ADB:Twesten, Carl
August Detlev Christian T. († 1876), studirte in Heidelberg und Berlin (1838–41) die Rechte, wurde 1845 Assessor am Kammergericht, später Kreisrichter in Wittstock, 1855 Stadtgerichtsrath in Berlin. Von großen Gaben und überaus vielseitiger Bildung sowie von höchst trefflichem Charakter, zeigte er bald eine vorherrschende Neigung für die Politik. Er war auf den verschiedensten [35] Gebieten schriftstellerisch thätig, indem er über den Philosophen und Nationalökonomen August Comte (Preußische Jahrbücher 1859, S. 279–306), über die Rechtsverhältnisse der Mediatisirten, über Schiller in seinem Verhältniß zur Wissenschaft (Berlin 1863), den preußischen Beamtenstaat (Preußische Jahrbücher 1866, S. 1–38 und 109–147), Macchiavelli (Berlin 1868), über die religiösen, politischen und socialen Ideen der asiatischen Culturvölker und der Aegypter (herausgegeben von Lazarus, Berlin 1873, 2 Bde.) arbeitete. Diese Schriften verrathen vor allem gründliche philosophische und nationalökonomische Schulung, ferner einen feinen historischen Sinn und tüchtige rechtswissenschaftliche und litterarische Bildung. Durchaus modern veranlagt, baute er mit Vorliebe Gebiete an, auf welchen die zünftige Wissenschaft später die umfassendsten Studien unternahm. Alle seine Schriften zeichnen sich durch Gefälligkeit der Darstellung und Gedankenreichthum aus, nur lassen sie etwas die Klarheit der Disposition vermissen. Vielfach blickte die liberale Grundrichtung durch, in deren Vertretung er seine Lebensaufgabe finden sollte. Zum ersten Mal nahm er öffentlich zu der Tagespolitik Stellung in der kleinen wenig beachteten Flugschrift „Woran uns gelegen ist“ (1859). Ganz anders wirkte seine im April 1861 geschriebene berühmte Broschüre: „Was uns noch retten kann. Ein Wort ohne Umschweife“, die mit den Worten Luther’s „Aergerniß hin, Aergerniß her!“ als Motto in Berlin bei Guttentag 88 Seiten stark erschien. Sie wies auf die von Napoleon drohende Gefahr und verglich die damalige Lage mit der vor 1806, behauptete, daß Preußen sich in einem vitiösen Zirkel befände, Preußens Beruf wäre, der weiteren Vergrößerung Frankreichs Widerstand zu leisten, eine Vermehrung des Heeres würde dabei aber nichts helfen, so lange das innere Lebens des Staats kranke, die Regierung besäße kein Vertrauen, weder im In- noch im Auslande. Eingehend wandte der Verfasser sich dann zu einer überaus scharfen Kritik des Herrenhauses und des Militärcabinets mit persönlicher Spitze gegen den Chef des letzteren, den Generalmajor Freiherrn Edwin v. Manteuffel. „Wird es auch bei uns einer Schlacht von Solferino bedürfen, einen unheilvollen Mann aus einer unheilvollen Stellung zu entfernen?“ fragte er (S. 81). Bestimmte Angaben über das, was Preußen retten könnte, machte er nicht, wenn anders nicht die Kriegstreibereien bei Verweigerung der Heeresvergrößerung ernst zu nehmen waren. Düster schloß die schroff oppositionelle, aber doch patriotische Schrift: „Im Lande wird die Stimmung mehr und mehr allgemein, daß wir hoffnungslos und rettungslos dem Verderben entgegen wanken.“ Heißblütig, wie er war, hatte T. alles auf die Spitze getrieben und war nicht vor Wendungen zurückgeschreckt, die in einer Zeit, in der man gegen solche Angriffe noch nicht abgestumpft war, beleidigend wirken mußten. Bei dem großen Aufsehen, das die Schrift erregte, und in seiner hervorragenden Stellung sah sich der am meisten angegriffene Manteuffel veranlaßt, den ungenannten Verfasser nach der Urheberschaft zu fragen, ihn zum Widerruf aufzufordern, und als T. dies ablehnte, ihm zum tiefen Kummer seines Königs durch den General Hiller v. Gärtringen eine Forderung zu überschicken. T. nahm, im Gegensatz zu manchem anderen liberalen Wortführer in ähnlicher Lage, an. Der Zweikampf fand am 27. Mai statt, Twesten’s Kugel ging dem General dicht am Kopf vorüber. Manteuffel bot ihm nun unter ehrender Anerkennung seines mannhaften Verhaltens Ausgleich an, T. lehnte aber jede Zurücknahme seiner Worte ab, Manteuffel zerschmetterte ihm darauf den rechten Arm. Nachher bot er ihm die Hand; T. gab ihm die Linke: „er möchte entschuldigen, daß es nicht die Rechte wäre, aber dies habe er ihm unmöglich gemacht.“ Durch jene Broschüre und die folgenden Ereignisse wurde T. mit einem Schlage einer der volksthümlichsten Männer im Lande und im Herbst, zunächst von Berlin, in das Abgeordnetenhaus geschickt. [36] Dort wurde er bald einer der Führer der Fortschrittspartei, wozu ihn seine politische Sachkenntniß, seine mannichfache Bildung und seine Rednergabe in hohem Maße befähigten. Der Heißsporn sollte sich während dieser parlamentarischen Wirksamkeit nicht verleugnen. Sachlich und formell getieth er dadurch oft auf falsche Wege, vor allem aber bereitete er sich selbst auf diese Weise viel Aufregung und Verdruß. Die meist besprochene Angelegenheit, in die er dadurch verwickelt wurde, war ein Conflict mit den Justizbehörden über die parlamentarische Redefreiheit, den er seit dem 20. Mai 1865 lange Jahre durchzukämpfen hatte. An jenem Tage griff er das Justizministerium in der maßlosesten Weise an. Er äußerte mit Bezug auf die Justiz: „Wir sind nicht dazu da, um Illusionen aufrecht zu erhalten, deren Behauptung allmählich zur Heuchelei wird“, die Entscheidungen des Obertribunals wären der unverfälschte Ausdruck einer politischen Richtung, er sprach von einer Präventivjustiz und behauptete: „Das Unrecht hat alle Scham verloren.“ Der Justizminister Graf Lippe versetzte ihn wegen dieser Angriffe im Einverständniß mit Bismarck in Anklagezustand, obwol dies ein Eingriff in die parlamentarische Redefreiheit war und die Sache der Regierung hierdurch nur verschlimmert wurde. T. wurde in zwei Instanzen freigesprochen; jedoch verwies das Obertribunal den Proceß zu erneuter Verhandlung in die erste Instanz zurück. Seine Volksthümlichkeit wuchs dadurch nur noch; und das Ministerium Bismarck-Lippe förderte durch jene offenbare Rechtsbeugung seine Beliebtheit nicht. Freilich war es eine noch größere Rechtsbeugung, wenn das Abgeordnetenhaus und mit ihm T. in erster Linie (10. II. 1866) den Beschluß des Obertribunals vom 29. Januar 1866, durch welchen die Erhebung der Anklage gegen T. und noch einen Abgeordneten (Frentzel) für zulässig erklärt wurde, für verfassungswidrig erklärte und sich damit die oberste richterliche Gewalt anzumaßen suchte. Danach wurde Kammerjustiz über die geordnete Rechtsprechung gesetzt, was geradezu an den französ. Convent erinnerte. Zum Glück konnte das Abgeordnetenhaus in seiner Ohnmacht seinen Beschlüssen keine praktische Folge geben. Nach seiner endgültigen Verurtheilung schied T. aus dem Justizdienst (1868) und nahm eine ihm von der Berliner Stadtverwaltung angebotene Stellung an. Seine parlamentarische Haltung war ursprünglich schroff oppositionell gegen die Heerespolitik und später gegen das Ministerium Bismarck. Aber schon in der schleswig-holsteinischen Frage begann er einzulenken. Der geborene Kieler verfolgte begreiflicherweise den Gang der Dinge auf der jütischen Halbinsel mit besonderer Aufmerksamkeit. Sein warmer deutsch-nationaler Patriotismus blickte aus allen den Reden, die er in dieser Sache gehalten hat, nicht ohne allerdings manchen heftigen Vorstoß gegen Bismarck zu unternehmen. Als der Ausschuß der 36 auf den 1. October 1865 nach Frankfurt einen deutschen Abgeordnetentag einberief, um Protest gegen Bismarck’s Meisterwerk, den Gasteiner Vertrag, durch den die Verwaltung Schleswigs an Preußen, Holsteins an Oesterreich kam, einzulegen, stand T. an der Spitze der preußischen Parlamentarier, die ablehnten, mit der Begründung, die Mehrheit der preußischen Volksvertretung würde niemals Beschlüssen zustimmen, welche die Macht und Zukunft Preußens beeinträchtigten, eine Erklärung, die einen französischen Diplomaten zu dem Ausspruch veranlaßte: „In jedem Preußen steckt doch ein Stück vom alten Fritz.“ Als 1866 der Erfolg gegen die liberale Obstructionspolitik entschieden hatte, trat T. aus der Fortschrittspartei aus und gründete am 17. November im preußischen Abgeordnetenhause die sogenannte „nationale Partei“, die gleich darauf bei Eröffnung des norddeutschen Reichstages den treffenderen Namen der „nationalliberalen“ annahm. Er selbst wurde in den Vorstand gewählt. Schon vorher war er einer der Hauptbefürworter der Indemnitätsertheilung. Später äußerte er sich über seine Schwenkung: „Wir haben die Reorganisation der Armee bis 1866 bekämpft. Nach 1866, glaube ich, daß nicht wir allein, [37] sondern auch die ungeheure Majorität des Volks der Ueberzeugung ist, daß diese Reorganisation unwiderruflich feststeht.“ Das Verlangen der Regierung, daß ein Staatsschatz angelegt würde, wurde von ihm (1866) für unvereinbar mit den Grundsätzen einer parlamentarischen Verfassung bezeichnet, doch wollte er im Hinblick auf die großen Aufgaben der nächsten Zeit der Bewilligung nicht entgegen sein; was jedoch bis zum 1. Januar 1870 nicht durch Kriegsausgaben verbraucht sei, wollte er zur Tilgung der Staatsschulden verwendet wissen. Von diesem Zeitpunkte an dürfe kein todtliegender Schatz mehr geduldet werden. Der Krieg von 1870/71 zeigte, wie wenig stichhaltig sein Standpunkt war. So sehr er Bismarck’s Verdienste um die auswärtige Politik anerkannte, so glaubte er ihm doch ausdrücklich „einen bedauernswerth geringen Sinn und Verständniß für Fragen der inneren Politik“ nachsagen zu müssen. Zu seinen ständigen Forderungen gehörte bei der Berathung der Verfassung des norddeutschen Bundes, um deren Zustandekommen er sich wesentliche Verdienste erwarb, die Einrichtung verantwortlicher Bundesministerien, die dem unbeugsamen Widerstande des leitenden Staatsmannes begegnete. Die Vollendung des Einigungswerkes sollte er nicht mehr erleben. Am Jahrestage der Schlacht von Jena raffte ihn im großen Jahre 1870 ein früher Tod hinweg. Seine politische Wirksamkeit stellt einen großen Irrthum dar. Er besaß indeß die bemerkenswerthe Gabe, sich auf den Boden der Thatsachen zu stellen. Seine hochpatriotische Gesinnung und Empfindung, sein ritterlich-anständiger Charakter und seine reiche Bildung machen Twesten’s Persönlichkeit zu einer der anziehendsten, lichtvollsten unter den Vertretern der liberalen Partei, die allen Grund hat auf ihn besonders stolz zu sein.
Twesten: Karl T., preußischer Parlamentarier, geboren zu Kiel am 22. April 1820, † zu Berlin am 14. October 1870, Sohn des bekannten Theologen- Die angeführten Schriften Twesten’s. – Parlamentsberichte. – Die Zeitungen (Vossische und Kreuz-Zeitung) über das Duell T.-Manteuffel. – Herbst, Encyklopädie. – v. Sybel, Begründung d. Deutschen Reiches. – Robolsky, Der deutsche Reichstag. – O. Bähr, Die Redefreiheit der Volksvertretung und der Proceß Twesten (Preußische Jahrbücher, 1868). – K. H. Keck, Das Leben des Generalfeldmarschalls Edwin v. Manteuffel. Bielefeld und Leipzig 1890.