Die Gartenlaube (1875)/Heft 8
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No. 8. | 1875. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennige. – In Heften à 50 Pfennige.
Landeck stand und lauschte, elektrisirt, außer sich, wie an den Boden gefesselt, und doch mit unwiderstehlicher Macht gezogen, zu ihr hin zu eilen, ihr zu Füßen zu stürzen, ihr in flammenden Worten zu sagen, wie grenzenlos er sie liebe und wie er sein Leben dahin geben möchte für sie … da hielt sie plötzlich im Gesange inne und erhob sich rasch. Landeck trat hastigen Schrittes in den Salon, die tiefste Erregung in den Zügen. Malwine stieß einen leisen Schrei der Ueberraschung aus, auch ihre Augen blitzten wunderbar auf, und ihm entgegenfliegend warf sie sich an seine Brust.
„Gott sei gelobt!“ rief sie aus, „Sie bringen mir Rettung. Sie haben gesiegt, gesiegt – ich sehe es an Ihrem flammenden Gesichte. Sie haben mich befreit, Landeck, Sie … Sie …“
Und dabei drückte sie ihn stürmisch an sich.
Landeck stand wie vom Blitze getroffen, in unendlicher Seligkeit, daß das Weib, welches er liebte, so ihre Gegenliebe verrieth und voll Hingebung in seinen Armen lag, aber zugleich auch voll tödtlicher Beschämung. Er hatte ja gar nicht gesiegt; er hatte ja das Versprechen, das er ihr gegeben, als er zuletzt von ihr gegangen, noch nicht im Entferntesten erfüllt. Er hatte nicht einmal eine Vorstellung davon, wie er es erfüllen könne. Er hatte auch nicht das Mindeste gethan, um solche Dankbarkeit, solche Liebe, solch eine stürmische Hingabe zu verdienen. Er fühlte sich vernichtet, grenzenlos gedemüthigt durch Malwinens Wort, und durch den Ausbruch ihres Gefühls für ihn, in dem ja allein der Schlüssel zu dieser stürmischen Vertrauensseligkeit lag, wieder ebenso grenzenlos glücklich.
Er wußte nichts zu thun, als leise, scheu ihren Scheitel zu küssen – dann, seinen Arm um sie schlingend, sagte er halblaut:
„Malwine, Sie machen mich so selig, daß ich sterben möchte mit diesem Glücke im Herzen, dann brauchte ich Ihnen ja auch nicht das furchtbar demüthigende Geständniß zu machen, daß Sie sich irren, daß ich bis zu dieser Stunde nichts thun konnte, um …“
Sie fuhr wie von einer Schlange gestochen zurück.
„Daß Sie nichts thun konnten, nichts gethan haben,“ rief sie aus, „um mich aus der Lage voll Schrecken und Angst, in der ich bin, zu befreien, um dieser unerträglichen Empörung wider meine eigene erbärmliche Schwäche und Unvorsichtigkeit ein Ende zu machen, um mich endlich wieder aufathmen zu lassen? Sie haben nichts dazu gethan? … Und Sie stürzten doch von mir fort mit dem heiligen Schwure, mich retten zu wollen …“
Betroffen über diesen heftigen Vorwurf, der nun doch wieder so ungerecht war, stammelte er:
„Das will ich ja auch, gewiß will ich diesen Schwur halten, und der Himmel wird mir beistehen dazu. Für’s Erste handelt es sich aber nicht um das, was ich thun kann, sondern um etwas, das Sie thun sollen, um Ihre Hülfe und Dazwischenkunft; ohne die Ihr Vetter Rudolph verzweifeln muß. Sein Vater hat Alles erfahren, und sein Vater wird einen Schlaganfall bekommen, wenn …“
Malwine hatte sich längst abgewandt. Sie hatte sich wankenden Schritts zum Sopha zurückbegeben, und darin wie kraftlos zusammengesunken, drückte sie ihr bleich gewordenes Gesicht in die Kissen.
„Wenn,“ fuhr Landeck fort, „Sie nicht Hülfe bringen, wenn Sie nicht zu dem alten Manne gehen und ihm die Ueberzeugung geben, daß Rudolph nicht so schuldig ist, wie er glaubte –“
Malwine machte heftig und wiederholt eine abwehrende Bewegung mit der Hand.
„Gehen Sie, gehen Sie!“ schluchzte sie, „ich will Sie nicht wiedersehen. Ich kann den Ton Ihrer Stimme nicht hören. Verlassen Sie mich!“
Landeck stand wie an den Boden geheftet. Er fühlte ein furchtbares Unrecht, das ihm angethan wurde, fühlte sich in der Höhe seines plötzlichen Glückes eben so plötzlich niedergeschmettert; daß das Gefühl der Beschämung in Malwine sich so herrisch und so verwundend an ihm ausließ, daß ihre Thränen die eines mit sich selbst unzufriedenen Kindes waren, wußte er im Augenblick nicht zu deuten, nicht zu verzeihen; es empörte ihn.
„Ich gehe ja,“ rief er aus, „und Sie können sicher sein, daß Sie mich nicht wieder sehen, bevor ich mein Gelübde gelöst habe, aber denken Sie an das, was ich Ihnen über Rudolph sagte, denken Sie an Rudolph, haben Sie mit ihm wenigstens Barmherzigkeit!“
Malwine antwortete nur durch eine abermalige, aber schwächere, langsamere Bewegung der Hand, ein wiederholtes Fortwinken.
Landeck ging. Er schritt die Verandastufen hinab, durch die Anlagen der Eichenallee zu, in einer schwer zu beschreibenden [126] Erregung und einer Spannung seines Wesens, die sich jetzt vollauf bis zum Unerträglichen steigerte. Nach allen Seiten hin war es bis zu dem Punkte gekommen, wo die Lösung gefunden, die Klärung der Lage herbeigeführt werden mußte, wo Tod und Leben von dem Ausgange des Conflicts abhingen. Rudolph, so direct als Verbrecher beschuldigt, mußte sich in Escher’s Augen rechtfertigen. Der alte Gotthard mußte eine beruhigende Aufklärung erhalten, sollte der Kummer über den Sohn, an dem sein ganzes Herz gehangen, und in welchem allein er zu leben schien, den unglücklichen Mann nicht tödten. Malwine mußte von der Angst, womit ihr Bedränger sie erfüllte, gerettet werden, oder Landeck hatte zu befürchten, daß sie, die zu raschen und rücksichtslosen Entschlüssen sicherlich leicht genug zu bestimmen war, in dieser Angst und in der Beschämung über ihre stürmisch kundgegebene Neigung die Flucht ergreifen und ihm auf immer entschwinden würde; für ihn selbst handelte es sich ja jetzt um seine Ehre, um seine Wiederherstellung in Malwinens Augen und somit auch um sein ganzes Lebensglück. Er mußte eine Lösung finden, mußte sie ohne Zögern finden.
Aber wie sie finden? Durch die Macht des Rechts und der Wahrheit, die hinter ihm standen? Was war bei einem Menschen wie Maiwand damit zu erreichen, so lange er ohne weitere Waffen ihm gegenübertrat! Und mit andern Waffen ihm gegenübertreten, ihn im Duell tödten, das half noch weniger. Es verschlimmerte ja nur die ganze Lage und machte sie heillos. Mit Gewalt von dem Elenden erzwingen, was man von ihm verlangte, das war Rudolph’s Plan gewesen, ein Plan der Verzweiflung, aber chimärisch; er konnte am Ende dahin führen, daß Maiwand sich, als der angegriffene, gefährdete, zu keiner Schonung mehr verpflichtete Theil, offen als Feind erklärte und von den Mitteln, die er nun einmal zum Unglück besaß, Gebrauch machte, um Malwine zu bedrängen. Und konnte denn List und Klugheit helfen, Verschlagenheit dem verschlagenen Menschen gegenüber? Freilich, sie am ersten, wenn nur Landeck nicht solch eine bemitleidenswerthe reine Seele gewesen wäre, der List und Verschlagenheit so fern lagen, daß es ihm stets mißlungen war, nur die geringste Nothlüge hervorzubringen! Und doch, eine Lüge, eine freche, mit der kühnsten Energie auftretende Lüge konnte helfen, und in dem Augenblick, wo dieser Gedanke über Landeck kann, war er auch entschlossen, sie zu gebrauchen.
Er ging zum Schlosse zurück, diesmal der Gesindestube, die durch eine Seitenthür in’s Freie führte, sich zuwendend. Dort fragte er nach Herrn von Maiwand. Dieser war am heutigen Vormittag nicht wie gewöhnlich nach Haldenwang herausgekommen. Also mußte er in seiner Wohnung beim Pfarrer im Dorfe sein. Landeck trat unverdrossen seine Wanderung dahin an. Er fühlte nach all den Gängen an diesem Tage nichts von Ermüdung. Er schritt vorwärts, rastlos vorwärts, alles Sinnen und Denken nur auf das, was er beschlossen hatte, concentrirend, jeden Gedanken, der seine Energie hätte lähmen können, jedes Bedenken wider die List, die Lüge, welche er zu seinem Mittel machen wollte, mit Gewalt von sich abweisend. Er fühlte dieses Bedenken, die Beklommenheit darum schwer genug auf der Brust liegen, aber bis zu seinem Haupte, bis zur lähmenden Besinnung und Erwägung sollte das Bedenken nicht kommen. Die frische Farbe der Entschlossenheit sollte nicht durch des Gedankens Blässe angekränkelt werden. Er wollte es nicht und wäre es ein Verbrechen gewesen, was er beging, er wollte es ausführen, um all der Pein und Qual um sich her und in sich ein Ende zu machen.
So gelangte er zum Pfarrhofe, in dem Maiwand wohnte. In den Gängen des Gartens sah er über die Hecke fort den Pfarrer an der Seite des Doctor Iselt auf- und abgehen. Beide in lebhaftem Gespräche miteinander; der Arbeiterstrike gab ja überall jetzt den Leuten den ausgiebigsten Gesprächsstoff.
Er trat in’s Haus und in die geräumige Küche, in der eine am Feuer beschäftigte Magd ohne weitere Anmeldung ihm die Thür zu Maiwand’s Zimmer öffnete. Dieser saß in seinem Schlafrocke hinter Büchern und Rechnungen, mit deren Controlle und Eintragung er beschäftigt war. Er schien ruhig seines Amtes als Malwinens Oberrentmeister zu walten. Langsam hob er den Kopf. Seine Züge zogen sich eigenthümlich zusammen, als er Landeck vor sich treten sah. Ohne ein Wort zu sprechen, ohne sich zu erheben, lehnte er sich in seinen Armstuhl zurück und blickte Landeck schweigend an.
„Sie finden es ein wenig tactlos, Herr von Maiwand,“ sagte dieser, sich zur äußersten Ruhe und einem völlig unbefangenen Ton zwingend, „daß statt meiner Zeugen, welche Sie erwarteten, ich selber bei Ihnen erscheine …“
„Freilich!“ versetzte Maiwand in einem Tone verächtlicher Lässigkeit.
„Aber ich dachte, daß wir unseren Streit am besten so beilegen. Ich bedaure diesen. Ich wünsche nicht, mich mit Ihnen zu schlagen, und deshalb komme ich, um Ihnen die Genugthuung zu geben, die Sie als Edelmann verlangen können. Ich gebe Ihnen die offene Erklärung, daß ich vorschnell, ohne Kenntniß der Sache und der Natur des zwischen Ihnen und Herrn Rudolph Escher entstandenen Streites meine Forderung ausgesprochen habe und sie zurücknehme. Sind Sie damit zufrieden?“
Eine boshafte Freude blitzte in Maiwand’s Augen auf.
„Ich finde diesen Schritt von Ihrer Seite nur sehr verständig und weise, Herr Landeck,“ versetzte er mit einem überlegenen Lächeln. „Es haben sich Leute, welche besser als Sie mit den Waffen umzugehen wußten, besonnen, bevor sie sich mit mir schlugen. Eine andere Frage ist es jedoch, ob ich mit der Genugthuung, welche Sie bieten, zufrieden bin. Diese Erklärung zwischen vier Wänden und unter vier Augen kann mir nicht genügen. Ich müßte sie da verlangen, wo Sie Ihre, wie Sie bekennen, sehr unmotivirte Beleidigung ausgesprochen haben, an derselben Stelle …“
„Ich verstehe, in Haldenwang, in Gegenwart der Frau von Haldenwang wohl gar,“ fiel Landeck bitter lächelnd ein; er mußte im Stillen die Geistesgegenwart des Mannes anerkennen, der sofort der Sache eine solche Wendung zu geben suchte, daß dadurch Landeck in Malwinens Augen feig und verächtlich erscheinen mußte. „Ich wäre auch damit einverstanden, Herr von Maiwand,“ erwiderte er, „wenn dem sich nicht ein sehr großes und entschiedenes Hinderniß in den Weg stellte.“
„Und das Hinderniß wäre?“
Landeck, den Maiwand bisher, ohne ihm einen Sitz anzubieten, vor sich stehen lassen, wandte sich, um sich einen Stuhl herbeizuholen, stellte ihn neben den Tisch, an dem sein Gegner saß, und, nachdem er sich gesetzt und Hut und Handschuhe abgelegt, zog er ruhig sein Cigarrenetui hervor.
„Nun,“ fragte Maiwand, ihn mit einiger Verwunderung ansehend, „es scheint, Sie halten, ein wenig voreilig, den Frieden bereits für geschlossen?“
„So sehr,“ entgegnete Landeck, „daß ich Sie um ein wenig Feuer bitte.“
Maiwand schob ihm lässig ein Feuerzeug zu.
„Wollen Sie jetzt die Gewogenheit haben und auf das Hinderniß zurückkommen?“ sagte er dabei.
„Das Hinderniß? Gewiß!“ versetzte Landeck, und nachdem er seine Cigarre in Brand gesetzt, fuhr er fort:
„Das Hinderniß besteht darin, daß Sie nicht nach Haldenwang zurückkehren werden, Herr von Maiwand, also nicht davon die Rede sein kann, daß wir dort Erklärungen austauschen. Sie müssen deshalb schon mit meiner jetzigen unter vier Augen vorlieb nehmen.“
„Daß ich nicht nach Haldenwang zurückkehren werde?“ fragte mit halb verwundertem, halb verächtlichem Lächeln Herr von Maiwand.
„So sagt’ ich.“
„Daß Sie es sagten, hört’ ich – ich möchte vernehmen, weshalb Sie es sagten.“
„Sie werden nicht dahin zurückkehren, weil Frau von Haldenwang es nicht wünscht und Ihnen dies durch mich ausdrücken läßt.“
„Ah!“ lachte Maiwand gezwungen auf, „eine sehr naive Botschaft, welche Sie da übernommen haben. Sie haben mich bei Ihrem Eintreten hier allerdings nur ein wenig an Ihrem Tacte zweifeln lassen; jetzt, gesteh’ ich Ihnen, muß ich an Ihrem Verstande zweifeln …“
„Bitte, Herr von Maiwand! Wir haben eben, denk’ ich, [127] einen Grund, uns in einem Duell die Hälse zu brechen, aus der Welt geschafft – vermeiden wir es, uns einen zweiten, neuen zu schaffen! Frau von Haldenwang hat mir die Botschaft übertragen, und es wird Ihnen sowohl der Inhalt derselben, wie der Umstand, daß ich sie Ihnen überbringe, wie der fernere, daß ich dafür sorgen werde, daß Sie den Willen der Dame respectiren, es wird Ihnen das Alles weniger naiv erscheinen, wenn ich Ihnen sage, daß Beides sich durch meine Verlobung mit Frau von Haldenwang erklärt. Frau von Haldenwang ist seit einer Stunde meine Braut. Doch hat sie mir zur Bedingung gemacht, daß ich, um rund herauszureden, sie vor jeder weitern Begegnung mit Ihnen schütze und Sie bewege, baldmöglichst von hier zu verschwinden. Ich hoffe, Sie sind klug, Sie sind Menschenkenner genug, sich zu sagen, daß man, wenn man sich dadurch die Hand einer solchen Frau erkauft, eine solche Bedingung ausführt, ausführt mit all’ der Energie, Kraft und Entschlossenheit, deren ein Mann nur irgend fähig ist.“
„Pest – Sie – Malwine Ihre Braut?!“ sagte Maiwand, ihn anstarrend, als ob er einen Geist sähe, und dann aufspringend, um sich doch gleich wieder niederzulassen, rief er aus: „Das ist eine verdammte Lüge, oder wenn es keine ist, dann gnade Gott ihr und Ihnen …“
„Daß es keine Lüge ist, Herr von Maiwand, sehen Sie daraus, daß ich im Stande bin, Ihnen hier die Mittel zu Ihrer Abreise zu übergeben, zu Ihrer Existenz in den nächsten Monaten.“
Landeck holte seine Brieftasche hervor, nahm daraus die Banknoten, welche ihm vorhin der Briefträger gebracht, und legte sie vor sich auf den Tisch.
„Es sind fünf Hundertthalerscheine,“ sagte er, „Sie begreifen, daß ich sie nicht von dem Gehalte, welches Herr Escher mir gewährt, habe ersparen können …“
Maiwand richtete jetzt seine wild aufflammenden Blicke darauf.
„Und mit diesem Bettel gedenkt man mich abzukaufen? Wirklich und wahrhaftig glaubt man, mich damit loszuwerden?“ rief er, gezwungen auflachend.
„Man würde das allerdings,“ versetzte Landeck ruhig und seine Augen festen und entschlossenen Blicks nicht von denen Maiwand’s abwendend, „man würde es für genügend halten, wenn man sich mit Ihrer bloßen Abreise begnügen könnte. Das ist aber leider nicht der Fall. Sie haben Frau von Haldenwang zu einem juristischen Geschäfte verleitet, welches sie in die unangenehme Lage bringt, gegen Sie den Schutz der Gerichte anrufen zu müssen. Das ist ihr in hohem Grade unangenehm, und um dies überflüssig zu machen, hat sie mich beauftragt, mit Ihnen über den Preis zu verhandeln, den Sie verlangen, zuerst für einen Revers, welcher Frau von Haldenwang sicher stellt, und sodann für einen Schein, worin Sie erklären, aus der Rudolph Escher anvertrauten Casse vor ein paar Jahren die Summe von neuntausendfünfhundert Thalern mit dem unwahren Vorgeben entnommen zu haben, es sei für Herrn von Haldenwang und werde am folgenden Tage zurückgebracht werden. Auch diesen Schein werden Sie ausstellen, wogegen ich Ihnen die Erklärung auf Ehre und Gewissen geben werde, daß dieser Schein niemals gegen Sie gebraucht werde, daß er binnen der nächsten zweimal vierundzwanzig Stunden von mir verbrannt werden soll.“
„Immer besser,“ lachte nun, nachdem er anfangs Landeck ganz überrascht angestarrt hatte, Maiwand wieder auf, „immer besser! Ist das Alles?“
„Was wir wünschen, ja; sagen Sie nur, was Sie als Preis dieser zwei Schriftstücke verlangen. Ich werde Ihnen denselben ebenfalls schriftlich zusichern, vorausgesetzt, Sie halten sich in den Grenzen der Bescheidenheit.“
Maiwand war wieder aufgesprungen. Er hatte dabei, einen Fluch murmelnd, den Sessel zur Seite geschleudert und rannte jetzt im Zimmer auf und nieder.
„Was ich Ihnen von dem Allen gewähren will, Herr Landeck? Eine Kugel, die ich Ihnen in’s Hirn jagen werde.“
„Möglich! Falls Sie mir vom Officiercorps Ihres früheren Regiments ein Zeugniß bringen, daß Sie noch satisfactionsfähig, werde ich mich nicht weigern können, mich mit Ihnen zu schlagen. Ich werde dann entweder Sie erschießen oder Sie mich; im letzteren Falle werden Sie Frau von Haldenwang nicht angenehmer werden. Ich darf sogar annehmen, daß sie dann Alles aufbieten wird, um mich an Ihnen zu rächen. Ein Duell bietet Ihnen also weder in dem einen Falle, noch im anderen einen erheblichen Vortheil. Ich kann Ihnen nur rathen, meinen Vorschlag anzunehmen und mir eine Summe zu nennen, für welche Sie sich zu dem bequemen, was wir wünschen. Wenn nicht, nun wohl, so nehme ich diese Banknoten wieder an mich, und wünsche Ihnen guten Tag, Herr von Maiwand. Ich werde dann in die Stadt hinüberwandern und den Justizrath beauftragen, gerichtlich Ihre Einwilligung zur Lösung jenes Contractes, zu dem Sie Frau von Haldenwang verführt haben, zu erzwingen; es wird das rasch und leicht thunlich sein, da der Beweis, daß Sie nie die Absicht, das heißt die Möglichkeit hatten, Haldenwang zu kaufen, bald erbracht ist.“
Landeck war auch aufgestanden und hatte kaltblütig die Banknoten wieder an sich genommen; so stand er und folgte mit beobachtendem Auge den Bewegungen des wie ein wüthendes Thier im Käfig auf- und abschreitenden Gegners.
„Ich weiß nicht,“ rief dieser mit einem Fluche aus, „was mich abhält, Sie zum Fenster hinauszuwerfen, Sie zu erwürgen.“
„Vielleicht der Gedanke, daß es Ihnen nicht gelingen würde,“ sagte Landeck, ruhig die Arme über die Brust verschlingend; „vielleicht auch die Ueberzeugung, daß es Ihnen durchaus nichts helfen würde, daß Sie sich in Ihr Schicksal ergeben müssen. Diese Ueberzeugung ist es ja eben, was Sie so in Wuth versetzt.“
Maiwand stampfte mit dem Fuße; er machte, indem er jetzt Landeck sein Gesicht zuwandte, einen entsetzlichen Eindruck. Seine Züge waren verzerrt, seine halbzusammengekniffenen Augen wie mit Blut unterlaufen.
„Heben Sie sich fort von hier, oder ich werde zum Mörder an Ihnen!“ schrie er, „fort – oder …“
„Es scheint mir,“ sagte in diesem Augenblicke eine dritte Stimme, „die Verhandlung ist an einem Punkte angekommen, wo ein Dritter als friedenstiftender Obmann nöthig wird.“ Es war Doctor Iselt, der plötzlich aus einer Seitenthür trat.
Landeck athmete, obwohl er seines Sieges gewiß war, doch erleichtert auf; er ahnte in Iselt einen guten Bundesgenossen. Maiwand trat diesem drohend, seiner kaum mehr mächtig in steigender Wuth entgegen.
„Sie sind überflüssig hier. Was wollen Sie, Iselt?“ brachte er mühsam, heiser hervor, „scheeren Sie sich zum Teufel, Beide! Oder ich brauche meine Waffen …“
„Ein Arzt,“ versetzte Iselt, „ist nie überflüssig, wenn ein beruhigendes Mittel so nothwendig wird, wie bei Ihnen in diesem Augenblicke[WS 1], Maiwand. Ich habe drinnen im Arbeitszimmer des Pfarrers, wo ich diesem ein Recept schreiben sollte und dabei Ihren Streit anhörte, sogleich auch für Sie eins aufgeschrieben. Hier ist es. Herr Landeck wird es in der rechten Apotheke abzuliefern die Güte haben.“
Dabei zog er aus der Brusttasche seines Rockes einen langen, vielfach zusammengefalteten, schmutzigen und viel beschriebenen Papierstreifen hervor. Landeck musterte ihn und sah, daß es ein über neuntausendfünfhundert Thaler ausgestellter Wechsel war, unterschrieben von Ernst Friedrich von Maiwand. Unter den Prolongationsvermerken, welche die Rückseite trug, stand die Quittungsnotiz: „Betrag heute erhalten mit Thaler 9500. B., den 17. Juni 186*. Aaron Baer.“
„Zum Teufel – wie kommt dieser Wisch in Ihre Hände?!“ rief erschrocken Maiwand aus, nachdem er einen Blick darauf geworfen.
Landeck barg den „Wisch“ erfreut in seiner Brusttasche; auch er sah Iselt erstaunt an, sagte aber nur:
„Ihr Recept ist vortrefflich, Doctor. Es wird unseren Streit allerdings wundersam beruhigen. Es macht ihn bereits fast gegenstandslos, und wir können die Unterhandlung abbrechen. Sie wissen, Herr von Maiwand, daß Sie auf Haldenwang nicht mehr gewünscht werden, und werden nicht mehr dort erscheinen, um sich dies doch nicht gar zu deutlich von dem Dienstvolke sagen zu lassen, das über den Willen seiner Gebieterin unterrichtet ist. Ihre Erklärung, daß Sie schuld gewesen an der unglücklichen Nachgiebigkeit Rudolph Escher’s, bedürfen wir jetzt nicht mehr, denn der Wechsel in meiner Tasche beweist vollständig, [128] wohin jene Summe damals gewandert ist. Die Sorge, welche Frau von Haldenwang wegen des Vertrags hegte, zu dem Sie sie verleiteten, wird ihr durch das Gericht abgenommen werden. Seien Sie dessen sicher! Also können wir uns Ihnen empfehlen, Herr von Maiwand.“
Herr von Maiwand athmete tief und schwer; er war sehr bleich geworden. Das Papier, welches Doctor Iselt Landeck übergeben, hatte in der That eine merkwürdige Wirkung geübt. Es hatte seinen Zorn, wie es schien, plötzlich gebrochen. Er mochte sich sagen, daß nun Alles für ihn zu Ende, daß dieses Blatt ihn in Malwinens Augen unrettbar verderben mußte, für immer.
„Sie können sich empfehlen, meine Herren,“ preßte er mühsam hervor, „und mich der Frau von Haldenwang, wenn’s beliebt. Ich bin nicht der Mann, der sich aufdrängt. Wenn Sie übrigens das Geld, das Sie mir boten, in der That daran wenden wollen, so will ich Ihnen den Revers, den Sie wünschen und der uns einen häßlichen Proceß erspart, ausstellen.“
„Damit bin ich einverstanden. Haben Sie die Güte, diesen Revers zu schreiben!“
Maiwand nahm seinen früheren Platz wieder ein und zog ein Schreibzeug herbei – sehr langsam und gemessen und mit zitternder Hand. Dann starrte er auf das Papier. Er bedurfte offenbar einiger Zeit, um sich zu fassen und seine Gedanken zu ordnen. Landeck sprach deshalb den Wunsch aus, ihm den Wortlaut der Bescheinigung zu dictiren, und Maiwand nickte dazu. Es bedurfte nur weniger Zeilen, worin die Erklärung enthalten war, daß der mit Tag und Datum näher bezeichnete Vertrag nur ein Scheinvertrag gewesen, daß vom Ankäufer keine Zahlung geleistet worden, daß dieser nie beabsichtigt habe, daraus Rechte herzuleiten, und auf alle solche, falls sie ihm erwachsen, verzichte. Maiwand unterzeichnete dann das Schriftstück. Landeck und Iselt thaten es als Zeugen ebenfalls, und dann legte Landeck jenem die dafür als Preis versprochenen fünf Banknoten wieder auf den Tisch. –
Maiwand starrte darauf hin und dann die beiden sich jetzt zum Gehen wendenden Männer an, als frage er sich in diesem Augenblicke, ob er denn eigentlich wache oder träume – und in der That, die niederschmetternde Raschheit, womit sich sein Schicksal so urplötzlich gewendet hatte, war geeignet genug, ihm einen solchen Eindruck zu machen, und ihn so vernichtet den beiden sich entfernenden Gegnern nachstieren zu lassen. –
Als diese draußen vor dem Pfarrhause waren, schob Landeck hoch und glückselig aufathmend seinen Arm unter den Iselt’s und sagte:
„Wie soll ich Ihnen danken, Doctor? Niemals traf ein ungehoffter Bundesgenosse im richtigeren Moment ein als Sie soeben. Wie aber, ich bitte Sie, war es Ihnen möglich, sich jenes Document zu verschaffen, womit ich jetzt dem armen Rudolph das Leben wiedergeben kann?“
„Das ist sehr einfach zugegangen,“ versetzte der Doctor. „Ich erhielt es an diesem Vormittag, als ich eben im Begriffe war meinen Rundgang zu meinen Patienten anzutreten. Sie müssen nämlich wissen, daß ich vor Jahren einmal als Arzt in einer Familie thätig war, die aus einer Frau und ihrer Tochter bestand, anständigen Bürgersleuten, welche ein paar elegant meublirte Zimmer an Officiere zu vermiethen pflegten. In ihrem Hause hatte Herr von Maiwand lange sein Hauptquartier aufgeschlagen, und die Zeit dazu benutzt, das Mädchen unglücklich zu machen; aus den Schilderungen der Mutter lernte ich zuerst den Leumund dieses Herrn kennen. Sie erzählte mir mehr als ich verlangte von dem Leben, das er geführt, von den Schulden, die er gemacht, von den Wucherern, die ihn bedrängt und es verstanden, die Wechsel, die er ihnen ausgestellt, ganz unglaublich und lawinenhaft wachsen zu lassen. Auch von einem Herrn Aaron Baer, der seine Vorschüsse von einigen tausend Thalern bis zu der Summe von neuntausendfünfhundert Thalern hinaufgeschwindelt und dann stürmisch Zahlung verlangt habe. Da ich zu solchem Schwindel ungläubig den Kopf schüttelte, schloß die gute Frau ihren Secretair auf und zog das Blatt hervor; sie hatte es beim Aufräumen in dem Papierkorbe gefunden, in den es Maiwand, nachdem er es bezahlt und zornig zusammengeballt, geworfen, und hatte es als Merkwürdigkeit, als Document zur Sittengeschichte des neunzehnten Jahrhunderts aufbewahrt, Dessen erinnerte ich mich, als Sie mir zuerst von dem Scheinkaufe von Haldenwang redeten, und dann kam mir der Gedanke, daß ein solches Beweismittel für die finanzielle Lage Maiwand’s der Frau von Haldenwang wichtig werden könne, wenn sie mit ihm in Zerwürfniß und Proceß über ihren leichtsinnigen Kaufvertrag gerathe. Ich schrieb also an jene Frau in der Residenz und bat sie um das für sie werthlose Blatt, falls sie es noch besitze, und, wie Sie sehen, ich erhielt es. Als mich dann der Pfarrer in sein Schreibzimmer führte, wo ich ihm ein Recept screiben wollte, vernahm ich Ihre erhitzte Stimme im anstoßenden Raume, und folgte eine Weile mit begreiflicher Spannung der Debatte, die ich freilich nur zum Theil verstand, doch hörte ich genug, um zu begreifen, wie wichtig Ihnen der alte Wechsel sein mußte, den ich eben erhalten. Von einer Erklärung Maiwand’s über dieselbe Summe, auf welche der Wechsel lautet, sprachen Sie ja gerade. Daß ich den Horcher gemacht, werden Sie mir also schon vergeben. Sie schrieen ja ohnehin so laut, daß es gar nicht möglich gewesen wäre, nicht zu horchen, und weil ich also auch vernommen habe, in welcher Eigenschaft Sie diesem Bösewichte die Stirn geboten, so lassen Sie mich jetzt vor allen Dingen Ihnen Glück, alles überschwengliche Glück wünschen, Ihnen, ‚dem der große Wurf gelungen‘, der nun doch bekennen muß, was kluge Leute ohnehin sich sagen konnten, daß er aus dem fernen Hellas dieser Helena gefolgt ist, die er sich nun, ein tapferer Achill und kluger Odysseus zugleich …“
„Ich bitte Sie bei allen Göttern dieses Hellas,“ fiel Landeck erschrocken ein, „hören Sie auf! Sie sind völlig im Irrthume, wenn Sie glauben, meine Versicherung, ich habe ein Recht, für Frau von Haldenwang aufzutreten, sei irgend etwas Anderes gewesen, als eine Kriegslist, ohne die ich nicht den geringsten Erfolg hoffen durfte. Ich mußte meinem Gegner alle und jede Hoffnung, daß er sein eigentliches Ziel je erreichen werde, mit einem Schlage nehmen. Dazu gab es nur ein Mittel, eine, wenn Sie wollen, freche Lüge.“
„Ah bah,“ unterbrach ihn lachend Iselt, „ich glaube nicht an Ihre Lügen. Ein so classischer Mensch wie Sie und lügen! Die Lügen gehören in die Romantik.“
„Und doch, ich schwöre Ihnen, daß ich log,“ fiel Landeck heftig ein, „und Sie werden mich grenzenlos unglücklich machen, wenn je ein Wort über Ihre Zunge käme, welches die Kriegslist, die ich brauchte, verriethe.“
Iselt schüttelte den Kopf und lachte:
„‚Ich schwöre, daß ich log – ich log, was ich schwur‘ – was soll ich darauf geben? Ich habe Ihnen gesagt, daß ein Arzt etwas von einem Beichtvater an sich hat und das Beichtsiegel zu bewahren weiß. Darum und meines treuen Beistandes willen, dächt’ ich, könnten Sie ein wenig offener gegen mich sein. Aber beruhigen Sie sich! Ich werde Ihnen durch fehlende Discretion keinen Verdruß machen.“
Doctor Iselt sprach das wie durch Landeck’s Mangel an Vertrauen ein wenig verdrossen und schwieg dann. So eilten sie Beide auf dem Wege nach Haldenwang dahin, bis in der Nähe des Gutes Iselt zurückblieb.
„Wohin wollen Sie, Doctor?“ fragte Landeck.
„Zu meinen Kranken, Sie sind, wenn ich Sie nicht begleite, um Zeuge des zärtlichen Dankes zu sein, der Ihnen da oben werden wird, desto sicherer, daß ich Sie nicht verrathe.“
„Nein, nein,“ rief Landeck aus, indem er sein geröthetes Gesicht vom Doctor abwandte und die Hand ihm auf die Schulter legte, „Sie sollen mir jetzt einen großen, großen Freundschaftsdienst leisten. Ich selbst, ich kann jetzt nicht zu Frau von Haldenwang gehen – ich kann es nicht.“
„Sie können es nicht? Weshalb nicht?“
„Denken Sie, es wäre – nun, was weiß ich selbst, was es ist? – aber ich kann es nicht. Es scheint mir so anmaßend, so unverschämt, wenn Sie wollen, vor eine arme Frau, deren Herz voll schwerer Sorge ist, zu treten und ihr zu sagen: da bin ich, Dein Retter, Dein Befreier. Ich habe Alles erreicht, erkämpft, was Du bedarfst, um wieder glücklich und frei aufzuathmen. Kann man so vor Frau von Haldenwang treten? O nein, das müssen Sie selbst fühlen, man kann es nicht. Mir ist es wenigstens unmöglich.
Am nächsten Tage, bald nach Mittag, klopfte ich wieder an Bruder Harmon's Thür. Ich fand ihn allein, und kaum hatte er meinen Gruß erwidert und sich mit zwei Blicken umgesehen, ob Niemand uns zuhören könne, als ihm auch schon sein Geheimniß von den Lippen floß. Es bestand, so weit es ein Anliegen war, kurz und rund in der Bitte, ihm zu heimlichem Entweichen aus der Colonie durch Verschaffung von gewöhnlichen Kleidern zu verhelfen. Er heiße, so berichtete er weiter, Hermann Cornelius, habe in Kiel Theologie studirt und sei 1849 nach Amerika gekommen, wo ihn „unglückliche Verhältnisse“, über die er sich nicht näher ausließ, etwa vor Jahresfrist gezwungen hätten, sich vor dem Hunger und dem Winter in das Asyl von Watervliet zu flüchten. Man hatte ihn hier liebreich aufgenommen, ihn zuerst nur mit leichter Handarbeit beschäftigt und ihn dann mit der Erziehung von Kindern und der Beaufsichtigung von Novizen betraut, deren sich vor Einbruch des Winters hier immer eine Anzahl melden, und aus denen sich die Gemeinde, sofern sie nicht mit Eintritt der milderen Jahreszeit das Weite suchen, allein ergänzt. Er hatte hier, was er vorher nicht gehabt, Obdach, Nahrung und Kleidung, und es war ihm kein Zwang auferlegt, als der, den er selbst gewählt, einen Glauben, den er nicht hatte, heucheln, und einen Gottesdienst, der ihm lächerlich war, mitmachen zu müssen. Das war die traurige Seite der Sache. Er mußte in der That sehr unglücklich sein. Aber die Sache hatte auch eine andere Seite, und diese war von der Art, daß ich, als ich sie erfahren, froh war, nicht in der Lage gewesen zu sein, ihm zur Flucht zu helfen. Ihm war, wenn überhaupt, nur hier in Watervliet von den „unglücklichen Verhältnissen“ zu helfen, deren Natur der Rest seines Geheimnisses war; denn in Watervliet gab es – keinen Whiskey, sondern nur klares Brunnenwasser und Thee ohne Zuthat. „Hermann Cornelius“ war ein Gewohnheitssäufer, und um mit ihm gleich hier zu Ende zu kommen, schalte ich eine Stelle aus meinem in Cincinnati geführten Tagebuche ein.
„12. November. Heute bei Pastor Kröll von der Johanneskirche. Erzählte ihm von meinem Abenteuer in der Shakerstadt. Horchte hoch auf, als ich ihm Bruder Harmon beschrieb, und brach endlich, indem er auffuhr und die Hände zusammenschlug, in die Worte aus: 'Ei, das ist ja der leibhaftige – (er nannte ihn nicht Cornelius), den sie aus zwei oder drei Gemeinden fortjagten, weil er sich in der Schnapsflasche das Delirium geholt!' In der vierten hatte er sich, so berichtete der Pastor, eine Zeitlang gut gehalten, dann aber war der Versucher wieder gekommen, und er hatte dem Glase so gründlich zugesprochen, daß er in seinem Wahnsinne in den Wald gelaufen und sich sämmtliche Kleider vom Leibe gerissen hatte. Dann war er spurlos verschwunden. Es ist bisweilen gut, wenn man nicht die Mittel hat, gutherzig und hülfreich zu sein. Mein Fall mit 'Bruder Harmon' war ein solcher.“
Ich sagte ihm damals in Watervliet, ich wollte mir die Sache überlegen, und dabei blieb es ungefähr, auch als wir schieden. Zunächst aber besuchte ich mit ihm den Diakon David, einen schläfrigen, grämlichen Riesen mit großen, lichtblauen, verschwommenen Augen, der sich in einem Schaukelstuhle am Ofen wärmte, obwohl die Sonne draußen recht warm schien. Bruder Harmon hing trüben Gedanken nach. Bruder David, überhaupt einsilbig, schien nicht viel von geistigen Dingen zu wissen, doch erhielt ich von ihm einige Mittheilungen über die äußeren Zustände und Verhältnisse der Niederlassung.
Watervliet war jetzt nur von einer „Familie“ ober Gemeinde bewohnt, während das benachbarte Union Village deren drei umfaßte. Die hiesige Familie zählte vierundfünfzig Seelen, darunter etwa dreißig Frauen und zehn Kinder. Die oberste Leitung ist in die Hände von vier Aeltesten, zwei von den Brüdern und ebenso viele von den Schwestern, gelegt, zu deren Pflichten unter Anderem gehört, daß sie den sich zum Eintritt in die Gemeinschaft meldenden Weltkindern ein Sündenbekenntniß abfragen. Der Diakon ist unter ihrer Aufsicht der Geschäftsführer der Colonie gegenüber der Außenwelt. Er schließt Lieferungen und Verkäufe ab, verwaltet die Finanzen und hat für die Unterbringung einsprechender Fremden zu sorgen. Die vorkommenden Arbeiten werden von den Aeltesten unter die Mitglieder der Familie vertheilt und zwar nach dem Maße ihrer Kräfte und der Art ihrer Talente und Fertigkeiten. Die Hauptbeschäftigung der Colonisten ist der Ackerbau auf der sechshundert Acres großen Rodung, die ihnen gehört, und etwas Viehzucht. Dazu kommen die Verfertigung grober Kleiderstoffe aus einem Gemisch von Wolle und Baumwolle, Wagnerarbeiten und das Flechten von Strohhüten, Bastmatten und Stuhlsitzen aus Spahn. Der Boden ihres Landbesitzes ist gut. Ihr Weizen wird oft über den Marktpreis bezahlt. Sehr geschätzt ist die Sarsaparilla, die sie bauen, und allein an Erdbeeren hatte Diakon David im verflossenen Sommer für zweihundertfünfzig Dollars verkauft.
Mein langer Diakon war meinen Fragen gegenüber immer einsilbiger geworden und schließlich sanft eingenickt. Bruder Harmon brütete fort, ohne Zweifel über sein Schicksal. Ich versuchte mir die Langeweile zu vertreiben, indem ich in einem geschriebenen Gesangbuche der Shaker las. Nach einer Weile wurde ich hierin durch die Ankunft Elder Pelham's angenehm unterbrochen. Der kleine, flinke, helläugige Mann war das Gegentheil des Diakons. Bald fragend, bald antwortend, gab er mir einen wohlgefügten und anschaulichen Ueberblick über den geistigen Besitz der tausendjährigen Kirche. Er legte eine nicht gewöhnliche Kenntniß der Bibel an den Tag, brauchte mehrmals originelle Bilder und wußte Zweifeln und Einreden nicht ohne Geschick zu begegnen. Wir waren noch im besten Zuge, als eine Glocke läutete. Sie rief zum Essen. Diakon David führte mich in die Küche des großen Ziegelhauses, wo eine ältliche Schwester mich mit Kuchen, Apfelmuß, Tomatos, Brod, Butter, Fruchtgelée und Thee versorgte. Die Uebrigen aßen mit den anderen Gliedern der Gemeinde für sich in einem anderen Raume, da die Shaker – vielleicht aus Furcht vor der Wirkung fremder Blicke auf die Gemüther der jüngeren Schwestern – Niemanden, der „nicht sein Kreuz auf sich genommen hat“, mit sich an einem Tische speisen lassen. Doch erfuhr ich später, daß sie vor und nach der Mahlzeit knieend beten und daß sie keine Fleischspeisen genießen.
In die „Office“ David's zurückgekehrt, las ich wieder in dem Gesangbuche, aus dem ich mir einige der besten Lieder abschrieb. Dann läutete die Schelle wieder, jetzt zweimal – das Zeichen zum Beginne des Gottesdienstes, des Tanzes. Ueber den Hofplatz zwischen der „Office“ und dem Ziegelhause und dann über den Gang, auf den Bruder Harmon's Stube mündete, begab ich mich, vom Diakon begleitet, eine braunlackirte Treppe hinauf in einen ziemlich großen, durch die ganze Breite des ersten Stockes gehenden, auf jeder Seite durch vier Fenster erleuchteten Saal, der, wie die Wohnstuben, einfach weiß getüncht und unten an den Wänden mit braunem Holzgetäfel versehen war. Uns gegenüber befand sich eine Glasthür. Auf der Weiberseite, links von unserer Thür, war eine dritte. Derselbe gelbe Strich, der unten auf dem Gange die Grenze des Gebietes der Geschlechter bezeichnete, theilte auch den Saal der Länge nach in zwei Hälften. An den langen Seiten des letzteren liefen einfache Bänke hin. Ich erhielt einen Stuhl. Von der Decke hing eine brennende Messinglampe herab, unter der ein kleiner blauer Teppich lag. Sonst war nichts von Geräthen hier zu sehen. Von den Theilnehmern am Gottesdienste waren bis jetzt nur vier Knaben in Shakertracht und ihr Mentor, der freundliche Alte, der mich Tags vorher bei Bruder Harmon eingeführt, sowie sechs oder sieben Mädchen im Backfischalter zugegen. Letztere schienen „ihr Kreuz“ noch nicht schwer zu empfinden oder es noch nicht mit der rechten Würde und Andacht
[131] tragen zu können. Sie steckten bei meinem Eintritte die Köpfe zusammen, kicherten, zischelten untereinander und warfen mir Blicke zu. Ihre Tracht war ebenso unschön, wie die der Knaben. Die zum Theil recht hübschen Gesichtchen sahen aus weißen Hauben von der Form eines Kohlenkastens, an dem hinten ein großer Faltenbart sich sträubte, heraus. Die Körper steckten in blauen oder grauen Kleidern mit kurzer Taille, Hals und Brust in einem weißen, steifgestärkten Tuche, das vorn kreuzweise übereinander gelegt war und hinten dreikantig bis zur Hälfte des Rückens herabhing, die Füße in plumpen Schuhen. Sie sahen mit jenen garstigen Hauben wie in Papierdüten geschoben, mit diesen steifen Tüchern wie mit Brettern verschlagen und im Ganzen wie junge Urgroßmütter aus.
Eine Uhr schlug jetzt die achte Stunde, und herein wandelten die übrigen Glieder der Gemeinde mit Einschluß Bruder Harmon's und Elder Pelham's, die Schwestern durch die Thür zur Linken, die Brüder durch die zur Rechten und die Glasthür. Die Letzteren legten die Röcke ab und stellten sich dann in drei Gliedern, die Gesichter dem gelben Strich und dem blauen Teppich in der Mitte zugekehrt, in der rechten Hälfte des Saales auf. Die Schwestern traten links von dem Striche in gleiche Ordnung. Dann verbeugten sich die beiden Colonnen gegen einander, wobei sie die Arme ausbreiteten und die Hände schwenkten. Und nun stimmte einer der Brüder ein Lied an, in welches die ganze Versammlung einfiel, und das in raschem Tempo nach einer nicht übel klingenden Weise gesungen wurde. Was ich davon verstand, pries die Herrlichkeit der ewigen Heimath, handelte sodann von schneeweißen Gewändern und Engeln mit goldenen Flügeln und drückte die Sehnsucht der Sänger nach diesen und ähnlichen schönen Dingen aus.
Nach Schluß des Liedes, welches drei Verse hatte, wieder Verbeugung und Händeschwenken. Hierauf lösten sich die beiden Colonnen auf, und zwei Brüder mit sechs Schwestern schritten näher an den Teppich heran, um sich, die Gesichter einander zugewandt, zu beiden Seiten desselben aufzustellen. Sie waren für diesen zweiten Act des Schauspieles der Sängerchor oder, wenn man will, das Vocalorchester des Tanzsaales. Die Uebrigen ordneten sich, die Männer für sich voran, die Frauen dahinter, zu Paaren in der Weise, daß sie nach der Glasthür hinsahen. Plötzlich begann eine der Sängerinnen mit wohlklingender Stimme eine Strophe zu singen, in welche die übrigen Sieben vom Chore nach den ersten Worten einstimmten. Dieselbe begann mit dem Ausrufe: “March heavenwards, yea victorious band!“[1] und wirkte auf mich mit ihrem zwischen die einzelnen Sätze eingestreuten „La! lala! La! lala!“, dem Vorklingen der Frauenstimmen und dem ungemein schnellen Tempo der Melodie mehr wie Vogelgezwitscher als wie ein Kirchenlied. Mit dem ersten „La! lala!“ setzten sich die Reihen der Nichtsänger in Bewegung und marschirten im Geschwindschritt um den Chor herum. Sie hoben sich dabei auf die Fußspitzen, so daß die Fersen den Boden nicht, oder nur wenig berührten, drückten die Ellbogen an die Hüften, streckten die Unterarme aufwärts vor die Brust und winkten oder wedelten mit den lose im Gelenk hängenden Händen, so daß sie – Gott verzeihe mir den unheiligen Vergleich, aber meiner Erinnerung nach giebt kein anderer eine bessere Vorstellung von dieser überaus komischen Geberde – ungefähr trommelnden Hasen oder, noch genauer, tanzenden Hunden glichen, die „es schön machen“. Die Strophe wurde mehrere Male wiederholt, und bei jeder Wiederholung nahm die Begeisterung der himmelwärts tanzenden Heiligen zu, sah man mehr verzückte Mienen und begegnete man mehr nach oben gerichteten leuchtenden Augen. Das Bild zeigte außer dem Gesagten noch andere komische Züge. So watschelte neben dem baumlangen Diakon ein Bruder mit einem Falstaffsbauch und einem fabelhaften Kropf; er verrieth mehr Last als Lust an der Ceremonie. Eine gleichfalls wohlbeleibte Negerin äußerte unter der Schwesternschaar ihre Inbrunst recht wunderlich, und die Backfische dachten augenscheinlich nur an den Tanz, nicht an seine Bedeutung als Wallfahrt nach dem Himmel. Dennoch machte das Ganze eher einen feierlichen als einen lächerlichen Eindruck.
Die Tanzenden mochten die Singenden etwa vier- oder fünfmal umkreist haben, als Diese verstummten und Jene Halt machten, um still zu beten, bis der Chor auf's Neue zu zwitschern anfing. Dieses Mal handelte das Lied vom „Lodern des heiligen Feuers der Liebe“, welches Lodern „die Seelen läutere“. Dem Flackern und Zucken dieser göttlichen Flamme schien auch das Tempo des Gesanges zu entsprechen, welches noch rascher war als das der früheren Vorträge und dem Gesange folgte wieder der Tanz, der jetzt zu einem Hüpfen wurde. Aeltere Tänzerinnen, die zu schwach waren, um sich hieran lange zu betheiligen, traten aus Reihe und Glied und setzten sich, konnten sich aber nicht enthalten, dem Daktylustacte des Reigens im Sitzen durch Trippeln und Klappern mit den Fußspitzen zu folgen.
Das Hüpfen hatte ungefähr drei Minuten gewährt, als der Chor wieder schwieg. Alle traten sich in der anfänglichen Ordnung zu beiden Seiten des gelben Strichs in der Mitte des Saales gegenüber, beteten noch einmal still und begaben sich dann, die Schwestern durch die linke, die Brüder durch die rechte Thür, hinunter in ihre Stuben, womit der Gottesdienst für heute zu Ende war.
Nachdem ich die Nacht in einem guten, saubern Bett geschlafen und von „Mutter Ann“ und ihrem „Bräutigam“ geträumt – mein Tagebuch besagt, daß Jene wie die alte runzelige Schwester, die mir das Abendessen aufgetragen, Dieser wie Diakon David aussah, und daß die „Mutter“ um ihre Barthaube, der „Bräutigam“ um seinen Brunnendeckelhut eine große Aureole hatte –, frühstückte ich, wieder in der Küche und wieder allein. Dann wohnte ich im Tanzsaale abermals einem gottesfürchtigen Reigen bei, wo jedoch nur nach einer von Allen gesungenen, langsam gehenden Weise in drei Gliedern hin- und hermarschirt, nicht gehüpft wurde. Elder Pelham hielt dabei während einer Pause eine kurze Ansprache, in der er die Welt, die an dem Tanze der Shaker Aergerniß nähme, mit dem Bruder des verlorenen Sohnes im Gleichnisse zusammenstellte, welcher auch mit Neid und Verdruß von der Freude Zeuge gewesen, die über die Heimkehr des Sünders in das Vaterhaus geherrscht habe. Der Sermon hörte sich nicht schlecht an, aber ich hoffe, daß ich nicht damit gemeint war; denn ich war zwar ein Kind der Welt und gedachte eins zu bleiben, aber gern gönnte ich meinen Freunden in Watervliet ihre Freude und war nicht im Mindesten verdrießlich darüber. Eher das Gegentheil.
Den übrigen Theil des Vormittags verbrachte ich meist mit weiterem Abschreiben von Liedern aus David's Gesangbuche. Um elf Uhr wurde ich zum Mittagsessen geführt, und zwei Stunden später sah ich die Heiligen von Watervliet zum dritten und letzten Male tanzen. Zweimal an einem Tage schien etwas viel zu sein, indeß war es ein Sonntag.
Man sang zunächst wieder einen „Shovelsong“ (wörtlich: Schaufellied; so nennt die Shakersprache die in langsamem Tacte sich bewegenden Gesänge, während die rasch gehenden als “Quicksongs“, lebendige Lieder, bezeichnet werden), der mit den Worten „Ich danke Dir, o Gott, für Deine freundliche, liebreiche Gnade“ begann, und in welchen die ganze Gemeinde einstimmte. Darauf hielt der andere Aelteste eine längere Rede, auf die der vorhin erwähnte Falstaff – er war, wie ich später hörte, erst kürzlich aufgenommen und hatte dem Schatze der Kirche ein nicht unbeträchtliches Vermögen zugebracht – einige Worte folgen ließ, in welchen er sich freute, Zulassung zu den Kindern der Mutter Ann und ihrem seligen Leben gefunden zu haben.
Nun sprach Pelham über die Demuth und den Gehorsam, über die Entsagung der Heiligen und deren brünstige Liebe zur „heiligen Mutter“, eine Liebe, die nichts mehr wisse und wolle, als deren Gegenliebe. Als er geschlossen, stellte sich der Chor, wie oben geschildert, vor dem Teppich auf. Die Uebrigen ordneten sich paarweise zum Reigen, und nun wiederhallte, in eine zierliche Strophe zusammengefaßt, der Inhalt der Pelham'schen Rede aus dem Munde einer der Sängerinnen. Mir kam es vor, als ob die Schwester improvisirte, als sie – ich gebe die Worte ziemlich genau deutsch wieder – im Tempo eines Quicksong den Vers zwitscherte:
„Gebeugt will ich und schmiegsam sein,
La! lala!
Ein schmiegsam Weidenbäumelein.
La! lala!
Will mich bücken und neigen, verflochten im Reigen,
Und taumelnd der Mutter ganz werden zu eigen.
La! lala! La! lala!“
[132]
Hurtig setzten sich die Füße der Colonnen in Bewegung, um nach dem Tacte des Liedes drei oder vier Schritte vorwärts zu hüpfen, dann stehen zu bleiben, mit dem einen Fuße aufzustampfen und darauf weiter zu hüpfen. Als die erste Sängerin geendet, hörte man eine Weile nur noch das tactmäßige „La! lala!“ und das Scharren und Stampfen der darnach tanzenden Füße. Dann begann eine andere Stimme im Chor:
„O himmlische Liebe fluthet, heilige Liebe strömet!
Hallelujah! La! lala!
Auf, neigt Euch und beugt Euch und schöpft Euch und nehmet,
Und trinken wir jubelnd zur Stelle
Von der Liebe, die mild
Da droben uns quillt
Aus der Mutter unendlicher Quelle.“
„La! lala!“ schmetterten die übrigen Sänger. „La! lala!“ lallte es wie von Trunkenen aus den Colonnen der Tanzenden, deren Reigen immer geschwinder an meinem Stuhle vorüber kreiste. Ein elektrisches Etwas schien sich ihnen von irgendwoher mitgetheilt zu haben, ein Etwas, das sich auch meinen Fußspitzen aufdrängen wollte, denn ich merkte, daß sie zu dem „La! lala!“ den Tact zu trippeln anfingen. Ein gottseliger Rausch hatte sich der Versammlung bemächtigt. Sie tranken von der Liebe der Mutter; sie schwammen im Strome derselben.
„Und trinkt ein wenig mehr – und trinkt, trinkt, trinkt ein wenig mehr!“ jauchzte der Baß und zitterten und zwitscherten die hellen Stimmen im Chor – und siehe da, plötzlich begann eine der Schwestern, indem sie die Arme am Körper herabhängen ließ und den Kopf, halb nach oben gerichtet, auf die Seite legte, sich etwa zehn Schritte weit um ihre Achse zu drehen. Eine zweite folgte und eine dritte. Mehrere Brüder thaten desgleichen, und nach Verlauf einer Minute sah ich den größten Theil der Tänzer in dieser Planetenbewegung begriffen. Taumelnd hielten die Meisten nach einigen Umdrehungen inne, keuchten und stampften und versuchten sich im Gleichgewicht zu erhalten. Dann trieb sie der Gesang wieder fort, wie die Peitsche den Kreisel, und nicht eher hörte das andächtige Bacchanal auf, als bis die Mehrzahl der Frauen, nach Athem ringend, auf die Bank gesunken war.
Die würdigen Aeltesten, der schläfrige Diakon, Matronen mit grauen Haaren hatten sich an dem Wirbeltanze nach Kräften betheiligt. Sogar Bruder Harmon hatte ein paar Mal sich darin versucht. Da er indeß dabei wohl mehr an den weltlichen Zuschauer und dessen Meinung von der Affaire als an den Wohlgeschmack der Liebesquelle dachte, welche die Andern berauschte, so hatte es ihm damit nicht glücken wollen. Nur Falstaff, dem sein Leibliches das Kreiseln verbot, einige vermuthlich hier auch noch neue Frauen, die vier Knaben und der Wahnsinnige hatten es bei bloßem Geschwindschritte und ein wenig Hüpfen und Händeschwenken bewenden lassen. „Wahnsinn gut gegen Wahnsinn,“ sagte ich zu mir selbst, indem ich an den Grundsatz unserer Homöopathen dachte.
Eine Stunde später nahm ich Abschied von meinen gastfreundlichen Wirthen. Man bat mich noch länger zu bleiben, aber ich hatte genug gesehen und erfahren und so ging ich, begleitet von Pelham’s Segen, in welchem er mir wünschte, ich möge bald den Weg finden, der zum wahren Frieden führe.
Bruder Harmon bat sich, indem er mir verstohlen einen schnellen bittenden Blick zuwarf, die Erlaubniß aus, mich ein Stück begleiten zu bedürfen. Schweigend gingen wir eine Weile neben einander her. Dann wiederholte er dringend seine frühere Bitte. Ich erwiderte, ich selbst könne ihm nicht helfen, wolle aber zusehen, ob sich in Cincinnati etwas für ihn thun ließe, und ihn das Ergebniß meiner Erkundigung durch meinen Cousin in Dayton, dessen Adresse ich ihm aufschrieb, wissen lassen. Dieses Ergebniß ist mitgeteilt. Er ist entweder Shaker geblieben und nüchtern ein alter Mann geworden, oder er hat sich von den geistig Trunkenen geflüchtet, um wieder ein Trunkenbold im gewöhnlichen Sinne des Wortes zu werden und im Delirium hinter irgend einem Zaune vor der Zeit zu sterben. Ich weiß wirklich nicht recht, was vorzuziehen wäre, will aber darüber nachdenken.
Jemehr die großen Geister für Erforschung und Pflege unserer inneren Güter abnehmen, desto großartiger und zahlreicher treten die Helden der Mechanik auf, um diesem immer noch mit vielen Hindernissen geplagten Erdenleben leichtere Schwingen zu geben. Daher auch die vielen Unternehmungen zur Vermehrung unserer Bequemlichkeiten und namentlich der Beflügelung des Verkehrs. Mit der Zehnpfennigmarke schreibt man bis San Francisco, und die elektrische Sprache des Blitzes flüstert Tag und Nacht unaufhörlich über alle Länder und unter den Weltmeeren hin, mit hunderttausendmeiligen Drähten des Raumes und der Zeit spottend, um vielleicht mitten in der Nacht Schläfer freudig oder furchtbar aufzuschrecken. Der Dampf, obwohl noch in schwerfällige Eisenmassen gefesselt, wüthet ebenfalls mit unermüdlichen Flügeln über Berg und Thal, selbst durch Felsengebirge hindurch und auf den Weltmeeren von Hafen zu Hafen. So ist denn das neueste Wunder für diesen völkerverbindenden Weltverkehr, obwohl beispiellos kühn, schon kein Wunder mehr.
Die Franzosen und Engländer sind eben daran gegangen, den sie trennenden und stets unruhigen Meeresarm unterhalb der Fluthen, in tiefer, ruhiger Kalksteinerde, zwanzig englische oder beinahe fünf deutsche Meilen lang zu unterwühlen und eine doppelte Eisenbahn hindurch zu legen. Was seit mehr als siebenzig Jahren mit den verschiedensten Plänen unter und auf dem Meeresgrunde, mitten durch das Wasser hindurch oder hoch oben darüber mit fester Brücke, oder auf dem Rücken des Wassers mit riesigen Fähren versucht und immer wieder aufgegeben ward, jetzt endlich soll es in der Tiefe der Erde verwirklicht werden. Auf englischer Seite arbeitet eine bereits mit vielem Gelde gegründete Gesellschaft einer französischen in die Hände. Die beiden Mächte, die seit Jahrhunderten Krieg gegen einander führten und sich meist feindselig überwachten und in immer größere Kriegsbereitschaft hinein rüsteten, wollen sich endlich fest und friedlich verbinden. Möchte dies doch dem Weltfrieden, der jetzt bewaffnet in allen gebildeten Staaten täglich fünf Millionen Thaler kostet, zu Gute kommen!
Was die technische Ausführbarkeit des Unternehmens betrifft, so hat man tüchtig vorgearbeitet und glaubt alle Bedingungen des Gelingens zu kennen und zu besitzen. Wenn eine Eisenbahn durch die Alpen und durch die amerikanische Panamataille gelang und ein Suez-Canal nicht verunglückte, so kommt man wohl auch hier durch. Man hielt die Hindernisse, die sich jenen Unternehmungen entgegenstellten, ja vorher ebenfalls für unmöglich. Freilich eine Eisenbahn unterhalb der mächtigen, tückischen Meereswogen ist noch etwas ganz Anderes. Allerdings. Aber der französische Ingenieur Thomé de Gammond, der vor mehr als einem Vierteljahrhundert den jetzt in Angriff genommenen Plan entwarf und in seiner Ausführbarkeit bewies, hielt hartnäckig allen Gegnern, allen Beweisen der Unmöglichkeit und allen anderen Plänen gegenüber an diesem als dem einzig richtigen fest und ist nun durchgedrungen. Die Beweise für das Gelingen wurden von allen Seiten und tief aus der Erde herbeigeschafft.
Der furchtbare Canal, der in seiner stürmischen Unruhe fast von allen den 300,000 jährlich darüber Hin- und Herdampfenden die üblichen Seekrankheit-Opfer fordert, ist eigentlich doch nur ein Strom in einem ruhigen, nur sanft ausgehöhlten, nicht sehr tiefen Bette. Selbst bei Hochwasser hat man keine größere Tiefe gefunden als 180 Fuß auf einem gut ausgewaschenen glatten Grunde von Kalkstein. Sorgfältige tiefe Bohrungen auf beiden Seiten ergaben ebenfalls einen ununterbrochenen Kalksteinboden von gehöriger Mächtigkeit. Man schließt aus diesen Ermittelungen, daß der ganze Boden unter dem Meeresarme hin aus einer gehörig tiefen, zusammenhängenden, festen Kalksteinmasse bestehe. Von der Richtigkeit dieser Voraussetzung hängt nun allerdings noch das Gelingen des Unternehmens ab. Irgend ein tiefer Einschnitt von Sand oder sonst weicher Masse unterhalb dieses Canalbettes könnte den
[133] ganzen Tunnel unrettbar mit Wasser füllen. Dies ist aber im höchsten Grade unwahrscheinlich. Nach allen sorgfältigen Bohrungen und Untersuchungen sowie nach geologischen Gesetzen, bietet sich für den auszuhöhlenden Tunnel das beste Material für leichte und sichere Ausführung. Die Kalksteinmasse ist tief und mächtig genug, und beinahe zehnmal leichter zu durchbohren als das hartnäckige Gestein im Mont Cenis.
Man wird hier ungefähr ebenso bohren und zwar mit einer angeblich besseren, von Dickenson Brunton erfundenen Maschine, welche wie viele Dutzende von Meißeln arbeiten wird. Man beginnt auf beiden Seiten zugleich, und zwar zunächst versuchsweise, um vorläufig eine Art von Treibweg von neun Fuß Durchmesser zu gewinnen. Ist man darin von beiden Seiten glücklich in der Mitte unten zusammen gekommen, so soll es erst an die Ausweitung dieser Felsenröhre gehen und zwar so, daß doppelte Schienen neben einander Platz haben. Die den Mont Cenis durchbohrende Maschine kam täglich bloß ein Yard oder eine englische Elle vorwärts. Mit der Brunton’schen glaubt man durch die viel weichere Masse jede Stunde so weit, mithin in zwei Jahren ganz durch zu kommen. Für die Ausweitung dieser Röhre würden dann noch vier Jahre und mindestens eben so viele Millionen Pfund Sterling gehören. Die Letzteren sind so gut wie vorhanden. Aber es kommen noch zwei andere Schwierigkeiten in Betracht. Die eine läßt sich, wie bei Durchbohrung der Alpen, bewältigen, die andere ist hier neu. Man muß für die Arbeiter Luft schaffen. Ventilationsthürme waren beim Mont Cenis eben so unmöglich, wie jetzt durch das Meer hindurch. Man muß von einem Ende bis zum andern arbeiten, alle ausgebohrte Masse bis an die beiden Eingänge, also zuletzt beinahe zwei und eine halbe Meile weit heraus- und emporschaffen und dabei die Arbeiter fortwährend mit frischer Luft versorgen.
Bei Durchbohrung des Mont Cenis wurden die Maschinen mit zusammengepreßter und immer wieder entweichender, also für die Arbeiter immer frischer Luft getrieben. Aber Alles geschah hoch von der Erdoberfläche her. Hier nun geht es von beiden Endpunkten aus durch einen über hundert Yards tiefen Brunnen, durch welchen alle ausgegrabenen Massen, alle Arbeiter und die für sie gehörige Luft passiren müssen. Der alte Themse-Tunnel, damals das unerhörteste Wunderwerk, wurde ebenso versorgt, aber es war eine Liliputerei gegen das jetzt in Angriff genommene Brobdignac-Unternehmen. Nun, der Trost ist, daß mit unserer Naturwissenschaft, unserer Ingenieurkunst und der unermüdlichen Macht unseres Dampfes dieses Riesenwerk schon jetzt thunlicher erscheint, als damals das erste Weltwunder Brunel’s unter der Themse hindurch. Alles ist bis auf die vorausgesetzte zusammenhängende Tiefe des Kalksteinbettes Sache der Mechanik und des Mammon.
Nach den Auseinandersetzungen des Herrn von Lesseps in der französischen Akademie braucht man blos fünfzig Yards tief unter dem Meeresbette hindurch zu bohren. Aber auch hier will man erst proben und versuchen und nach Durchbohrung der engeren Röhre, von jedem Ende aus erst eine halbe englische Meile hinein, die ganze nöthige Weite aushöhlen. Ueberhaupt ist bis jetzt Alles so angelegt, daß alle Kühnheit durch Vorsicht beschränkt und gesichert werden soll. Und so wird es hoffentlich spätestens in zehn Jahren ununterbrochen mit Dampf von und nach dem Brennpunkte des europäischen Weltverkehrs, Geld- und Creditmarktes, von und nach allen Hauptstädten Europas Tag und Nacht hin- und herdonnern, und die dreihunderttausend jährlichen seekranken Canalpassagiere werden zu drei Millionen munteren Reisenden werden, denen jedes Opfer an Neptun gespart wird. Die kaufmännischen und gesellschaftlichen Vortheile dieses Unternehmens sind jetzt kaum übersehbar. Die unmittelbare Verbindung der zwei Hauptstädte des westlichen Europas und damit zugleich aller europäischen Eisenbahnnetze und der Weltmeerhäfen weitet das Gebiet der völkerverbindenden Geschäfts- und Vergnügungsreisen mittelbar über die ganze runde Erde aus. Und so wird hoffentlich dieser englisch-französische Canal-Eisenbahn-Tunnel auch zu einem haltbaren Verbindungsgliede zwischen den Völkern werden; denn nur durch materielle und geistige Verbrüderung können sich diese einander fördern, die friedliche Weltcultur sichern und pflegen, dem verzehrenden bewaffneten Frieden seine immer tödlicheren und massenhafteren Geschosse aus den Händen winden und uns von den Uebeln befreien, mit denen die modernen Staaten sich gegenseitig die gesunde Existenz verkümmern.
Und nun noch ein Wort über den Canal selbst. Er wird von den beiden Gestaden Englands und Frankreichs gerade da gebohrt, wo sie sich am nächsten kommen, das heißt eine gute Strecke südlich von Calais und fast ebensoweit nördlich von Dover. Dort laufen auch die englischen und französischen Eisenbahnen in mehreren Hauptadern zusammen. Auf der französischen Seite verbinden diese die Küste unmittelbar mit Boulogne, Amiens und Paris, von da also auch mit Deutschland und andererseits mit dem dichten belgischen Eisenbahnnetze. Die bei Dover mündenden Bahnen verbinden fast das ganze Schienennetz Englands und verzweigen sich in und bei London in Hunderte von unter- und überirdischen Stationen. Zwischen den beiden gewählten Punkten ist auch der Meeresboden und die doppelte Kalkschicht darunter sehr günstig; letztere hat, wie durch Bohrungen ermittelt worden ist, an beiden Küsten eine Tiefe von durchschnittlich fünfhundert Fuß unter Hochwasser, welches auf der Tunnellinie in größter Tiefe nur hundertachtzig Fuß erreicht, so daß der hineingesenkte Westminsterthurm noch fünfundvierzig Fuß über die Oberfläche hervorragen würde. Bis jetzt ist man darüber einig, daß diese Tunnelröhre mindestens zweihundert Fuß unter dem Meeresboden gebohrt werde, obgleich, wie erwähnt, Lesseps seine Ueberzeugung dahin aussprach, daß fünfzig Fuß auch hinreichend sein würden. Bei der größten Tiefe wird der Schienenweg von der Mitte aus nur einen Fuß auf 2640 und vom Gestade nach den Landeisenbahnen hin auf je achtzig Fuß einen steigen.
Die Bohrungen, welche auf beiden Seiten an den gewählten Punkten vorgenommen wurden, ergaben an der englischen Sanct Margarethen-Bucht bis in eine Tiefe von fünfhundertvierzig Fuß einen zusammenhängenden Kalksteinboden. Erst darunter stieß man auf Sand und sogenanntes paläozoisches Gestein. Auf französischer Seite fand man den Kalksteinboden ununterbrochen zusammenhängend bis in eine Tiefe von fünfhundertzwanzig Fuß. Man brauchte dazu auf jeder Seite fast die ganzen Jahre 1866, 1867, 1868. Gleichzeitig wurde der Meeresboden dazwischen sorgfältig gepeilt und, wie gesagt, ungemein günstig gefunden.
Die Untersuchungen haben ergeben, daß die Tunnelröhre von der englischen Küste aus durch einen Kalksteinboden von vierhundertsiebenzig Fuß Tiefe unter Hochwasser gehöhlt werden könne und die ersten hundertfünfundsiebenzig Fuß aus weißem, die anderen darunter aus grauem Kalke bestehen. Auf der französischen Seite fand man siebenhundertfünfzig Fuß tiefen Kalksteinboden, die ersten zweihundertsiebenzig Fuß davon weiß, die anderen vierhundertachtzig grau. Die Annahme, daß der Meeresboden die ganzen zwanzig englischen Meilen lang ohne Unterbrechung aus derselben Masse in etwa derselben Tiefe bestehe, kann zwar nicht bis über alle Zweifel erhoben werden, ist aber geologisch im höchsten Grade wahrscheinlich. Darauf hin will man’s nun endlich wagen. Und Goethe ermuthigt mit Recht: „Dem Wagenden ist oft Fortuna hold.“ Sowohl die Franzosen wie die Engländer, welche bis jetzt an der Spitze des Wagnisses stehen, gelten für wissenschaftlich und praktisch erprobte Männer. Auf englischer Seite sind es Lord Richard Grosvenor und William Hawes als Vorsitzende der Commission; auf französischer Michel Chevalier, der von dem tüchtigen Ingenieur und Schöpfer des ganzen Planes Thomé de Gammond unterstützt wird. Die englischen Ingenieurs sind Sir John Hawkshaw und Brunlees. Sie haben in Nr. 5 Victoria-Street, in dem Westminstertheile Londons und in der Nähe des großartigsten Eisenbahnnetzes, über welches fast Tag und Nacht alle fünf Minuten, während der Geschäftszeit auch viel öfter, Züge hin und her und oft in größter Tollkühnheit wirr durcheinander zu laufen scheinen, ihr Bureau eröffnet, wo der bis jetzt einzige Secretär Bellinham schon so viel zu thun hat, daß er sich immer mehr Schreibgehülfen anschaffen muß. Im Laufe des Jahres soll die Ausmeißelung der zunächst engeren Röhre gleichzeitig von beiden Seiten beginnen. Möge ein glückliches Ende das Werk krönen!
Von Robert Keil.
Als vor einiger Zeit durch die deutsche Presse die Kunde lief, daß gewisse süddeutsche Blätter die Behauptung aufstellten, Schiller sei zum Katholizismus übergetreten und deshalb um Mitternacht ehrlos von bezahlten Schneidern zu Grabe oder vielmehr in eine Kalkgrube getragen worden, wäre man geneigt gewesen, das Ganze für einen unwürdigen, frivolen Scherz zu halten, wenn nicht das Motiv dieses Geschwätzes dem letzteren eine ernstere Bedeutung gegeben hätten. Es war die ultramontane Presse: die in Passau erscheinende „Donauzeitung“, der in München erscheinende „Volksfreund“, das in Würzburg erscheinende „Fränkische Volksblatt“, durch welche jene Lüge in die Welt gesandt wurde, und diese Lüge war nichts anderes, als ein jesuitisches Bubenstück.
In Veranlassung des Glaubenswechsels der Königin Mutter von Bayern hatten jene Blätter die Hoffnung ausgesprochen, „daß auch in Deutschland wieder Ein Hirt und Ein Schafstall sein werde – daß Alle, die vor dreihundert Jahren ausgezogen, wieder heimkehren werden in’s Vaterhaus, einig nicht à la Bismarck, sondern à la Königin Marie von Baiern“; sie hatten wider den intoleranten Sectenhaß gegen die Convertiten geeifert und als eines der „allerflagrantesten Beispiele von Verfolgungssucht gegen große Convertiten“ den Namen Schiller’s genannt. Zur Rechtfertigung dessen stellten sie die Behauptung auf, „Schiller, der Lieblingsdichter der Nation, sei katholisch gestorben und dafür in eitler Nacht von bezahlten Schneidergesellen ehrlos zu Grabe getragen worden, Oberconsitorialrath Günther in Weimar habe sich allen Bitten für eine würdige Bestattung widersetzt; Goethe, der damals allmächtige Minister des Herzogthums, habe nichts für seinen ehemaligen Freund gethan; Schiller habe in einer Kalkgrube gelegen“. Sie druckten, ohne die Quelle zu nennen, Mittheilungen des ehemaligen Bürgermeisters von Weimar Carl Leberecht Schwabe (aus dem Werke „Schiller’s Beerdigung und die Aufsuchung und Beisetzung seiner Gebeine, nach Aktenstücken und authentischen Mittheilungen aus dem Nachlasse des Hofraths und ehemaligen Bürgermeisters von Weimar Carl Leberecht Schwabe von Dr. Julius Schwabe, Leipzig, Brockhaus 1852“) über die Abholung der Leiche, über den nächtlichen Zug durch die Stadt zum alten Kirchhofe vor der St. Jakobuskirche und über den die Wolken auf einen Augenblick durchbrechenden Mond wörtlich ab, aber verschwiegen, daß nach eben diesen authentischen Mittheilungen Schwabe’s
1) die Wittwe des Dichters stille Beerdigung des Dahingeschiedenen wünschte;
2) daß nur dieses Wunsches der Familie wegen der Oberconsistorialrath Günther, welcher alles deshalb Nöthige zu besorgen übernommen hatte, auf die Bitte Schwabe’s, des warmen Verehrers des Dichters, an die Stelle der nach damaliger Weimarischer Sitte zu Trägern des Sarges bestimmten Handwerker Freunde Schiller’s treten zu lassen, anfangs die ablehnende Antwort gab. „Ja, lieber Freund, das geht nun nicht mehr; es ist schon alles geordnet, alles soll in der Stille geschehen; auch sind bereits die Träger bestellt;“
3) daß aber von Günther auf weitere dringende Vorstellung Schwabe’s für diesen und seine Freunde das Versprechen ertheilt wurde, daß sie Schiller’s Leiche zur Todtengruft tragen sollten;
4) daß denn auch die Handwerker wirklich abbestellt wurden und Schiller’s Leiche nicht von Schneidern, sondern von Gelehrten, Beamten und Künstlern, welche Schwabe namentlich aufführt, von Schiller’s Wohnung zum Friedhof getragen wurde;
5) daß endlich die Ruhestätte, wo der Sarg beigesetzt wurde, nicht eine Kalkgrube, sondern das der Landschaftscasse gehörige sogenannte Cassengewölbe war, in welches fast alle Leichen vornehmer Personen beigesetzt wurden, welche keine eigenen Erbbegräbnisse besaßen und deren Angehörige sie nicht auf dem allgemeinen Todtenacker begraben lassen wollten.
Die deutsche Presse beachtete erst nach und nach dieses neue Erzeugniß ultramontaner Heimtücke und Frechheit. Die „National-Zeitung“ wies auf die frivole Gewissenlosigkeit hin, mit der jene Blätter ihrem Publikum derartige Lügen vorzusetzen wagen, und stellte Erklärungen der Weimarischen Gemeindebehörde und des Schiller’schen Enkels in Aussicht, die „Gartenlaube“ hob mit kurzen schlichten Worten den wahren Sachverhalt hervor, der ja dem gebildeten Theile der Lesewelt längst bekannt ist. Die Pfaffenblätter aber, aller Scham über ihre dreiste Lüge bar, erhielten sie (wie sie sich auszudrücken belieben) gegen die „Bismarckischen Sauhirten“ und gegen „die anrüchige Gartenlaube und deren liberale Unverschämtheiten“ aufrecht, indem sie die Berichtigung der städtischen Behörde und des Schiller’schen Enkels Freiherrn von Gleichen-Rußwurm herausforderten. „Schiller,“ schrieben sie, „würde sich noch im Grabe umkehren, wenn er ein Grab gefunden hätte. Aber er hat keines gefunden! Kommt nur mit eurem Certificat vom Weimarer Stadtmagistrat! Alles halten wir aufrecht.“
Es erfolgten darauf die beiden Proteste von Seiten des Gemeindevorstands von Weimar und des Enkels Schiller’s, des Freiherrn von Gleichen-Rußwurm, welche in den letztvergangenen Monaten ihren Weg durch die gesammte deutsche Presse genommen haben. Dank der Vorschrift des Reichsgesetzes über die Presse, waren auch jene ultramontanen Blätter genöthigt, beide Berichtigungen zum Abdruck zu bringen. Man hätte nun glauben können, daß damit die Discussion geschlossen wäre. Aber weit gefehlt! Mit wahrhaft unbegreiflicher Dreistigkeit haben jene Blätter sogar den Beweis ihrer Behauptungen pomphaft angekündigt, und in der That unternommen. Mit größter Aufmerksamkeit sind die Verehrer des großen Dichters, die Freunde historischer Wahrheit, diesem Beweisversuche gefolgt – mußte man doch vermuthen, daß irgend ein bisher unbekannt gebliebener Umstand aus Schiller’s Leben existire, welcher Mißverständnisse hervorgerufen und jene Märchen veranlaßt habe. Wie sehr ist man aber auch in dieser Hinsicht getäuscht worden! Nicht einen einzigen tatsächlichen Umstand, nicht den geringsten Anhalt für ihre Behauptungen haben die Blätter beibringen können!!
Gehen wir auf ihre sogenannte Beweisführung näher ein.
Nach der schönen Versicherung, auch ihnen sei es nicht um die Verdunkelung der geschichtlichen Wahrheit, sondern um deren Feststellung und Beleuchtung zu thun, und nach der aus solcher Feder doppelt bedenklichen Betheuerung: „Das Andenken Schiller’s sei ihnen nicht minder heilig; sie gehörten zu des großen Todten eifrigsten Verehrern; die Mitlebenden seien dem großen Dichter nicht immer gerecht geworden – um so gerechter müsse ihm die Nachwelt werden etc.“, deduciren sie (vgl. Donau-Zeitung, 1874, Nr. 298; 1875, Nr. 2)
I. den Schiller’schen Glaubenswechsel so: „Schiller habe sich während der Jahre seines Lebens und Schaffens aus der Nacht zum Licht emporgearbeitet; er habe eine vollständige Metamorphose durchgemacht und sei aus einem Ungläubigen ein Christ geworden, indem er durch alle sein Volk und ihn selbst beherrschende Verblendung hindurch den Rückweg zum Positiven, das heißt zur katholischen Kirche gefunden habe; mit Schiller’s Werken in der Hand könne man seinen Geistesgang Schritt für Schritt nachweisen; man könne sehen, wie er sich aus dem Leichtsinn und der Leidenschaft der Jugend zur Klarheit und Tiefe der männlichen Ueberzeugung durchgearbeitet; um es kurz und prägnant zu sagen: man könne sehen, wie er zur katholischen Kirche geht, mit Karl Moor habe er begonnen, mit dem Tell habe er geschlossen, der Tell aber enthalte nicht ein einziges Wort, das nicht auch von einem ganz entschiedenen Katholiken gesagt sein könnte, somit sei er ausweislich seiner Schriften gegen Ende seines Lebens an dem Thore der katholischen Kirche angelangt.“[2] Dies ist zunächst die Deduktion, für welche sich jene [135] Blätter auf zwei katholische Schriften über Schiller berufen und dieselben zum Theil wörtlich abschreiben. Es sind „Schiller und sein Verhältniß zu den politischen und religiösen Fragen der Gegenwart“ von G. Fr. Daumer (Mainz, 1862) und „Schiller, sein religiöser Fortschritt und sein Tod“ von Jos. Lukas (Landshut, 1863), zwei literarische Versuche, den großen deutschen Dichter für die katholische Kirche zu annectiren. Dabei hält Daumer die Vorgänge bei Schiller’s Tod und sein Begräbniß für ein Werk des Freimaurerordens. Als die Daumer’sche Hypothese von Aenderung der religiösen Ueberzeugungen Schiller’s (um Lukas’ Worten, S. 44, zu reden) „keck und abrupt in die Oeffentlichkeit trat, erregte sie überall nur ein bedenkliches Kopfschütteln.“ Lukas, von ihm mehrfach abweichend und ihn befehdend, versuchte dieselbe Deduction auf anderem Wege, indem er aber ebenso wie Daumer einen wirklichen Uebertritt Schiller’s zur katholischen Kirche selbst nicht zu behaupten wagte, sondern seine Schrift mit den Worten schloß: „So steht die Frage. Jeder ziehe sich die Consequenzen nach eigenem Ermessen. Wir haben weder Lust noch Bedürfniß, große Todte von der Gegenseite ohne Weiteres zu uns herüber zu ziehen, aber bis die Lösung erfolgt, bleiben alle vernünftigen Conjecturen berechtigt, auch die mehrmals berührte.“ Beide Schriften sind als offenbare Fälschungen der deutschen Literaturgeschichte von der Kritik längst abgefertigt und verworfen.
Man sieht, daß die ultramontanen Beweisführer ihre eigene Behauptung Schiller’schen Uebertritts zum Katholicismus zu beweisen nicht einmal versuchen. Sie wollen jetzt nur darthun, daß Schiller laut seiner Schriften „zur katholischen Kirche gegangen, an den Pforten der Kirche, am Thore der katholischen Kirche angelangt sei“, mit anderen Worten: daß er eine katholisirende Richtung eingeschlagen habe. Wie konnten sie aber hiernach dreist behaupten, daß Schiller katholisch gestorben sei? Und auch die vermeintliche katholisirende Richtung, – wo ist in den Schriften Schiller’s die leiseste Andeutung, der geringste Grund für eine solche Annahme gegeben? Wohl kann man, seine Werke in der Hand, „seinen Geistesgang Schritt für Schritt nachweisen“, wohl hat er sich „zum Licht emporgearbeitet“, aber dieses Licht ist nimmermehr dasjenige gewesen, welches die ultramontanen Herren unter Licht begreifen. Von seinem ersten wild-genialen Jugendwerke bis zu seinem schwung- und kraftvollen Hohenliede der politischen Freiheit – von „den Räubern“ bis zum „Tell“ – liegt das ganze Denken und Dichten, Leben und Streben Schiller’s in seinen Werken, seinen Briefen klar vor uns, und nicht Eine Zeile seiner Werke, nicht Eine Silbe seiner Briefe, nicht Ein Wort seiner Zeitgenossen über ihn läßt eine katholisirende Richtung erkennen, vielmehr war einer solchen Richtung sein ganzes auf religiöse und politische Befreiung des Volkes gerichtetes Wirken diametral entgegengesetzt. Und weil sein „Wilhelm Tell“, der die patriotische Selbstbefreiung eines geknechteten Volkes feiert, kein anderes confessionelles Gepräge trägt, als dasjenige der Zeit, in welcher das Stück spielt, und kein Wort enthält, das nicht auch von einem patriotisch warm und frei fühlenden Katholiken geschrieben sein deshalb ist anzunehmen, daß der Dichter katholisch geworden? Wir beneiden die Herren Ultramontanen um diese Art Logik nicht. Für einen Gebildeten bedarf es keiner Widerlegung solchen Unsinns; wir bemerken nur: der „Tell“ enthält auch kein Wort, das nicht auch von einem patriotisch warm fühlenden Israeliten gesagt werden könnte – will man deshalb nicht auch behaupten, daß der Dichter ein Jude geworden sei?!
Ein zweites Beweismoment glauben die genannten Blätter in dem Berichte von Schiller’s Schwägerin, Frau von Wolzogen, über die Stimmung des Dichters in seinen letzten Tagen zu finden: „Immer inniger wurde die Ehrfurcht, mit welcher ihn gegen das Ende seines Lebens auf der einen Seite die unendliche Tiefe der Natur, auf der anderen die welthistorische Wirkung der Lehre Christi und die reine, heilige Gestalt ihres Stifters erfüllte. Einmal, als er die Schwägerin im Livius lesen sah, bemerkte er: ‚Da der Glanz und die Hoheit des Lebens, die nur in der Freiheit des Menschen erblühen konnten, untergegangen, war, so mußte nothwendig Neues entstehen. Das Christenthum hat die Geistigkeit des Daseins erhöht und der Menschheit ein neues Gepräge aufgedrückt, indem es der Seele eine höhere Aussicht eröffnete.‘ Er hatte Worte der Herzensdemuth, der wahren Religion; von Liebe, von Gott sprach er nur in den reinsten Momenten. Glauben sollen kann man ja keinem Denkenden zumuthen – Glauben finden war ihm immer wohlthätig. Beispiele immediater Gotteshülfe in unverschuldeter Noth erkannte er mit Rührung; die Lehre des Erlösers ehrte er immer als den höchsten Ausspruch in der Menschheit. Ja, der Ruf des Herrn drang an sein Herz.“ Es ist der Bericht derselben Dame, deren ebenso wahre wie rührende Schilderung von Schiller’s letzten Lebensstunden und Verscheiden dieselbe ultramontane Presse in gemeiner Weise schmäht: „Man sieht: sehr schön! Gerade wie auf dem Theater. Die Erzählung der Frau von Wolzogen trägt den Stempel des Romans offen an der Stirn. So stirbt man im Theater vor den Augen des Publicums, mit Anstand und Eleganz. Frau von Wolzogen hat offenbar nur den Text zu den Illustrationen liefern wollen, die in Aussicht standen etc.“
Aber prüfen wir jenen Bericht von Schiller’s Schwägerin über seine volle und warme Anerkennung von der hohen ethischen Bedeutung des Christenthums – wo in aller Welt liegt hierin der Nachweis einer katholisirenden Richtung Schiller’s oder auch nur eine Spur davon? wo vollends ein Anhalt für die Behauptung eines Glaubenswechsels? seit wann hat denn der evangelische Glaube aufgehört, ein christlicher zu sein? – Wie unendlich fern lag Schiller’s ganzes Wesen bis zum letzten Athemzuge einem Uebertritte zur katholischen Kirche!
Verzweiflungsvoll klammern sich deshalb jene ultramontanen Blätter (vgl. „Donau-Zeitung“ 1875, Nr. 2, 3, 4) an die vermeintlichen Widersprüche in den Berichten der Augenzeugen von Schiller’s Tode und in den Erzählungen seiner Biographen über das Dahinscheiden des Dichters an. Aber abgesehen von kleinen Abweichungen in unwesentlichen, nebensächlichen Einzelnheiten (wie dergleichen Abweichungen, je nach der Individualität des Berichterstatters, in Berichten über solche Katastrophen sich fast immer finden lassen werden) harmoniren die Berichte der Augenzeugen (seiner Schwägerin Frau von Wolzogen, seiner Gattin, sowie Fräulein von Göchhausen etc.) vollständig, und die Schilderungen der Schiller-Biographen stimmen in allen wesentlichen Punkten vollkommen überein. In heiteren Jugenderinnerungen, in inniger Liebe zu seiner Frau und seinen Kindern, mit einem letzten Kusse der Gattin als dem letzten Zeichen seines Bewußtseins: während sein Auge schon den Ausdruck der Verklärung hatte, ist Schiller aus dem Leben geschieden. Sein vom Diener bezeugtes wiederholtes Anrufen Gottes, „ihn vor einem langsamen Hinsterben zu bewahren,“ war das einzige Moment, welches dem religiösen Gebiete angehört. Von einem Glaubenswechsel, insbesondere vom Uebertritt zur katholischen Kirche, findet sich auch hier überall nicht die geringste Spur. Die Ultramontanen gestehen selbst, daß ein Conversionsprotokoll fehle. Sie begnügen sich aber mit dem billigen Troste, „das werde sich noch finden,“ und suchen sich inzwischen mit Verdächtigungen zu helfen. Die durch nichts, durch gar nichts gerechtfertigte, aus der Lukas’schen Schrift (S. 79) herübergenommene, maßlos freche Beschuldigung der achtungswerthesten Persönlichkeiten, der Verwandten Schiller’s durch die Pfaffenblätter: „Diese Augenzeugen seien verschworen; es sei ohne Zweifel Ungewöhnliches an Schiller’s Sterbebette vorgegangen; jene geheimnißvollen Vorgänge würden seitdem durch ein stillschweigendes Compromiß vertuscht, so gut oder so schlecht es gehe,“ charakterisirt nur die Feder, aus welcher sie geflossen; außer Stande, für ihre Lügenangaben auch nur den kleinsten tatsächlichen Anhaltspunkt aufzuweisen, schämt sich diese ultramontane Feder der nichtswürdigsten Verdächtigung und Beschuldigung der Schiller’schen Verwandten nicht, um wenigstens hierdurch die von ihr dem Publicum aufgetischten Lügen einigermaßen zu beschönigen.
Und wie die ultramontanen Blätter in dieser Beziehung jeden Beweis schuldig geblieben sind, so auch
[136] II. hinsichtlich des Schiller’schen Begräbnisses; auch insofern liegt das Gegentheil ihrer lügenhaften Angaben klar zu Tage. Indem sie auf die nächtliche Beisetzung der Leiche des Dichters als einer unwürdigen Bestattungsform schimpfen, indem sie das Tragen der Leiche durch Schneider (als wäre das Tragen des Sarges durch ehrenwerthe Bürger etwas Schimpfliches!), das Fortschaffen in eine Kalkgrube hartnäckig behaupten und die freche Behauptung wiederholen, daß der Dichter im Tode diese ehrlose Behandlung deshalb erfahren habe, weil er katholisch geworden sei, ignoriren sie zunächst das wichtige Factum, daß am folgenden Tage eine feierliche kirchliche Handlung, eine würdige Todtenfeier (sogenannte Collecte) mit einer Trauerrede des General-Superintendent Vogt, des höchsten evangelischen Geistlichen des Landes, und mit Aufführung einer Trauermusik aus Mozart’s Requiem unter allgemeinster Theilnahme in der St. Jacobskirche zu Weimar stattgefunden hat. Aber auch hinsichtlich der in der Nacht vorher erfolgten Beisetzung der Leiche ohne Trauerrede und Gesänge zerfällt der von den ultramontanen Blättern erhobene Vorwurf deshalb in Nichts, weil eben hierbei nur die damals in Weimar bestandene Sitte befolgt wurde. Zwar wollen sie auch diese Sitte nicht als damals bestehend zugeben; sie erdreisten sich vielmehr („Donau-Zeitung“ 1873, Nr. 7), gegen den Weimarischen Oberbürgermeister Fürbringer die komische Beschuldigung auszusprechen: „Um Schiller’s Beerdigung weiß zu waschen, schwärze Herr Fürbringer die Sitten der Stadt Weimar an.“ Die alte, noch 1805 gültige Weimarische Begräbnißordnung von 1763 liegt aber vor und bestimmt über das Vorrecht nächtlicher Beisetzung wörtlich:
„Diejenigen Personen, die ihre Leichen bey Abendzeit, ohne vorgängige Dispensation zur Erde bestatten zu lassen, vermöge ihres Standes und ihrer Geburt, die Erlaubniß haben, als Ministers, wirkliche Räthe und Cavaliers, ingleichen die von Adel in Städten und auf dem Landen haben bey dergleichen Abend-Beysetzungen jedesmahl die ganze Schule zu bezahlen, es wäre denn, daß sie ein unter 12 Jahr verstorbenes Kind begraben zu lassen hätten, als auf welchem Fall selbigen nur die halbe Schule zu bezahlen freystehet.
Den Titular-Räthen, Secretarien und allen andern geist- und weltlichen Bedienten bey hohen und niedern Collegiis, auch Aemtern, bis auf den Direktor Gymnasii und dessen übrigen Collegen inclusive, soll die Abend-Beysetzung, anders nicht, als gegen die, in das Waysenhaus zu erlegenden Dispensations-Gelder gestattet seyn, sollen aber mehr als die halbe Schule zu bezahlen, nicht angehalten werden können.
Sonst soll weiter niemanden, auch nicht einmal gegen Erlegung beträchtlicher Dispensations-Gelder die nächtliche Beysetzung nachgelassen werden.“
So lautete das Gesetz. Ihm und den localen Sitten gemäß ist verfahren worden. Keines Falls kann man der Stadt Weimar den Vorwurf der Theilnahmlosigkeit machen. Sowohl der Zudrang des Publicums zu der kirchlichen Todtenfeier am folgenden Tage, wie die Vereinigung, die Trauer und Thränen der jungen Gelehrten und Künstler, welche den Todten zur Begräbnißstätte trugen, beweisen die warme Theilnahme. Und hier gerade ist es, wo wir die ultramontane Presse bei offenbarer absichtlicher und wissentlicher Unwahrheit ertappen.
Sie hat behauptet, daß Schiller ehrlos begraben worden sei, daß er von Schneidern zu Grabe getragen und in eine Kalkgrube geschafft worden sei. Sie citirt den Bericht der Frau von Wolzogen; sie beruft sich zu ihrer Rechtfertigung auf die Darstellung eines Augenzeugen, des Obermedicinalraths Froriep. Frau von Wolzogen aber hat bezeugt: „Das Leichenbegängniß war dem Range des Verstorbenen gemäß angeordnet, aber zwölf junge Männer höhern Standes nahmen die Leiche den gewöhnlichen Trägern ab, und von liebenden Freundesarmen wurde sie zur Ruhestatt getragen;“ und Froriep (Schiller-Album, Stuttgart, 1837, S. 77) bezeugt als Augenzeuge, daß Schiller’s Leiche „von einigen jungen Gelehrten – unter denen Stephan Schütze und Heinrich Voß – Künstlern und Staatsdienern getragen,“ und in dem Cassengewölbe beigesetzt worden ist, „in welches sich einzukaufen jede bemittelte Familie das Recht gehabt habe.“ Die ultramontanen Blätter (das „Fränkische Volksblatt“ wie die „Donauzeitung“) gestehen zu, daß sie, als sie jene Beschuldigungen aussprachen, dieses wichtige Zeugniß, auf welches sie sich naiver Weise selbst berufen, bereits gekannt haben. Sie haben gewußt, daß Schiller nicht von Schneidern getragen, nicht in eine Kalkgrube geschafft worden ist, und indem sie dies gleichwohl behauptet haben, haben sie eben wissentlich und absichtlich gelogen.
Wir könnten hier als vollgültige Belege für den wahren Sachverhalt anführen: noch weitere Zeugnisse der Frau von Wolzogen über die allgemeine Trauer um Schiller in Weimar selbst, ferner des Dr. Julius Schwabe in dem oben genannten Werke über die Bedeutung der „Collecte“ zu jener Zeit; ebenso das Zeugniß des großherzoglich sächsischen evangelischen Oberpfarramtes über den Tod Schiller’s und über das Begräbniß desselben nach evangelischem Ritus und durch den höchsten evangelischen Geistlichen des Landes, nach dem betreffenden Todtenprotocoll der evangelischen Gemeinde, und einen Brief der Frau Charlotte von Stein, der vertrauten Freundin von Schiller’s Gattin an ihren Sohn Friedrich von Stein, von 1805 (bei Düntzer: Charlotte von Stein, Goethe’s Freundin, Stuttgart 1874, 2. Band, S. 218) über Schiller’s Begräbniß und die schon damals ausgesprochene Absicht, ihm ein Denkmal im neuen Gottesacker zu errichten. Aber all’ diese Zeugnisse überzeugen die Häupter jener Jesuitenpresse doch nicht, und für unsere redlich und deutsch gesinnten Leser im katholischen, wie im protestantischen Deutschland sind sie nicht nöthig.
Fragt man aber nach dem Motive solcher schamlosen Lügen, solcher grenzenlosen Frechheit, so ist dasselbe nur allzu klar und durchsichtig. Schiller, der begeisterte Sänger von Wahrheit und Freiheit, Licht und Recht, der entschiedenste Gegner aller pfäffischen Verdummung des Volkes, der dem ganzen Jesuitengesindel verhaßteste geniale Vertheidiger von politischer, Gedanken- und Religionsfreiheit, war der Liebling der deutschen Nation geworden; seinen hundertjährigen Geburtstag hat sie gleich ihrem eignen, als Nationalfest begangen; seine Dichtungen sind in Jedes Hand. Sie bilden Geist und Herz des Kindes wie des Erwachsenen. Ihn, gerade ihn, als einen reuig Bekehrten und ob dieser Bekehrung im Tode ehrlos Geschändeten erscheinen zu lassen, mußte ein hoher Gewinn für die Sache des Ultramontanismus sein. So soll schon im Jahre 1830 der Rector Weigl zu Regensburg in einer Vorlesung angedeutet haben, Schiller sei katholisch gestorben, und die „Donauzeitung“ fügt natürlich jetzt hinzu, sie habe erfahren, daß Weigl diese „Enthüllungen“ öfter als einmal gemacht hat, und daß er sie unzweifelhaft von Dalberg erhalten gehabt habe. Als dann das deutsche Volk den hundertjährigen Geburtstag des protestantischen Dichters mit Begeisterung gefeiert hatte, beeilten sich Daumer und Lukas, ihre „Conjecturen“ über Schiller zu veröffentlichen, indem namentlich Lukas a. a. O., S. 62. naiv genug bemerkte: „Haben wir denn nicht auch dann gewonnen, wenn wir für Schiller eine romantische Conversion nachgewiesen haben? Allerdings, denn dann hat der unbedingte Fortschritt das Recht verloren, Schiller’s Bild auf seine Fahne zu heften.“
Den großen Dichter als einen katholischen Märtyrer erscheinen zu lassen, Aussprüche seiner dramatischen Personen (wie es denn die ultramontanen Blätter in Wirklichkeit bereits thun) gegen die preußische und Reichs-Politik citiren zu können, mußte in der Gegenwart – in einer Zeit, in welcher gerade durch den deutschen Geist, zu dessen Erweckung Schiller selbst so wesentlich beigetragen, alle Stützen des unfehlbaren Papstthums wanken – doppelt willkommen erscheinen, dreifach willkommen aber in einer Zeit, in welcher ein fürstlicher Glaubenswechsel überall so viel von sich reden machte. Dies war der jesuitische Plan der ultramontanen baierischen Blätter, und die anscheinend befremdlichen Vorkommnisse bei Schiller’s Beisetzung, welche einst von Archenholz (in seiner „Minerva“, Jahrg. 1805, S. 548) und Andere, unbekannt mit den damals in Weimar üblichen Gebräuchen, gerügt hatten, mußten mit Berufung auf die beiden mehrgenannten Schriften die willkommene Handhabe zur Ausführung bieten. Hatte nicht Loyola das große Wort gesprochen, daß der heilige Zweck auch das elendeste Mittel heilige? – Wollen sie nicht etwa ihre Leser auch glauben machen, daß ein Lessing (über dessen Tod die „Donauzeitung“ mit Daumer conjecturirt, daß er von den Freimaurern vergiftet worden sei!)
[137]noch auf dem Sterbebette den katholischen Glauben angenommen habe, daß ein Herder nach seiner letzten Predigt noch zur katholischen Kirche übergetreten sei, daß der Wunsch des sterbenden Goethe: „mehr Licht!“ sich auf das ewige Licht in katholischen Kirchen bezogen habe?!
Sie sind entlarvt, diese ultramontanen Lügner. Jeder klar und anständig denkende Katholik muß die Nichtswürdigkeit der Gesinnung dieser ultramontanen Presse begreifen und sich von solchem Treiben mit Ekel abwenden. Nur in einer Hinsicht haben wir ihr Dank zu sagen. Indem sie, um Schiller für sich in Anspruch zu nehmen, auf Schiller hinweist, gleicht sie
dem Theil von jener Kraft,
Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.
In den Kreisen ihrer Leser werden unseres Schiller’s Werke mehr und mehr Eingang finden, werden sie für alles Wahre, Große und Schöne begeistern und sie bewahren, ultramontanen Agitationen und Lügengeschichten das Ohr zu leihen. Zu welchen blutigen Thaten der durch ultramontane Wühlerei genährte und aufgestachelte religiöse Fanatismus führen kann, hat der letztvergangene Sommer bewiesen; wir aber haben – genau wie Schiller’s Carlos im Gespräch mit Domingo, dem Beichtvater des Königs Philipp –
immer sagen hören, daß
Geberdenspäher und Geschichtenträger
Des Uebels mehr auf dieser Welt gethan,
Als Gift und Dolch in Mörders Hand nicht konnten.
[138]
Mit der Befreiung der Meder vom Joche der Assyrer beginnt die Selbstständigkeit Irans. Dann gewannen die Hegemonie die Perser unter dem großen Khurusch, dem Kyros der Griechen, einem Manne von unvergleichlicher Thatkraft, hoher Besonnenheit und menschlicher Milde. Auf dem Gipfel des Glanzes befand sich das persische Reich unter Darjawusch, dem Sohn des Wahstaspa, dem Darius Hystaspes der Griechen. Ihm gehorchten die Völker vom Himalaya und Indusdelta bis zu den Küsten Europas, vom Aralsee und Kaukasus bis zur Südgrenze Aegyptens. Ein Netz vortrefflicher Kunststraßen verband alle Theile des ungeheuern Reichs; eine Reitpost von angestaunter Geschwindigkeit beförderte die Nachrichten zwischen den äußersten Grenzen und den Hauptstädten Susa, Ekbatana und Babylon. Der Ackerbau blühte; das Forstwesen war musterhaft geordnet; ein Münzsystem galt vom Hellespont bis zum Indus und in vollständiger Sicherheit zogen die Handelskarawanen von Kaschmir bis nach Cyrene und Nubien.
Als Alexander der Große mit der Kraft des vereinigten Griechenlands unter macedonischer Disciplin dieses Reich in wenigen furchtbaren Schlägen zerschmettert hatte, da wurde es durch eben diesen politischen Untergang die Geburtsstätte einer noch viel gewaltigeren geistigen Weltmacht. Denn es bildete nun den Schmelztiegel, in welchem die Lehren Zoroaster's von den Reichen des Lichts und der Finsterniß und vom Heiland des jüngsten Tages, dem Sosiosch, die Vergöttlichung des Menschen in der griechischen Kunst und die Gedanken eines Sokrates und Platon ineinander schmolzen, um sich endlich in der Berührung mit dem Jehovadienst und den politischen Messiashoffnungen der Juden zu entzünden zu der neuen Religion, die fast zwei Jahrtausende hindurch wirksamer als jede andere die Schicksale der Erde bestimmen sollte.
Nach mehr als fünfhundertjähriger Fremdherrschaft, erst der Griechen, dann der Parther, wurde das persische Reich hergestellt von Ardschir Babekan, dem Sohne Sassan's. Seinen Nachfolgern, den Sassaniden, gelang es, die Religion Zoroaster's neu zu beleben, und um die Mitte des sechsten Jahrhunderts hatte Persien, unter Khosru Anuschirwan, hohe Blüthe und fast denselben Umfang wie unter dem ersten Darius wiedergewonnen.
In derselben Nacht aber – erzählt die arabische Sage – in der Muhamed geboren wurde, erlosch das tausendjährige heilige Feuer der Parsen und zu Ktesiphon zerstörte ein Erdstoß den Palast der Sassaniden. In der Mitte des siebenten Jahrhunderts war ganz Iran Provinz des Khalifenreichs. Mit der Schärfe des Schwerts wurden die Feueranbeter bekehrt, ihre Heiligthümer zerstört, ihre religiösen Urkunden vernichtet. Doch die Verfolgung veranlaßte zahlreiche Auswanderung bis nach Indien, wo sich in Surate und Guzerate Parsencolonien auch heutigen Tags noch zur Religion Zoroaster's bekennen. Ihnen verdanken wir die unschätzbare Erhaltung eines Theiles des Zend Avesta.
In den Hochgebirgen Baktriens, der Geburtsstätte der Lehre Zoroaster's, ward auch das persische Reich zum dritten Mal wiedergeboren. Unter Jakub, dem Sohn des Leis, riß die Gegend sich los vom Khalifenreich. Seine Nachfolger, die Soffariden, behielten zwar den Islam als Staatsreligion, suchten und fanden aber eine Stütze ihrer Selbstständigkeit im altpersischen Nationalgefühl, das sie durch Pflege der einheimischen Sprache und Heldensage zu beleben wußten. Kurz vor Beginn des gegenwärtigen Jahrtausends bestieg den Thron Mahmud der Erste von Gasna, der sich vom Sohne eines Sclaven zum gewaltigen Herrscher emporgeschwungen. Seine Eroberungen in Indien übertrafen bei weitem diejenigen Alexander's des Großen. Mit diesem, dem begeisterten Verehrer Homer's, theilte er eine Eigenschaft, welche gekrönten Siegeshelden gewöhnlich versagt ist. Er fand an der Poesie nicht nur Vergnügen, sondern wußte sie auch zu schätzen als eine Macht, nicht minder wirksam zur Begründung und Befestigung der Reiche, als das Schwert und die Kunst des Heerführers. Er zog viele Dichter in seine Nähe, und es war seine gewöhnliche Abendunterhaltung, sie vor versammeltem Hofe als Rhapsoden auftreten zu lassen. Seinem Eifer und seiner Allmacht gelang es, den ganzen Schatz der Vorzeitsagen zusammen zu bringen. Ihre Gestaltung zu einem Ganzen übertrug er dem Dichter Abul Kasem Mansur, dessen Lied von Rustem und Isfendiar ihn so sehr entzückte, daß er ihm den Namen „der Paradiesische“, Firdusi, beilegte.
Sobald Firdusi einen Gesang beendigt, trug er ihn dem Sultan vor, und dieser befahl, ihm für jedes Verspaar ein Goldstück zu zahlen. Der Dichter war aber so unpraktisch, die Eincassirung dieses recht anständigen Ehrensoldes aufzuschieben bis zur Vollendung seines ganzen Werkes. Im einundsiebenzigsten Lebensjahre, nach fünfunddreißigjähriger Arbeit, schloß er seine große Dichtung, das Schahnameh oder Königsbuch, mit folgenden Zeilen:
Ich habe, der dies Buch hervorgebracht,
Die Welt von meinem Ruhme voll gemacht.
Wer immer Geist hat, Glauben und Verstand,
Von dem werd' Ich mit Lob und Preis genannt.
Ich, der die Saat des Wortes ausgesät.
Ich sterbe nicht, wenn auch mein Leib vergeht.[3]
Das Werk zählte sechszigtausend Verspaare, hatte also mehr als den vierfachen Umfang von Ilias und Odyssee zusammen. Der Sultan ermäßigte die schuldigen sechszigtausend Goldstücke auf so viel, als (vermuthlich in Silber) ein Elephant tragen könne. Aber dem Schatzmeister war auch das noch viel zu viel, und er wußte eine fernere Reduction auf sechszigtausend kleine Silbermünzen durchzusetzen. Firdusi befand sich im Bade, als die Sendung ankam. Er vertheilte den Bettel an den Badewärter und den Schenkwirth, bei welchem er ein Glas Bier getrunken, entfloh nach Bagdad und verbreitete eine Satire gegen Mahmud, welche folgendermaßen schloß:
„O König, was Du als Erinnerung von Dir in der Welt zurücklassen wirst, das ist die Huldigung, welche Ich Dir dargebracht. Die Gebäude der Menschen sinken in Trümmer durch Sonnenbrand und Regen. Spurlos aber werden die Jahrhunderte hingehen über dem unermeßlichen Bau, den Ich aufgeführt. Fünfunddreißig Jahre habe ich in Noth und Mühsal gelebt, um Persien neu zu beleben durch dieses persische Werk. Wäre der König nicht geizig, er gäbe mir einen Platz neben seinem Throne. Aber da sein Stamm ohne Adel ist, öffnete er seinen Schatz, um den meinigen zu bezahlen mit – einem Glase Bier.“
Anfangs wüthend und erpicht, den Dichter zu verfolgen, dachte Mahmud doch groß genug, um schließlich zu verzeihen, ja, zu bereuen; dies freilich zu spät. Als hochbetagter Greis durfte Firdusi in seine Vaterstadt Tus zurückkehren und endlich sollte ihm sogar Wort gehalten werden. Mit glänzendem Aufzuge sendete Mahmud die schuldige Summe. Im Stadtthore aber begegneten die Königsboten dem ärmlichen Leichenzuge Firdusi's. Seine nicht minder stolze Tochter verschmähte das Geld; doch ward es verwendet zum Bau der Wasserleitung, für welche der Dichter den Ertrag seines Werkes von jeher bestimmt hatte.
Seiner Schöpfung ist der Stempel ihrer Entstehungsweise deutlich aufgeprägt. Sie würde noch größer sein, wenn sie – kleiner wäre. Nicht eine anschauliche, in der Haupthandlung einer Hauptperson gipfelnde künstlerische Idee, sondern ein Fürstenauftrag hat ihre Umgrenzung bestimmt, richtiger gesagt, ihre Grenzenlosigkeit verschuldet. Die Gesammtheit der Sagen vom Beginne des iranischen Volkes bis zur Schwelle der Gegenwart zu einem Ganzen geordnet, hatte Mahmud verlangt, und den Dichter obendrein zur Breite verführt, durch die nach der Verszahl versprochene Belohnung. So begegnen wir hier der widerspruchsvollen Erscheinung, daß das persische Epos auch mit seiner dritten und höchsten, der Kunstgestalt, auf der zweiten Stufe stehen geblieben ist als eine Liederchronik, in der nur das Volk und seine Dynastieen die Einheit des Helden, nur seine Geschichte die Einheit der Handlung vertritt. Dennoch aber hat [139] Firdusi nicht nur durch die hohe Anschaulichkeit der Erzählung, die Bilderpracht der Sprache und den Wohllaut des Verses die einzelnen Lieder, sondern auch die ganze Sammlung zum Kunstwerk zu erheben verstanden durch das einzige Mittel, welches der kunstwidrige Auftrag gestattete: Einen und denselben Grundgedanken läßt er gleichmäßig hell als Thema hervorleuchten aus jeder der vielen Erzählungen, in denen uns Jahrtausende und ganze Reihen von Königen und Geschlechtern vorüberziehen. Wie das ganze Schiff sich emporbaut auf dem einen Kielbalken, so ist der tragende und verbindende Pfeiler des Schahnameh der Kampf des Lichtreichs mit dem Reiche der Finsterniß. Die Helden Irans sind die Vorkämpfer der guten Götter, ihre Zöglinge und Verwandten; die Turanier sind die Streiter und Günstlinge Ahriman's und seiner bösen Geister, ja, deren Verleiblichung; wie z. B. dem Sohak, als er sich dem Bösen ergeben hat, von dessen Kuß aus beiden Schultern Schlangen hervorwachsen, die er mit Menschenhirn füttern muß. Auch hier also haben wir wieder die Gegenstellung der Kuruinge und Pandu des Mahabharata, der Wölsunge und Nibelunge des germanischen Epos.
Keine Dichtung, und am wenigsten ein Epos, kann man anders als aus ihr selbst wahrhaft kennen lernen. Ein Auszug des Inhalts bleibt immer ein dürftiger Behelf, ein farbloser Schattenriß. Von Firdusi's kolossalischem Werke würde für diese Blätter auch der allergedrängteste viel zu lang ausfallen. Glücklicher Weise ist er in diesem Falle auch überflüssig; denn sein Schahnameh ist auch unser. Wir besitzen das Werk des „Paradiesischen“ in einer deutschen Nachbildung, die sowohl durch ihren Gegenstand, als durch die hohe Vortrefflichkeit ihrer Ausführung eines Platzes würdig ist neben den besten Originalschöpfungen unserer besten Dichter. Sie ist von Friedrich v. Schack und hat für uns nicht verloren, sondern gewonnen durch ihre Beschränkung auf eine wohlverbundene Auswahl der schönsten Erzählungen.
Aber das persische Epos ist unser auch in einem zweiten und tieferen Sinne. Nach dem Zeugnisse der vergleichenden Sprachkunde sind aus den Hochländern an den Quellen des Dschihun, mit den Persern zugleich und ursprünglich mit ihnen vereinigt, auch unsere Vorfahren herabgestiegen. In jenen Saken und Massageten, bei deren Bekämpfung der große Cyrus den Tod fand, hat Jakob Grimm aus guten Gründen die Stammväter der Germanen zu erkennen geglaubt. Zahlreich sind denn auch die Anklänge zwischen der persischen und germanischen Sage. So weisen unverkennbar auf ein gemeinsames Urbild zurück unser Sigfrid und der gefeite Isfendiar, der nur mit dem Pfeile von einem Zweige der Schicksalsulme erlegt werden kann, gerade wie Balder, der in unserem Helden vermenschlichte Gott, nur durch einen Mistelzweig tödtbar ist. Ferner erzählt unser altes Lied von Hildebrant und Hadubrant, selbst in Einzelnem zusammentreffend, ganz die Geschichte vom Kampfe Rustem's mit seinem Sohne Sohrab, wenn auch, nach meiner Ueberzeugung, zu anderem Ausgange gemodelt. Und noch ein Größestes hat nur die iranische Sage mit der unsrigen gemein: daß die Liebe zwischen Mann und Weib nicht wie von der späteren romantischen Poesie als höchste Lust und Gefühlswonne des Einzelnen und um ihrer selbst willen gefeiert wird, sondern das Recht der Darstellung nur erhält für edle Frucht, als Ursprungsquelle höchster Menschenkraft, als Erzeugerin herrlicher Helden. So wird in einer überaus anmuthigen Episode des Schahnameh die Jugendliebe des Sal und der Rudabe zwar mit kräftigen Farben gemalt, aber über der sinnlichen Gluth der Schilderung wallet dennoch die edelste Keuschheit; denn ihr Dienst ist lediglich der, aus der Höhe der auflodernden Entstehungsflamme die wunderbare Größe des bevorstehenden Sohnes Rustem ahnen zu lassen. So dürfen wir in der That in den Stoffen Firdusi's zugleich älteste Denkmale unserer eigenen Urzeit begrüßen.
Ein Beispiel des alten Volksglaubens. Was ich in nachfolgenden Zeilen mittheile, ist ein Erlebniß, dessen strengste Wahrheit ich verbürge; es soll einen eclatanten Beweis dafür liefern, wie noch vor dreißig Jahren in Hinterpommern vielfache Spuren von dem altgermanischen Wunderglauben vorhanden waren und die Gemüther erfüllten.
Im Sommer des Jahres 1846, wo ich als Hauslehrer auf einem Gute Hinterpommerns fungirte, meldete mir eines schönen Tages der Diener der Gutsherrschaft, daß mich zwei fremde Männer zu sprechen wünschten. Ich sagte ihm, daß ich bereit sei, dieselben zu empfangen; er möge sie nur herführen. Zwei stattliche Männer des Bauernstandes in den besten Mannesjahren traten ein und eröffneten mir, daß sie von dem Lehrer K. in Horst bei Wangerin am Woidschwinsee an mich gewiesen seien, damit ich ihnen die Zauberformeln in dem Buche, das sie mir überreichten, aus dem Lateinischen in's Deutsche übersetze; ich würde das wohl können, da ich ja nach Versicherung des Lehrers in Horst, der übrigens ein Jugendgenosse von mir war, ein sprachenkundiger Mann sei, und wenn ich ihnen diesen Gefallen erwiese, so solle das mein Schade nicht sein. Ich nahm das Buch zur Hand und sah, daß dasselbe sogenannte Zauberformeln von Paracelsus, Doctor Faust und anderen berühmten Magikern, wie wenigstens der Titel berichtete, enthalte, die zu allerlei Zwecken nützlich zu verwenden seien. Gedruckt war das Buch Anno 1682 zu Frankfurt am Main, der Form nach klein Octav und in Druck und sonstiger Ausstattung den Volksbüchern ähnlich, die ehedem auf Jahrmärkten verkauft wurden und die Geschichte der Genoveva, des Doctor Faust, der schönen Melusine und dergl. enthielten. Als Charakteristicum stand auf allen Exemplaren solcher Bücher, die ich gesehen habe: „gedruckt in diesem Jahre“.
Zunächst richtete ich die Frage an die Männer, welchen Zweck sie denn versorgten, wozu sie die Sprüche und Zauberformeln, die das Buch enthalte, verwenden wollten? Treuherzig, aber mit der Bitte, ihr Geheimniß nicht zu verrathen, eröffneten sie mir, sie seien Schatzgräber, die zufällig in der Nähe von Wangerin an den Ufern des Woidschwinsees, wo einst zahlreiche Raubritter gehaust hätten, einen großen Schatz entdeckt, dem sie bereits bei mehrfachem Nachgraben auf der Spur gewesen seien, der aber bisher ihnen immer durch den Erdgeist entrückt worden sei; einmal seien sie ihm sogar so nahe gewesen, daß sie die Geldstücke beim Fortrücken hätten klingen hören. Wo der Schatz jetzt ruhe, habe ihnen die Wünschelruthe, die sie einem alten Schäfer in Stramehl bei Labes für schweres Geld abgekauft hätten, angezeigt, aber den Schatz zu heben, werde Ihnen erst gelingen, wenn sie im Stande wären, den Erdgeist zu bannen, daß er hinfort den Schatz nicht mehr fortrücke. Dies aber würden sie können, sobald sie die in dem Buche enthaltene Bannformel besäßen, und zu diesem Besitze möchte ich ihnen nun verhelfen. Auf meine weitere Frage, wie sie denn zu diesem seltsamen Buche gekommen seien, theilten sie mit, daß sie es von einem alten Feldscheer, der in Marienfließ bei Freienwalde in Pommern durch seine Mixturen und Salben von weit und breit Kranke an sich zöge und überhaupt einen gewissen mysteriösen Nimbus um sich verbreitet hätte, für fünf Thaler gekauft hätten; es zu verdeutschen, sei er außer Stande gewesen, da er nur „Apothekerlatein“ verstehe. Ihm hätten sie aber außer seinem Preise für das Buch noch eine bestimmte Quote vom Schatze versprechen müssen.
Es war für mich interessant, einmal zwei leibhaftige Schatzgräber vor mir zu sehen, deren Treiben auf der Feldflur meines Heimathdorfes mich als Knaben einst vielfach beschäftigt hatte. Ich hatte ja selbst die Gruben in einem Thale, welches die Hölle hieß und wo es, wie die Leute sagten, nicht ganz richtig war – es war dort der dreibeinige Hase gesehen worden – oft ganz frisch und nachdem sie erst in der vorhergehenden Nacht aufgeworfen, gesehen. Auf meine Aufforderung, mir doch genau mitzutheilen, wie sie denn zu der Gewißheit gelangt seien, daß dort ein Schatz verborgen liege, erhielt ich zur Antwort, sie selber seien einst bei einer Rückkehr in ihr Heimathsdorf um Mitternacht an der Stelle vorbeigekommen, wo der Schatz gebrannt habe, das heißt, durch einen hellen Schein über der Erde sein Dasein und den Wunsch zu erkennen gegeben habe, daß er gehoben sein wolle. Zwar sei der Schein plötzlich verschwunden, aber durch einen eingesteckten Stock hätten sie die Stelle genau bezeichnet und am nächsten Morgen auch richtig mit ihrer Marke wiedergefunden.
In der nun folgenden Nacht seien sie Beide mit Spaten und Schaufel, natürlich unter dem tiefsten Stillschweigen (dies müsse immer beobachtet werden, wenn das Unternehmen gelingen solle), an die bewußte Stelle gegangen und hätten um zwölf Uhr mit Eintritt der Geisterstunde ihre Nachgrabungen begonnen, und siehe da, als sie bereits auf den Deckel des Kastens aufstießen, donnerte es vom nächsten Kirchthurme Eins und unter Klingen und Rauschen habe der Erdgeist den Kasten an eine andere Stelle gerückt. Diese neue Stelle, an der sich der Schatz befand, wiederaufzufinden, sei ihnen mit Hülfe der Wünschelruthe gelungen, aber ihre Arbeit sei auch diesmal vergebens gewesen und den nächsten Versuch, da ihnen die Wünschelruthe bereits wieder die Stelle, wo der Schatz jetzt stehe, angezeigt habe, wollten sie erst machen, wenn sie durch mich in den Besitz der Bannformel gelangt seien. Sie bäten mich deshalb gar sehr, ihnen zu helfen, zumal es mein Schade nicht sein solle.
Auf meine Entgegnungen, daß ihr Vorhaben doch eigentlich auf crassem Aberglauben beruhe, gingen sie weiter nicht ein, erklärten mir aber offen, sie wüßten sehr wohl, daß wir studirten Leute an dergleichen nicht glaubten; das hätten sie auch von mir erwartet, sie indeß blieben bei ihrem Glauben, und sicherlich würden sie den Schatz heben, wenn ich sie mit meiner Hülfe nicht im Stiche ließe, und dann würden mich die harten Thaler, die sie mir bringen würden, eines Besseren belehren. Ich unterließ, meine Zweifel weiter auszusprechen, da es mir doch nichts geholfen hätte, weil ich sah, wie das Innere beider Männer von einem abergläubischen Wahne erfüllt war, den ich auszutilgen außer Stande war; ich gab das Versprechen, spätestens in vierzehn Tagen ihnen eine treue und wohlverständliche Uebersetzung durch den Lehrer K. in Horst zuzustellen, und es würde mich freuen, sie baldigst mit einem Klumpen Goldes bei [140] mir einspringen zu sehen. Zufrieden mit dieser Zusage schieden die Männer, ihres Erfolges gewiß, nochmals betheuernd, daß ich sie nicht als unredliche und gar undankbare Menschen sollte kennen gelernt haben.
Die Sache hatte für mich um so mehr Reiz, als ich es hier mit zwei Männern zu thun hatte, die steif und fest an Hexenbann und Schatzgräberei glaubten; außerdem aber trieb mich auch die Neugierde, den Inhalt des mysteriösen Buches, das sich in meinen Händen befand, kennen zu lernen. Der Titel lautete: „Clavis Aenigmatum, das ist: Schlüssel zur Zauberei, wie sie gelehret von Paracelsus, Doctor Faustus und anderen berühmten Magicis. Gedruckt zu Frankfurt am Mayn im Jahre des Heils 1682.“
Das Buch enthielt Beschwörungsformeln zur Vertreibung von vielerlei Krankheiten der Menschen und des Viehes, besonders aber solcher, die man, wie es hieß, den böswilligen Hexen zu verdanken habe. Die Formel für Schatzgräber („fossoribus thesaurorum“) stand auf einem der letzten Blätter und lautete mit der Überschrift so:
“Ter fiat signum crucis (†††) terque pronuncientur haec verba: Nomine sancta Trinitas. Numen subterraneum, geni omnipotens divitiarumque custos, siste thesaurum hicce absconditum, neve submove porro, patereque nos Te precantes obsecrantesque consequi!“ Zu deutsch: „Drei Mal werde das Kreuz geschlagen und drei Mal werden folgende Worte gesprochen: Im Namen der heiligen Dreieinigkeit. Erdgeist, allmächtiger Geist und Wächter der Schätze, laß den hier verborgenen Schatz stehen, rücke ihn nicht weiter fort und leide, daß wir, die wir Dich bittend beschwören, ihn bekommen.“
Nach Verlauf von vierzehn Tagen schickte ich das Buch mit meiner Uebersetzung an den genannten Lehrer in Horst bei Wangerin zur weiteren Uebermittelung an die Schatzgräber ein, habe aber leider niemals ein Weiteres über das schließliche Resultat der Nachgrabungen erfahren. Sicherlich hat sich auch trotz der verdeutschten Zauberformel der Erdgeist nicht zur Herausgabe des Schatzes bewegen lassen. Oder hat die Formel deshalb ihre Kraft verloren, weil sie ein zweifelnder Ketzer übersetzt hatte? Wer mag es wissen! Genug, so stand es noch vor dreißig Jahren mit den Resten des allen Volksglaubens in jenen Gegenden Pommerns, aber sicherlich ist die Ueberzeugungstreue an die Macht desselben seit den Tagen immer mehr verschwunden, wo an dem Woidschwinsee die Eisenbahn vorübersaust und diesen Theil Pommerns dem allgemeinen Verkehre ausgeschlossen hat, da weder Chausseen noch sonst gepflegte Straßen in diese Gegenden führten. Auch die Erscheinung des großen Zauberers auf dem Gebiete der Politik, der dort gewiß manchem Landmanne zu Gesicht gekommen sein wird, da Fürst Bismarck auf seinen Fahrten von Berlin nach Varzin und von dort zurück nach Berlin regelmäßig jene Landstrecken durchschneidet, wird sicherlich dazu beigetragen haben, das Volk dort aus seiner ehemals traumhaften Sphäre in die reale Wirklichkeit zu versetzen. Ob sie dem Zauber des neuen Gründerthums verfallen sind, lasse ich unentschieden; es in der Nähe kennen zu lernen haben sie wenigstens bei dem Baue der Pommerschen Centralbahn Gelegenheit genug gehabt. –
Das Gebet in der Steppe. (Mit Abbildung, S. 129.) Wie die Gemüthsfärbung bei dem einzelnen Menschen abhängig ist von den äußeren Umgebungen und Einflüssen, namentlich den Eindrücken der Natur, welche zur Zeit seiner ersten Entwickelung auf ihn einwirkten, so ist sie es auch bei ganzen Stämmen und Völkern. Auf den üppigen, blumigen Auen Italiens und Spaniens tönt sich das Volksgemüth in sinnlich heiteren Klängen aus; in diesen munteren Canzonetten flattert ein Stück von dem blauen Himmel des Südens lustig in die Welt hinaus. Aber ernst und melancholisch singt das Volk auf den eisbedeckten Fluren des Nordens und in den weltfremden Einöden und Wüsten des Südens und Ostens; aus den finnischen Volksmelodien spricht zu uns die tiefe Wehmuth und öde Einsamkeit der nordischen Landschaft. Je ausgesprochener aber eine Gegend ihre Eigenthümlichkeiten äußert, desto entschiedener und selbstständiger tritt auch im Gesammtleben ihrer Bewohner der Volkscharakter hervor. Ob es Flach- oder Alpenland ist, das sie bewohnen – welch einen Unterschied bedingt dies in den Charakteren der Völker!
Vielleicht am augenscheinlichsten äußert sich der Einfluß der Natur auf das Volksgemüth bei den Steppenbewohnern. Alle Völker dieser eintönigen, farblosen Ebenen, dieser Sand- und Steinmeere sind schweigsam, düster, melancholisch. Oft fast ganz abgeschlossen von dem Verkehre mit anderen Nationen, führen sie ein beschauliches Hirtenleben und stehen daher in um so innigeren Beziehungen zu der sie umgebenden Natur. Die Einsamkeit vertieft ihr Gemüth unendlich. Alle Zauber der wechselnden Naturerscheinungen um sie herum empfinden sie auf das Tiefste, und so wird dem Steppenbewohner Alles, was Erde und Himmel ihm bietet, zum Gegenstande einer Herzensempfindung; er individualisirt sich Alles: das Haideblümchen, der Strauch und der Baum werden um so inniger besungen, je seltener sie sein Auge erfreuen. Wunderbar und herrlich erklingen die Lieder der Steppe, und kaum bleibt ein Auge trocken, wenn eine ungarische oder kleinrussische Nationalweise in ihren einfachen Melodien ertönt.
Neben dem Zuge sinniger Meloncholie ist es besonders der Hang zum Abenteuerlichen, welcher die Steppenvölker charakterisirt. Der weite Blick über die unendlichen Ebenen, die verlockende Fernsicht, bald unter dunkeln Wolkenlagen gefahr- und unheildrohend, bald in heiterm Sonnenlichte glückverheißend – was zöge das Herz mehr in die Weite als diese ewig offene, ewig in die Ferne hinauswinkende Landschaft?
Und Abenteuer suchend, zieht er weithin über die braune Fläche seiner endlos gedehnten Heimath, der Sohn der Steppe. Er möchte den Großen seines Volkes gleich sein, den stolzen Kosakenhelden, von denen das Lied singt, und dieser ehrgeizige Gedanke begleitet ihn auf allen seinen Zügen. Was Wunder denn, wenn das Gemüth des Volkes mit schwärmerischer Verehrung an jenen Steppenorten hängt, welche die Geschichte oder Sage als heilig bezeichnet? – Die abgöttische Liebe für ihre Helden hat sich namentlich bei den Kleinrussen Podoliens und Volhyniens in ungeschwächter Kraft erhalten. Heilig vor Allem gelten ihnen die einsam trauernden, gigantischen Steppenföhren, welche die Volkssage als Schlachtorte und Sterbestätten berühmter Hetmane kennzeichnet.
Sinnend und singend durchzieht der Hirte mit seiner Familie und seiner Heerde meilenweit die Steppen, und mit ehrfurchtsvoller Scheu betritt er dann im Vorüberwandern mit den Seinen die nationalen Ruhmesstätten in der menschenleeren Oede. Sei es ein Fels, der den kahlen Scheitel gen Himmel hebt und in schweigender Beredsamkeit die Geschichte eines gewaltigen Helden Podoliens erzählt, der hier glorreich siegte oder ruhmvoll unterlag; sei es eine riesige Föhre, die, ein einsames Denkmal hingesunkener Größe, in der schrankenlosen Leere der Wüste ihr groteskes Gezweige himmelan streckt – wie in die Hallen eines Gotteshauses ziehen diese Volksheiligthümer den Hirten in ihre kühlungspendenden Schatten. Hier rastet er mit Roß und Rind, mit Weib und Kind. Und wenn der Steppenwind durch die Zweige des einsamen Riesenbaumes fährt, dann glauben die Wanderer da unten wohl die Stimme der Gottheit zu hören, und die stumme grabesstille Wüste vernimmt das andächtige Gebet ihrer Kinder.
Einen solchen Moment des Gebetes in der Steppe hat der Künstler, dem wir auch theilweise die obigen Mittheilungen verdanken, in unserem heutigen Bilde äußerst effectvoll zur Darstellung gebracht. Die „Gartenlaube“ wird später noch eine oder die andere Zeichnung Franz Zverina’s zur Anschauung bringen und dann nicht versäumen, auch den künstlerischen Werth seiner originellen Leistungen in einigen Worten zu würdigen.
Ein „Zeitroman“. Obschon wir regelmäßige Besprechungen neuer Literaturerscheinungen nicht zu den Aufgaben unseres Blattes rechnen dürfen, wissen wir doch aus Erfahrung, daß unsere Leser sich gern auf größere Werke derjenigen Schriftsteller hingewiesen sehen, die ihnen in der Gartenlaube wiederholt Erquickliches geboten haben. Ein kürzlich unter dem Titel „Unfehlbar“ erschienener vierbändiger Roman unseres langjährigen geschätzten Mitarbeiters Max Ring verdient eine solche Erwähnung in ganz besonderem Grade.
Der beliebte Autor schildert uns hier zwar Kämpfe der hinter uns liegenden Periode von der Abwerfung der Fremdherrschaft bis zu den sogenannten Kölner Wirren des Jahres 1837, aber es umfaßt diese Zeit bekanntlich die erste Phase, die erste noch unklare Gährung jener großen Bewegung der Gegensätze, die allmählich zu unserem heutigen „Culturkampfe“ sich zugespitzt hat. Unter dem Namen „Unfehlbar“ ist also nicht das gegenwärtige Papstthum des vaticanischen Concils zu verstehen, Ring will damit vielmehr die Anfänge des verzweifelten Widerstandes bezeichnen, mit dem die anmaßende, herrschsüchtige, schroff ausschließliche Orthodoxie jeder Confession und Kirche den humanen Regungen und versöhnlichen Forderungen des modernen Bewußtseins und einer neu in den Gemüthern aufkeimenden Bildung sich entgegengestellt hat. Namentlich an dem starren und entwickelungslosen Elemente der beiden ältesten Confessionen, am orthodoxen Judenthume und dem katholischen Ultramontanismus ist dieser Grundzug unduldsamer Verknöcherung in wahrhaft ergreifender Weise und mit einer Schärfe aufgewiesen, wie es bis jetzt kaum jemals geschehen ist. Die Schilderung der Verhältnisse beruht hier bis in die kleinsten Details auf eingehendem Studium, auf feiner und tiefer Beobachtung des Lebens; wir haben es nicht mit einem Darsteller zu thun, der seinen Stoff mühsam aus Büchern geholt; was Ring hier schildert, das hat er noch selber gesehen und im Innersten der eigenen Seele durchlebt und erfahren. Abgesehen von diesem culturgeschichtlichen Werthe der Schilderung ist aber der Roman auch als solcher anziehend durch fesselnde Handlung, dichterisch sich steigernde Entfaltung und vortreffliche Charakterzeichnung, ein durchweg dramatisch lebendiges, unterhaltendes und eindrucksvolles Ganzes, dessen Wirkung freilich bei manchen Lesern wohl hin und wieder beeinträchtigt wird durch zu große Breite der Malerei bei nebensächlichen Punkten. Solche einzelne Stellen werden wohl zuweilen überschlagen werden, aber Niemand wird deshalb das Buch aus der Hand legen, ohne es mit genußreicher Spannung bis zu Ende gelesen zu haben.
Gisela R. in Pesth. Haben Sie unsere Anzeige in Nr. 52 des letzten Jahrgangs nicht gelesen, worin wir eine „Namenlose Geschichte“ von E. Marlitt für den jetzigen Jahrgang anzeigten? In vierzehn Tagen beginnt die Novelle von Paul Heyse: „Die Kaiserin von Spinetta“.
- ↑ „Auf, himmelwärts wandre, Du Siegerschaar!“
- ↑ An zwei andere bedeutende Werte Schiller’s scheinen die Herren
nicht gedacht zu haben; oder gehören seine „Geschichte des Abfalls der
vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung“ und seine „Geschichte
des dreißigjährigen Kriegs“, Werke seiner ernstesten Manneszeit, für ihr
Urtheil auch „dem Leichtsinn und der Leidenschaft der Jugend“ an? –
Aussprüche. wie „Der Mensch oder das Volk, die durch eine glückliche
Staatsverfassung mit Menschenwerth einmal bekannt geworden, die das
Gesetz, das über sie sprechen soll, einzusehen gewöhnt worden sind etc.,
ein solches Volk und ein solcher Mensch werden sich schwerer, als andere,
in die blinde Herrschaft eines dumpfen, despotischen Glaubens ergeben,
und sich früher als andere wieder davon emporrichten“, oder „Die
Geistlichkeit war von jeher eine Stütze der königlichen Macht, und
mußte es sein. Ihre goldene Zeit fiel immer in die Gefangenschaft des
menschlichen Geistes, und wie jene sehen wir sie vom Blödsinn und von
der Sinnlichkeit ernten“ – sind schwerlich Zeugnisse für einen „ultra-montanen
Schiller“; ebenso wenig werden sie seine Charakteristik eines
Philipp des Zweiten, Alba, Granvella, oder die Ferdinand’s des Zweiten,
Tilly’s oder Gustav Adolf’s in ihre Geschichts-Schulbücher aufnehmen.
D. Red.
- ↑ Uebersetzt von F. v. Schack.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Angenblicke