, wie ungehärmt und unverwundet ich aus dem Kampfe hervorgegangen bin …“
„Und doch haben Sie Alles, Alles für uns vollbracht,“ sagte sie, „wie soll ich Ihnen danken?“
„Sie sollen mir wirklich nicht danken,“ versetzte er jetzt fast heftig in seiner hülflosen Verlegenheit, „es ist wahrhaftig nichts Großes, was ich zu Stande gebracht, und ich that es ja auch um Rudolph’s willen, am Ende gar nur meiner selbst willen, aus bloßem gestacheltem Ehrgeiz, und da Sie, nur Sie, diesen Ehrgeiz so zu stacheln gewußt haben, daß er mir den rechten Muth gab, so ist ja eigentlich Alles nur Ihnen zu verdanken.“
„Ein wenig haben Sie Recht,“ entgegnete Malwine, ihm tief in’s Auge schauend, „wenn nicht den Muth, den Ihnen Niemand zu geben braucht, gab ich Ihnen doch die wirksamste Waffe und legte auf Ihre Lippe das entscheidende Wort, womit Sie den Gegner besiegten.“
„Das gaben Sie mir?“ fragte Landeck sie nicht verstehend, nicht wagend, sie zu verstehen.
„Das gab ich Ihnen, als ich Ihnen am heutigen Morgen das Recht gab, mich Ihre Braut zu nennen, Landeck …“
Landeck wurde purpurroth.
„Sie gaben mir dazu das Recht? O mein Gott!“ stammelte er, „als ich das Wort aussprach – und Sie wissen es, daß ich das that? Hat mich Iselt so schnell verrathen? – als ich das Wort aussprach, da hatte ich wohl das Bewußtsein, daß ich etwas that, was nichts entschuldigen konnte, nichts, aber Sie hörten es ja nicht, sollten es nie hören und erfahren, und ich hatte ja so vergeblich nach einem anderen Mittel gesucht, mich gequält, um eins zu finden, und in der Verzweiflung, in die Ihr Zorn mich stürzte, in dem furchtbaren Gefühl, etwas vollbringen zu müssen, das …“
„Weshalb alle diese Worte, Landeck?!“ unterbrach ihn Malwine rasch und tief aufathmend, „ich verlange ja das Alles nicht zu hören. Sie thaten, was Sie berechtigt waren, zu thun. Ich hatte Ihnen ja,“ sie sprach die Worte sehr leise, „ich hatte Ihnen ja mein Gefühl für Sie verrathen. Und darum durften Sie reden. Eine ehrliche Frau offenbart nicht ihr Gefühl; sie giebt nicht ihr Herz, ohne sich selbst zu geben. Wenn ich Ihnen in einem Augenblicke stürmischer Erregung mein Gefühl für Sie zeigte, wußten Sie auch, daß meine Hand Ihnen gehörte. Und hier, hier ist sie.“
Landeck war keines Wortes mächtig. Er blickte sie einen Augenblick an, als traue er seinem Ohre, seinen Sinnen nicht, und dann kniete er vor ihr nieder und küßte ihre Hand, auf die seine Thränen niederfielen.
„Welche Wendung für uns Alle diese eine Stunde enthält!“ rief hier Gottfried Escher, während die Anderen erstaunt und überrascht ihrer erregten Theilnahme in eben so lebhaften Ausrufen und gerührten Glückwünschen Luft machten.
„Aber mein Gott,“ sagte plötzlich Landeck aufspringend, „wie darf ich – Sie, die reiche Malwine, und ich, der arme – –„
„Trösten Sie sich darüber, Landeck!“ unterbrach ihn bitter lächelnd Gottfried Escher, „arm werden wir Alle bald sein, wenn diese Arbeitseinstellung lange dauert …“
„Das aber, das soll sie nicht,“ sagte hier sein Bruder Gotthard mit düsterer Entschlossenheit. „Das ist jetzt meine Sache, Gottfried, und verlaß’ Dich darin auf mich! Ihr soll ein Ende werden.“
Er war aufgesprungen, alle seine Bewegungen zeigten wieder die frühere eiserne Kraft des Mannes und seine Züge die tödtlichste Entschlossenheit. „Es sind,“ fuhr er fort, „genug unter ihnen, die gern fortarbeiten möchten, aber sie haben nicht den Muth, denn die Andern, die wissen, daß der ganze Anschlag zusammenfällt, wenn nicht Alle bis auf den Letzten zusammenstehen, haben sie mit dem Tode bedroht. Den Muth wollen wir ihnen geben; ich und Rudolph werden sie zusammenbringen und ihnen zeigen, wie wir die Arbeit wieder mit denen beginnen, die sich uns anschließen, und die Todtschläger mögen dann kommen, wenn sie Lust haben!“
Der alte Mann nahm seinen Hut und steckte eine Waffe zu sich, auch Rudolph that so, und Beide eilten davon, den Fabrikanlagen zu. Gottfried Escher folgte ihnen. Er sah, wie sie mit einer Gruppe Arbeiter zusammenstießen und mit ihnen in lebhaften Wortwechsel geriethen. Nach einer Weile theilte sich die Gruppe; mehrere gingen nach verschiedenen Seiten auseinander, aber beinahe ein Dutzend folgte dem alten Gotthard und seinem Sohne nach den weiter oben liegenden Gebäuden von Bartels und Söhnen.
Escher schritt jetzt, um eine Centnerlast erleichtert, seiner Villa zu. Er wußte, daß in einer Sache wie diese nur der Anfang schwer ist und daß der ganzen Agitation jetzt der Kern ausgebrochen war. Und in der That zeigte sich schon am andern Tage der Einfluß, den sein Bruder durch seine Persönlichkeit auf die Arbeiter ausübte, und die Macht seines Beispiels siegreich. Von Herrn Escher’s Leuten stellte sich ein volles Drittel schon am folgenden Morgen bedingungslos zur Arbeit ein, und der Rest kam im Laufe der zwei folgenden Tage. Ein wenig länger hatten Bartels und Söhne zu warten und zu verhandeln, doch war am Ende der Woche auch hier Alles ausgeglichen. Gegen Gotthard Escher und den Werkmeister Rudolph als Verräther, als Treulose, als Judasse war dann freilich am nächsten Sonntage in den Schenken viel Eiferns, Drohens und Schimpfens. Dabei und bei einigen mit allen möglichen Arten des grausamsten Todes drohenden anonymen Briefen blieb es dann aber.
Herr von Maiwand reiste schon am nächsten Tage ab, nachdem er sich in der That das boshafte Vergnügen gemacht, die Verwaltung des betreffenden als eventueller Erbe eingesetzten Waisenhauses brieflich von der bevorstehenden Vermählung der Frau Malwine von Haldenwang mit dem Herrn Landeck zu benachrichtigen. Malwine von Haldenwang ging darüber leicht hinweg. Als ihr der Diener ein Schreiben brachte, welches die Ankunft eines zur Unterhandlung bevollmächtigten Commissars ankündigte, war sie eben beschäftigt, Landeck eine ihrer großen Arien vorzusingen – jetzt sang sie ihm und ließ ihn gern die ganze Gewalt ihrer mächtigen Stimme empfinden. Sie ließ sich durch den Brief nicht stören und setzte ihren Gesang ruhig fort; als sie geendet hatte, sagte sie:
„Soll ich Dich nun, da man uns von hier fortsendet, in die rechte Reisestimmung durch Beethoven’s ‚Kennst Du das Land‘ versetzen?“
Landeck schüttelte den Kopf.
„Noch nicht,“ antwortete er lächelnd, „denn wir sind noch lange nicht reisebereit; wir wollen uns doch erst durch eine Verhandlung mit billigdenkenden Leuten dies hübsche Heim sichern, bevor wir ‚ziehen‘! Dein Vermögen in andern Werthen reicht vollständig hin, um von den Herren von der Verwaltung Haus Haldenwang zurückzukaufen, und ich denke, Du giebst mir auch dazu Vollmacht.“
„Zu Allem, was Du willst,“ versetzte sie, „aber Beethoven's Lied singe ich, wenn Du mit Deiner Verhandlung fertig bist, dennoch.“
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Ein Schatzfinder! Wie abenteuerlich, mittelalterlich das klingt! Und doch wie einfach natürlich sich das zutrug, was in diesen Blättern schon einmal (1872, S. 196 ff.) in rascher Erzählung berührt ist und nun, dem Werthe des Gegenstandes entsprechend, in eingehenderer Weise vorgeführt werden soll.
Der Maler Eduard Geselschap sah um 1844 in Düsseldorf bei einem Freunde einige Zeichnungen, die ihm durch den genialen Schwung der Behandlung, durch die Kühnheit der Composition so imponirten, daß er ausrief: „Mein Gott! Wer konnte das zeichnen?!“
„Ein Bauer, Theodor Mintrop,“ war die Antwort.
Nicht lange nachher sehen wir Geselschap im bergischen Lande an einem frisch gepflügten Felde stehen und dem Pflügen eines kräftigen Bauernburschen zuschauen, der mit lautem Zurufe die Pferde zu tüchtigem Eingreifen ermuntert.
„Seid Ihr der ländliche Raphael?“ rief Geselschap dem Bauern freundlich entgegen. Dieser näherte sich und Geselschap staunte den herrlichen Kopf an, der den Adel der Gesinnung auf der Stirn trug und aus dessen Auge das heilige Feuer der Begeisterung sprühte.
Und er hob den Schatz. –
Auf der linken Uferseite der Ruhr, unweit Werdens, liegt ein einsamer Bauernhof, bewirthschaftet von der Familie des Besitzers. Hier ward Theodor Mintrop seinen Eltern als dritter Sohn geboren und kurzweg „Dores“ genannt. Die Mutter, eine einfache, dem Realen zugewandte Frau, sah überall nach dem Rechten. Der Vater war ein strenger Mann in Bezug auf Ausübung der täglichen Pflichten jedoch ausgestattet mit einem ausgeprägten Sinn für Humor. Er erkannte sehr bald, daß sein Dores so „eigen“ sei, wie er selbst, und er nahm ihn mit, zog er über Land und in den Wald. Da war der Dores in seinem Element. Sein Auge sah überall Dinge, die einem Anderen entgehen. Und mit echt empfundener Freude zeigte er dem Vater bald Dieses, bald Jenes, hier eine Schönheit der Beleuchtung, dort eine Eigenthümlichkeit der Färbung mit einem so feinen Gefühle und Verständniß, daß des Vaters Auge und Herz sich erweiterten und er sich sagte: „So ist es, nur wußte ich es nicht zu sagen; der Dores ist doch ein aparter Junge.“
Einen wahren Märchenschatz hatte der Alte aufgespeichert. Dabei besaß er eine Gabe der Darstellung, daß dem Dores bald Alles umher zu leben begann. Aus der Quelle tönten Stimmchen; im Winde rauschte es vernehmlich; aus des Waldes Schatten traten Gestalten; in Schluchten und Ritze huschten die Zwerge, und überall verkörperte sich die Umgebung, indem sie ihn stets zum Mittelpunkte machte und er Zwiesprach mit den Gestalten seiner Phantasie hielt.
Dores wuchs in dieser Einsamkeit des Bauernhofes, der so recht lauschig in Wald und Flur gebettet liegt, und malerische Fernsichten bis zum Rheine bietet, heran. Er mußte seine Zeit zwischen dem dürftigen Schulunterrichte, der so ungenügend war, daß er nicht richtig schreiben lernte, und dem Hüten der Heerde theilen. Und kehrte er Abends heim, so ging es in die Spinnstube, wo Knechte und Mägde sich versammelten. Da knisterte und flammte der Kamin, da rauchten die Knechte, da spannen die Mägde, und der alte Schäfer Sükelmann erzählte in seiner hastigen und rauhen Weise seine Schauergeschichten, daß dem Dores die Haare zu Berge stiegen und es ihn gruselte. Und wenn er nun andren Tages seine Heerde wieder auf die einsamen großen Triften führte und er Stunde um Stunde in die Natur versenkt da saß, da ward es lebendig um ihn: er sah die Wesen, sprach mit ihnen, herrschte über sie, dünkte sich ihr König. Daheim aber nahm er dann die Kohle vom Herde und bevölkerte die Stallwand oder das Scheunenthor in kühnen Umrissen mit den Gestalten, die sein Geist gesehen.
Mancher Tadel ward ihm für die „Firlefanzereien“, wie sein Zeichnen genannt wurde. Nur Eine fand sich, die sein Talent bewunderte, und das war die alte Fiechen, die Frau des alten Schäfers. In ihrem Stübchen räumte sie ihm den besten Platz an dem einzigen Fenster ein und wachte ängstlich, daß Niemand an seine Zeichnungen rühre, die er an Sonn- und Feiertagen unablässig entwarf.
Eines Sonntags aber saß er bei der Mutter in der Kammer und zeichnete halb verstohlen mit einem Rothstifte, den er sich vom Schreiner erbettelt hatte, ein Jesukindlein, als eine Nachbarin eintrat und die Mutter anging, ihr ein Heiligenbild zu leihen, welches das Heiligenhäuschen, das auf ihrem Acker stehe, bei der großen Procession schmücken müsse.
„Mein Heiliger ist verregnet,“ jammerte sie.
Jedoch es wollte sich keine passende Schilderei an den Wänden der Kammern finden.
„Der Dores kann Euch einen neuen Heiligen malen,“ begann die Mutter.
„Der Dores einen Heiligen, einen richtigen Heiligen?“ fragte beklommen die Nachbarin.
„Ja, der kann Alles,“ entgegnete stolz die Mutter mit einem Blicke auf den sie anstarrenden Dores. – „Der Heilige ward bestellt. –
Dem Dores schlug das Herz bis in den Hals; der Athem stockte ihm. Seine Mutter hatte sein Zeichnen, das vielgeschmähte, gelobt. Ein Auftrag war ihm geworden. In diesem Augenblicke gab es keinen seligeren Menschen auf der Welt als den Dores. – Das Honorar für diesen „Heiligen“ bestand in drei schönen rothen Aepfeln, und ein jeder barg ein blankes Fünfgroschenstück. Reicher war kein Crösus. Nun konnte der Bote ihm große, schöne Bleistifte und großes, frisches, weißes Papier mitbringen.
Von Jugend auf ward Mintrop von den Bauern „der Maler“ genannt. Ach, und wie sehnte und härmte er sich, es zu werden! Aber das Schicksal hielt ihn an der Scholle fest, fest, die Scholle zu bearbeiten als Knecht seines Bruders, denn im Bergischen gilt noch das Recht der Erstgeburt.
Dores wurde Soldat und theilte in Köln seine Stube mit Hackländer, und durch Diesen erhielt er den ersten Begriff von Literatur. Wie eine so angelegte Natur von Schiller und Shakespeare, Goethe und Bürger gepackt und gefesselt wurde, ist begreiflich. Als er auf den Hof zurück kam, verbannte er die alten Spuk- und Räubergeschichten und begann damit, in der Spinnstube den Othello vorzulesen. Selbst begeistert, ausgestattet mit einer imponirenden Gestalt und einem breiten, ausgiebigen Organe, sah er bald die Bauern mit weit aufgerissenen Augen, mit offenem Munde, die Pfeifen ausgegangen in der Hand, ihm staunend zuhören und grimmerfüllt das Schicksal Jago's erwarten. Ebenso ergriff er sie durch Shylock, Götz, Tell und manchen Andern. Bald füllte sich die Spinnstube immer mehr, und leer ward das Wirthshaus. Hier und da hatte ein gutes Wort Einkehr gefunden, die Begeisterung nachhaltig gewirkt, war der Sinn für das Schöne geweckt worden. Die Wahrheit siegte eben.
Dreißig Jahre war Dores Mintrop alt, als ihm, wie in dem oben erwähnten Artikel erzählt wurde, die Stunde schlug, die ihn als Schüler in die Akademie in Düsseldorf einführte. Wie froh saß der kräftige, starke Mann mit dem edlen Kopfe unter den Knaben, das A-B-C der Kunst zu erlernen! Ein eiserner Fleiß ließ ihn rasch die nöthigen Studien beendigen, und bald sehen wir ihn frei seinem Genius folgen. In allen Kreisen der Gesellschaft sprach man von ihm und bewarb sich um ihn. Die Kunstkritiker bezeichneten ihn als ein Phänomen am Kunsthimmel. Eine wahre Herzensfreude aber ward ihm, als bald eine Deputation seines Dorfes erschien und bei ihm ein Bild für die Kirche bestellte.
Mit großer Pietät malte er an dem heiligen Ludger, dem Schutzpatrone des Ortes, fast ein Jahr lang. Er brachte das Bild selbst nach Werden. Die Aufstellung und Einweihung desselben gestaltete sich zu einer Feier für Dorf und Umgegend, zu einer Ovation für ihn. Bei dem Festessen, das ihm gegeben wurde, schmückte ein Lorbeerkranz seinen Teller. Der ganze Saal war bekränzt, und als ein Tusch ihm beim Eintreten entgegenschmetterte, rief er ganz überwältigt: „O, hätte das mein Vater noch erlebt!“ Da er bald darauf erfuhr, die Schule sei arm, malte er ein großes Transparent, die Himmelfahrt Christi darstellend, [147] schenkte dasselbe der Schule zu Weihnachten und erzielte dadurch alljährlich eine große Einnahme für die armen Kinder. Ja, jedes Jahr wird das Transparent am heiligen Abende gegen ein Eintrittsgeld gezeigt, lockt durch seine große Schönheit stets die ganze Umgegend herbei und bleibt so eine Wohlthat für die Dorfkinder.
Mintrop fand in der Familie des Malers Geselschap, dessen innigster Freund er ward, trautes Familienleben. Es war ein reizendes Heim, welches sich ihm hier erschloß. Die junge liebliche Frau des Hauses mußte ihn gleichsam bemuttern, denn von den täglichen Bedürfnissen der civilisirten Welt hatte er keinen Begriff. Geld durfte er gar nicht in der Tasche haben, denn, ob viel, ob wenig, er gab Alles weg, und so sagte er selbst: „Gebt mir keines mehr!“ Aber eine Natur läßt sich nicht ändern. Oft, wenn er nach Hause kam, hatte er zehn Schritte hinter sich – damit es nicht auffalle – mehrere Bettler und Arme, die er dann in einem Specereigeschäfte, das unten in seinem Hause war, speisen ließ.
Ferner erinnere ich mich eines Winterabends, wo wir ihn zum Thee erwarteten. Er blieb länger als gewöhnlich. Frau Geselschap ward unruhig; endlich trat er ein. „Dores, wo bleibst Du?“ rief’s ihm entgegen.
„Ja, ja,“ sagte er, unwillkürlich vor Kälte schauernd, „da war ein armer Kerl mit zerrissener Hose; der schlotterte vor Frost, und da ich kein Geld hatte und er mich so dauerte, bat ich ihn mit in die Akademie zu gehen; da habe ich meine Unterhose ausgezogen und ihm gegeben.“ Alles brach in ein gutmüthiges Lachen aus, und er, der Gutmüthigste, lachte selbst am tapfersten mit.
Trotz seines riesigen Talents gab’s für Mintrop Jahre, in denen er Noth hätte leiden müssen, wenn er nicht bei seinem Freunde Geselschap Zuflucht gefunden hätte. Hier ward er mit Liebe gehegt und gepflegt, wie ein Lieblingsbruder. Hier verstand man ihn. – Köstlich war es, wenn er im Eifer der Rede, mit dem Wort, dem noch wenig gefügigen, der glühenden Phantasie nicht zu folgen vermochte; dann suchte er mit den Händen in der Luft zu zeichnen, was dem Worte nicht gelingen wollte. – Der Künstler bedarf vor Allen des Familienlebens, des Familienlebens im wahren Sinne des Wortes. Ein Heim, wo die Regungen des Herzens Widerhall finden, wo die Phantasie Boden gewinnt, wo die Liebe Anregung und Maßhalten dictirt. Und Dores ward der „Sonnenschein“ des Hauses. Nach ihm verlangten Mann, Frau und Kind – er war der Mittelpunkt ihres Glücks. –
Was aber seine Arbeiten betrifft, so gaben der Zauber von Wald und Busch, die weiten Fernsichten seiner Heimath, die Frömmigkeit des Volkes, der Märchenschatz ihnen ihr Gepräge. Seine Göttin war die Schönheit. In seinen Arbeiten ist elementare Poesie. In Mintrop’s Wesen paarte sich Unschuld mit hohem Adel. Die Unmittelbarkeit seiner Anschauungen, die Wahrheit seiner Begeisterung, das Echte, Kräftige, Ursprüngliche seiner Empfindung neben rührend kindlicher Naivetät gaben seiner Erscheinung einen Zauber, dem Niemand widerstehen konnte. Darum tragen auch Mintrop’s Madonnen und Engel eine solche Hoheit, daß bewährte Kunstkritiker sagen: „man denkt an einen Schüler Sanzio’s von Urbino.“ Originell und ihm tief eigen sind die Verherrlichungen des Landlebens. Da ist ein Zauber von Ideen, Formen und Gruppen in nie dagewesener Lieblichkeit. In Kindergestalten drückte er vorzugsweise seine Gedanken aus, und wenn man sie sah, so sagte man sich, diese anmuthige Form sei für ihn, den Reinen, die richtige. Ja, die Form ward Styl. Wahrhaft classisch in der Composition sind die Friese, die den Weinbau, die Jahreszeiten, den Winter, das reiche Jahr, die zwölf Monate des Jahres behandeln und welche alle bäuerischen Verrichtungen, durch meist nackte Kinder, in wunderbarem Reiz darstellen. Da ist Alles Leben, Freude und Arbeit, und in der Arbeit Genuß – das echte Leben! Es ist, als hörte man das Jauchzen, das Lachen, den Schall des fröhlichen Schritts. – Die höhere Richtung in der Malerei (die Richtung Leonardo’s, Raphael’s) ist es aber nicht allein, was wir bei Mintrop hervorheben wollen, sondern es muß vor Allem der nationale, der germanische Charakter in den Werken des Verstorbenen betont werden. In ihnen prägt sich die deutsche Geistes- und Gemüthsrichtung in hoher Schönheit aus.
An Lob hat es dem todten Meister im Leben nie gefehlt; man hat ihn besungen in allen Tonarten, ihn himmelhoch erhoben. Aber man war nur von der hohen Schönheit seiner Werke entzückt, man ahnte den charaktervollen Zug in ihnen nicht. Und deshalb war ihm diese Anerkennung keine ‚moralische Hebung‘; das geschwätzige Lob konnte ihn, den bescheidenen, von der Größe seiner Sendung aber dennoch durchdrungenen Mann nicht befriedigen. Und wenn ihm die wohlwollenden Freunde den Pinsel in die Hand drücken wollten und meinten, er könne sich eine Million ermalen – dann lächelte er nur wehmüthig vor sich hin. – ‚Sie verstehen mich Alle nicht‘ – ‚man könnte rasend werden, wenn man sieht, wie sie es nicht begreifen‘ – ‚ich könnte einen König arm malen‘ … das sind Worte, die ihm oft entfuhren. Er, ein König im Reiche der Kunst, sollte sich des ‚redlichen Erwerbes‘ befleißigen; er, ein schöpferisches Genie, welches fast erstickte an der Fülle hoher künstlerischer Ideen, sollte mit dem Pinsel tage- und wochenlang an einem einzigen Figürchen oder gar an einem bunten Kleide herumstreichen! Die sittliche Höhe des Jahrhunderts nahm sogar Anstoß an der Nacktheit seiner Engelgestalten. Mußte er doch wirklich einem jüdischen Banquier die unschuldsvollen Kindlein mit einem Schamfetzen bekleiden!
Winckelmann rühmt als höchstes Kennzeichen griechischer Meister: edle Einfalt und stille Größe, sowohl in der Stellung wie im Ausdrucke. Man werfe das Auge auf die herrliche Schöpfung Mintrop’s: „Drei Grazien, einen geborenen Genius beschützend,“ mit der stolzen, ihm nach seinem Tode gegebenen Unterschrift: „Der deutsche Raphael“. Hier waltet edle Einfalt; hier athmet stille Größe. Alle Vorzüge seiner schöpferischen Kunst vereinigte er in seinem letzten Hauptwerke, dessen Veranlassung ihm für immer den Frieden des Herzens und schließlich noch das Leben kostete. Der Vorgang wurde uns in folgender Weise erzählt:
Eines Mittags, als Dores nach Hause kam, stutzte er, denn in der Thür des Wohnzimmers stand ein junges Mädchen, noch halb Kind, doch so voll Anmuth und Grazie, daß sie sein Auge ganz gefangen nahm und – bald genug seine Seele. Das holde Wesen blieb den ganzen schönen Sommer lang im Geselschap’schen Hause. In dem steten, ungezwungenen Verkehr der Familie, wo sich Jedes ganz gab, entwickelte sich bald eine tiefe Neigung des ernsten Mannes zu der Lieblichkeit dieser Mädchenblume. Und sie? Sie ahnte nicht die gewaltige Leidenschaft, die sie erweckte. Sie begriff sie kaum, weil sie dieselbe nicht theilte. Sie liebte und verehrte den Dores wie einen Bruder; ihm aber wollte, da sie fröhlich schied, schier das Herz brechen.
Als ihn die Kunde ihrer Verlobung traf – eilte er in den Wald. Nach einigen Tagen sagte er seinem Freunde: „Ich werde Johanna’s Andenken in einem Werke feiern und sie verherrlichen mit ganzer Seele.“ Und so befreite er denn seine Seele durch Bilder, in welchen er im Gewand des Märchens als Schutzgeist der Johanna auftritt, da es ihm nicht vergönnt war, im Leben ihr zur Seite zu stehen.
Er nennt es „König Heinzelmann“. An die siebenzig Blätter entstanden so, die ein rührendes Zeugniß geben, wie sein Herz sprach. Entzückend ist die Naivetät der verschiedensten Situationen, in denen König Heinzelmann als Schutzgeist der Geliebten nahe tritt. Tausend und tausend drollige kleine Gestalten, mit dem köstlichsten Humor ausgestattet, umgeben die Gebieterin, im Dienste des Herrn, des König Heinzelmann, folgen ihr von Ort zu Ort, schützen und begleiten sie, bald hier, bald dort, bei Tag und bei Nacht. Die Poesie seines Herzens hat sich hier verkörpert; er legte seiner Phantasie keine Zügel an. Ein vielseitigeres Werk hat Mintrop nicht geschaffen; es athmet bald hohe Romantik, bald liebliche Naivetät, nun seltsamen Ernst und dann wieder lustige Ausgelassenheit, um hoher Tragik und harmlosem Spuk zu weichen – just wie die Wogen seines Seelenlebens sich hoch aufbäumten, tändelten oder düster grollten.
Wir können nicht sagen, daß ein neuer „Liebesfrühling“ hier in Bildern an uns vorüberziehe. Der arme Gnomenkönig ist ja von vornherein nicht so glücklich, sich der Gegenliebe zu erfreuen. Wir verfolgen ihn Bild um Bild nur in immer emsigerem Liebesdienste, den die heimlich Geliebte sich ohne Weiteres gefallen läßt. Um so tragischer wirkt freilich dann der Schmerz des Verstoßenen, der eigentlich gar nicht verstoßen wird, sondern der seine bisherige Liebesdienstrolle ungehindert weiter [148] spielen darf – und in der That auch weiter spielt bis zum Ende seiner verfehlten Mission. König Heinzelmann hat nämlich sein unterirdisches Reich verlassen, um der Königin Romantik, die sich vor dem donnernden Eisen-Triumphwagen der Industrie zu ihm geflüchtet, eine treue liebende Seele zu suchen. Er findet die schöne Anna und verliebt sich in sie so gründlich, daß er darüber Alles, sein Reich sammt der Romantik vergißt. Wir kommen nicht aus einem bürgerlichen Haushalte hinaus, aber schon jetzt beleben ihn des Königs dienstbare Geister. Anna wohnt bei Onkel und Tante. Die Tante reist in’s Bad und übergiebt ihr die Wirthschaftsschlüssel. Das ist des Königs seligste Zeit. Unsere Illustration rührt aus ihr her: wie er dem Onkel den Kaffee kochen hilft! Wie schön hält er später das Garn zum Knaulwickeln! Da kommt die Tante wieder, Besuch dazu und endlich das Sängerfest und der Fremde ans Amerika, mit welchem Amor und Amoretten in’s Haus einziehen. Nun beginnt für den König der Liebe Leid: er sieht den Bund entstehen, die Verliebung, die Verlobung und sinkt bei der Trauung in Ohnmacht. Dennoch macht er auch noch die Hochzeitsreise mit – und rührender, ergreifender sind wenige Bilder, als das, wo er vor der Thür der Brautkammer Nachts auf einem Stiefelknechte sitzt und den Schuh der Geliebten weinend herzt! Erst am Meere, das er und sein Volk nicht betreten dürfen, erhält er den Scheidekuß – und weinend kehrt er in sein Reich zurück. – Aber – das Alles muß man sehen! Eine Beschreibung dieses wunderbaren Werkes würde einen ganzen Band füllen.[1]
Drei Jahre waren dahingegangen, seit Dores Mintrop der Geliebten „König Heinzelmann’s Liebe“ als Hochzeitsgeschenk dargebracht hatte. Ob seine Seele dadurch entlastet worden, daß er seiner Liebe Ausdruck zu geben verstand?
Wir sehen am Schlusse des Bilderdramas das Brautpaar selig im Arme der Liebe über’s Meer ziehen, der neuen Heimath entgegen – die Seele voll von Wonne, Lust- und Zukunftsgedanken. König Heinzelmann blieb einsam, gramzerrissen zurück.
Drei Jahre gingen dahin, und die Liebenden kehrten zurück. In der Heimath, auf der rothen Erde Westphalens, baute sich der Gatte ein Haus, das an den Wald lehnte und in das die Berge hineingrüßten. Hier, wo Beider Wiege gestanden, wurzelte ihr Glück und es erwuchs ihnen ein Röslein auf deutschem Grund: ein liebliches Kind, ein Mädchen. Er frug: „Wer soll Pathe sein?“
„König Heinzelmann soll Pathe sein,“ bat die junge Mutter bewegt.
Und sogleich ward ein Gevatterbrief von dem glücklichen Vater in die Kunststadt entsandt. Der Dores stutzte, als ihm die Kunde ward – er griff an die Stirn und meinte, er träume. – Aber drei Jahre sind eine lange Zeit und er sagte sich: „Du kannst sie mit Ruhe wiedersehen und – willst Pathe sein.“
An einem hellen, sonnigen Herbsttage zog durch einen stillen Waldweg der Pathe. Bald sah er das anmuthige Haus, zu dem ein Wiesenpfad führte, gefällig inmitten von Bäumen liegen. Eigene Gedanken über Das, was Alles hätte sein können, und wie es nun war, wollten nicht weichen. Er hatte sich im Wiesengrün niedergelassen und war in Sinnen versunken. Plötzlich sprang er auf und rief sich zu: „Sei ein Mann!“
Und festen Schrittes, den schönen Kopf hochgetragen, ja mit frohem Antlitze schritt er durch die Pforte, und mit wahrem Jubel tönte ihm „Dores. Dores!“ entgegen. Er hatte „Sie“ wiedergesehen und war fest geblieben. Die Taufe sollte stattfinden. Freunde und Verwandte in Festgewändern umstanden den reich mit Blumen umkränzten Tisch. Der Priester trat vor. Nun ward das Kindchen hereingebracht. Anna reichte bewegt dem Pathen das Töchterlein.
Es schlief. Er nahm es fast mit Ehrfurcht. Die kleine süße Last ruhte in seinen Händen. Er sah auf das weiche rosige Antlitz nieder, lange – lange. Da schlägt das Kind die Augen auf und sieht ihn an. Da war’s um ihn geschehen. Er wankt und zittert – Schwindel erfaßt ihn – er kann das Kind nicht mehr halten, reicht es der Mutter und stürzt weg – hinaus in’s Freie, – in den Wald!
Nicht lange, und der Tod neigte die Fackel. – Auf dem Todtenbette rief er aus: „O gütiger Gott, laß mich nur noch so lange leben, bis ich meine Aufträge ausgeführt habe; in meinem Geiste ist Alles fertig.“ – Aber der Tod gab keine Frist: der Künstler starb.
In die erschütternden Ereignisse von 1848, aus denen sich die Geschichte des letzten Vierteljahrhunderts in schicksalsvoller Verkettung entwickelt hat, haben wenige Männer bedeutungsvoller eingegriffen als Ledru-Rollin, einer der hervorragendsten Führer der zweiten französischen Republik. Die näher mit den verborgenen Triebfedern der Ereignisse bekannt sind, schreiben sogar seinem Auftreten die eigentliche Entscheidung zu.
Als im Februar jenes Jahres die Straßen von Paris mit Barricaden bedeckt waren und Ludwig Philipp in Verkleidung, unter dem Namen „Mr. Smith“, nach England floh, blieb die Herzogin von Orleans, eine deutsche Prinzessin von Geburt, mit dem Herzoge von Nemours in Paris zurück, um einen letzten Versuch zur Rettung des Thrones zu machen. Im Abgeordnetenhause erschien sie unter dem Schutze der Herren Odilon-Barrot und Cremieux. Der erstgenannte liberale Vertreter, mit feierlicher Miene sich erhebend, führte sie mit den auf Rührung berechneten Worten ein: – „Die Juli-Krone ruht jetzt auf dem Haupte einer Frau und eines Kindes.“ Beifallsrufe begrüßten diese Aeußerung von den Bänken der Mittelpartei in der Versammlung.
Darauf erhob sich die Herzogin. Mit einer von Bewegung erstickten Stimme vermochte sie jedoch in kaum hörbarem Flüstern nur die Worte vorzubringen: „Meine Herren! mein Sohn und ich sind hierher gekommen …“, als sie, von dem um sie wogenden Lärm erschreckt, sich in Verzweiflung wieder niederließ. Dann folgten Auftritte wilden Getümmels. Das bewaffnete Volk brach in die Hallen der Versammlung. Rufe wurden laut: „Hoch lebe die Freiheit! Nieder mit den Halben! Nieder mit der Regentschaft!“
Noch war indessen Nichts entschieden. Zweifel über den schließlichen Ausgang der Erhebung beherrschten noch die Gemüther. In diesem Augenblick erschien Ledru-Rollin, bis dahin der Sprecher der äußersten Linken, in Begleitung eines Hauptmanns der Bürgerwehr, der keck eine Fahne, welche er trug, auf dem marmornen Gesims der Rednerbühne aufpflanzte und in Donnerworten der Versammlung zurief: „Die Macht der Kammer ist zu Ende: Vierzigtausend Bewaffnete umringen den Palast.“ Inmitten der daraus entstandenen Betäubung gelang es Ledru-Rollin’s Stentorstimme, die sofortige Errichtung einer provisorischen Regierung zu verlangen – „ernannt nicht durch die Kammern, sondern durch das Volk.“
Ihm folgte Lamartine, dessen erste Worte die Hoffnungen Derer wieder zu beleben schienen, welche eine Regentschaft erstrebten. Zu ihrem Schreck sprach sich jedoch auch Lamartine für Ledru-Rollin’s revolutionären Vorschlag aus. Von da an war die Ausrufung des Freistaates nur noch eine Frage der Stunden. Lamartine, der noch wenige Jahre vorher die Ansprüche der Herzogin von Orleans beredt vertheidigt hatte, Lamartine, der nicht an den radicalen Reform-Banketen theilgenommen, und „dessen aristokratische Natur“, wie Daniel Stern (Gräfin d’Agoult) in ihrer Geschichte der Umwälzung von 1848 sagt, „vor Handlungen volksmäßiger Gewaltthätigkeit zurückschreckte“: Lamartine im Bunde mit Ledru-Rollin! – das war der Gnadenstoß für das Haus Orleans.
Diejenigen, welche sich über das Zusammenwirken von zwei [149] Männern so verschiedenartigen politischen Charakters wunderten, wußten allerdings nicht, daß am Morgen des entscheidenden Tages, welcher der Ausgangspunkt für eine Reihe festländischer Revolutionen werden sollte, Ledru-Rollin alle seine Ueberredungsgabe bei Lamartine zu Gunsten der republikanischen Sache angewandt, ihn bestürmt, gebeten, ihm im Namen der Massen die Hauptstellung in der neu zu schaffenden Regierung angeboten, und ihn schließlich überzeugt und für sich gewonnen hatte. Diese Thatsache habe ich aus Ledru-Rollin’s eigenem Munde. Sie erklärt zum großen Theil den sogenannten Edelmuth, den Lamartine im Mai 1848 vor der reactionärgesinnten Versammlung zeigte, als er darauf bestand, daß Ledru-Rollin’s Name auf die Liste der Mitglieder des Vollzugs-Ausschusses gesetzt werde. Lamartine erinnerte sich dabei einfach, daß seine eigene Stellung im Februar 1848 wesentlich durch Ledru-Rollin geschaffen worden war.
In der provisorischen Regierung nahm Ledru-Rollin den Posten als Minister des Innern ein. Als solcher entwickelte er bedeutende Thätigkeit. Louis Blanc, dessen sozialistische Richtung von der mehr jakobinischen seines Amtsgenossen einigermaßen abwich, sagt in seinen „Geschichtlichen Enthüllungen“, Ledru-Rollin sei ausnehmend für die ihm obliegende Pflicht tauglich gewesen, nämlich für die Betreibung der republikanischen Propaganda. „Schneller und durchdringender Geist, politische Thatkraft, durch eine offene und gewinnende Manier gemäßigt, ein glühender Wunsch, den Sieg des Freistaates zu sichern, in Verbindung mit einer rednerischen Fähigkeit der höchsten Art: solches waren die Eigenschaften, welche Ledru-Rollin zur Ausführung seiner Aufgabe mit sich brachte, und diese Eigenschaften waren bei ihm erhöht durch ein edel geformtes Antlitz, eine stattliche Figur, und einen gewissen magnetischen Einfluß, der, wenn er sprach, von seinen Geberden auszuströmen schien.“ Louis Blanc beschreibt Ledru-Rollin ferner als „eine wirklich künstlerische Natur, vertrauensvoll, edelmüthig, fähig einem Feinde mit freier Würde entgegenzutreten, aber nicht einen Freund zu beleidigen, und gerade deswegen unfähig, dem Einflusse derjenigen in seiner Umgebung zu widerstehen, die in ihren Abneigungen nicht immer gerecht oder aufgeklärt waren.“
Andererseits scheut sich Lord Normanby nicht, in seinem mehr als oberflächlichen Buche, das so viele gehässige und falsche Anklagen enthält, Ledru-Rollin als einen „echten Pöbelredner, von ruinirtem Vermögenszustande“, darzustellen. Die Wahrheit ist, daß er einer der ausgezeichnetsten, bestunterrichteten und redegewandtesten Anwälte war, ein Rechtskundiger von Bedeutung, und daß er in der Kammer großen Eindruck gemacht hatte, trotz der lärmenden Kundgebungen seiner Widersacher. Was seinen „ruinirten Vermögenszustand“ betrifft, so ist dies eine lächerlich falsche Angabe. Gleich Barbès war Ledru-Rollin im Gegentheil von nicht gewöhnlicher Wohlhabenheit. Durch die Ereignisse von 1848 bis 1849 erlitt er Einbußen; in der Verbannung lebte er einige Jahre in bescheidenen, doch keineswegs etwa beengten oder gar dürftigen Verhältnissen. Später ordnete sich Alles wieder: er bewohnte dann in Saint John’s Wood, in London, eines der Häuser ersten Ranges. Dabei besaß er eine Anzahl Häuser in Paris, einen Landsitz in Fontenay-aux-Roses und Güter in der Provinz, was Alles noch im Besitze seiner Wittwe ist, von der das Meiste herstammt.
Louis Blanc schreibt darüber in dem ausgezogenen Werke: „Herr Ledru-Rollin war reich, als die Revolution ausbrach. Von persönlichem Gesichtspunkte aus hatte er nichts dabei zu gewinnen; im Gegentheil, er hatte Alles zu verlieren. Irgendwelcher Gedanke an die Störung, welche ein so gewaltsamer Umschwung im Staate auf seine Vermögensumstände ausüben konnte, veranlaßte ihn jedoch keinen Augenblick zu zögern.“ Und weiter sagt Louis Blanc: „Lord Normanby ist ein romanhafter Schriftsteller; aber ich möchte ihm bedeuten, daß der Beweis, oder der Mangel an Beweis, welcher für eine Novelle genügt, nicht genügend ist für ein geschichtliches Werk.“
In einigen nach seinem Tode veröffentlichten Darstellungen ist Ledru-Rollin’s Bild andererseits durch eine ganz außerordentliche Verwirrung der Thatsachen in’s Schwanken gebracht worden. Es wurde unter Anderem gesagt, er sei in Folge der blutigen Juni-Erhebung des Jahres 1848 verbannt worden, und auf fremdem Boden habe ihn wohl der Gedanke gequält, daß auf ihm zum Theil die Verantwortlichkeit für den Sieg des Zweiten Kaiserreichs ruhe. Beide Angaben könnten nicht falscher gedacht werden. Weit entfernt, in den Aufstand vom 23. bis 26. Juni 1848 verwickelt gewesen zu sein, traf er mit Cavaignac, Garnier-Pagès und Arago die Maßregeln zur Bekämpfung der Aufständischen, die zwar unter proletarischem Banner sich erhoben hatten, aber insgeheim durch royalistische und bonapartistische Sendlinge aufgestachelt, da und dort sogar von ihnen geführt waren. Unverwerfliches Zeugniß für diese Thatsache ist in den Schriften eines entschiedenen Republikaners, Victor Schoelcher’s, und eines social-demokratischen Führers, Louis Blanc’s enthalten. In den „Geschichtlichen Enthüllungen“ Louis Blanc’s kann man sogar einen Brief lesen, welchen Ludwig Napoleon von London aus an den General Rapatel vor Beginn jener Schreckensereignisse schrieb, um den Aufstand wo möglich für sich auszubeuten.
Was die angebliche Verantwortlichkeit Ledru-Rollin’s für den Sieg des Zweiten Kaiserreichs betrifft, so ist diese Behauptung so thöricht, wie sie nur sein kann. In Gemeinschaft mit Lamartine sah gerade er die Absichten des Napoleoniden klar voraus, ehe dieser noch 1848 den Fuß auf den Boden Frankreichs gesetzt hatte. Zusammen mit Lamartine, der, wie man auch sonst über ihn denken mag, in diesem Punkte richtig handelte, widerstand Ledru-Rollin mit aller Kraft der Aufhebung des Beschlusses, durch welchen Ludwig Napoleon an der Rückkehr verhindert war. Louis Blanc befürwortete damals aus verkehrtem Edelsinn die Aufhebung dieses Beschlusses. Er stimmte, wenn auch aus ganz anderen Gründen, mit der Mehrheit der National-Versammlung, welche insgeheim sich mit der Absicht trug, den Namen „Napoleon“ gegen die Republik zu verwerthen, jedoch das Werkzeug, nach gemachtem Gebrauche, wieder zur Seite zu werfen. Man weiß, wie diese seine politische Berechnung gelang. Ohne Zweifel hielt Louis Blanc selbst den Napoleoniden damals nicht für gefährlich. In der Verbannung, in England, nachdem der Decemberheld mittlerweile den Kaisermantel um die Schultern geworfen, zeigte mir Louis Blanc die Schrift „Ueber die Abschaffung des Pauperismus“, welche der Gefangene von Ham einst verfaßt. Die Schrift trug auf dem ersten Blatte, von Ludwig Napoleon’s eigener Hand, die Worte:
„A Louis Blanc, souvenir d'estime et d’amitié, de la part de l’auteur.Ledru-Rollin und Lamartine gelang es als Mitgliedern des Vollzugs-Ausschusses nicht, die Rückkehr Ludwig Napoleon’s zu verhindern. Am 13. Juni 1849 setzte indessen Ledru-Rollin Alles auf’s Spiel und opferte seine ganze Stellung, um den Sturz Napoleon’s zu erwirken. Daß der Versuch fehlschlug, war nicht seine Schuld. Jedenfalls hatte er die persönliche Genugthuung, sein Möglichstes gethan zu haben, um gerade die Wiederherstellung des Kaiserreichs zu hintertreiben.
Es war Ende Mai 1849, daß ich zum ersten Male mit Ledru-Rollin in Paris zusammentraf. Die deutsche Revolution hatte damals gerade einen neuen Anstoß erhalten. Ungarn stand in Waffen gegen das Haus Habsburg. Auf italienischem Boden war der Kampf noch nicht ausgetragen; der Papst war ein Flüchtling, Rom eine Republik.
Mit einem Mitgliede der Nationalversammlung, Dr. Friedrich Schütz, war ich im Laufe dieser Ereignisse in einer Sendung nach Paris gegangen, im Auftrage der Volksregierungen von Baden und Pfalz. Die Beglaubigungsbriefe lauteten, der Form nach, an den Präsidenten der französischen Republik. Bereits erwartete man jedoch den Ausbruch einer Bewegung, welche den Sturz Ludwig Napoleon’s herbeiführen sollte, der sich durch seinen bewaffneten Angriff auf die Unabhängigkeit Roms einer groben Verfassungsverletzung schuldig gemacht hatte. Man nahm an, daß in solchem Falle ein Verfahren auf Hochverrath gegen den treulosen obersten Beamten des Freistaates eingeleitet und daß der Führer der Bergpartei in der gesetzgebenden Versammlung zur Bildung einer neuen Regierung berufen werden würde. Da neue revolutionäre Bewegungen unfehlbar eine Rückwirkung auf Deutschland üben mußten, so lag es nahe, mit den hervorragendsten republikanischen Führern Frankreichs in Berührung zu treten. Nachdem wir einen Brief an Drouyn de [150] Lhuys, den damaligen Minister des Auswärtigen, abgefertigt, galt daher einer unserer ersten Besuche Ledru-Rollin.
Er war damals in voller Manneskraft, von ausdrucksvollem Aeußeren; seine Gesundheit schien jedoch durch die unablässigen Aufregungen eines Revolutionsjahres etwas gelitten zu haben. Aufmerksam hörte er den Einzelheiten über die neue deutsche Erhebung zu, welche eine Hoffnung zuließe, daß der freigesinnte, festgebliebene Theil des deutschen Parlaments die Zügel der Macht werde ergreifen können. Ein brüderliches Verhältniß zwischen Deutschland und Frankreich war die Losung – unter dem klaren Bedeuten, daß keinerlei Versuch gemacht werde, Fragen über Veränderungen der Grenzen anzuregen. Gegenüber jener chauvinistischen Demokratie Frankreichs, welche stets „Zerreißung der Verträge von 1815“ forderte und Lamartine angegriffen hatte, weil er ihr darin widerstand, war ein deutliches Auftreten in dieser Sache entschieden rathsam.
Die deutschen und die italienischen Angelegenheiten drängten damals gleichzeitig einer Lösung zu. Frankreichs Verfassung besagte im Absatz 5 des Eingangs: – „Die französische Republik achtet fremdes Volksthum, wie sie ihr eigenes zu vertheidigen entschlossen ist. Sie wendet ihre Streitkräfte nie gegen die Freiheit irgend eines Volkes an.“ Im Widerspruch mit diesem Gesetz war ein französisches Heer auf römisches Gebiet gesandt worden; zuerst unter der heuchlerischen Angabe, dasselbe sei bestimmt, die italienische Sache gegen eine mögliche Erscheinung Oesterreichs oder des neapolitanischen Bourbon’s zu schützen. Die ministeriellen Blätter der Herren Drouyn de Lhuys und Odilon-Barrot flossen denn auch über von Freundschaftserklärungen zu Gunsten der Römer. Noch am 16. April hatte Herr Odilon-Barrot gesagt: „Wir wollen Frankreich nicht zum Mitschuldigen eines Umsturzes der römischen Republik machen.“
Plötzlich ließ man jedoch die Maske fallen. Herr von Lesseps, der bis dahin als diplomatischer Unterhändler benutzt worden war, um die unter der Regierung von Mazzini, Sassi und Armellini stehende Republik in Sicherheit zu wiegen, erhielt seine Abberufung. General Oudinot marschirte auf Rom – die Geschütze brüllten ein Evangelium, das nicht das der Brüderlichkeit, sondern der ingrimmigsten Feindschaft war. Die Wiedereinsetzung der weltlichen Macht des Papstes durch französische Waffen war nun der augenscheinliche Zweck.
Die römische Republik war in jenen Tagen durch den obersten Frapolli zu Paris vertreten, die ungarische Regierung Kossuth's durch die Grafen Pulszky und Ladislaus Teleki. Für alle Völker, die noch an ihrer neuerrungenen Freiheit festhielten, war es eine Lebensfrage, ob der reactionäre Feldzug gegen Rom gelingen werde; denn in diesem Falle mußte, nach dem bekannten Ausspruche und Wunsche des Grafen Montalembert, ein „Feldzug im Innern“ in Frankreich selbst folgen, wovon die Rückwirkung auf Europa im Allgemeinen nicht ausbleiben konnte. Inmitten dieser Spannung sammelten sich die Hoffnungen der Demokratie um Ledru-Rollin. Im December des vorhergegangenen Jahres war sein Name als der dritte (nach Ludwig Napoleon und Cavaignac) unter den Bewerbern um das Präsidentschaftsamt aus der Wahlurne hervorgegangen. Als Abgeordneter für die gesetzgebende Versammlung hatte er aus einer Anzahl Departements eine Million Stimmen erhalten. Die öffentliche Meinung selbst hatte ihn somit als den Rächer der verletzten Verfassung bezeichnet.
Durch den Verkehr mit ihm und anderen Oppositions-Mitgliedern, wie Savoye, Pascal Duprat, Beyer, erfuhren wir bald, wohin die Strömung trieb. Gesetzliche Abhülfe mittelst parlamentarischen Beschlusses war wohl Ledru-Rollin’s innerster Wunsch. Aber die Hartnäckigkeit und die Verblendung der heimlichen Royalisten, welche sich immer noch mit dem Gedanken trugen, Napoleon für ihre eigenen Zwecke benutzen zu können, ließ keine Aussicht auf eine solche Lösung zu. Vergebens bemühte sich der republikanische Führer, durch die gewaltige Beredsamkeit seiner Worte die Versammlung umzustimmen. Die Mehrheit schlug seinen Rath in den Wind.
Die Frage entstand nun, ob nicht ein gesetzlicher Fall für Herbeiführung einer jener Massenkundgebungen eingetreten sei, bei denen es oft an einem Haare hängt, ob sie nicht zum gewaltsamen Zusammenstoße führen. Abschnitt 8 der Verfassung lautete so: – „Die Bürger haben das Recht, sich in Vereine zusammenzuschließen, Gesuche zu stellen, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln.“ Abschnitt 109: – „Die Nationalversammlung vertraut die Sicherheit der gegenwärtigen Verfassung und der in ihr enthaltenen Rechte dem Schutze und der Vaterlandsliebe aller Franzosen an.“ Absatz 7 des Eingangs: – „Der Bürger soll sein Vaterland lieben, der Republik dienen, sie selbst um den Preis seines Blutes vertheidigen.“
Auf Grund dieser Verfassungsbestimmungen erfolgte die Kundgebung vom 13. Juni 1849, welche eine zwanzigjährige Verbannung Ledru-Rollin’s zur Folge hatte. Ich will nicht in alle Einzelheiten jenes bedeutungsvollen Tages eintreten, sondern nur das Wesentliche hervorheben. Nachdem die Gesetzgebende Versammlung Ledru-Rollin’s Antrag, der auf Rückberufung des französischen Heeres und In-Anklagestand-Versetzung der Regierung Ludwig Napoleon’s abzielte, verworfen hatte, traten Ledru-Rollin und eine Anzahl Mitglieder der Bergpartei im „Museum der Künste und Gewerbe“ zusammen. Mittlerweile zog eine ungeheure, aber ordnungsmäßig in Reih und Glied marschirende Menschenmenge die Boulevards entlang nach dem Parlamentspalaste. Eine Anzahl Bürgerwehrmänner befand sich darunter im Wehrkleide, aber unbewaffnet. „Es lebe die Verfassung!“ „Es lebe die römische Republik!“ waren die einzigen Rufe, die ich hörte.
Es war eine tief eindrucksvolle Kundgebung. Ihre Feierlichkeit wurde durch den Umstand erhöht, daß nicht weniger als sieben Leichenzüge in den auf die Boulevards mündenden Straßen warten mußten, um nicht den Marsch der begeisterten Volksschaaren zu unterbrechen. Paris war in jenen Tagen von den Schrecken der Cholera durchwüthet. Am Morgen des 13. Juni hatte ich selbst, in rascher Reihenfolge, die Nachricht von so vielen Todesfällen in nächster Umgebung, unter Anderen von Männern, die eine Unterredung angekündigt hatten, empfangen, daß mir die Verheerungen der Pest nahe genug traten. Während der schwarze Tod so die Sichel schwang, gingen die Bürger einher, um die Verfassung zu schützen. Der tausendstimmige Gesang der „Marseillaise“ und der „Girondins“ stieg aus den Reihen empor, um welche die zu den Gräbern Wallfahrenden eine düstere Einfassung bildeten. Doch nicht Leichenzüge allein warteten in den Seitenstraßen. Auch Changarnier's Truppen standen dort, bereit, über gesetzestreue Bürger herzufallen.
Ich war an der Rue de la Paix, nahe der Madelainekirche, anwesend, als die Reiterei plötzlich aus dieser Straße heraus ihren Ansturm machte. Ein paar Sicherheitsbeamte, in dreieckigem Hut und mit blinkendem Degen, stürzten voran; doch ohne die gesetzliche Aufforderung zum Auseinandergehen zu geben. Dies kann ich mit Bestimmtheit bezeugen. Seitwärts springend, ließen diese Polizeibeamten sofort die Reiterei und das Fußvolk eine wehrlose Menge mit dem Säbel und dem Bajonnet auseinandertreiben. Die Reihen der Volksmenge waren in einem Nu durchbrochen; viele retteten sich mit Mühe vor den Hufen der Rosse. Einige Schreie: „Zu den Barricaden!“ hatten keine Folge. Manche sprangen in Verzweiflung über die Mauer, welche die Boulevards in der Nähe der Rue de la Paix einfaßt. Etienne Arago brach dabei das Bein. In einem Augenblicke waren die Fensterläden aller umliegenden Häuser geschlossen, die Thüren verriegelt. Jeder in den Straßen Befindliche war in äußerster persönlicher Gefahr.
Ich sah den Vorgang bis zu Ende. Nachdem die Boulevards von den Truppen „gesäubert“ waren, begegnete ich zufällig dem elsässischen Abgeordneten Herrn Beyer, der aus dem „Museum der Künste und Gewerbe“ kam, um sich über den Stand der Dinge zu erkundigen. Ich sagte ihm, daß Alles vorüber sei. Mit Alexander Herzen, dem russischen Schriftsteller, den ich bald darauf traf, verließ ich dann den Schauplatz des Ereignisses, um über die zerstörten republikanischen Hoffnungen nachzudenken.
Unterdessen waren auch an dem Orte, wo Ledru-Rollin und seine Freunde sich versammelt hatten, die Truppen eingedrungen. Einen Augenblick schwebten die umzingelten Volksvertreter in Gefahr, ohne Weiteres niedergeschossen zu werden. Ein Befehl war mißverstanden worden. Soldaten hatten die Gewehre bereits auf Ledru-Rollin und die anderen Mitglieder der Bergpartei angelegt. Endlich gelang es doch den Oppositionführern, das Gebäude zu verlassen, ohne zu Gefangenen gemacht zu werden. Daß Ledru-Rollin, wie seine Verleumder sagen, sich [151] durch die schmale Oeffnung eines Fensterchens gerettet habe, ist unwahr, und sogar abgeschmackt unwahr, da dies bei seiner Körperbreite geradezu eine Unmöglichkeit gewesen wäre. Mit Victor Considerant, dem socialistischen Führer, ging er vielmehr ruhig von dannen, war einen Monat lang in einer niedrigen Dachwohnung versteckt, wo er kaum aufrecht stehen konnte und, wie er mir später erzählte, aus Mangel an Bewegung unsäglich litt, bis es ihm gelang, Paris und Frankreich insgeheim zu verlassen. Er begab sich nach Belgien und von da nach England.
An den Straßenecken von Paris fand ich am 14. Juni die Anschläge, welche den Belagerungszustand der Stadt ankündigten. In dem Ausschusse der Nationalversammlung, welcher den Belagerungszustand beantragte, saß Victor Hugo, damals noch Mitglied eines conservativen Vereins und Gegner der entschiedenen Republikaner. Auch er stimmte für Verhängung des Belagerungszustandes. Seine Umkehr zu der Partei, der er jetzt angehört, erfolgte bekanntlich erst Ende 1850.
Als einer der Beauftragten der Regierungen von Baden-Pfalz hielt ich es für meine Pflicht, trotz anscheinender Gefahr in Paris zu bleiben. Dem Völkerrechte zuwider, wurde ich verhaftet, in die Conciergerie und von da nach La Force abgeführt, und in den gegen die Bergpartei angestrengten Staatsproceß verwickelt. Mein an den Minister des Auswärtigen gerichtetes Verwahrungsschreiben blieb ohne Erfolg. Die Linke der Nationalversammlung brachte endlich durch Herrn Savoye die ganze badisch-pfälzische Angelegenheit zur Verhandlung; bei diesem Anlasse gab Herr von Tocqueville, der unterdessen die Stellung als Minister des Auswärtigen eingenommen, eine Erklärung ab, welche ein scharfes Schlaglicht auf die späteren französischen Rheingrenzpläne wirft, wie sie im Kriege von 1870 zu Tage traten.
Herr von Tocqueville hatte vor der Nationalversammlung einen Völkerrechtsbruch zu rechtfertigen. Er versuchte dies zuerst durch die Behauptung, ich sei nicht in der Eigenschaft eines Bevollmächtigen, sondern als Mitverschwörer des 13. Juni verhaftet worden. Da diese in jeder Beziehung unstichhaltige Angabe durch stürmische Gegenrufe bestritten wurde, griff der Minister zu einem Mittel, von dem er glaubte annehmen zu können, daß es unbedingt ziehen werde. „Hat man denn,“ rief er aus, „die Vergangenheit so weit vergessen, daß man nicht mehr weiß, daß die Partei, welche in Baden und der Pfalz triumphirte, dieselbe ist, die seit zehn Jahren die wüthendste, unversöhnlichste Feindschaft gegen Frankreich hegt?“ (Zwischenrufe zur Linken: „Gegen die französische Regierung!“ – Der Vorsitzende: „Aber lassen Sie doch das französische Interesse vertheidigen!“) … „Das ist ja dieselbe Partei, die durch ihre Schriften, durch ihre Drohungen sich immer mit der größten, mit der bittersten Entschiedenheit gegen das Streben des französischen Volkes, sich bis an den Rhein hin auszudehnen, erhoben hat. Das, meine Herren, ist die Partei, die den Kern des Aufstandes in Baden und Rheinbaiern bildet.“
Nach dreitägiger Verhandlung ging die Versammlung zur Tagesordnung über. Graf Tocqueville's Rheingrenzrede hatte ihre Wirkung erzielt; ich mußte auch ferner als Staatsgefangener in La Force verweilen.
Mittlerweile hatten die preußischen Truppen die Rheinpfalz und den größeren Theil von Baden unterworfen. Mit der Auslieferung bedroht, wenn ich nicht erkläre, daß die Botschaft, als deren Mitglied ich nach Paris gegangen war, rechtlich zu bestehen aufgehört habe, verweigerte ich, diese Erklärung abzugeben, und wurde eine Zeitlang unter der Drohung im Gefängnisse gehalten, daß ich auf die Kehler Brücke gebracht werden solle, jenseits deren so mancher Freund bereits das Leben ausgehaucht hatte. Schließlich wurde ich indessen aus der Haft entlassen, nachdem mir das Ehrenwort abverlangt worden, daß ich mich nicht in die Schweiz, wohin ich zu gehen gewünscht, sondern nach England verfügen würde. Mit der Entlassung aus der Haft erfolgte gleichzeitig die Verbannung aus Frankreich, und zwar – „für immer“.
In späteren Jahren traf ich mit Ledru-Rollin wieder auf dem Boden Englands zusammen, wo er von 1849 bis 1870 ohne Unterbrechung weilte. Da meine eigenen Lebensschicksale, so weit Frankreich dabei in’s Spiel kam, mit den seinigen so eng verflochten waren, so ergab sich ein natürlicher Berührungspunkt, der bald noch gestärkt wurde durch die gemeinsame Freundschaft mit Mazzini, um dessen willen der französische Führer seine ganze Stellung hatte opfern müssen.
Ich rechne die Stunden, welche ich und die Meinigen während einer Reihe von Jahren in Gesellschaft Ledru-Rollin’s zubrachten, zu den angenehmsten unseres Lebens. Der Reiz des Verkehrs war erhöht durch seine hochbegabte und liebenswürdige Gemahlin, deren Kenntniß deutscher Literatur und einiger Wissenszweige, die mir besonders nahe liegen, keine gewöhnliche ist. Dabei ließ die Festigkeit ihrer politischen Gesinnung sie gern an der Unterhaltung über Freiheitsfragen theilnehmen. Sowohl Ledru-Rollin wie seine Gattin war überdies der Beschäftigung mit philosophischen Fragen zugeneigt. Mit Naturwissenschaften, besonders mit der Sternkunde, gab er sich in letzter Zeit vorzugsweise gern ab. Ueber diese Gegenstände sprach er mit einem Redeflusse und einer Begeisterung, welche von der Lebendigkeit seiner Aeußerungen über Staatsangelegenheiten kaum übertroffen wurde. Der durch den Mangel an öffentlicher Thätigkeit zurückgehaltene Strom der Beredsamkeit brach bei solchen Anlässen oft mit einer Gewalt durch, welche das friedliche Zimmer plötzlich in einen Parlamentssaal zu verwandeln schien.
Bei dem Rentier Meitzen, einem bereits bejahrten und durch seine Gutmüthigkeit bekannten Herrn, ließ sich eine Dame anmelden. Die Eintretende, welche höchstens dreißig Jahre zählen mochte, war schwarz und einfach gekleidet, aber jeder Theil ihrer Kleidung verrieth die größte Ordnung und Sauberkeit. Ihr Gesicht war bleich, und auf den hübschen Zügen lag der Ausdruck eines tiefen Leides. Mit gesenkten Augen war sie neben der Thür stehen geblieben.
Meitzen, welcher sie scharf beobachtet hatte, fragte, was sie wünsche; sie bewegte die Lippen, ohne ein Wort hervorbringen zu können. Die Hand, in der sie mehrere Papiere trug, zitterte leise. Noch einmal wiederholte Meitzen seine Frage, und wieder schien die Frau mit der Antwort zu ringen; eine Thräne drängte sich in ihr Auge und rann langsam über die bleiche Wange.
„Verzeihen Sie – die Noth hat mich zu Ihnen getrieben,“ sprach sie endlich. „Ich bin so namenlos unglücklich, daß mir nichts als dieser Schritt übrig blieb.“ – Sie weinte heftiger.
Meitzen’s Herz regte sich. Er war zwar von verschämten und unverschämten Armen sehr oft in Anspruch genommen. Er hatte in der großen Stadt, in der er lebte, schon so schlimme Erfahrungen gemacht, daß er alle Bettler kurz abwies – hier konnte er es nicht. Die Frau hatte ja noch um nichts gebeten. Sie war eine Unglückliche; das unterlag keinem Zweifel, und er wußte auch, daß Mancher unverdient und in harter Weise vom Unglück heimgesucht wird. – Er forderte die Arme auf, ihm ihr Geschick zu erzählen.
„Mein Mann war Lehrer,“ begann die Frau, indem sie mit der Linken über die Augen fuhr. „Er hatte nur eine geringe Stelle, wir litten jedoch keine Noth, obschon er kränklich war. Wir theilten das Wenige, was wir hatten, ein und kamen damit aus. Vor einem Jahre starb er, und ich stehe nun mit meinen vier Kindern allein und hülflos da.“ – Sie preßte das Tuch vor das Gesicht.
„War Ihr Mann hier in B. Lehrer?“ fragte Meitzen, der Mitleid empfand.
„Nein,“ – sie nannte ein Dorf in der Provinz.
„Weshalb sind Sie nicht dort geblieben?“
„Es war nicht möglich. Anfangs versuchte ich es. Ich hoffte durch Nähen und Stricken mich und meine Kinder zu ernähren, allein ich fand bei den Bauern keine Arbeit und Mitleid noch [152] weniger, obschon mein Mann sich in seiner Stellung aufgerieben hat. Sie befürchteten, daß ich mit den Kindern der Gemeinde zur Last fallen werde; deshalb versagten sie mir jede Unterstützung; sie wollten mich forttreiben.“
„Es ist empörend,“ rief Meitzen aus. „Weshalb sind Sie aber hierher gekommen, wo Alles so theuer ist?“
„Ich kannte die Verhältnisse hier nicht. Der Bruder meines Mannes lebte hier und versprach, mich zu unterstützen. Er that es auch, soweit seine Kräfte reichten, allein er starb, als ich kaum wenige Wochen hier war, und ich stand wieder allein. Ich habe alle Kräfte zusammengenommen, habe Tag und Nacht gearbeitet, um meine Kinder nicht hungern zu lassen, bis ich endlich der Anstrengung erlag. Wochenlang bin ich krank gewesen. Meine Augen haben so gelitten, daß ich nur wenige Stunden am Tage arbeiten kann – ich weiß nicht, was ich ferner beginnen soll.“ – Sie sank auf einen Stuhl und preßte beide Hände vor das Gesicht.
Meitzen suchte sie zu beruhigen.
„Ich würde Alles gern ertragen, wenn meine Kinder nicht hungern müßten,“ fuhr die Frau fort. „O Gott! Wenn mein Mann gewußt hätte, daß ich zur Bettlerin werden würde! Er war so tüchtig und hoffte, sich durch seine Fähigkeiten emporzuschwingen. Bitte, werfen Sie nur einen Blick in diese Papiere – es sind seine Zeugnisse.“
Meitzen durchblätterte die Papiere. Sie enthielten Zeugnisse über einen Lehrer Schulz, und alle hoben die Fähigkeiten, das eifrige Streben und den ehrenwerthen Charakter desselben in der rühmendsten Weise hervor. Sie waren von dem Pastor, dem Superintendenten und der Ortsbehörde ausgestellt.
„Haben Sie nicht versucht, Ihre Kinder im Waisenhause unterzubringen?“ fragte Meitzen.
„Nein, nein!“ rief die Frau hastig. „Ich kann mich von ihnen nicht trennen – lieber will ich selbst verhungern. Ich darf es auch nicht, denn ich habe meinem Manne, als er auf dem Sterbebette lag, gelobt, mich nicht von ihnen zu trennen.“
Meitzen fand dies natürlich. Er erinnerte sich an Alles, was er über die traurige Lage der Dorfschullehrer gelesen hatte. Er hatte die Schilderungen für übertrieben gehalten – jetzt glaubte er daran. Schweigend drückte er der Frau einige Thaler in die Hand, und nachdem sie ihm ihre Wohnung bezeichnet hatte, versprach er, sich nach ihr zu erkundigen und noch mehr für sie zu thun, wenn sich ihre Aussagen bestätigten.
„Bitte, erkundigen Sie sich nach meiner Lage und meinem Leben!“ bat die Frau. „Sie haben eine Unglückliche vor sich, welche ihr trauriges Geschick nicht verschuldet hat.“
In demselben Augenblick, als sie das Zimmer verließ, trat der Neffe des Rentiers, ein junger Arzt, Namens Knaus, ein.
„Ah, Du hattest Besuch, Onkel,“ rief er.
„Eine unglückliche Frau, die Wittwe eines Lehrers, welche in der größten Noth ist.“
„Also eine Bettlerin.“
„Nein, eine Unglückliche, welche durch die Noth gezwungen ist, die Hülfe Anderer in Anspruch zu nehmen.“
„Onkel, das sagen Alle, welche betteln.“
„Die Frau ist keine Schwindlerin,“ erwiderte Meitzen unwillig. „Ich lebe nicht erst seit gestern hier und habe gelernt, wirkliche Noth von der Verstellung zu unterscheiden. Außerdem hatte die Frau Zeugnisse.“
„Waren sie echt?“ warf der Arzt ein.
„Ja, sie waren echt,“ rief Meitzen. „Wenn man Alles bezweifeln will, bleibt Einem schließlich nichts im Leben übrig.“
„Onkel, Du kannst ja Recht haben. Ich befürchtete nur, daß Dein gutes Herz sich habe täuschen lassen.“ –
Sofort am folgenden Morgen begab sich Herr Meitzen nach dem Hause, in welchem die Wittwe nach ihrer Angabe bei einem Herrn Adolph Märker wohnte, um über sie Erkundigungen einzuziehen. In freundlicher Weise wurde er von dem Herrn empfangen und in sein äußerst fein ausgestattetes Zimmer geführt. Er nannte den Zweck seines Besuches und fügte hinzu, daß er zu dieser Vorsicht genöthigt sei, weil er schon oft getäuscht worden sei.
„Sie thun sehr recht,“ versicherte Märker, ein stattlicher Mann von angenehmem Aussehen. „Es leben ja Tausende vom Betteln, die nicht Lust haben zu arbeiten; sie erzählen die rührendsten Geschichten, an denen kein wahres Wort ist, und leben von dem erbettelten und erschwindelten Gelde besser als mancher fleißige Handwerker und Beamte. Die Polizei ist gegen solche Schwindler viel zu milde. In diesem Falle hat sich wirklich eine Unglückliche und Nothleidende an Sie gewandt.“
„Kennen Sie die Frau näher?“ fragte Meitzen.
„Ich kannte sie gar nicht, als meine Frau vor einem halben Jahre von ihrer Noth hörte. Da dieselbe wirklich vorhanden war, räumte ich ihr ein auf den Hof heraus gelegenes Zimmer, welches ich nicht benutze, ein. Ich habe sie beobachtet und kann nur Gutes von ihr sagen. Sie ja sehr fleißig und bescheiden und scheint nur das eine Interesse zu kennen, für ihre Kinder zu sorgen. Sie hatte sich überarbeitet und war lange Zeit krank. Meine Frau hat sie während der Krankheit vollständig unterhalten, und wir haben sie der Unterstützung durchaus würdig befunden.“
„Ist sie zu Hause?“ fragte Meitzen, dessen Herz weich geworden war.
„Nein. Bitte, sehen Sie sich ihr Zimmer an! Die Frau ist trotz ihrer Armuth stets sauber und ordentlich; deshalb mag ich ihr das Zimmer auch nicht nehmen.“
Er führte Meitzen in ein kleines, nach einem dunklen Hofe hinaus gelegenes Gemach. Nur wenige, sehr ärmliche Möbel standen darin; trotzdem herrschte die größte Sauberkeit. Auf einem kleinen Tische am Fenster lag eine Näharbeit. Nicht ohne ein reges Gefühl des Mitleids blickte Meitzen sich in dem engen Zimmer um, dann gab er Märker fünf Thaler für die Frau und versprach, sich weiter für sie zu bemühen.
„Sie thun wirklich ein gutes Werk,“ versicherte Märker. „Ich wohne leider noch nicht lange in B. und habe deshalb nur wenige Bekannte hier, bei denen ich mich für die Arme verwenden könnte, Sie hingegen haben einen großen Freundeskreis. Es ist der Frau geholfen, wenn sie an Unterstützungen so viel erhält, daß sie sich einige Wochen lang schonen kann, bis sie zur Arbeit wieder gekräftigt ist; wäre es möglich, eine Nähmaschine für sie zu erwerben, so wäre ihre Zukunft gesichert, denn sie ist außerordentlich fleißig.“
Noch einmal versprach Meitzen zu thun, was in seinen Kräften stehe. Es freute ihn, daß ihn dieses Mal seine Menschenkenntniß nicht getäuscht habe und daß er im Stande war, jeden Zweifel seines Neffen zu widerlegen.
Bei allen Freunden und Bekannten sammelte er nun für die unglückliche Frau, deren Noth er mit den lebhaftesten Farben schilderte, und er erhielt ansehnliche Beträge. Die Damen gaben der Wittwe Arbeit zum Nähen und Stricken und erhielten dieselbe stets schon nach so kurzer Zeit sauber ausgeführt wieder zurück, daß die Frau nothwendig die Nächte zur Arbeit zu Hülfe genommen haben mußte. Sie wurde reichlich für ihre Arbeit bezahlt. In wenigen Wochen hatte Meitzen mehr denn hundert Thaler für die Arme zusammengebracht, und es freute ihn jedes Mal, wenn er ihr eine Gabe überbringen konnte, sie aber ließ trotzdem in ihrem Fleiße nicht nach.
„Die Frau verdient Ihre aufopfernde Bemühung,“ versicherte Märker wiederholt. „Ich beobachte sie täglich. Sie wendet Alles für ihre Kinder auf und gönnt sich keine Stunde der Erholung.“
– Eines Abends besuchte Meitzen in Begleitung seines Neffen das Schauspiel.
„Onkel,“ sprach der junge Arzt, der die Damen in den Logen durch sein Lorgnon musterte, „dort in der ersten Loge sitzt ja Deine arme Wittwe,“ und er machte Meitzen auf eine sehr fein gekleidete Dame aufmerksam, die ihrem hübschen Gesichte mit einem Fächer Kühlung zuwehte.
Der Rentier blickte überrascht auf. Die Dame hatte allerdings mit der Wittwe eine auffallende Aehnlichkeit. „Du bist ein Thor,“ entgegnete er. „Siehst Du nicht, daß die Dame luxuriös gekleidet ist? Wie sollte die arme Frau in die Kleider und an den Platz kommen! Haha! Jetzt erkenne ich Deinen Scharfblick. Sieh, wie kokett die Dame umher blickt! Die arme Wittwe ist stets bescheiden und wagt kaum die Augen aufzuschlagen – ich kenne sie besser.“
Knaus schwieg, ohne seine Vermuthung aufzugeben.
Meitzen bemerkte im Parquet Herrn Märker. Er wollte zu ihm gehen, um ihn auf die auffallende Aehnlichkeit aufmerksam zu
[153][154] machen, allein mehrere Bänke trennten ihn von demselben, und als die Vorstellung beendet war, verließ Märker schnell das Haus. Meitzen begab sich mit seinem Neffen in einen Weinkeller, um dort mit ihm zu Abend zu essen, und neckte ihn auf dem Wege mit seiner thörichten Vermuthung. „Ich gebe für Deinen Scharfblick nicht einen Thaler,“ fügte er lachend hinzu.
In dem Keller befanden sich einzelne Zimmer oder Abtheilungen für kleine Gesellschaften oder auch einzelne Paare, welche allein zu sein wünschten. Aus einer derselben schallte wiederholt das laute, lustige Lachen einer Frauenstimme. Meitzen, welcher den Dampf der Cigarre gedankenlos vor sich hinblies, schien nicht darauf zu achten, dem Doctor aber fiel es auf. Der Kellner hatte bereits mehrere Male Speisen und Wein in die Abtheilung gebracht. Als er wieder heraustrat, neigte der Doctor sich vor, um einen Blick durch die halbgeöffnete Thür zu werfen.
„Onkel, dort drinnen sitzt Deine Wittwe,“ rief er leise.
„Laß' endlich die Thorheit!“ entgegnete Meitzen unwillig.
„Ueberzeuge Dich doch selbst davon!“
Der Kellner kam zurück und brachte auf einem Präsentirteller eine Flasche Champagner im Eiskühler und zwei Gläser. Er trat auf die Abtheilung zu, aus welcher das lustige Lachen tönte. Als er die Thür öffnete, blickte Meitzen durch die Spalte hinein und fuhr bestürzt zurück – er hatte in dem kleinen Zimmer Märker und die arme Schullehrerwittwe in elegantester Kleidung bemerkt. Er sprang auf und wollte in das Zimmer dringen, der Neffe aber hielt ihn zurück.
„Sei vorsichtig!“ mahnte er. „Hier würde es vielleicht eine sehr heftige Scene geben. Laß’ uns ruhig warten, bis sie das Zimmer verlassen! Dann können wir sie sehr deutlich sehen. Sie müssen dann auch Dich erblicken, und ich bin neugierig, ob sie dies nicht etwas aus ihrer Fassung bringen wird.“
Meitzen antwortete nicht. Mit fest aufeinander gepreßten Lippen stand er da.
„Nein, komm’, komm’!“ rief er und eilte aus dem Weinkeller fort, der Neffe folgte ihm. Hastig begab er sich zum nächsten Polizeibureau und theilte dem Polizeilieutenant, welchen er dort antraf, Alles mit.
Aufmerksam hörte der Lieutenant ihm zu.
„Ich bin Ihnen sehr dankbar für diese Mittheilung,“ sprach er dann. „Ich habe auf den Herrn Märker, sowie auf seine Frau, längst ein wachsames Auge, denn es ist mir Verschiedenes bei ihnen aufgefallen.“
„Ich spreche nicht von seiner Frau, sondern von der Lehrerwittwe, welche bei ihm wohnt,“ warf Meitzen ein.
„Ich kenne keine Wittwe, welche bei ihm wohnt. Die Beschreibung, welche Sie mir von der angeblichen Lehrerwittwe gemacht haben, stimmt jedoch auf Märker’s Frau. Sie wird die Wittwe gespielt haben, um unter dieser Maske zu betteln.“
„Nein, nein, die Wittwe wohnt bei ihm,“ versicherte Meitzen.
„Ich werde morgen früh sogleich nachforschen. So viel ich weiß, ist die Existenz des Herrn Märker eine etwas dunkle. Er lebt, als ob er Vermögen besäße, und doch sind verschiedene Anzeichen da, daß er keins besitzt. Am Tage geht er nie mit seiner Frau aus, während er des Abends oft mit ihr in Weinkeller geht und dort sehr gut lebt.“
„Die Frau hat mir die Zeugnisse ihres verstorbenen Mannes gezeigt.“
„Es ist ja möglich, daß sie mit einem Lehrer verheiratet gewesen ist.“
„Sie war so einfach; es kann doch unmöglich ein Mensch aus Verstellung weinen,“ rief Meitzen.
„Weshalb nicht? Die Fälle sind nicht so selten,“ bemerkte der Lieutenant. „Derartige Leute leisten in der Verstellungskunst oft Außerordentliches.“
„Wollen Sie mich von dem Resultate Ihrer Nachforschung in Kenntniß setzen?“ fragte Meitzen.
„Sehr gern. Ihr Zeugniß wird ohnehin erforderlich sein,“ gab der Lieutenant zur Antwort.
Meitzen entfernte sich, und der Doctor geleitete ihn heim.
Der Gedanke, betrogen zu sein, ließ Herrn Meitzen nicht schlafen. Mit Ungeduld erwartete er am folgenden Tage den Polizeilieutenant, der versprochen hatte, ihm Nachricht zu geben. Derselbe kam nicht und schon faßte Meitzen neue Hoffnung. Am zweiten Tage gegen Abend erschien der Polizeilieutenant endlich. Meitzen eilte ihm entgegen.
„Nicht wahr, wir haben uns getäuscht?“ rief er.
„Leider nicht!“ erwiderte der Lieutenant. „Sie haben zwei sehr kecke Betrüger entlarvt. Ich habe beide heute Nachmittag verhaftet. Die Dame ist nicht die Wittwe eines Schullehrers, sondern die Frau des Mannes, bei dem sie wohnte, der nicht besser ist als sie. Märker war früher Buchhalter in einem großen Geschäfte. Er ist schon einmal wegen Betrugs und Unterschlagung verurtheilt worden und hat sich hierher nach B. begeben, weil er hier nicht bekannt war. Beide haben die Bettelei systematisch betrieben und luxuriös davon gelebt. Das einfache Zimmer, nach dem Hofe hinaus, war allein zu dem Zwecke eingerichtet, um es allen Denen, welche sich nach der ‚armen Wittwe‘ erkundigten, zu zeigen und ihr Mitleid dadurch zu erregen. Ich habe, als ich die Leute verhaftete, zugleich einen sehr interessanten Fund bei ihnen gemacht. Der Mann hat die Einnahmen, welche die Bettelei seiner Frau eingetragen, sehr pünktlich gebucht und die Namen der Geber dabei verzeichnet. Ich bin selbst erstaunt, wie einträglich dieses Geschäft gewesen ist, denn es hat im letzten Jahre gegen dreitausend Thaler eingebracht, davon konnten sie freilich gut soupiren und Champagner trinken.“
„Die Frau hat aber sehr fleißig gearbeitet,“ rief Meitzen. „Eine Anzahl mir bekannter Damen hat ihr auf meine Bitten Arbeit gegeben, und sie hat dieselbe stets sehr gut und schnell ausgeführt.“
„Die Frau hat nichts gethan. Auch hierüber giebt die Buchführung ihres Mannes sehr genauen Aufschluß. Sie hat die Arbeiten einigen armen Mädchen zur Ausführung übergeben und dieselben sehr spärlich dafür bezahlt, während sie von den Damen meist einen reichlichen Lohn empfing. Auch hierdurch haben die Leute ihre Einnahmen erhöht.“
„Es ist empörend!“ rief Meitzen. „Solche Betrüger müssen hart bestraft werden.“
„Dies Alles ist nach dem Gesetze wohl kaum strafbar,“ bemerkte der Lieutenant. „Ich habe indessen noch Anderes bei ihnen gefunden, was sie wohl in das Gefängniß bringen dürfte. Hat die Frau sich bei Ihnen nicht als die Wittwe eines Schullehrers vorgestellt?“
„Gewiß.“
„Hat sie Ihnen Zeugnisse ihres angeblich gestorbenen Mannes gezeigt?“
„Jawohl.“
„Sie würden dieselben wieder erkennen?“
„Mit Bestimmtheit.“
„Die Zeugnisse und gefälscht, und wegen dieser Fälschung habe ich Beide verhaftet. Märker hat Ihnen auch gesagt, daß die Frau eine Lehrerwittwe sei?“
„Jawohl.“
„Und Sie würden dies Alles beschwören können?“
„Gewiß, und ich werde es sogar mit Vergnügen thun, weil solche Frechheit bestraft werden muß. Wie benahmen diese nichtswürdigen Betrüger sich, als sie verhaftet wurden?“
„Ich hatte den gestrigen Tag benutzt, um sie zu beobachten und noch weitere Nachforschungen über sie einzuziehen. Als ich heute Nachmittag zu ihnen kam, traf ich sie bei einem sehr reichlich besetzten Tische. Sie waren anfangs erschrocken, faßten sich indessen schnell, weil sie fortwährend mit dem Gesetze auf gespanntem Fuße leben. Sowohl der Mann wie die Frau traten sehr dreist auf. Die Frau forderte ihren Mann sogar auf, mich aus dem Zimmer zu werfen.“ – –
Meitzen hatte Tage nöthig, um sich zu beruhigen.
Die beiden Verhafteten, die sich einer Menge ähnlicher Fälle schuldig gemacht hatten, wurden unter der Anklage des Betrugs und der Urkundenfälschung vor die Geschworenen gestellt. Märker trat sehr brüsk auf und leugnete die Zeugnisse über den Lehrer Schulz angefertigt zu haben; nach seiner Behauptung hatte er sie gefunden. Durch vereidete Sachverständige wurde jedoch nachgewiesen, daß die Zeugnisse von seiner Hand geschrieben waren. Die Frau spielte, um das Mitleid der Geschworenen zu erregen, eine ähnliche Rolle, wie Meitzen gegenüber. Sie trat sehr schüchtern und bescheiden auf, weinte, machte die Reuige und Unglückliche und behauptete, durch die Noth zu diesen Schwindeleien getrieben worden zu sein.
[155] Die Geschworenen sprachen über die beiden Angeklagten das Schuldig aus, und der Gerichtshof verurtheilte sie zu zwei Jahren Zuchthaus. Die Strafe war eine wohlverdiente, denn länger als zwei Jahre hatten die Verurtheilten ihr betrügerisches Spiel getrieben, und es war nur schwer zu begreifen, daß dasselbe nicht früher entdeckt war.
Meitzen, durch diesen Vorfall über die Gefahr falscher Wohlthätigkeit belehrt, hatte eine Zeit lang seine sonst so milde Hand allen Bittstellern verschlossen und zum Ueberflusse an seiner Thür nach ein Schild anbringen lassen, auf dem geschrieben stand, daß jede Bettelei verbeten werde. Heute giebt er zwar wieder reichlich, aber nur mit der äußersten Vorsicht, wie die wahre Humanität es gebietet.
Ein Leipziger Studentenstückchen aus dem Jahre 1820. Daß die junge deutsche Burschenschaft, geboren im Jahre des Heils 1817, trotz der Idealität ihres Entstehungsgrundes und ihres Strebens im Großen und Ganzen, in einzelne unzeitgemäße Abgeschmacktheiten verfiel, kann auch von ihren treuesten Freunden und Anhängern nicht geleugnet werden. Gegenüber der schon damals beginnenden „Patentheit“ der Corps suchten die Burschenschafter etwas darin, sich möglichster Vernachlässigung der äußeren Form und Erscheinung zu befleißigen. Langes uncultivirtes Haar, der Ziegenhainer, die endlose Quastenpfeife und der breite Hemdenkragen wurden für Manchen die einzigen charakteristischen Merkmale des Idealismus. Ich sage mit Bedacht: für Manchen, um nicht das Kind mit dem Bade auszuschütten. Giebt es doch in jeder Gemeinschaft, sie trage welchen Namen sie wolle, neben den genialen oder wenigstens virtuosen Mitgliedern etliche Mitläufer, die aber doch den nothwendigen Dienst haben, die Nullen darzustellen hinter zählenden Zahlen. So sagt Friedrich Rückert:
„Nullen, tretend hinter eins,
Würden Tausende zählen;
Weil sie den Führer nicht wählen,
Zählen sie alle zusammen keins.“
So giebt es auch heutzutage manchen Verbindungsstudenten, der, die Nebensache für das Wesentliche achtend, einzig von Band und Kappe angezogen und dabei erhalten wird, und der, kaum in’s Philisterium zurückgetreten, von dem Sockel seiner neuen staatsbürgerlichen Würde herablächelt über die unfruchtbaren Schwärmereien seiner einstigen Bundesbrüder.
Die junge Burschenschaft hatte auch die gutgemeinte, aber – um ein bischöfliches Wort zu gebrauchen – inopportune Absicht, das Duell abzuschaffen. Dadurch entstand, besonders weil zwischen Corps und Burschenschaften ewige Reibereien stattfanden, eine Art Verkehr, welcher von der poetischen Romantik Faustrecht, von dem nüchternen neunzehnten Jahrhundert „Holzcomment“ genannt wird. An Stelle des Rappiers trat der Ziegenhainer, an Stelle der Paukbude oder des bergenden Walddickichts trat die Gasse. Ein- und umsichtigere Studenten empfanden das Unzulängliche und Unwürdige dieses Wesens und suchten nach Vermittelung und Aenderung.
Um nun speciell auf Leipzig überzugehen, will ich mittheilen, daß dort im Jahre 1820 drei junge Leute studirten, deren Namen werth sind, in der gerade in jener Zeit so interessanten Geschichte des deutschen Studententhums genannt zu werden. Zwei von ihnen waren Juristen und Corpsstudenten und zwar „Lausitzer“; der Dritte war Theologe und Burschenschafter: Starke und von Schwartzbach die Ersteren, der Andere Müller (genannt Flauschmüller, von seinem wahrscheinlich einzigen Rocke, einem grauen Flausche). Starke, obwohl im Gegensatze zu seinem Namen von schwächlicher Körperconstitution und wenig geschickt im Gebrauche der Waffen, war in jener Zeit dennoch durch die Milde und Festigkeit seines Charakters eine fast allgemein anerkannte Autorität unter den Studirenden aller Parteien. Er hatte niemals Händel gehabt, kein noch so renommirender Fuchs wagte es, mit ihm zu „rempeln“. Hätte er aber einmal eine Beleidigung erfahren, so hätte die ganze „Lusatia“ wie ein Mann für ihn mit Freuden Partei ergriffen. Schwartzbach dagegen und Flauschmüller waren, wenn auch nichts weniger als Raufbolde, doch geachtete und gefürchtete Schläger, an denen sich Niemand ungestraft vergriff.
An der Spitze des akademischen Senats stand damals der mehrjährige Rector magnificus Haubold, ein ebenso gewiegter Jurist wie liebenswürdiger und allseitig geachteter Mann. Welches Vertrauen dieser zu seinen Studenten und im Besonderen zu dem Einflusse der oben genannten Drei auf dieselben hatte, das bezeugt folgender Vorfall, der auch im weiteren Sinne als ein Charakteristikum der Zeit gelten kann. Eine junge Freundin des Haubold’schen Hauses, an den berühmten Schauspieler Genast verheirathet, war selbst eine beliebte und gefeierte Schauspielerin. Das Genast’sche Ehepaar hatte in Leipzig verdiente Triumphe gefeiert und stand im Begriffe, die Stadt zu verlassen. Nun hatte Genast, übermüthiger Laune voll, an einem der letzten Abende sich einen improvisirten Witz erlaubt, durch welchen sich die ehr- und tugendsame Zunft der Kaufmannslehrlinge und Commis beleidigt fühlte. Dieselben rotteten sich daher zusammen und beschlossen, Rache zu nehmen für die angethane Kränkung, und zwar sollte solche durch ein demonstratives Zischen, Pfeifen und „Trampeln“ bei der Abschiedsvorstellung der Genaste in Scene gesetzt werden. Die Betheiligten aber erfuhren von diesem Vorhaben, und Frau Genast kam weinend und händeringend zu Haubold’s Tochter, um derselben ihre Noth zu klagen und bei ihr Trost, vielleicht auch Hülfe zu finden, wenn sie auch nicht wußte, wie.
Der nächste Trost war nun allerdings kein anderer, als daß Fräulein Haubold sich veranlaßt sah, ihre von weiblicher Mitleidenschaft sofort heraufbeschworenen Thränen der Familie zur Disposition zu stellen. Diese Beileidsbezeigungen erwiesen sich nicht als fruchtlos; denn von dem Geräusche der vereinten Seufzer wurden Se. Magnificenz, welcher sich in der Unterstube befand, herbeigerufen.
„Was giebt es denn so Lamentables, liebe Kinder?“ fragte Professor Haubold theilnehmend; „ihr thut ja so verzweifelt, als hättet ihr nichts mehr in der Welt zu hoffen.“
„Ach, lieber Vater,“ erwiderte die Tochter, noch immer mit den Thränen kämpfend „die Genast’s sollen morgen ausgepfiffen werden.“
„Ha, ha, das ist freilich eine schlimme Sache; aber wer will denn dieses Attentat begehen, und warum? Wie hängt die Geschichte zusammen? Sei ruhig, Auguste, und berichte, was Du weißt!“
Auguste nun, nämlich Frau Genast, nahm ihre ganze Fassung zusammen und erzählte die uns bereits bekannten Vorkommnisse, die allerdings für eine junge Schauspielerin nichts weniger als ermuthigend waren.
Den Schluß bildeten die sich wieder vereinigenden Anrufungen beider Damen, daß der Papa Rath und Hülfe schaffen solle.
„Von Herzen gern, meine Kinder,“ entgegnete Haubold, „aber ich weiß im Augenblicke in der That durchaus nicht, wie ich Euch helfen könnte. Doch will ich mir’s überlegen. Zunächst aber beruhigt Euch! Bis morgen Abend ist noch lange Zeit.“ Damit ging er in sein Studirzimmer zurück.
Es war kaum eine Stunde vergangen, so trat, wie allmorgenlich zur bestimmten Zeit zu geschehen pflegte, der Herr Universitätspedell Ludwig ein, Seiner Magnificenz über gehabte Aufträge zu berichten und etwaige neue in Empfang zu nehmen. Dieser erhielt unter anderen den Befehl, die Studenten Starke, Schwartzbach und Müller für denselben Tag Nachmittags drei Uhr zu dem gestrengen Herrn Rector zu citiren. Ludwig wußte genau, um welche Leute es sich handelte. Da aber schon damals viele Menschen auf den Namen Müller hörten und um seiner Sache sicher zu sein, erlaubte er sich zu fragen, welchen Müller Seine Magnificenz meine.
„Den Senior der Burschenschaft meine ich.“
„Ach so, den Flausch-Müller. Soll sofort geschehen, Magnificenz.“ Und er verschwand mit der malitiösen Hoffnung (eine Eigenthümlichkeit aller Pedelle), daß diese Citation wohl irgendwie mit dem Carcer in Berührung kommen würde.
Es hielt nicht schwer, die gesuchten Drei aufzufinden, und da sie Jeder für sich die Forderung erhalten hatten, so waren sie nicht wenig erstaunt, sich im Vorzimmer des Gestrengen so einmüthig zusammenzufinden. Natürlich ahnte keiner von ihnen den Grund der Vorladung. Aber da ein Studentengewissen selten so spiegelrein ist, daß nicht für mancherlei Befürchtungen darin Platz wäre, so stiegen auch in den Gemüthern dieser Biederen allerlei unangenehme Vermuthungen auf, welche aber im nächsten Augenblicke abgeschnitten wurden durch den augenscheinlich[WS 1] höchst wohlwollenden Blick, mit welchem Seine Magnificenz, aus der Thür seines Gemaches tretend, sie anschaute. Sie wurden höflichst ersucht, näher zu treten in sein Arbeitszimmer, sich zu setzen genöthigt, und darauf begann der Herr Rector:
„Meine werthen Herren! Ich habe Sie zu mir entbieten lassen, um mit Ihnen nicht als Rector, sondern als Lehrer und Freund eine zwar nicht amtliche, aber mich nahe angehende Sache zu besprechen. Sie kennen gewiß das liebenswürdige und tüchtige Schauspieler-Ehepaar Genast. Sie werden ferner wissen, daß Frau Genast meinem Hause befreundet ist. Gegen diese Beiden hat sich in Folge eines harmlosen Scherzes des Herrn Genast eine Verschwörung der Handlungsbeflissenen in hiesiger Stadt gebildet, welche in der morgen stattfindenden Abschiedsvorstellung jener Beiden zum Austrage gebracht werden soll. Ich hoffe, daß die Herren Studirenden im Stande sein und auch Lust dazu haben werden, ein öffentliches Aergerniß zu verhindern. Und da ich Ihr Ansehen unter der Studentenschaft kenne, so möchte ich Sie bitten, auf Mittel zu sinnen, wie auf eine anständige Weise ohne Scandalerregung mit Hülfe Ihrer Commilitonen jenem so geachteten Paare ein beleidigender Abschied aus unserer guten Stadt erspart bleiben könnte.“
Die Studenten waren hocherfreut über diesen ehrenvollen Auftrag. Abgesehen davon, daß sie selbst mehr oder weniger die allgemeine Sympathie für die jugendlich schöne Genast theilten, war ihnen das ein willkommener Anlaß, sich in corpore als eine noble Ritterschaft, als Vertheidiger des Rechts und der angegriffenen Unschuld zu zeigen. Sie sagten also freudigst zu und verabschiedeten sich alsbald, um die nöthigen Maßregeln zu treffen, nachdem sie noch die Zusicherung von achtzig Freibillets für unbemitteltere Commilitonen erhalten hatten. Mit der Schnelligkeit des guten Willens eilten sie von „Kneipe“ zu „Kneipe“ und warben Bekannte und Unbekannte, „Couleurstudenten“ und „Kamele“, am nächsten Abende in vollem „Wichse“ und mit Schlägern versehen im Theater zu erscheinen. Jedem Einzelnen wurde ein Billet, respective ein zu wählender Platz angewiesen; das Gros sorgte für Unterkommen in Sperrsitzen. Was nöthigenfalls zu thun sei, werde ihnen im entscheidenden Augenblick gesagt werden. Das war eine Gelegenheit, bei welcher die sonstigen Nullen die Berechtigung ihrer Existenz, ja ihre Bedeutung bekundeten.
Es giebt so ziemlich bei jeder Studentenverbindung gewisse Ehrenmitglieder, Freunde des Bundes, die man in jener Zeit „Renoncen“ nannte, [156] heutzutage heißen sie „Kneipschwänze“. Eine solche Renonce bei den Lusaten in Leipzig war damals ein junger Mann aus Dänemark, Graf L. Dieser, in weltlichen Formen gewandt und mit einer jeder Zeit schlagfertigen Zunge begabt, war vor allen Andern Feuer und Flamme für die Sache, zumal er im Haubold’schen Hause Gelegenheit gefunden hatte, sich nicht nur für die Schauspielerin, sondern auch für die Dame Genast zu erwärmen. Er erbat sich von seinen Freunden die Erlaubniß, im Theater noch vor Beginn der Vorstellung einige passende Worte zu reden, was ihm mit Freuden zugestanden wurde. Eine in liebenswürdigem Eifer angebotene studentische Ehrenbegleitung zum Theater hin hatte Frau Genast dankend und feinfühlig abgelehnt, um nicht als Mitwisserin weder ihres contra noch ihres pro zu erscheinen.
Der verhängnißvolle Abend erschien; in hellen Haufen zogen die Handlungsbeflissenen herbei. In Schaaren, wenn auch an Zahl geringer als Jene, zogen auch die Studenten zum Musentempel. Die Verschworenen merkten Unrath, aber man behandelte sich gegenseitig anständig und höflich. Die Platzvertheilung war gelungen.
Das Orchester war verstummt. Der Vorhang rollte eben auf; da erhob sich in der ersten Reihe der Sperrsitze Graf L., klopfte mit seinem Schläger ein paar Mal stark auf den Boden und stellte sich dann, das Gesicht dem Publicum zugewandt, auf den Sitz. Auf der Bühne mochte man wohl vorbereitet sein, denn die Scene blieb noch leer, und das Publicum, sowohl das nichts ahnende, wie auch das ahnende, erwartete mit Spannung, was da kommen sollte. Es war eine prächtige Erscheinung, die da stand, eine herculische Gestalt mit einem edlen Antlitz, das von nordisch-blonden Locken umwallt war. Nun hob der Jüngling den blitzenden Schläger hoch in die Höhe und begann:
„Meine geehrten Damen und Herren, ich bitte um einen kurzen Augenblick Gehör. Es ist heute der letzte Abend, an dem wir das Glück und die Freude haben, das verehrte Genast’sche Ehepaar in unserm Leipziger Stadttheater spielen zu sehen. Es wird im Verlaufe des Stückes eine Scene kommen – Sie kennen sie ja – in welcher Beide gemeinsam, und zwar nur sie Beide, auftreten. Ich schlage vor, da Sie gewiß Alle hier dankbar der genußreichen Stunden gedenken, die uns in diesen Räumen durch die Genast’s zu Theil geworden sind, und da Sie gewiß Alle sie ungern scheiden sehen, daß wir die angedeutete Scene benutzen, um denselben ein unverkennbares Zeichen unserer Huldigung darzubringen. Sollte Jemand dies für eine Beeinflussung seines Urtheils halten, so steht es ihm ja natürlich frei, zu schweigen – aber, meine Herrschaften (und hier machte er eine kurze, jähe Bewegung mit dem Schläger), frei steht es ihm nicht, eine gegentheilige Bemerkung zu machen, da wir – ich meine die versammelte Leipziger Studentenschaft – eine derartige Kundgebung nicht nur als gegen die Bühne, sondern auch gegen uns, die Freunde und Verehrer des Genast’schen Ehepaares, gerichtet ansehen würden.“
Nur wenige zaghafte Zischlaute wagten es, sich in die diesen Worten gespendeten Beifallsbezeigungen zu mischen, gingen aber darin unter.
Nun begann die Vorstellung; das Publicum lauschte mit Entzücken. In dem ganzen weiten Raume war es todtenstill. Als jene von dem vorher aufgetretenen Sprecher bedeutete Scene kam, warf derselbe mit Hülfe seines Schlägers einen Lorbeerkranz – wie man im Reifenspiel zu werfen pflegt – so geschickt auf die Bühne, daß er gerade zwischen Genast und seiner Frau zu liegen kam. Und indem diese, jedes mit einer Hand, denselben aufhoben uns sich dankend verneigten, rief der Studiosus von Schwartzbach mit lautester Stimme: „Vivant, crescant, floreant Genasti!“ Und die ganze Zahl der Commilitonen, ja, das ganze andere Publicum, mit Ausnahme der Verschworenen, stimmte begeistert mit ein. Die Letzteren aber, zum Theil eingeschüchtert, zum Theil wider ihren Willen mit fortgerissen von der Darstellung und der allgemeinen Bewegung und darüber ihren Groll vergessend, verhielten sich ruhig und anständig. Die gute Sache hatte vollständig gesiegt, zur Ehre aller Betheiligten, selbst der Besiegten. Frau Genast aber, nach Beendigung dieser Scene, saß in einem abgelegenen Winkel des dunklen Bühnenraumes und weinte Thränen der Rührung und der Freude. Die Ehre ist es werth, daß man um sie weint; um die verlorene in Schmerzen, um die wiedergewonnene in Freuden.
Die Vorstellung war beendet; in dem Haubold’schen Hause aber entwickelte sich nun ein äußerst fröhliches Nachspiel, wobei selbstverständlich das gefeierte Paar und die vier uns bekannten Matadore der Studentenschaft mitwirkten. Die Magnificenz waren ganz stolz auf die Studenten, die Genast’s aber konnten nicht müde werden, denselben zu danken.
„Mordskerle seid ihr,“ rief der glückliche Genast ein Mal über das andere, „wie sollen wir euch das vergelten? Das Beste, was ich habe, ist meine Frau. Wenn sie euch einen Kuß giebt, so seid ihr königlich belohnt. Was meinst Du, Frauchen?“
„Jedem?“ fragte diese schüchtern.
„Meinetwegen Jedem; sie können aber auch loosen um das Glück, das hoffentlich – gelt, Gustchen? – bis jetzt nur ich kenne. Notabene, wenn sie nicht freiwillig zurücktreten.“
Das Loos wurde geworfen, und der Glückliche war – Flauschmüller.
„Da seh’ mir einer die heilige Theologie,“ rief der Rector, indem er sich vergnügt die Hände rieb, „sie hat doch immer Glück bei den Frauen. Sollte sie nicht aber doch vor dieser innigen Berührung mit dem leichten Volke der Komödianten zurückschaudern?“
Hätte nun damals schon Eduard Lasker seine berühmte Rede am Jubiläum des Professor Twesten in Berlin gehalten, so hätte Flauschmüller, diesen copirend, sagen könne: „Bin ich nicht ein Träger der Ideale und Frau Genast auch?“
Statt dessen aber versicherte er sich zunächst seines Gewinnes, und nachdem er denselben auf’s Decenteste bei der jungen, schönen und ohne jegliche Ziererei ihm gewährenden Frau eingeholt hatte, sagte er nur in seiner den Freunden bekannten Art, gern in Citaten zu sprechen:
„Ein Kuß, den Lesbia mir giebt,
Das ist ein Kuß.“
Tempi passati!
Belgisches Städte-Mittelalter. (Mit Abbildung, S. 153.) Jeden Tag sieht man, daß in Europa so ziemlich überall, wo der Verkehrsstrom die Menschen mit sich fortreißt, das Alte, sobald es dem Neuen nicht mehr ansteht oder sich ihm gar in den Weg stellt, diesem weichen muß; je größer die Städte werden, desto kleiner wird die Pietät, welche früher Alles hütete, was den Altvordern lieb und theuer war oder als Denkzeuge stand für ein heimisches Ereigniß. Hat doch selbst Nürnberg, das mittelalterliche Schmuckkästchen des deutschen Reichs, vor diesem Zug der Zeit nicht bewahrt bleiben können. Es wird bald so weit kommen, daß man alte Städtebilder weit abseits von den Verkehrsstraßen suchen muß, wo dann nur Noth und Bedürfniß sie erhält, nicht die Pietät. – Gegenwärtig ist diese Suche nach Mittelaltersspuren in stillen Winkeln noch nicht nöthig; wir finden Einzelnes noch in den Städten modernsten Triebgeistes, wenn sie überhaupt im Mittelalter schon Wichtigkeit genug hatten, um mit baulichen Sehenswürdigkeiten sich auszurüsten. Jedenfalls ist’s aber schon jetzt geboten, derlei Ueberbleibsel der Vergangenheit, deren Vernichtung unausbleiblich ist, durch Abbildungen für die Nachwelt zu retten. Sie gehören zur Geschichte und sind nicht der geringste Beitrag zur Kunde der Vorzeit. Die „Gartenlaube“ hat mit solchen Mittheilungen längst begonnen und fährt mit der Abbildung aus dem „Belgischen Städte-Mittelalter“ nur damit fort.
Von den alten Städten Flanderns und Brabants zeichnen sich Gent, Brügge und Antwerpen durch wohlerhaltene alte Bauwerke aus ihren mittelalterlichen Glanztagen aus. Eine Zierde des alten Antwerpen ist in dem Stadttheile hinter dem Rathhause Alba’s Haus. Besonders stattlich tritt der schmucke Erker über dem massigen niedrigen Thore hervor, durch das so oft die finstere Gestalt des gefürchteten Spaniers geschritten. Die Spuren früherer Pracht sind noch erhalten; jetzt dient dasselbe als Museum für Alterthümer. – Nicht weniger malerisch sind die beiden Straßenbilder von Antwerpen mit ihren Thoren und Thürmen, hängenden Erkern und ragenden Giebeln, die in den engen äußeren Gassen nach oben sich immer näher kommen.
Gent und Brügge bieten Ausgezeichnetes in der Vereinigung von Resten mittelalterlicher Massenbauten neben der zierlichen Formenschönheit des gothischen und des Flamboyantstils, welch letzterer bekanntlich wegen seiner flammenartigen Ornamentik so genannt ist. In Gent gehören zu solchen Sehenswürdigkeiten die am Kai liegenden sogenannten Schifferhäuser. Als Gent noch, wie im fünfzehnten Jahrhundert, dreißigtausend Mann in’s Feld stellte und Karl der Fünfte von ihm, seinem Geburtsorte, sagte, „er könne ganz Paris in seinen Handschuh (gant) thun“, in jenen Glanztagen erstanden die Prachtbauten des Bürgerthums, des Staates und der Kirche, die jetzt der Hauptschmuck derselben sind. Unsere Illustration zeigt von Gent außer den Schifferhäusern mit ihrer reichen Abwechselung architektonischer Masseneintheilung, wo in steindurchbrochenen Pilasterwerken Fenster an Fenster sich in den verschiedenen Formen aneinander reihen und die Giebel voll Säulen- und Ornamentenschmuck hoch auftragen, – im obersten Felde noch ein Stück der Reste der Abtei St. Bavon (des Schutzheiligen der Stadt), eine Viertelstunde von Gent entfernt liegend. Noch an den Trümmern dieses Kreuzgangs erkennt man die Großartigkeit und künstlerische Vollendung, welche diesen Bau zu einer Berühmtheit ersten Ranges erhob. – „Niemals,“ sagt unser Künstler, „werde ich den zauberisch schönen Anblick vergessen, wie die scheidende Sonne ihre Strahlen durch wildes Gestrüpp und den Alles umrankenden Epheu, auf die vielgegliederten Säulen zwischen den hohen Bogen sendete, zitternde Blätterschatten, goldige Lichter werfend auf das morsche grau-grünliche Gestein, hinweg streifend über so viel wunderliche Heilige und Grabplatten, wie sie an den Wänden und am Boden herumlehnen und liegen.“
Noch tiefer, als Gent, ist Brügge von seiner einstigen Höhe gesunken. Die Stadt, welche im Mittelalter als Welthandelsplatz unermeßlich reich und als Flanderns Herzogsresidenz voll Glanz und Pracht war und über zweihunderttausend Bewohner in ihrem weiten Mauerkranze beherbergte, hat sich, seit ihrem Falle durch Antwerpens Steigen, noch nicht zu fünfzigtausend wieder erhoben. Darum muß man heute ihre alten festen Thore entfernt von der jetzigen Stadt, im Freien suchen, aber eben deswegen betrachten wir sie sie mit um so wärmerer Theilnahme. Eine dritte Darstellung aus Brügge führt uns vor das sogenannte alte Frankenschloß hinter dem Rathhause. Wie es, leicht und bizarr in seinen Contouren, mit seinen Erkern und Thürmchen aus dem Wasser aufsteigt, bietet es, nach unseres Künstlers Anschauung, vereint mit seiner Umgebung und dem massigen Thurme der Kathedrale im Hintergrunde, namentlich wenn dies Alles im Mondenlichte sich im Canal spiegelt, ein durchaus fremdes, einer anderen Zeit angehörendes Bild, entspricht also ebenfalls dem Charakter, welchen unsere gesammte Illustration zum Ausdrucke bringen will.
H. A. in K. Wiederholt haben wir zu erklären, daß von uns Prämien zur Gartenlaube nicht ausgegeben werden und daß, wo dies geschieht, es nur eine Beigabe der betreffenden Colporteure oder Buchhandlungen ist.
..... – L … s. Ihre Arbeit hat den Umfang eines Buches, nicht aber eines Journalartikels. Auch ist der Gegenstand derselben zur Behandlung in unserm Blatte ungeeignet. Verfügen Sie gefälligst über Ihr Manuscript!
B. S. in C. Ist als nicht verwendbar vernichtet worden.
Viborg. Unbrauchbar.
- ↑ Kunsthändler Reinhardt in Dresden hat dieses große aus siebenzig Prachtblättern bestehende Werk erworben, und seinem Kunstsinn und seiner Pietät für den Verstorbenen ist es gelungen, die Vervielfältigung desselben so trefflich ausführen und ausstatten zu lassen, daß das vollendete Kunstwerk als ein würdiges Denkmal des so früh Vollendeten begrüßt werden kann.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: augescheinlich