Die Gartenlaube (1875)/Heft 19
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No. 19. | 1875. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennige. – In Heften à 50 Pfennige.
„Was könnte es nützen,“ nahm Arnold wieder das Wort, „eine Frage hinzuzögern, die an Ihr gutes Herz zu richten der einzige Zweck meiner Reise hierher war. Ich weiß, Madame Blanchard – Herr Blanchard, Sie haben ein gutes Herz, das schon oft zu Gunsten reiner Menschlichkeit den Zwang beengender Vorurtheile durchbrochen hat. Ich sagte Ihnen gestern, daß ich gekommen sei, mir aus Frankreich eine Frau zu holen. Sie schienen’s für Scherz zu nehmen, aber es war wirklich, wie ich versicherte, mein ernsthaftester Ernst. Deshalb begleitete mich mein alter Onkel, um sich mit eigenen Augen für meine besorgte Mutter zu überzeugen, daß die Familie, aus der ich meine Wahl getroffen, die würdigste ist, und um zu bestätigen, daß ich frei über mich zu verfügen habe. Nun – das Mädchen dem mein ganzes Herz gehört, ist längst gefunden; es ist Juliette, Ihre Tochter.“
Blanchard stieß so heftig den Stock auf den Fußboden, daß seine Frau erschreckt auffuhr; als er sich dann vom Stuhle erhob, schüttelte die Hand auf der Krücke hin und her, die kleinen grauen Augen, weit aufgerissen schienen Feuer zu sprühen und die Lippen bewegten sich mit großer Schnelligkeit gegeneinander, ohne sogleich Worte formen zu können. Helmbach, der ein Unglück befürchtete, sprang auf und suchte den am ganzen Leibe Zitternden zu unterstützen; er wies aber den dargebotenen Arm zurück, trat einen Schritt gegen Arnold vor und rief:
„Geben Sie Frankreich – geben Sie – geben Sie Frankreich Elsaß und Lothringen zurück, und Sie sollen – Sie sollen meine Tochter zur Frau haben. Elsaß und Lothringen, mein Herr – Elsaß und Lothringen für meine Tochter!“
Die Aufregung machte seine Sprache wieder unsicher, tastend, zerstückt. Er sank in den Stuhl und wiederholte noch mehrmals leiser und leiser: „Elsaß und Lothringen – meine Tochter.“
Arnold, obschon sich ihm das Herz in der Brust zusammenkrampfte, suchte äußerlich ruhig zu erscheinen. „Sie fordern Unmögliches von mir,“ antwortete er. „Und wenn ich der deutsche Kaiser selbst wäre, diesen Preis für Ihre Zustimmung vermöchte ich nicht zu zahlen. Aber ich liebe Juliette, und Juliette –“
Der Franzose ließ ihn nicht aussprechen. „Unmögliches – Unmögliches –“ wiederholte er, „gerade wie Sie – wie Sie Unmögliches fordern. Mein Kind einem Deutschen – einem von denen, die vor kaum Jahresfrist hier als Feinde hausten, die mit Waffengewalt Paris – Paris – Paris …“ Die Gedanken gingen ihm aus; er brachte den Satz nicht zu Ende. Dann schienen sie, indem sein Blick durch das Zimmer irrte und die offene Thür seitwärts streifte, plötzlich eine neue Vorstellung aufzufassen und festzuhalten. Ein listiges Lächeln flog über sein Gesicht. „Ah! Unmögliches!“ sagte er spöttisch, „kann wohl sein! Gut! Da ist eine andere Aufgabe. Juliette ist beleidigt von einem jener Hunderttausende, die Paris belagerten. Sehen Sie dort den leeren Rahmen – man hat ihr Bild … ihr Bild hat man gestohlen – Juliette’s Bild, mein Herr! Nun denn! schaffen Sie’s zurück in jenen Rahmen, ha, ha, ha! und ich will glauben, daß Sie Juliette lieben.“
Der Eindruck, den er sich offenbar von dieser Anforderung versprochen hatte, deren Bedeutung ihm jenem märchenhaften: „bringe mir drei Haare aus des Sultans Bart!“ gleichzukommen schien, ging gänzlich fehl. Selbst Helmbach’s rundes Gesicht, das soeben noch ganz versteint ausgesehen hatte, schaute auf ein rasch hingeworfenes Wort seines Neffen plötzlich recht vergnügt d’rein. Arnold gab ihm einen Wink und sagte kopfnickend:
„Wenn das Ihr Ernst wäre ... auf diese Bedingung könnte ich wohl eingehen. Ich weiß: es ist Ihr Ernst nicht; Sie wollten meiner nur spotten. Aber wenn es nun ein glücklicher Zufall so fügte, daß ich Ihren Spott in Ernst zu verwandeln vermöchte – wollen Sie darin nicht den Spruch einer gütigen Vorsehung erkennen, die Sie auf diese überraschende Weise mahnt, das Glück zweier Menschen, die zusammen gehören, nicht zu stören? Im vollen Ernst also: geben Sie mir Juliette für Juliette’s Bild! In einer halben Stunde kann der Tausch bewirkt sein.“
Blanchard konnte sich in diese ganze unvermuthete Wendung nicht sogleich finden. Auf seinem fahlen Gesichte haftete noch jenes höhnische Lachen, aber seine Gedanken waren offenbar weit weg davon. Sie suchten, wie seine verschwommenen Augen, irgend einen Halt und konnten ihn nicht finden.
Seine Frau durchschaute schneller die Sachlage. „Wie, mein Herr,“ sagte sie, anscheinend gar nicht unangenehm überrascht, „Sie selbst machten in unserer Abwesenheit diesem Hause einen Besuch – Sie selbst eigneten sich Juliette’s Bild an?“
„Sie selbst – Sie selbst –“ wiederholte Blanchard, der nun gleichfalls zu begreifen anfing; „ah! Sie selbst.“
„Und das Bild zog mich Ihnen nach,“ fuhr Arnold fort. „Sie wissen nun, weshalb ich mich bei Ihnen einquartierte.“
„Und Sie konnten uns so lange in Ungewißheit lassen!“
„Sie werden meine Gründe verstehen, verehrteste Frau.
[310] Wäre mir der Gegenstand gleichgültig gewesen, ich hätte das Geheimniß nicht so lange gehütet. Aber vom ersten Augenblicke an bemächtigte sich meiner ein Zwang … ich konnte ihm keinen Widerstand entgegensetzen. Und als ich dann Juliette selbst sah und die tiefste Neigung –“
„Ah! nichts, nichts, nichts!“ fiel Blanchard ein, der nun seine frühere Haltung wiedergewonnen hatte. „Ich glaube noch nicht einmal daran, und wenn wirklich – wenn wirklich –“
„Das Bild befindet sich in meiner Brieftasche,“ versicherte Arnold; „es bedarf nur eines Ganges nach meinem Hôtel –“
„Und wenn wirklich,“ fuhr Blanchard fort, ihn mit der Hand zur Ruhe weisend, „ich habe Ihnen schon gesagt: es ist unmöglich. Ueber meiner Tochter Hand ist auch bereits verfügt.“ Er wandte sich ab und schien damit das Zeichen geben zu wollen, daß ihm die Entfernung des Besuchs erwünscht sei.
Arnold trat zu ihm und legte die Hand auf seinen Arm. „Wenn mich Juliette liebt, Herr Blanchard –“ sagte er mit bewegter Stimme.
„Es ist nicht – darf nicht sein. Juliette ist meine Tochter.“
„Und Sie wollen ihr Herz nicht befragen?“
„Nein.“
„Sie glauben die Verantwortung –“
„Ich weiß, was ich Frankreich schuldig bin. Wir sind besiegt, aber wir haben die Achtung vor uns selbst nicht verloren, mein Herr. „Es giebt unauslöschliche Feindschaften. Kein Wort weiter!“
Arnold sah sich wieder vor der Mauer ohne Pforte, die nun in raschem Sturme zu nehmen gänzlich mißglückt war. Wie der Soldat, der seine Kräfte ohne jeden Erfolg erschöpft hat, fühlte er sich plötzlich ganz muthlos und keiner weiteren Anstrengung fähig. „Vergebens – Alles vergebens,“ sagte er zu seinem Onkel, der sich in der peinvollsten Lage befand und jetzt keine andere Antwort hatte, als ein Achselzucken und einen Blick gen Himmel, für den Arnold sich eine beliebige Auslegung suchen mochte.
„Ich glaube erwarten zu dürfen,“ nahm Madame Blanchard das Wort, „daß Sie uns unter solchen Umständen“ – sie wies auf ihren Mann – „Juliette’s Bild nicht länger vorenthalten werden. Es könnte für Sie, wenn Ihre Gesinnungen aufrichtig sind, woran ich nicht zweifle, nur den Werth einer sehr trüben Erinnerung haben. Uns aber müßte es nach dieser Eröffnung sehr peinlich sein, es in Ihrer Hand zu wissen.“
„Sie haben Recht,“ entgegnete der junge Mann. „Ich weiß, daß mir dieses Bild nur so lange gehören darf, wie die Hoffnung in mir lebt, Juliette selbst zu gewinnen. Noch gebe ich diese Hoffnung freilich nicht auf. Mein Antrag hat Sie überraschen müssen; Ihre Erklärung darauf ist in erregter Stimmung erfolgt – ich darf sie nicht als eine endgültige anerkennen. Sie werden Juliette hören – Sie werden mir gestatten, ihr selbst, wenn sie’s fordern sollte, das mir so theure Bild zurückzugeben. Ich nehme also noch nicht Abschied. Auf Wiedersehen!“
Ohne weiteren Einspruch abzuwarten, faßte er seinen alten Onkel unter den Arm und verließ mit ihm das Zimmer. –
Schweigend gingen sie über die Straße hin nach ihrem Gasthause.
An der Thür kam ihnen der Wirth entgegen. „Meine Herren,“ sagte er ganz verstört, „ich habe Ihnen eine sehr unangenehme Neuigkeit zu melden. In Ihrer Abwesenheit – der Himmel weiß, daß ich außer Schuld bin! – in Ihrer Abwesenheit ist der Maire mit einigen seiner Beamten hier gewesen. Man hat sich Ihre Zimmer aufschließen lassen, hat eine Haussuchung gehalten, Ihre Koffer eröffnet, alle Ihre Sachen –“
„Aber auf welchen Verdacht hin?“ fiel Arnold empört ein. „Was haben wir harmlose Reisende verbrochen –“
„Ach! nach der gestrigen Scene fürchtete ich gleich das Einschreiten der Polizei und des Gerichts,“ äußerte der Hôtelbesitzer mit lebhafter Gesticulation. „Was wollen Sie, meine Herren? Sie sind Deutsche, und Sie haben sich der Spionage verdächtig gemacht. Es mußte etwas geschehen, um die Leute zu beruhigen. Ich sagte Ihnen ja gleich, daß Sie sich sehr vorzusehen hätten. Uebrigens finden Sie Ihr Eigenthum unversehrt. Der Herr Maire hat nichts mitgenommen, als eine kleine Brieftasche, die sich in Ihrem Rocke befand –“
„Meine Brieftasche!“ rief Arnold. „Das nenne ich unverschämt.“
„Mäßigen Sie sich, mein Herr,“ bat der Hauseigenthümer. „Es handelt sich, wie ich annehmen muß, um einen gesetzmäßigen Act der Behörde, deren Anordnungen sich auch der Fremde zu fügen hat. Ich bin überzeugt, daß man Ihnen die Brieftasche zurückgeben wird, nachdem man in discreter Weise Kenntniß von ihrem Inhalte genommen. Was können Sie mehr verlangen?“
„Genugthuung! Ich eile auf die Mairie, und wenn mir dort nicht volle Gerechtigkeit wird, auf die deutsche Gesandtschaft. Lassen Sie mir sogleich den Wagen anspannen!“
Der Franzose lächelte giftig. „Keine Drohungen, mein Herr, keine Drohungen!“ sagte er. „Die Untersuchung wird ihren Gang haben.“
Die Brieftasche fehlte wirklich.
Auf der Mairie wurde Rose mit aller Höflichkeit empfangen. Er stand nun dem Manne gegenüber, mit dem er um ein Herz zu kämpfen hatte. Wußte, vermuthete, argwöhnte Herr Credillon, um was es sich für ihn handelte? Sein nichtssagendes Lächeln konnte darüber nicht aufklären; aber es hatte vielleicht Bedeutung, daß er dabei die Augenlider herabhängen ließ und wie unter einer Schießscharte hervor den Deutschen musterte. „Ich weiß, weshalb Sie kommen mein Herr,“ nahm er sogleich das Wort. „Entschuldigen Sie meinen Besuch in Ihrer Abwesenheit! Die besonderen Umstände verboten eine Anmeldung. Die Pflicht eines Sicherheitsbeamten –“
„Und wessen beschuldigt man uns?“ fiel Rose ein. „Womit rechtfertigt die Behörde diese Haussuchung?“
„Darüber hat sie sich schwerlich Ihnen gegenüber zu verantworten, mein Herr,“ entgegnete der Maire immer in demselben gleichmäßigen und höflichen Tone. „Aber ich stehe durchaus nicht an, Ihnen mitzutheilen, daß Anzeigen gegen Sie und Ihren Reisegefährten bei mir eingelaufen sind, die ich nicht unbeachtet lassen durfte. Die Masse ist aufgeregt, und Sie haben sich verdächtigt. Es mußte amtlich irgend etwas geschehen, um die Leidenschaften zu beruhigen.“
„Und meine Brieftasche –?“
„Ich habe sie an mich genommen, weil sie mancherlei Schriftstücke in einer Sprache enthielt, die ich nicht verstehe. Es war meine Pflicht, festzustellen, daß dieselben keinen Inhalt hätten, der auf einen unerlaubten Zweck Ihres hiesigen Aufenthaltes könnte schließen lassen. Ich zweifele keinen Augenblick –“
„Und wo befinden sich die Papiere zur Zeit?“
„In den Händen des deutschen Dolmetschers, den ich sofort ersucht habe, sie einer Durchsicht zu unterziehen.“
„Darf ich Namen und Wohnung dieses Herrn erfahren?“
„Wozu? Haben Sie die Güte, sich nach zwei Stunden wieder hier zu melden! Ich hoffe dann bereits in der Lage zu sein, die Brieftasche mit ihrem ganzen Inhalte wieder in Ihre Hände zurückgeben zu können. Wie gesagt, nur eine Präventivmaßregel – man soll mich nicht beschuldigen dürfen, nachlässig im öffentlichen Dienst gewesen zu sein.“
„Ich werde mich auf der Präfectur beschweren, mein Herr –“
„Das steht Ihnen frei, mein Herr, aber es ändert in der Sache selbst nichts, könnte jedoch leicht eine Verzögerung herbeiführen, die Ihnen schwerlich angenehm wäre, und die Angelegenheit unnöthigerweise compliciren. Nach zwei Stunden, mein Herr, nach zwei Stunden! Treffen Sie inzwischen gefälligst die Vorbereitungen zu Ihrer Abreise!“
„Es ist durchaus nicht meine Absicht –“
„O, ich bedaure, Sie ersuchen zu müssen, sich gewissen polizeilichen Anordnungen zu fügen, die im Interesse der öffentlichen Sicherheit …“
„Auch wenn meine Papiere in voller Ordnung befunden werden?“
„Auch dann! Ich sehe mich außer Stande, die Verantwortlichkeit dafür zu übernehmen, daß Ihrer Person wegen Unruhen entstehen, die leicht Ihr Leben gefährden könnten. Ich erwarte Sie also nach zwei Stunden. Auf Wiedersehen!“
Er verbeugte sich tief und gab damit das Zeichen, daß er die Audienz als beendigt ansehe. Rose mußte sich überzeugen, daß jede Bemühung, durch seine Vorstellungen die Entschlüsse des Beamten zu ändern ganz fruchtlos sein würde. Im [311] Innersten empört über eine Behandlung, die das öffentliche Interesse zum Deckmantel selbstsüchtiger Motive nahm, verließ er die Mairie.
Die gesetzte Frist war noch nicht verstrichen, als ihm auf seinem Zimmer ein versiegeltes Päckchen übergeben wurde, dessen Empfang er zu bescheinigen hatte. Es enthielt seine Brieftasche und ein Schreiben des Herrn Credillon, der in phrasenreichem Stil die Belästigung entschuldigte, die den Reisenden nicht habe erspart werden können. Der Inhalt der Papiere sei ganz unschuldig befunden, und ihrer sofortigen Abreise stehe nun nichts weiter im Wege. Wenige Minuten darauf brachte der Hôtelbesitzer die Rechnung. Er habe gemessenen Befehl … Sein Achselzucken schloß den Satz.
„Je eher, je lieber!“ rief Onkel Helmbach. „Nur fort – fort – fort!“
Arnold hatte die Brieftasche geöffnet und einen flüchtigen Blick in die verschiedenen Abtheilungen geworfen. Er wußte ja am besten, daß seine Aufzeichnungen und Einlagen nichts enthielten, was selbst unter der schärfsten Polizeibrille als ein schwarzer Punkt erscheinen könnte. Welchen denkbaren Grund sollte man gehabt haben, ihm irgend etwas vorzuenthalten? Und doch schien er einen Gegenstand zu vermissen. Er wiederholte die Durchsicht oberflächlich, schob dann mit eiligem Finger Blatt nach Blatt zurück, warf endlich den ganzen Inhalt auf den Tisch und schüttelte die Tasche aus.
„Juliette’s Bild ist nicht dabei,“ rief er, in den Papieren wühlend.
Onkel Helmbach packte schon seinen Koffer. „Ist’s möglich?“ sagte er ohne sonderliche Erregung.
Arnold sprang auf: „Ueberzeuge Dich selbst! Das Bild fehlt.“
„Aber wer sollte –“
„O, der Schurke! Er ist der Dieb.“
„Wer, wer?“
„Credillon. Das war für ihn ein interessanter Fund. Aber der Bube soll mir –“
„Lärme nicht, lieber Junge! Wir machen uns wieder verdächtig. Was kann Dir auch noch ferner das Bild sein, wenn Du nicht das Mädchen –“
„Aber ich habe versprochen, es in ihre Hand zurückzugeben,“ rief Arnold, im Zimmer auf- und ablaufend. „Nein, er muß es zurückgeben – muß, muß!“
Er eilte auf die Mairie. Herr Credillon that sehr verwundert, ihn nochmals bei sich zu sehen. „Sie haben ja doch Ihre Brieftasche empfangen, mein Herr …“
„Aber nicht mit Allem, was darin war.“
Der Beamte warf sich in die Brust. „Sie wollen doch nicht etwa behaupten –?“
„Ich will behaupten, daß eine kleine Photographie fehlt.“
„Ach, eine so gleichgültige Sache –“
„Sie ist mir nicht gleichgültig, mein Herr, und – Ihnen vielleicht auch nicht.“
Die schwarzen Augen blinzelten unruhig unter den gesenkten Lidern. „Was stellte denn die Photographie dar?“ fragte er mit spitzbübischem Lächeln.
„Da Sie die Brieftasche durchsucht haben, wissen Sie es so gut wie ich,“ antwortete Arnold aufgebracht. „Das Bild einer jungen Dame, die Ihnen nicht unbekannt ist.“
„So – so! das Bild einer jungen Dame – ich habe darauf in meinem amtlichen Eifer gar nicht geachtet. Ich kann weder sagen: das Bild ist dagewesen, als ich auf die Brieftasche Beschlag legte, noch: es ist nicht dagewesen. Ich fand sie übrigens in der Rocktasche, und der Rock hing frei im Zimmer; das Zimmer war unverschlossen –“
„O, wie können Sie glauben, daß Jemand vom Hôtel –“
„Ja, wie können Sie glauben, daß Jemand von der Mairie –? Uebrigens unmöglich ist nichts in der Welt. Die Brieftasche ist durch viele Hände gegangen – das kleine, anscheinend ganz werthlose Bild kann Dem oder Dem gefallen haben. Eine Untersuchung würde mich und Sie nur lächerlich machen.“
„Ich fordere sie, mein Herr.“
„O – o – o! welche Weiterungen einer solchen Kleinigkeit wegen.“ Der Maire faßte in die Tasche und zog eine Geldbörse hervor. „Um sie zu vermeiden, bin ich, ohne eine Verschuldung meinerseits anzuerkennen, gern zur Entschädigung bereit. Ein Franken genügt für das Blättchen, nicht wahr?“
Dem Deutschen schoß das Blut in’s Gesicht. „Mein Herr, Sie sind ein …“ Die schwarzen Augen schienen ihn durchbohren zu wollen; er sprach die Beleidigung nicht aus. „Es giebt noch Mittel und Wege, Sie zu zwingen, mir mein Eigenthum zurückzugeben.“
Der Maire lachte laut auf. „Wagen Sie’s doch, einen Beamten der Republik einer Entwendung zu bezichtigen, ohne mit Beweisen gerüstet zu sein! Lächerlich – ha, ha, ha – lächerlich!“
Rose warf zornig die Thür hinter sich in’s Schloß. Die Schreiber im Vorzimmer richteten, erschreckt über solche Dreistigkeit, wie auf Commando die Köpfe auf und schossen ihm grimmige Blicke nach.
Er begab sich in’s Hôtel der deutschen Gesandtschaft. Ein alter Secretär ließ sich recht gutmüthig die Beschwerde vortragen. „Dabei wird schwerlich etwas zu thun sein,“ sagte er dann nach einigem Besinnen. „Wäre der Maire selbst nicht betheiligt, er würde wahrscheinlich mit viel Ostentation eine Untersuchung in Scene setzen, um uns von der Gerechtigkeitsliebe der französischen Behörden zu überzeugen. Nun wird er sich hüten, sich selbst zu bezichtigen, und seine Vorgesetzten werden ihn gegen unsere anscheinend beleidigenden Angriffe in Schutz nehmen. Die Sache ist für Sie recht ärgerlich, das gebe ich zu, aber was kann Ihnen am Ende so viel an dem kleinen Bilde gelegen sein, das Sie gewiß längst Ihrem Gedächtnisse eingeprägt haben!“
„Es ist nicht der an sich so geringfügige Gegenstand,“ entgegnete Rose ärgerlich, „es ist die Unverschämtheit dieses brutalen Menschen, der sich, einem Fremden, einem Deutschen gegenüber, glaubt erlauben zu dürfen …“
„Ja, ja, ja! das ist eben das Aergerliche,“ bemerkte der Secretär. „Aber was wollen Sie? Glauben Sie, daß wir einer Photographie wegen – und knüpften sich für Sie auch noch so merkwürdige Erinnerungen daran – diplomatische Noten wechseln können? – Oder sollen wir, wenn man uns wiederholt, was Sie schon gehört haben, von Neuem Krieg anfangen?“ setzte er lächelnd hinzu.
„Einem Engländer hätte das nicht passiren können,“ stieß der junge Mann unmuthig heraus.
„O doch – doch!“ beruhigte der Herr Hofrath. „Die Engländer sind praktische Leute; sie fangen nichts an, was sie nicht durchführen können, und für eine Visitenkartenphotographie –“
„Ich weiß genug,“ schloß Arnold. – –
Die nächste Nacht durchwachte er neben Onkel Helmbach im Eisenbahncoupé. –
Zwei Jahre waren seitdem vergangen.
Endlos lange Zeit für Arnold Rose, der mit einem Leben nichts anzufangen wußte, dem seine besten Hoffnungen abgestorben waren. Sie waren todt für ihn und begraben in seinem Herzen. Er glaubte nicht mehr daran, daß ihn Beharrlichkeit doch noch zum Ziele führen könne, daß die Zeit sein Geschick günstig wenden werde. Er hatte sich gesagt, der Traum seines Glückes sei zu Ende, ganz zu Ende, und es nütze nicht, wieder die Augen zu schließen, um ihn zurückzurufen. Vielleicht hatte er’s trotzdem versucht und nichts erreicht, als jenen halbwachen Zustand, der einem Rausche zu folgen pflegt und in dem man sich über seine eigene Verworrenheit ärgert. Nein! lieber ganz nüchtern die Dinge anschauen, wie sie nun einmal wirklich sind, alle Selbsttäuschungen über Bord werfen, auf der langweiligen Heerstraße des Lebens hinziehen mit den Tausenden, die nie einen Schritt seitwärts gewagt haben.
Wäre ihm Juliette’s Bild geblieben –! Er hatte sich in den Aberglauben so fest hineingeredet, es sei sein unerklärlicher Zauber, der ihn an das schöne Mädchen fesselte, daß er wohl jetzt auf die nicht weniger abergläubische Aufregung verfallen konnte, mit dem Verlust des Bildes sei auch jener Zauber gebrochen, so daß er nun plötzlich ganz klar sehe, wie unmöglich die Erfüllung seiner Wünsche sei. Es kam ihm vor, als verwische sich in seiner Erinnerung die Gestalt der kleinen Französin ganz überraschend schnell, nun er nicht mehr das Blättchen vor [312] sich hinstellen und liebevoll betrachten könne. Wollte er das Bild in sein Gedächtniß zurückrufen, so trat ihm sogleich immer der leere Rahmen vor Augen, und es gelang ihm nicht, ihn auszufüllen. Nur manchmal, wenn er gar nicht absichtlich seine Gedanken darauf richtete, blitzte es vor ihm auf wie eine Lichterscheinung, und er wußte dann, daß Juliette ihm zugelacht hatte, wie damals, als er zuerst von ihrem Blick gebannt war. Er empfand in solchen Momenten einen stechenden Schmerz, und es folgten darauf melancholische Stunden, in denen er sich selbst unerträglich vorkam.
Er hatte sich mit Eifer dem Geschäft gewidmet, um zur Grillenfängerei möglichst wenig Zeit zu behalten. Seiner gesunden Natur widerstand dieses nachgiebige Versenken in eine mißmüthige Stimmung, die nur erschlaffend wirken konnte. Er hatte gefühlt, daß unausgesetzte Thätigkeit von früh bis spät ihn am besten dagegen waffnete, und sich deshalb Anstrengungen zugemuthet, die sonst dem Chef eines großen Handlungshauses erspart bleiben. Die ödeste Zahlenarbeit nahm er mit Vorliebe auf sich; weite Geschäftsreisen brachten ihm die angenehmste Zerstreuung. Seine Mutter, so besorgt sie anfangs seiner Gesundheit wegen war, ließ ihn gewähren, da sie wohl merken mußte, daß kein Arzt ihm eine bessere Medicin verschreiben konnte.
Von der Familie Blanchard hatte er keine Nachricht erhalten. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, durch Geschäftsfreunde, die nach Paris reisten, Erkundigungen einzuziehen, aber er vermied alles, was wieder einen Verkehr hätte anknüpfen können. Auch im Hause sprach er nie über seine Erlebnisse in Frankreich. Nicht einmal über den Erfolg seiner Brautfahrt hatte er selbst der Mutter Bericht erstattet, sondern sie kurz an den Onkel verwiesen. Kam einmal die Rede auf den Krieg, so nahm er gar keinen Theil daran oder entfernte sich aus der Gesellschaft. Es galt den Familienangehörigen bald für ausgemacht, daß er an die Vergangenheit gar nicht erinnert zu werden wünschte, und so legten sie sich denn mit zarter Rücksicht Schweigen auf.
So hatten sie ihm auch, ohne daß es dieserhalb einer Verabredung bedurfte, verschwiegen, daß vor einiger Zeit, als er gerade auf einer Geschäftsreise abwesend war, Victor Blanchard die Stadt passirt und der Commerzienräthin und Onkel Helmbach Besuche abgestattet hatte. Es hatte sie nicht wenig überrascht, aus seinem Munde zu erfahren, daß er den Abschied genommen und nun nach Rußland reise, um bei einer von Franzosen gebauten und geleiteten Bahn die Stelle eines Ingenieurs zu übernehmen, die seinen Neigungen zusage. Er hatte sich nur einen ganz kurzen Aufenthalt gegönnt und über sein elterliches Haus gar nicht gesprochen. Warum sollte man Arnold beunruhigen?
Nach diesen zwei Jahren nun schien wirklich sein Gemüth wieder ganz frei. Er konnte im Familienkreise recht heiter sein und floh auch die Gesellschaft nicht mehr. Der Umgang mit Cousine Clara war der herzlichste und unbefangenste. Seine Mama konnte wieder daran denken, ihre alten Pläne aufzunehmen, und Onkel Helmbach, dem sie sich in einer vertraulichen Stunde eröffnete, meinte zustimmend: er habe es ja gleich gesagt, Kranken dieser Art müsse man nicht in den Weg treten. Eine unglückliche Liebe sei ja in der Familie etwas ganz Unerhörtes, und wenn Arnold in Folge wirklich ganz ungewöhnlicher Umstände auch ein wenig von den alten Traditionen abgekommen wäre, so könne er doch unmöglich so ganz aus der Art geschlagen sein, daß er sich nicht wieder in sich selbst zurecht finde. Wenn er sein Clärchen nicht zur Frau haben wolle – darum keine Feindschaft; aber an eine vernünftige Heirath müsse er denken, so oder so. Es sei die höchste Zeit für den jungen Menschen.
Die Frau Commerzienräthin versuchte es nun erst wieder mit schüchternen Andeutungen, harmlosen Neckereien, allgemeinen Sentenzen, die auf den besonderen Fall passen und auch nicht passen konnten. Da Arnold nicht auswich und wohl gar mit einem Scherz erwiderte, der wie eine Herausforderung zu weiterem Vorgehen klang, wurde sie dreister und erleichterte an einem Sonntag Abend, als die Verwandten sich entfernt hatten, ihr mütterliches Herz gründlich. Zu ihrem frohesten Erstaunen hörte Arnold sie ganz gelassen an und entgegnete darauf ohne jede Erregtheit: „Ich weiß, Mutter, daß ich zum Junggesellen nicht tauge. Ein solider Kaufmann braucht eine Frau für sein Haus, und ich bin ja auf dem besten Wege ein solider Kaufmann zu werden. Es ist gleich, ob ich heute oder über’s Jahr wähle; ich werde immer nach Grundsätzen wählen, zu denen das Herz keine Beziehung hat. Das Liebste ist mir, wenn ich jeder Wahl überhoben bin. Cousine Clara ist ein ebenso gutes wie hübsches Mädchen; sie wird die vortrefflichste Frau werden. Sie kennt alle meine Eigenheiten, und was die Hauptsache ist, auch meine Schicksale; sie weiß, daß ich sie nicht liebe, wie ich das Wort verstehe. Genügt ihr das freundschaftliche Gefühl, das ich aufrichtig für sie hege, so weiß ich mir in meiner Lage keine bessere Lebensgefährtin zu wünschen. Nur verlangt nicht, daß ich selbst sie befrage. Was ich ihr sagen müßte, könnte sie nur befangen und unruhig machen. Bringt die Angelegenheit mit ihr in Ordnung! Bin ich ihres Jaworts sicher, so will ich um ihre Hand anhalten. Bist Du mit mir zufrieden?“
Das war reichlich so viel, wie die Commerzienräthin selbst bei dem kühnsten Glauben an ihre mütterliche Beredsamkeit und an die Unfehlbarkeit ihrer Gründe erwarten durfte. Sie dankte ihrem „guten Sohne“ mit Thränen der Rührung in den Augen. Er erklärte sich bereit, dem Mädchen, das sie für ihn gewählt, die Hand zu reichen – das war ihr Alles. Was er sonst noch sagte, wie er seinen Entschluß motivirte, darauf hörte sie kaum. „Es ist ihm gar nicht Ernst mit seiner Gleichgültigkeit,“ dachte sie bei sich; „er redet sie sich nur ein, um sich vor sich selbst zu rechtfertigen, wenn er seiner Herzensthorheit nun für immer absagt. Sind sie nur erst Mann und Weib, findet das Andere sich; sie ist viel zu hübsch und liebenswürdig, um ihn bei so nahem Umgange kalt zu lassen, und er ist viel zu gutmüthig, um seine Frau kränken zu können. Es wird da nichts zu befürchten sein.“
So vollkommen beruhigt, machte sie sich sofort an’s Werk. Onkel Helmbach war ja schon gewonnen; die vereinten Bemühungen und Vorstellungen Beider mochten wohl auch bei Clärchen alle Bedenken unschwer niedergeschlagen haben. Gewiß ist, daß nur wenige Tage vergingen, bis die glückliche Frau ihrem Sohne die Nachricht brachte, die Sache sei ganz in Ordnung und er habe nur nöthig, in Frack und weißer Binde bei Clärchen anzuklopfen, um als Bräutigam zurückzukehren. Er bemühte sich, diese Mittheilung wieder mit aller Gelassenheit aufzunehmen, aber es gelang ihm doch nicht, die etwas verwunderte Frage zurückzuhalten, ob denn Clärchen gar keine Einwendungen erhoben habe? „Ach, sie hat ein Bischen geweint,“ antwortete die Mama, „und sich mit Zweifeln geplagt, ob sie Dich werde glücklich machen können, wie sie’s von Herzen wünschte – das ist bei jungen Mädchen einmal nicht anders. Schließlich aber hat sie gesagt, sie wolle Dir ihr Jawort geben, wenn Du’s zu fordern kämst. Du bist also ganz sicher, Dir keinen Korb zu holen.“
So war’s entschieden. Arnold stützte den Kopf in die Hand und träumte eine Weile vor sich hin. Wie Schattenbilder zogen die Erinnerungen der Kriegszeit an seinem geistigen Auge vorüber, kenntlich und doch ohne feste Gestalt. Er wollte sie halten, aber sie verschwammen immer nebelhafter. Es war zuletzt nur noch der Maire, der wie aus einem Versteck mit den schwarzen Augen hervorblinzelte – eine abscheuliche Visage. Arnold stand auf, trat an’s Fenster und sah in den hellen Sonnenschein hinaus. „Es muß ein Ende haben mit diesem Spuk,“ sprach er halblaut vor sich hin; „man muß das Leben ganz so prosaisch nehmen, wie es nun einmal ist – und wie man’s verdient, wenn man’s überhaupt erträgt. So mancher, der sich eine Kugel durch den Kopf jagte, hat nichts Schwereres erfahren als ich. ‚Narrheit!‘ sagen die klugen Leute. Mag sein! Aber größere Narrheit ist’s jedenfalls, sich klug zu schonen und dann doch nicht vergessen zu können. Abgemacht! –“
Als ob keine Minute Zeit zu verlieren wäre, kleidete er sich sofort um. Als er fertig war und sich im Spiegel musterte, spielte ein recht bitteres Lächeln um seine Lippen. „Wie bleich Du bist, lieber Freund!“ nickte er seinem Bilde zu. „Du solltest Dich schminken. Von einem Bräutigam kann man doch wenigstens am ersten Tage seines jungen Glückes rothe Backen verlangen.“ Er zupfte die weiße Cravatte zurecht und prüfte die Handschuhe. „Es ist lächerlich – bei seiner Cousine …! Ah! gerade da. Man kann einer Sache, die keinen Inhalt hat, nie genug Form geben.“
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[314] An der Hausthür begegnete er Kruttke. Der brave Mensch war gleich nach seiner Rückkehr aus Frankreich bei ihm als Comptoirdiener eingetreten und bewährte sich vortrefflich. Er selbst fühlte sich in seiner Stellung recht wohl; nur daß er niemals von der guten Madame Blanchard und von dem schönen Fräulein sprechen durfte, beschwerte sein treues Gemüth. Er wußte wohl, warum er schweigen mußte: es war ja eine unglückliche Liebe. Die mitleidige Seele litt schwer darunter und gab ihre Theilnahme nun wenigstens regelmäßig durch verständnißinnige Blicke zu erkennen. Er kam jetzt eben von der Post, trug ein Pack Zeitungen und Briefschaften in der Hand, und wollte mit dem bekannten wehmüthigen Ernst an seinem Herrn vorüber in’s Haus treten. Rose blieb stehen.
„Was bringst Du?“ fragte er. Er sah es ja; aber es war ihm Bedürfniß, sich durch ein Gespräch aufzuhalten.
„Die Postsachen, Herr Rose,“ antwortete Kruttke mit verhaltener Stimme. Er hatte sich’s angewöhnt, zu ihm, wie zu einem Kranken, leise zu sprechen.
„Hm – gut! Leg’s nur auf meinen Tisch. In einer kleinen halben Stunde denke ich … Weißt Du, Kruttke, der Brief, den Du mir einmal geschrieben hast –“
„Aus Frankreich, Herr Rose –“ Er erschrak sichtlich darüber, daß er das Wort ausgesprochen hatte, und räusperte sich.
„Du hast Recht gehabt: es giebt auch in Deutschland schöne und gute Mädchen, und eins davon soll nun meine Frau werden.“
„Ach! Herr Rose –!“ stieß Kruttke mit komischer Verwunderung heraus. Sein rundes Gesicht wurde blutroth, und die wasserblauen Augen richteten sich mit ängstlicher Frage auf den Principal, wie wohl seine Rede gemeint sei. Dann schüttelte er den Kopf und sah ganz verschämt zur Erde, als handelte es sich um sein eigenes Herzensgeheimniß. „Ach, Herr Rose –“ sagte er wieder in dem leise flüsternden Tone. „Sie machen einen ja blos zum Narren.“
„Durchaus nicht!“ versicherte Arnold; „aber ich kann Dir’s nicht übel nehmen, wenn Du mir nicht glaubst.“
„Denn das Beste wäre es ja,“ fuhr Kruttke lebhafter fort, den Zeigefinger in seine Halsbinde steckend und sie gewaltsam ausweitend, um sich mehr Luft zu schaffen, „und meine alte Mutter, zumal wo sie eine erfahrene Frau ist, sagt auch: ‚Es thut für den jungen Herrn nicht gut, daß er sich so lange Gedanken macht, und ist doch an keine menschenmögliche Aussicht nicht zu denken, und seine Frau Mutter grämt sich, und sein Herr Onkel hat eine Tochter‘ …“
„So, so! Ihr habt ja schon Alles in Ordnung gebracht.“
„Ach, Herr Rose – wenn man Ihnen doch gut ist –! Ich hab’ aber gesagt: ‚Der thut’s nicht – er ist wie verhext,‘ entschuldigen Sie, Herr Rose, das hab’ ich meiner alten Mutter gesagt, und sie hat ein Kreuz geschlagen, obgleich sie nicht katholisch ist, und hat gesagt: ‚der liebe Gott mag’s bessern!‘ Denn fromm ist sie, die alte Frau, das muß man ihr lassen, und gebetet hat sie gewiß alle Abend. Und wenn’s nun wirklich geholfen hat …“ Er streichelte Arnold’s Arm. – „Aber es ist wohl gar nicht Ihr Ernst?“
Arnold fühlte sich ganz eigen bewegt. … „Du sollst einen neuen Hochzeitsrock haben,“ sagte er, sich zur Heiterkeit zwingend, „und für Deine alte Mutter ein Kleid ganz nach ihrem Geschmack und eine Haube dazu. Nun aber reinen Mund halten, bis die Verlobungsanzeige in der Zeitung steht, hörst Du?“
Kruttke legte die Hand auf’s Herz. „Ach, Herr Rose – werde ich!? Also es ist wahrhaftigen Gott wahr? Na, blos die Freude von unserer Frau Commerzienräthin –!“ Er wischte mit dem Rücken der Hand eine Thräne fort.
Dabei kamen die Briefschaften in’s Schwanken; das Pack löste sich, und einige Stücke fielen auf die Erde. Er sammelte sie eiligst auf.
„Was war das für ein kleiner Brief in rosa Convert?“ fragte der Principal.
Kruttke suchte unter den Poststücken. „Wer kann wissen?“ sagte er, eins nach dem andern umlegend. „Ach, der da –! Vielleicht für die Frau Commerzienräthin, weil er doch rosa. –“
„Gieb einmal! – Nein, an mich.“ Arnold betrachtete sehr aufmerksam die Adresse. Sie war mit ganz feinen Schriftzügen, in französischer Sprache geschrieben. Er prüfte den Poststempel: Lausanne. Wer konnte an ihn aus Lausanne …? Er hatte gar keinen Bekannten dort. Und ein Franzose –? Seine Finger schoben sich auf dem Couvert hin und her, als wollte er den Inhalt prüfen: es war ein harter Gegenstand darin, kein Briefbogen. Plötzlich bemächtigte sich seiner eine ganz eigene Aufregung: der Brief zitterte in seiner Hand; er riß hastig die Hülle ab und zog die Einlage hervor – ein Blick darauf, eine schwankende Bewegung – er hielt Kruttke das Blatt vor und: „Mensch, was siehst Du da –?“ keuchte er wie athemlos.
Kruttke sprang zu und stützte ihn mit seinem Arm. Zugleich sah er auf das Blatt, und fühlte nun auch seinen eigenen Kopf taumeln. „Straf mich Gott!“ rief er, „das französische Fräulein!“
„Schön wie ein Traum“, so rief der englische Dichter Byron. als er auf der Höhe von Chêbres zum ersten Mal den herrlichen Leman, bergumkränzt, blauschimmernd tief unter sich liegen sah. Derselbe Ruf des Entzückens entreißt sich der Brust des Wanderers beim ersten Anblick der schwedischen Hauptstadt, er mag ihr zu Lande nahen oder auf der Ostsee. Er fliegt über den Felsboden des dem Meere entstiegenen Landes an düstern Tannen, an stillen einsamen Seen vorbei, hört nur den Hammer, der das Eisen schmiedet, oder die Axt, welche die Bäume des Waldes fällt; plötzlich ist er in tiefe Nacht begraben; er rauscht unter Södermalm, der Südvorstadt Stockholms hin, und kaum ist er der Tiefe entkommen und tritt auf den Riesendamm und die eisengeschmiedete Brücke, da schaut er dem traumhaften Mälarsee in das tiefblaue Auge und erblickt die schöne Stadt, die in zwei Wassern schwimmt. Noch gewaltiger, unvergleichlich schön ist der Eindruck, wenn der Reisende bei Malmö sich dem Dampfboot anvertraut, die Ostsee im Norden von Oeland durchfurcht und bei dem Leuchtthurm Landsort in die Stockholmer Scheren einbiegt, an der Seeveste Waxholm, an zahllosen mit Villen übersäeten Inseln vorbeifährt und plötzlich hinter einem Mastenwalde die Südvorstadt Stockholms wie ein riesiges Amphitheater emportauchen sieht.
Wiederum reiht sich Insel an Insel, vor Allem die schöne Thiergarteninsel, wo aus nacktem Fels ein wahres Paradies geschaffen ward und schon die Namen der lieblichen Landhäuser, Alhambra, Tivoli, Novilla, Manilla, Rosendal etc. duftige Märchen vor die Seele rufen, die noch nicht ahnt, daß das nicht lauter Lusthäuser sind, sondern theilweise Schöpfungen der Barmherzigkeit. Jetzt rasselt der Anker, lustig flattert die schwedische Flagge vom Castell der Schiffsinsel herab, und die Batterie donnert dem grüßenden Schiffe die Antwort entgegen. Umwogt von riesigen Nordfahrern, schwerbeladenen Kauffahrteischiffen, zierlichen Schaluppen und winzigen Nachen, die wie glänzende Mücken unter reichbefiederten Seevögeln im Sonnenlichte schwärmen, umflattert von den Flaggen des Nordens, setzt der Reisende den Fuß auf die prachtvollen Quadern des Quais, überwältigt von der imposanten Scenerie, die ihn umfängt. Diesen Schlußpunkt der Seefahrt, die Ankunft im Nordhafen Stockholms, führt uns unser heutiges Bild vor. Dem Besucher wird diese Einfahrt unvergeßlich bleiben. Stockholm gehört mit Neapel, Venedig, Antwerpen zu den Perlen der fluthumrauschten Städte.
Franz Wallner, der moderne Odysseus, der direct vom goldenen Horn am Bosporus zu den nordischen Buchten gewandert war, giebt in seinen „Nordlandfahrten“ dem Hafen der nordischen Hauptstadt unbedingt den Vorzug vor der als unvergleichlich gerühmten Einfahrt bei Stambul. Denn wer den [315] Quai betritt, an den schönen Markthallen vorbei in’s Innere der Stadt eilt, der gelangt nicht, wie in der türkischen Weltstadt, in enge schmutzige Gassen; er braucht nicht Schaaren herrenloser, fast heilig gehaltener Hunde auszuweichen, oder sich ängstlich zu hüten, den Kaftan eines Rechtgläubigen zu streifen. Stattliche Gebäude, reinliche Häuser, aus massivem Stein erbaut, um den früher in Stockholm so häufigen verheerenden Feuersbrünsten zu wehren, erheben sich vor ihm; ein rühriges Leben umwogt ihn, und ein Volk tritt ihm entgegen, so frisch und markig, so gastfreundlich und treuherzig, daß Einem wirklich das Herz aufgeht.
Ich habe einen schönen Traum geträumt inmitten dieses glücklichen Phäakenvolkes, das unter milden, kunstsinnigen, volksfreundlichen Herrschern schon über ein halbes Jahrhundert den tiefsten Frieden genießt, die Schätze seines Landes, Holz und Eisen, mit unermüdlichem Fleiße ausbeutet, unter harten Steinen nach der weichen Erde wühlt, die es auf die Felsen schüttet, um sein Korn zu säen, kühne Eisenbahnen in die Felsen schmiedet, Canäle und Schleußen mitten durch grauenerregende Wasserstürze führt und trotz der harten Arbeit einem heitern Lebensgenusse ergeben ist. Obwohl nicht reich, doch die Ausgabe nicht ängstlich ermessend, kommt der Schwede dem Fremden mit edler Gastfreundschaft entgegen, wie er denn überhaupt einen hohen, edlen Sinn zeigt. Selig lauscht er dem Sänger, ob er die alten Helden und Wikinger feiert, oder von dem Haideröschen, „der Blume“ singt, oder die Tollheiten des Volkes gutmüthig verspottet. Man zähle die Denkmäler, welche König und Volk ihren Kriegs- und Geisteshelden errichtet, man studire die Namen der Straßen, welche an edle Stifter erinnern, man durchwandere die vielen wohlthätigen Anstalten für Greise, Wittwen, Waisen, Kranke und Irre, man feiere die originellen Feste mit, bei welchen der Frühling der Natur wie des Geisteslebens bejubelt wird, man sehe das Landvolk schaarenweise nach dem Nationalmuseum strömen, um dort die Trümmer der Steinzeit anzustaunen, in den zerrissenen und blutigen Gewändern der Kleiderkammer die Leiden ihrer Helden, in den Waffen der Rüstkammer die Kraft ihrer Vorfahren zu bewundern, man lausche den Molltönen ihrer tausend Volkslieder – und aus alledem fügt sich ein tiefharmonisches, ergreifendes Bild zusammen, das Einen treu begleitet.
Wohl fühlt sich der Fremde in Schweden auch von manchen Uebelständen peinlich oder gar schmerzlich berührt; namentlich fordert in diesem nordischen Klima die Trunksucht manches Opfer, aber davon mag Der melden, welcher länger und tiefer hineinschaut in das eigenthümliche Volksleben. Das erfahre man aus der reichen Literatur der Schweden, aus den trefflichen Romanen einer Bremer, Flygare Carlén, Sophie Schwartz! Wer Lust und Leid des Volkes kennen lernen will, der lese die „Erinnerungen eines Miethkutschers“ von August Blanche!
Unser Bild führt uns nur einen Punkt der Hauptstadt vor, und so müssen wir uns auch auf die Erklärung dieser Partie beschränken, die auf engem Raume so viel Schönes umfaßt. Es versetzt uns mitten in das Herz der Hauptstadt, da wo die Salzsee, durch den Nordstrom mit dem Süßwasser des Mälar oder Lögar verbunden, den einen Arm um den ursprünglichen Kern Stockholms schlingt. Die süßen Gewässer des Landes haben das salzige Naß der Ostsee schon so durchdrungen, daß der Matrose seinen Trunk im Hafen aus der Fluth schöpft.
Die Vorderseite unseres Bildes, „der Königsgarten“ genannt, war noch vor kurzer Zeit vom „Näckestrom“ überfluthet. Wo einst die Nixen im Mondscheine gespielt, laden jetzt die Dryaden in ihre lauschigen Winkel und unter duftige Linden. Wo einst die beutelustige Möve flatterte, erhebt sich das Standbild des Kriegshelden Karl’s des Zwölften, und an das Rauschen des Wassers erinnert nur noch die bronzene Fontaine des Bildhauers Molin, welche in sinniger Weise die Vereinigung des Süßwassers mit dem Meere darstellt. Ein Nix bezaubert durch sein Harfenspiel den furchtbaren Meergott und seine schönen Töchter, die ihn verführen sollten und nun, seinen Tönen lauschend, die Fahrzeuge der Menschen ungefährdet lassen.
Auch die linke Seite unseres Bildes war noch vor wenigen Jahren mit unscheinbaren Hütten bedeckt, während sie jetzt zwei Prachtgebäude schmücken und die Lücke zwischen beiden in kurzer Zeit durch neue Bauten ausgefüllt werden soll, so daß sich die stolze Königsburg auf der Rechten ihres Vis-à-vis nicht mehr zu schämen braucht. Das vordere ist das in vorigem Sommer eröffnete Grand Hôtel, das hintere das Nationalmuseum. Eine schöne 550 Fuß lange, 7741 Centner wiegende, auf vier Granitpfeilern ruhende Brücke, deren luftige Bogen auf unserm Bilde durch das Takelwerk der Schiffe bemerkt werden, führt nach der Schiffsinsel, wo die schwedische Flotte ihre Kasernen, Magazine, Schuppen und ihre Kirche hat. Daran schmiegt sich die Castellinsel, ein einziger Granitfelsen, den Menschenhand mit Erde bedeckt und mit Bäumen bepflanzt hat. Dahinter, auf dem Bilde unsichtbar, dehnt sich die Thiergarteninsel aus, die besuchteste Promenade der Stockholmer, mit dem berühmten „Hasselbacken“, den der beliebte Volksdichter Bellmann, „der schwedische Anakreon“, unsterblich gemacht hat. Im Schatten seiner Lieblingseiche steht seine Büste und alljährlich versammelt sich hier das Volk, um ein höchst originelles, in seiner Art einziges Volksfest zu feiern. Die Königsburg zeigt uns ihre östliche Façade mit dem lieblichen Luchshof, der hoch auf einer Granitmauer ruht, und von dem granitene Stufen zum schönen breiten Quai hinabführen, Dieser Theil des Schlosses wird von der Königinmutter, der Wittwe Oscar’s des Ersten, bewohnt. Man füge in Gedanken zu dieser einen Façade die drei andern zum Theil noch breiteren, alle durch prachtvolle Portiken in der Mitte durchbrochen, und man frage sich, ob dieses Riesenquadrat, auf imposanter Höhe zum Himmel emporragend, nicht eine der schönsten Königsburgen ist, welche im Herzen einer Hauptstadt sich erheben.
Der Haupteingang liegt nach Norden. Dort erhebt sich der Unterbau des Schlosses 126½ Fuß hoch über den Quadern der Brücke und nimmt eine Breite von 721½ Fuß ein. Eine stolze 31½ Fuß hohe Rampe aus gewaltigen Granitquadern führt zum Porticus empor; zwei Riesenlöwen, aus Bronze gegossen, bewachen in halber Höhe den Eingang, über welchem die Genien des Ruhms das schwedische Reichswappen tragen. Treuer noch als die Löwen schützt die Burg heutzutage die lebendige Liebe des Volkes, das nicht ängstlich abgehalten wird vom Zutritte, sondern, wie in Wien, frei den Burghof durchströmt zum Tagewerk und zur Lust am Feierabend. Es ist unmöglich, die Pracht der inneren Räume, die Fülle der kostbaren Kunstschätze zu schildern, welche diese zahllosen Gemächer füllen und schon bei flüchtigem Durchwandern ganze Tage in Anspruch nehmen. Mir bleibt der Besuch eine unvergeßliche Erinnerung, denn ich hatte den kundigsten, den liebenswürdigsten Führer. König Oscar der Zweite selbst lud mich huldvollst ein, unter seiner Führung seine Privatgemächer zu besichtigen, wo er über das Wohl seines Landes sinnt und in weihevollen Stunden die schönsten Blüthen in den reichen Dichterkranz Schwedens flicht, wie er schon früher als Admiral der schwedischen Flotte seine herrlichen „Flottenlieder“ am Mastbaume auf freier Meeresfluth gedichtet. Wie mancher Fürst schaut blasirt auf die Schätze, die ihn umgeben. König Oscar der Zweite aber zeigte mir mit kunstvollem Verständniß, das überall von lebendiger persönlicher Erinnerung an den Geber getragen war, die wundervollen Gobelins, Sèvres-Vasen, Waffen und Gemälde, welche in seltener Auswahl und Fülle die in allen Farben glänzenden Wände schmücken.
Auf dem Schreibtische des Königs steht neben dem Bilde seiner Gemahlin und seiner Kinder die Photographie des Kronprinzen von Deutschland, den der König bei dessen Besuche so lieb gewonnen. Hier im Schlosse oder auf dem lieblichen Drottningholm, wo vom Anfange bis Ende des Banketts nur aus goldenen Schüsseln gegessen wurde, hat vielleicht der künftige Kaiser von Deutschland die Anregung erhalten, seine Söhne an einem Gymnasium unterrichten zu lassen, denn auch des Königs von Schweden Kinder besuchten die öffentlichen Schulen der Stadt.
„Welch ein Abgrund trennt doch die jetzige Friedenszeit von der sechshundertjährigen Vergangenheit des Schlosses! Jahrhunderte lang ereigneten sich an dieser Stätte, in der von immer wiederkehrenden Feuersbrünsten verzehrten, immer neu wie ein Phönix aus den Flammen erstehenden Burg des Birger Jarl Gräuel und Verbrechen, wie sie uns die Mythen und Tragödien des alten Griechenlands nicht furchtbarer und blutiger vor die bestürzte Seele rufen. Von dreiundfünfzig Regenten, die in der alten und in der neuen Königsburg gewohnt, sind nur elf eines natürlichen Todes im Schlosse gestorben. Alle anderen endeten auf dem Schlachtfelde, auf Reisen, auf der Flucht, im Kerker oder von Mörderhand. Erst seit Bernadotte, dem freigewählten König [316] Karl dem Vierzehnten Johann, glänzt statt der blutigen Fackel ein goldener Friedensstern über dem Lande und seinem schönen Königsschlosse.
Das prachtvolle Grand Hôtel, das mit einem Kostenaufwande von drei Millionen Reichsthaler errichtet wurde, schließt sich den schönsten Etablissements dieser Art würdig an. Es enthält ein eigenes Telegraphen- und Zollamt für die Reisenden. Die Gemächer sind theilweise fürstlich eingerichtet und ahmen treu die originellsten Style des siebenzehnten und achtzehnten Jahrhunderts nach. Von dem Dache aus genießt man jetzt die schönste Aussicht über Stockholm, die selbst die berühmte Rundschau vom „Moseshügel“ aus weit übertrifft.
Ein prächtiges Denkmal schwedischen Kunst- und Vaterlandssinns bietet das Nationalmuseum, im Renaissancestyl nach dem Muster mehrerer Paläste in Venedig erbaut und, wie diese, von der Fluth bespült. Die Hauptfaçade ist mit einer Vorhalle von einheimischem Marmor geziert, in den Nischen stehen die Brustbilder der berühmtesten Männer der schwedischen Neuzeit. Gleich beim Eingange bleibt der Besucher stehen, überwältigt von dem Eindrucke, den die Marmorstatuen der alten Götter Skandinaviens, von Fogelberg gemeißelt, auf ihn machen. Riesengroß stehen hier Odin, der Gott der Helden und der Dichtkunst, Thor, der Gott der wiedererwachenden Natur, und des kräftigen, die Fesseln brechenden Volksgeistes; über ihnen schwebt vom Balcon herab, zu welchem Marmortreppen führen, der holde Balder, der Gott des Frühlings und der Liebe, um den die Götter weinten und in dessen Tode sie die Götterdämmerung, ihren eigenen blutigen Untergang, ahnten.
Im Erdgeschosse wird eine wundervolle Sammlung von Ueberresten aus den drei Hauptperioden des schwedischen Alterthums, der Steinzeit, dem Bronze-Alter und der Eisenzeit, verwahrt; eben dort ist auch eine hübsche Ausstellung ägyptischer Alterthümer. In den ersten Stockwerken befinden sich das Sculpturmuseum und die Leibrüstkammer, im obersten Stockwerke, von oben beleuchtet, die Gemäldegallerie, welche früher im königlichen Schlosse prangte und die der königliche Besitzer hochherzig dem nationalen Museum schenkte.
Ich kann hier die Fülle der so mannigfachen Schätze, die täglich vermehrt werden und mehrmals in der Woche allem Volke zur unentgeltlichen Besichtigung offen liegen, auch nicht einmal andeuten.
Zum Schlusse will ich nur ein neben dem Nationalmuseum sich fast heimlich versteckendes Denkmal noch erwähnen, das ebenso kunstvoll wie originell ist. Seit 1867 steht hier an der ungünstigsten Stelle das Meisterwerk Colin’s, die Gruppe der Gürtelspanner. Sie stellt die alterthümlich schwedische Art des Zweikampfes dar. Beide Kämpfer wurden mittelst eines um die Mitte des Leibes geschnürten Gürtels Brust gegen Brust, verbunden und zerfleischten sich gegenseitig mit ihren Messern. Diese Zweikämpfe entstanden meistens bei hochzeitlichen Gelagen, und die dazu eingeladenen Frauen nahmen gewöhnlich für ihre Männer das Leichengewand mit.
Wenn dieses Denkmal an Kämpfe erinnert, so grausig wie die düstersten Blätter der blutgetränkten Edda, wenn es wenig stimmt zu der friedensvollen Umgebung, deren plätschernde Wogen jetzt von süßeren Mären plaudern, so mag dagegen die Bemerkung einen versöhnlicheren Schluß bilden, daß seit lange das Duell in jeglicher Form in Schweden mit entehrenden Strafen verfolgt wird, daß sich die zweitausend Studenten in Upsala in würdigerer Weise verständigen, und daß schönere Bande, als der furchtbare Gürtel, die Männer Schwedens zum edeln Wetteifer verknüpfen.
Ich, gedenkend der holden Tage, die ich in Stockholm verbracht, möchte schließen mit dem Verse, welcher der Edda entnommen ist:
Weißt du den Freund, dem du wohl vertraust,
Und erhoffst du Holdes von ihm,
So tausche Gesinnung und Gaben mit ihm
Und suche manchmal sein Haus heim.
Sie ist ein historischer Boden, diese stille Allee. Man könnte sie die Lieblingspromenade entthronter Monarchen nennen. Es wimmelte in dieser Allee von abgedankten Kaisern und Kaiserinnen, von weggejagten Königen und verbannten Prinzen, von vertriebenen Großherzogen und Kurfürsten, soweit auf dem stillen, menschenleeren Hradschin überhaupt von einem Gewimmel die Rede sein kann.
Aber wenn man die Leute schildern will, muß man zuerst das Land zeichnen, – so will ich denn auch vor Allem sagen, was man unter der stillen Allee, im Volksmunde auch die Gimpelallee genannt, versteht. Sie ist eine Doppelreihe von Bäumen, die droben auf dem ganzen Hradschin vom Palais Toscana bis zur alten Königsburg sich hinzieht. Wenn man die Allee in der Richtung gegen die Burg hinabgeht, so hat man zur Rechten das düstere Kloster der Karmeliterinnen, die unter einer so strengen Zucht leben, daß sie sich der Länge nach auf die Erde werfen und das Gesicht auf den Boden drücken müssen, wenn ihnen zufällig im öden Klostergange ein Mann begegnet. An dieses unheimliche Kloster lehnt sich das castellartige Schloß der Schwarzenberg an – ein geradezu granitner Bau, dessen massive Mauern phantastisch bemalt sind. Dieser Feudalburg gegenüber erhebt sich der erzbischöfliche Palast, an welchen sich die Wohnhäuser der Domherren reihen, welche die stille Allee garniren.
Da so gut wie keine Privatleute diesen Stadttheil bewohnen, so ist der große Platz, dessen Mitte die Allee einnimmt, immer leer. Diese Verödung empfahl ihn aber gerade von jeher hervorragenden Persönlichkeiten, die in der Nähe residirten, und bestimmte sie, ihn zu ihrem Lieblingsspaziergange zu erheben.
Keine vierzig Jahre sind es her, daß täglich ein alter Mann die stille Allee stundenlang auf und niederwandelte, umplänkelt von einem rosigen Mädchen von zwanzig Jahren und einem leidend aussehenden etwa vierzehnjährigen Knaben, der ein wenig hinkte. Zuweilen auch geleitete eine Frau in mittleren Jahren den verwittert aussehenden Greis, der immer düster-feierlich dreinschaute. War es denn aber auch ein Wunder, daß er so traurig und verbittert einherschritt? Hatte er doch auf dem schönsten Throne der Christenheit gesessen, hatte er doch ein Land beherrscht, in welchem, einem alten Sprüchworte zufolge, unser Herrgott mit Vorliebe lebt. Oder sagt man nicht von Jemandem, dem es ausgezeichnet geht: er lebt wie unser Herrgott in Frankreich? Und der alte Herr war einmal König von Frankreich gewesen, hatte aber zu viel gebetet, um als solcher sterben zu können. Das Beten setzte er auch im Prager Exil noch fort, denn so oft der Erzbischof in vollem Pomp ein Hochamt celebrirte, saß im Oratorium in einer vergitterten Loge, ein Gebetbuch vor sich, Karl der Zehnte, Exkönig von Frankreich. Und neben ihm saß seine verwittwete Schwiegertochter, die Herzogin von Berry. Die Kinder aber, die ihn auf seinen Spaziergängen begleiteten, waren Mademoiselle von Frankreich, seine Enkelin, und Heinrich von Bourbon, sein Enkel, den man heute den Grafen von Chambord nennt.
Im Jahre 1836 kam Kaiser Ferdinand von Wien nach Prag, um sich daselbst die böhmische Königskrone aufsetzen zu lassen. Es war dies die letzte Königskrönung daselbst, und der neugekrönte König von Böhmen ließ es sich in den glänzenden Septembertagen des Jahres 1836 nicht im Traume beikommen, daß er Karl den Zehnten dereinst in der stillen Allee ablösen würde. Und doch kam es so.
Während bei den Krönungsfesten die Fontainen Wein sprühten und Tausende von Silberzwanzigern unter die jubelnden Massen geworfen wurden, schlich sich ein unheimlicher Geselle bei dem Volke zu Gaste ein, unter welches man Theile im Ganzen gebratener Ochsen und Tausende gebratener Gänse unter freiem Himmel vertheilte, während auf zahllosen Tischen, welche die Hauptplätze der Stadt bedeckten, das Bier auf des Königs Kosten aus den Fässern in die Humpen floß, drei Tage und drei Nächte lang. Dieser unheimliche Gast war die Cholera.
Karl der Zehnte floh vor ihm. An einem trüben Novembertage verließ er die Prager Burg, in welcher er drei Jahre lang [317] gelebt und als er auf die Brücke kam, ließ er nicht weit von der Stelle halten, wo der Sage nach Johann von Nepomuk in die Moldau geworfen worden war, sah sich noch einmal nach dem Hradschin um und sagte mit Thränen in den Augen: „Ich werde dieses schöne Schloß nicht wieder sehen.“ In Budweis erkrankte sein Enkel gefährlich, so daß der ganze Hof vierzehn Tage in einem Wirthshause sich einquartieren mußte. Kaum in Görz angekommen, wurde der König selbst bettlägerig und starb an derselben Krankheit, vor welcher er geflohen.
Zwölf Jahre spazierten nun Domherren und Stiftsdamen ohne fürstliche Gesellschaft in der Gimpelallee umher, bis das Schicksal wieder einen Fürsten ohne Land nach Prag führte. Diesmal war es kein verjagter Monarch, der die Hradschiner Burg bezog, sondern ein Kaiser, der abgedankt hatte. Oder sollen wir sagen: den seine Umgebung gezwungen hatte, abzudanken? Wenigstens ist es Thatsache, daß Kaiser Ferdinand in der ersten Zeit seines Prager Aufenthaltes mit den Fingern auf die Fensterscheiben zu trommeln und dabei vor sich hinzumurmeln pflegte: „Ich hätte es doch nicht thun sollen.“
Die stille Allee hatte wieder ein erlauchtes Publicum. Die Kaiserin besonders wandte sich ihr mit Vorliebe zu. Der menschenfreundliche Kaiser zog es vor, Spazierfahrten nach der transmoldauischen Stadt zu unternehmen, irgendwo auszusteigen und in das lebendigste Gewühl des Straßenlebens unterzutauchen. Die menschenscheue Kaiserin aber fühlte sich nur im düstern Kaisergarten, der einen Bestandtheil der Burg bildet, und in jener melancholischen Allee wohl, in welcher jetzt auch oft breite Jesuitenhüte sichtbar wurden, welche die Häupter italienischer Beichtväter beschatteten. Die Gemahlin Kaiser Ferdinand’s ist eine Italienerin aus dem Hause Savoyen, und daß sie sich als Italienerin fühlt, bewies sie im Jahre 1848, als Radetzky einen Generalstabsofficier mit einer Siegesnachricht an das kaiserliche Hoflager nach Innsbruck sandte. Der Officier berichtete ihr in Specialaudienz, daß der Sieg den Oesterreichern theuer zu stehen gekommen sei. Die Kaiserin richtete sich, als sie von der Bravour hörte, welche die Bataillone ihres Vetters Carlo Alberto entwickelt hatten, stolz auf und sagte mit vor Bewegung zitternder Stimme: „Also haben sich meine Landsleute brav geschlagen?“
Der Italienerin gefiel es so wenig in der Prager Burg, daß sie dieselbe immer mit Wonne verließ, um sich, sobald der Frühling in’s Land kam, nach ihrem Landsitze im Venetianischen zu begeben. Und wenn sie im Spätherbst von ihrer Villeggiatur zurückkehrte, so geschah dies zögernd, als ob sie einer Gefangenschaft entgegen ginge. Fünf, sechs Mal stieg sie, wenn sie die Burg schon in Sicht hatte, aus dem Wagen und setzte sich viertelstundenlang mitten in der Nacht auf die erste beste Bank, welche ihr längs der Chaussee ein Ruheplätzchen bot. Dieses Zögern gab zu manchen spaßigen Zwischenfällen Veranlassung.
Der Polizeicommissär von Bubentsch, der letzten Bahnstation vor Prag, die der Burg viel näher liegt, als die Endstation, weshalb die Kaiserin daselbst den Waggon zu verlassen pflegte, meldete in seinem Bericht, daß die Kaiserin um zwei Uhr Nachts in Bubentsch angelangt sei. Der Commissär vom Hradschiner Bezirk berichtete, daß die Kaiserin nach vier Uhr in der Burg ausgestiegen sei. Die Fahrt vom Bahnhofe zur Burg nimmt aber nur eine Viertelstunde in Anspruch. – Der Polizeidirector wußte sich also lange nicht zu erklären, wie sich die einander scheinbar widersprechenden Rapporte zu einander verhielten, bis sich die Sache endlich aufklärte.
Heute fährt der Kaiser nicht mehr aus, denn er ist alt und gebrechlich geworden, und muß sich auf den Rollstuhl beschränken, in welchem er, um doch die Wohlthat einer Ortsveränderung zu genießen, stundenlang durch die lange Reihe seiner Gemächer hin und her geschoben wird. Dabei setzt er, der, als er noch in vollem Besitze seiner Geisteskräfte war, nie Jemandem etwas zu Leide gethan hatte, seiner Umgebung recht empfindlich zu.
Als er die letzte Ausfahrt in Begleitung eines seiner Leibärzte machte, holte er jeden Augenblick mit der Hand aus. Der Arzt bemächtigte sich aber immer im rechten Augenblicke der letzteren, um ihm scheinbar den Puls zu fühlen. So kam man auf die Brücke zur Johannesstatue. Wieder erhebt der Kaiser die Hand; wieder greift der Arzt nach dem Pulse. „Was haben’s denn mit dem ewigen Pulsgreifen? – So lassen’s mich doch den heiligen Johannes grüßen!“ sagt der Kaiser unwirsch. Der Arzt giebt die Hand frei – patsch! hatte er eine Ohrfeige.
Trotz seiner Gebrechlichkeit hat der zweiundachtzigjährige Mann noch eine große Lust am Leben. In seinen jungen Tagen hatte ihm eine Zigeunerin geweissagt, daß er achtzig Jahre alt werden würde. Nun ist er glücklich darüber, daß er es schon weit über die ihm in Aussicht gestellten achtzig gebracht habe, und es entspinnt sich fast täglich folgendes stereotype Gespräch zwischen ihm und seiner Umgebung:
„Wie alt kann ich also werden?“ fragt der Kaiser.
„Majestät können neunzig, können hundert Jahre alt werden.“
„Hundert Jahre? Und was dann?“
„Es können auch hundertzwanzig werden.“
„Hundertzwanzig, gut, und was dann?“
„Nun, dann werden Majestät sterben.“
„Sterben? Und was dann?“
„Dann werden Sie auf das Glänzendste bestattet werden – man wird machen: bum, bum!“
„Bum, bum!“ wiederholt der Kaiser, nachdenklich vor sich hinsehend.
Während sich der Nestor aller europäischen und auch wohl aller außereuropäischen Monarchen auf diese naive Art mit seinen Cavalieren unterhält – vom Pianospiel, das er einst mit Leidenschaft betrieben, ist jetzt eben so wenig mehr die Rede, wie vom Billardspiel, dem er, als er noch frisch war, auch sehr zugethan gewesen – sucht seine um zehn Jahre jüngere Gemahlin immer noch mit Vorliebe die stille Allee auf. Die Gedanken, welche sie beschäftigen, sind nur auf einen Punkt gerichtet – sie hat den brennenden Wunsch, ihre verstorbene Schwester, welche an den König von Neapel verheirathet gewesen, selig gesprochen zu sehen. Der Seligsprechungsproceß wickelt sich ihr viel zu langsam ab, obgleich von Seite ihrer geistlichen Umgebung Alles gethan wird, ihn zu fördern. Aber Rom läßt sich Zeit; es darf sich mit der Prüfung der Wunder, welche die Seligzusprechende verübt haben muß, nicht übereilen. Und dann ist man auch dem Hause Savoyen nicht besonders grün im Vatican und auch das Haus, in welches die savoyische Princessin, der an der Seligsprechung ihrer Schwester gelegen ist, hineingeheirathet hat, ist in Rom nicht mehr so gut angeschrieben, wie ehedem. Der Unfehlbare mag vielleicht denken: die Savoyerin kann warten.
Und noch andere fürstliche Persönlichkeiten bevölkerten in den letzten Jahren die stille Allee in Prag. Der vertriebene Großherzog von Toscana wurde, als er noch sein Hradschiner Palais bewohnte, ab und zu in derselben gesehen, und auch der Exkurfürst von Hessen ließ sich nicht selten von seinen Isabellen auf den Hradschin hinaufziehen, um da oben zwischen den alten Räumen die Fürstenpromenade entlang zu wandeln, wie man diese Allee mit Fug nennen kann. Er wohnte auf der Kleinseite, dem Palais des Friedländers gerade gegenüber, und hatte daher nicht weit nach dem Hradschin. Sie war interessant genug, die Nachbarschaft des kurfürstlichen Hauses, das in früheren Jahren dem Fürsten Windischgrätz gehört hatte. Gegenüber das alte Wallenstein-Haus, in welchem noch der Schimmel, den der Friedländer geritten, ausgestopft zu sehen ist. Zur Linken das Palais Auersperg, gegenwärtig dem Fürsten Carlos Auersperg, dem ersten Cavalier des Reiches, wie ihn Schmerling zu nennen pflegte, gehörig. Carlos Auersperg war einmal österreichischer Ministerpräsident und ist gegenwärtig Landmarschall von Böhmen, während sein Bruder Adolph Präsident des cisleithanischen Ministeriums ist. Die beiden Fürsten sind ganz verschiedene Charaktere und sehen einander auch gar nicht ähnlich. Carlos sieht wie ein echter Cavalier, Adolph aber wie ein behäbiger Hôtelwirth aus. Carlos ist schon mit fünfunddreißig Jahren ergraut und zwar über Nacht. Im Jahre 1848 erhoben sich die böhmischen Bauern auf seiner Stammherrschaft gegen ihn, und er mußte sich in einem Heuwagen verstecken. Er brachte eine schreckliche Nacht in dem Wagen unter dem Heue zu, und die Bauern stachen wiederholt mit ihren Mistgabeln, die sie in das Heu einbohrten, nach ihm. Als der Morgen Rettung brachte, war das braune Haar des Fürsten schneeweiß geworden.
Zur Linken des kurfürstlichen Palais erhebt sich der Fürstenberg’sche Palast, von einem terrassenförmig bis zur Hradschiner [318] Burg aufsteigenden Garten eingerahmt. Die Fürstin Fürstenberg ist eine ihrer Schönheit wie ihrer Launen wegen bekannte Dame. Diese Launen haben ihrem seligen Gemahle viel Geld gekostet. Einen Pariser Hut, der tausend Franken gekostet, dem Schooßhündchen zum Apportiren hinzuwerfen, war ihr eine Kleinigkeit. Minder kostspielig war ein anderer burlesker Scherz, den sie in Scene setzte. Sie wettete eines Tages mit ihrem Gemahle, daß sie die Gassenstrecke vor ihrem Palais viel besser reinfegen würde als irgend Jemand anderes, und ehe der Fürst es zu hindern vermochte, war sie unten, hatte sich eines Besens bemächtigt und fegte energisch darauf los. Der Fürst besaß in Lana bei Prag einen ausgedehnten, prächtigen Thiergarten, den er bis in seine verborgensten Partien mit Fahrwegen durchsprenkeln ließ, damit seine Gemahlin das Wild vom Wagen aus wegschießen könne. Heute ist die an königliche Pracht und Verschwendung gewöhnte Frau auf eine sehr mäßige Rente angewiesen. Man sah sie im verwichenen Jahre häufig in Baden-Baden in Gesellschaft der Lady Dudley, der gefeierten englischen Schönheit, deren Gemahl ein so sonderbarer Kauz sein soll. Es geht die Sage von dem gebrechlichen Manne, der vierzig Jahre älter als seine Frau und ebenso häßlich wie diese schön ist, daß er in dem Wahne lebe, er würde eines Tages von einem Eichkätzchen entbunden werden. Um dasselbe nun nicht zu verlieren, trägt er den unteren Theil des Körpers in Sackleinewand eingenäht. Es ist das derselbe Lord Dudley, dessen auf zwei Millionen Pfund geschätzter Familienschmuck ein so großes Aufsehen auf der Wiener Weltausstellung erregte. Die Fürstin Fürstenberg ist eine Nichte jenes Generals Khevenhüller, welcher dem Fürsten Windischgrätz bei der Beschießung Prags im Jahre 1848 secundirte. Sein famoses, den Fürsten zur Fortsetzung des Bombardements animirendes Wort: „Noch eine Pille, Durchlaucht!“ ist ein geflügeltes Wort geworden.
Da, wo das Palais Fürstenberg aufhört, fängt eine wahre Mördergrube an. Fast jedes Haus ist dort der Schauplatz einer unheimlichen Mordaffaire gewesen. Hier wurde eine Geldverleiherin von einer Schuldnerin in der grausamsten Weise massacrirt. Daneben klebt ein Häuschen am Felsengemäuer jenes Hohlwegs, den Wallenstein hier durchbrechen ließ, um seine Armee aus der Stadt hinauszuführen. In diesem Häuschen wohnte eine aus drei Personen bestehende Familie, welche ein gewisser Masson insgesammt in einer Nacht umbrachte. Dieser Masson war eine räthselhafte Persönlichkeit. Er hatte unter dem ersten Napoleon in Spanien gedient und besaß einen Abschied vom französischen Divisionscommando in Saragossa, in welchem der eigentliche Name des Verabschiedeten ausradirt und durch den geschickt hingemalten Namen Masson ersetzt war. Wahrscheinlich war er von der französischen Armee desertirt und hatte einen Cameraden umgebracht, um sich seiner Legitimationspapiere zu bemächtigen.
Aber kehren wir von dieser Excursion, die wir in die Nachbarschaft der stillen Allee unternahmen, wieder in diese letztere zurück, um noch einer Persönlichkeit zu gedenken, die sich vor Jahren in derselben zu ergehen pflegte. Dieselbe gehörte weder zu den vertriebenen, noch zu den abgedankten Fürstlichkeiten, sondern zu dem gleichfalls weitverbreiteten Geschlechte der Prätendenten. Seit Jahr und Tag spielt sie drüben im Lande der Kastanien eine prononcirte Rolle, und es ist in ihrem Namen sowie in jenem des Princips, das sie vertritt, in den letzten drei Jahren mehr Blut vergossen worden, als sie je zu verantworten im Stande ist. Der Mann, der als hochaufgeschossener Knabe mit seinem Hofmeister im Anfang der sechsziger Jahre die stille Allee täglich auf und nieder zu wandeln pflegte, ist Don Carlos, der Prätendent von Spanien. Der Enkel jenes Don Carlos, der zehn Jahre lang mit seiner Nichte Isabella um den spanischen Thron kämpfte, bis ihn Espartero zwang, nach einer entscheidenden Niederlage Spanien zu verlassen und in Oesterreich eine Zuflucht zu suchen, wo er unter dem Namen eines Grafen Montemolin lebte und starb, bewohnte Jahre lang mit seinem jüngeren Bruder Alphons das Schloß auf dem Prager Hradschin, und man sah die beiden braunen, schwarzhaarigen und schwarzäugigen Jungen mit ihrem Hofmeister, einem Jesuiten, in einer alterthümlichen Hofequipage, die ganz zu den Grundsätzen paßte, welche ihnen der Jesuit einimpfte, durch die Stadt fahren. Als es in Oesterreich zu tagen begann, gefiel es den Jesuitenschülern nicht mehr recht in Prag – dafür kam bald darauf ein anderer spanischer Alphons als Flüchtling nach Oesterreich, um im Wiener Theresianum, der österreichischen Beamtenabrichtungsanstalt, gedrillt zu werden.
Vierunddreißig Jahre sind jetzt verstrichen, seit im Verlage des literarischen Comptoirs in Zürich und Winterthur (Julius Fröbel) der erste Band der „Gedichte eines Lebendigen“ erschienen. Vom Jahre 1841 bis 1845 folgten die neuen Auflagen rasch und zahlreich aufeinander. Wenigstens die des ersten Bandes. Und heute? – Die „Gedichte eines Lebendigen“ sind aus dem deutschen Buchhandel so gut, wie verschwunden. Es giebt zwar Anthologien, in welchen „Ich möchte hingeh’n, wie das Abendroth“ und zwei oder drei nicht tendenziöse Sonnette unseres Sängers Aufnahme fanden, aber die Zahl derjenigen, welche den Namen Herwegh wirklich aus seinen Gedichten kennen, ist bei der neueren Generation eine verschwindend kleine geworden. Man weiß aus den politischen Tagesblättern, daß es einen Dichter Namens Herwegh giebt oder, richtiger gesagt, gab, denn nun ist er ja todt. Dieser Dichter veröffentlichte von Zeit zu Zeit und bei seltenen Gelegenheiten einige Verse, von denen man nicht ohne Recht sagen darf, sie seien das gereimte Phrasenprogramm einer Partei, welche nicht leben und nicht sterben konnte, weil sie genau nur das wußte, was sie nicht wollte, und das war Alles, was die Weltgeschichte producirte und in den Zeiträumen der Gegenwart mit Nothwendigkeit produciren mußte. Wir sind zu weit vorgeschritten, als daß uns Spott und Satire noch erbittern dürfte, und wir fühlen, daß wir noch nicht so weit vorgeschritten sind, um „ohne Sorgen für den lieben andern Morgen“ die Ideale nur im süßen Nichtsthun der absoluten Verneinungen zu suchen.
Die Herwegh’sche Gelegenheitsmuse fand die kühlste Aufnahme. Selbst Fritz Gerstäcker, der einmal so galant war, eine Lanze mit ihr zu brechen, konnte sie nicht davor retten, daß sie „sitzen blieb“, wie schlechte Tänzerinnen auf dem Balle.
Und doch war Georg Herwegh ein „Dichter von Gottes Gnaden“, ein poetischer Genius in des Wortes größter Bedeutung. Und doch gab es eine Zeit, wo er ganz Deutschland, wie ein Tyrtäus, elektrisirte und entflammte, und wahrlich nicht allein durch die Freiheitsphrasen, die er zündend hinauswarf, sondern auch durch den Reichthum der Gedanken und der ungezwungenen poetischen Bilder, sowie durch seine Formvollendung.
Ich habe den Dichter persönlich gekannt. Ich duzte mich mit ihm; seine Gedichte haben auf meine ganze Lebenslaufbahn einen entscheidenden Einfluß gehabt. Die Ereignisse trennten uns bald. Was ich über den Menschen Herwegh von Zeit zu Zeit vernahm, konnte keine Anziehungskraft ausüben, konnte mich aber auch nicht bestimmen, über den Menschen zu urtheilen, obgleich mir geistig und gemüthlich nahestehende Personen Partei waren. Ich sah nur die alte Erscheinung wieder einmal bestätigt, daß mit seltenen, seltenen Ausnahmen das Exil – und auch das Selbstexil – den Genius des Menschen demoralisirt, wenn mit dem Exil nicht die Resignation verbunden ist, vom alten Schauplatz abzutreten. Der Exilirte, welcher das nicht kann, bleibt auf dem Standpunkte stehen, den er einnahm, als er in’s Exil wanderte. Man sagt, die geblendete Nachtigall träume im Käfig stets vom Frühling, und deshalb sänge sie das ganze Jahr. Man glaubt aber nicht mit ihr an ihren Traum und an ihren Gesang.
So ist das Exil. Es ist ein Käfig, in welchem wir geblendet sitzen und träumen. Wir träumen das Leben weiter, welches unsere Phantasie im Wachen geträumt hat, ehe uns das [319] Exil jenes Leben nahm. Und was wir mit geschlossenen Augen im Traume sprechen, es klingt unverständlich und selten – schön. Wir bleiben im Traume Partei, ob auch die Parteigenossen geistig längst zu ihren Vätern versammelt sind, das heißt: die Irrthümer und Illusionen ihres Lebens längst eingesehen haben, und wenn Herwegh den Dichter „Prophet“ nennt, so hat am Ende Freiligrath auch nicht Unrecht, wenn er singt:
„Der Dichter steht auf einer höhern Warte
Als auf der Zinne der Partei.“
Was half die Herwegh’sche Antwort:
„Und meinen Lorbeer flechte die Partei!“
Die Partei ist todt, und der Lorbeer ihres Dichters ist mit ihr begraben worden.
Es war im Jahre 1841, als ich den Namen Herwegh zum ersten Male gedruckt las, und es war in der Residenz des damaligen Kaisers von Oesterreich, des Fürsten Clemens von Metternich, also in Wien. So stark der Druck der Censur auf jeder geistigen Bewegung lastete, so tolerant – für seine damaligen Verhältnisse – war das System gegen die gebildete Classe der Gesellschaft. Die Erlaubniß, in einem Cirkel von Lesern auswärtige Zeitschriften etc. cursiren zu lassen, vorausgesetzt, daß sie den Kreis nicht überschritten, wurde selten verweigert und so las ich zuerst in Wien Börne’s „Menzel, der Franzosenfresser“, Gutzkow’s „Wally“, Heine’s „Salon“ und eine Menge anderer Sachen, welche heutzutage ziemlich harmlos erscheinen, in jenen Tagen aber in den officiellen Regionen für Pulver und Schießgewehr galten, mit welchen Kinder und Staatsbürger nicht spielen sollen. Sogar Lewald’s „Europa“ genoß die Ehre, in Oesterreich noch zu den Artikeln zu zählen, die, wenn sie auch nicht von selbst explodirten, doch vor der Berührung mit Feuer und Licht behütet werden mußten.
Lewald’s „Europa“ war es, welche uns in Wien im Jahre 1841 den Namen Herwegh zuerst nannte, ohne von ihm weit mehr zu sagen, als daß er ein talentvoller, in Zürich lebender junger Dichter sei, dessen „Gedichte eines Lebendigen“ großes Aufsehen erregten. Die genannte Zeitschrift brachte gleichzeitig durch den Abdruck des Nachrufs an den jung gestorbenen Dichter Georg Büchner eine Probe der Herwegh’schen Muse, von welcher Probe ich nur die ersten sechszehn Verse hier anführen will.
„So hat ein Purpur wieder fallen müssen!
Hast eine Krone wiederum geraubt!
Du schonst die Schlangen zwischen deinen Füßen
Und trittst den jungen Adlern auf das Haupt!
Du läßt die Sterne von dem Himmel sinken
Und Flittergold an deinem Mantel blinken!
Sprich, Schicksal, sprich, was hast du diesen Tempel
So früh in Schutt und Asche hingelegt?
So rein und frisch war dieser Münze Stempel –
Was hast du heute schon sie umgeprägt?
O, theurer als im goldenen Pokale
Einst jene Perle der Kleopatra,
Lag eine Perle in dem Haupte da;
Der Mörder Tod schlich nächtlich sich in’s Haus,
Der rohe Knecht zerbrach die zarte Schale
Und goß den hellen Geist als Opfer aus.“
Es geht uns Lesern bei der Lectüre von Gedichten nicht selten wie bei der Musik. Die gedruckten Worte sind nur eine Partitur, und die Noten gehen nur dem Musiker, welcher Partituren zu lesen versteht, durch das Auge auch in’s Ohr. Die Melodie und die Harmonie der gebundenen Rede kommen dem Laien erst zum wahren Verständniß durch die Instrumentation, und diese ist in der Poesie das hörbare Wort, die Rhetorik. Möge der Leser also die oben citirten Verse laut lesen und die Frage gestatten, ob er in der ganzen deutschen poetischen Literatur ein Beispiel finden kann, welches in sechszehn Zeilen (ich gebrauche absichtlich das Wort „Zeilen“) einen solchen Reichthum an poetischen Bildern enthält. Dieser Reichthum ergießt sich über das ganze Gedicht. Wir brauchen uns nicht erst darüber zu verständigen, was den Werth einer Dichtung ausmacht. Es ist die Reinheit der Form, verbunden mit dem Reichthum der poetischen Gedanken und Bilder, und vor Allem die Zwanglosigkeit, die weiche, melodiöse Ungezwungenheit, mit welcher der Dichter die Bilder vor uns entrollt. Diese Aufgabe löste Herwegh in seinem Nachruf in einer so vollendeten Weise, daß er in der Form sogar den mitunter fast bis zur Pedanterie gewissenhaften Platen überflügelte und in der Phantasie eine fast dämonische Verschwendung zeigte. Der tiefe Eindruck, den das Gedicht auf uns Alle machte, ist um so maßgebender, als der Name Büchner in der Literatur in weiteren Kreisen kaum einen Klang hatte, folglich der Dichtung Herwegh’s nicht einmal eine „Reclame“ machen konnte. In solcher Weise durch Lewald’s „Europa“ introducirt, hatte also in unsern damaligen Kreisen in der österreichischen Hauptstadt die politische Tendenz der Herwegh’schen Muse, die ihm in Deutschland so rasch und mächtig Bahn brach, keinen Einfluß auf unser Urtheil, höchstens etwa die pantheistische Weltanschauung, welche sich wie ein rother Faden durch den ganzen Nachruf zieht und in den Worten ihren Glanz- und Höhepunkt findet:
„Dort in den Nachen wirft mit kalter Hand
Sein letztes Gold das herbstlich gelbe Land,
Und meine Seele schaut in süßer Ruh’
Der Perlen Träufeln von den Rudern zu,
Wie sie von Ringen hin zu Ringen tönen,
Ein fliegendes Symbol der Ewigkeit,
Und endlich sich, von jeder Form befreit,
Gestaltlos mit dem Element versöhnen.“
Versetze sich der Leser im Geist mit uns in die damalige Zeit zurück. Er braucht nicht in der Hauptstadt der Phäaken, welche im Anfange der vierziger Jahre Wien war, gelebt zu haben. Der Schnepper des Heine’schen Witzes, das Tuthorn des „politischen Nachtwächters“ (Dingelstedt) war so ziemlich Alles, was die Poesie auf dem Gebiete der politischen Tendenzlyrik geleistet hatte. Deutschland philosophirte in dem stehend gewordenen Sumpfe des Ultraconservatismus. Die Philosophen, welche auf Erden Nichts ausrichten konnten, banden mit dem Himmel an. David Strauß im „Leben Jesu“ wurde überflügelt von den „deutschen Jahrbüchern“ von Ruge und Echtermeyer. Ludwig Feuerbach, Bruno Bauer und Andere repräsentirten sich als diejenigen, welche Hegel besser „verstanden“ haben wollten, als dieser sich selbst verstanden haben konnte. Die „Jung-Hegelianer“, – so nannte man sie – suchten „dem Himmel den Blitz zu entreißen“. Nach dieser abstracten Prämisse sollte ja die Consequenz:
„den Tyrannen das Scepter“
der Menschheit wie die gebratene Taube von selbst in den Mund fliegen, und wir waren Alle sehr böse, als der frivole Heine diesen ungläubigen Glauben als ein „jung-hegelsches Strohdreschen“ bespöttelte.
Daß in einer solchen Zeit, wo auf der einen Seite der deutsche Genius die Erde per Schnellpost floh, um den lieben Engelein, welche auf kalten, feuchten Wolken sitzen und „Hallelujah“ singen, das Leben sauer zu machen, und wo auf der andern Seite neben dem bureaukratischen Zopfthume ein in Flanell eingewickelter Liberalismus glänzte, welcher heimlich nach dem Champagner der Revolution lechzte und öffentlich das Messer der „Gesetzlichkeit“ im Munde führte – ich sage, daß in einer solchen Zeit die Phrase der politischen Lyrik, keck auftretend, Sensation erregen mußte, war natürlich. Da sie aber in Herwegh in vollendeter Schönheitsform auftrat, so wurde die Phrase zur Sirene und selbst der hochbegabte Friedrich Wilhelm der Vierte war nicht in dem Grade ein Ulysses, um sich die Anerkennung des gefährlichen Sirenengesanges versagen zu können.
„Ich wünsche Ihnen von Herzen einen Tag von Damaskus, und Sie werden Großes leisten,“ sagte der König von Preußen persönlich zum Dichter Herwegh, einem Dichter, welcher von sich selber gesungen hatte:
„Ich bin kein froher, freud’ger Buhle,
Dess’ Wappen Rose und Pokal:
Ich sitz’ als Geist auf Banquo’s Stuhle
Bei jedem frechen Königsmahl.“
Wie es Erscheinungen in der Natur giebt, die wir fürchten und hassen, die wir aber anzustaunen und zu bewundern gezwungen sind, wie den Ausbruch eines Vulcans, den Orkan des Oceans, den Donner der Schlachten etc., so kann auch die Sprache der Dichtkunst durch die Schönheit der Form und die wenn auch negative Macht der Gedanken magnetisch auf den Geist der Menschen wirken. – Ulysses! Ulysses! die Sirenen singen! Stopfe dir selber Wachs in die Ohren; denn leihst du ein Ohr ihrem Gesange, so öffnen wir beide Ohren!
Das königliche Wort, obgleich es nach „Damaskus“ deutete, vollendete die Triumphe, welche Herwegh im Anfange der vierziger Jahre in ganz Deutschland feierte. Ein Band Gedichte eines [320] bis dahin völlig unbekannten Poeten war ein Ereigniß geworden. Die Ehrenbezeigungen, welche Herwegh auf seiner Reise durch Deutschland erhielt, schienen sich sogar officiös zu färben. Bekanntlich nahm er ein gleichzeitiges Wort des Königs: „Wir wollen offene Feinde sein“, etwas allzu wörtlich und machte von dieser „offenen Feindschaft“ in der Leipziger „Allgemeinen Zeitung“ einen so unhöflichen Gebrauch, daß die preußische Regierung ihn noch weiter zu gehen zwang, das heißt ihn Landes verwies.
Der schwache Mensch bleibt Mensch. Es war, genau genommen, kein Wunder, wenn einem jungen Poeten nach so vielen positiven und negativen Huldigungen der Kamm schwoll und er sich dem Wahne überließ, genug für die Unsterblichkeit gearbeitet zu haben. Herwegh ließ im Schaffen nach; er gab noch einen zweiten Band der „Gedichte eines Lebendigen“ heraus, aber – – –
Doch ja! das Urtheil der Welt ist oft ein ungerechtes. Die königliche Ungnade, die Ausweisung aus Preußen hatten dem loyalen Unterthanenverstande das Recht gegeben, nach dem neuen poetischen Gestirne mit Steinen und Koth zu werfen; dem Liberalismus der Philister flößte sie Furcht ein. Obgleich dieser zweite Band der „Gedichte eines Lebendigen“ Erzeugnisse enthielt, wie sie in wunderbarer Schönheit kaum der erste aufzuweisen hatte, so zerrte man jetzt bereits auch den Dichter von seinem Piedestal herunter. Gewiß, ich will die vielen wohlfeilen und verbissenen „Kalauer“ satirischer Xenien nicht vertheidigen, noch den thörichten Wahn des Poeten, der sich zum praktischen Politiker erhoben glaubte, aber es empörte nicht allein mich, sondern auch viele, viele Andere, welche zur Person und zu dem Standpunkte Herwegh’s eine ablehnende Stellung einzunehmen gezwungen waren, daß man den dichterischen Genius zum Prügeljungen für die Sünden und Irrthümer des Menschen und Politikers machte. Der Ausruf:
„Raum, Ihr Herr’n, dem Flügelschlag
Einer freien Seele!“
ist gleichwohl durch den zweiten Theil der Gedichte, trotz aller Neidhammelei, eine classische Sentenz geworden.
Liest man heute die „Gedichte eines Lebendigen“, so wird uns ihre tendenziöse politische Seite kalt lassen, aber doppelt so schön, wo uns die Programme todter Parteien nicht mehr am Gängelbande führen, wird der poetische Werth der Herwegh’schen Dichtungen hervortreten. Ihr Eindruck ist heute ein mehr künstlerischer. Die Phrasen sind wie die Posaunen des Orchesters in einer Ouverture. Sie nehmen Theil am Ganzen, doch wir geben ihnen heute nicht mehr das Vorrecht, daß wir sie als leitende Instrumente betrachten. Sie schildern uns in den Augenblicken, wo sie einsetzen, nur noch eine Zeitepoche, und wir gestehen uns selbst ein, daß ihr Geblase keine Mauern von Jericho umwerfen kann.
Die Posaunenstöße in den „Gedichten eines Lebendigen“ aber machten Schaaren von Finken und Zeisigen in dem deutschen Dichterwalde lebendig. Was zwitschern und piepsen konnte, zwitscherte und piepste „Tendenz“. Wenn Deutschland hätte mit Versen befreit werden können, es wäre eine Musterrepublik, deren Glanz bis in die vorsündfluthlichsten Zeiten hätte zurückstrahlen müssen. Und wenn die Verse der Nachtreter Herwegh’s Dolche gewesen wären, es lebte heute kein „Tyrann“ mehr auf Erden. Man muß den guten Willen für die That nehmen. Als nun später, im Gegensatz zu Herwegh, auch fromme und loyale Poeten das Schwert an die Leier schnallten, würgte man sich gegenseitig auf dem deutschen Parnaß und der poetische Bürgerkrieg verzehrte sich selbst, wie alle Bürgerkriege es thun.
Ich lernte Georg Herwegh im September 1841 in Zürich kennen. Damals war er in seiner äußeren Erscheinung noch der „arme Poet“, in seiner Toilette noch ein wenig Bär. Es fehlte ihm das „Loch im Aermel“ nicht. Er war ziemlich still in großer Gesellschaft, aber blitzend in der Conversation unter vier Augen und dabei von einer gewinnenden Gutmüthigkeit. In der Tasche trug er damals Spinoza’s Ethik mit sich. Es überraschte mich nicht wenig, als wir einst an einem schönen Herbstmorgen eine lange Spazierfahrt auf dem Zürichersee machten und Herwegh die Ruder führte, daß er mich bat, im Lesen laut fortzufahren, wo er am Abend vorher stehen geblieben war. Es war der zweiunddreißigste Satz des ersten Abschnitts: „Der Wille kann nicht freie Ursache, sondern nur nothwendige genannt werden“. Ich gestehe es, die in ihrer Form trockene Darlegung des großen Pantheisten in der uns umgebenden größeren pantheistischen Natur interessirte mich sehr wenig. Die „Perlen träufelten“ von den „Rudern“, und ihr „Tönen von Ringen zu Ringen“, ihr endliches gestaltloses Versöhnen mit dem „Element“ machte mir den ganzen Pantheismus klarer als die mathematische Kette von Beweisen Spinoza’s es konnte. Beim Glase Bier unweit Neumünster, wo wir an’s Land gingen, wanderte die speculative Philosophie wieder in die Rocktasche, und der Dichter und Weltschmerzler trat wieder in den Vordergrund in seiner ganzen idealistischen Natur.
Bald darauf machte Herwegh eine Reise nach Paris, besuchte Börne’s Grab und schloß intime Freundschaft mit Heinrich Heine, hingerissen von „dessen unwiderstehlicher Liebenswürdigkeit“, wie er mir selbst erzählte. Er kehrte von Paris mit einer feinen Außenseite zurück; sein Geist war voll der widersprechendsten Richtungen, welche in der Seinestadt damals .Mode waren. Der Socialismus spielte darin keine Nebenrolle. Das melodramatisch ergreifende Gedicht „Die kranke Liese“ im zweiten Theile der „Gedichte eines Lebendigen“ ist ein auf dem Pariser Pflaster gereifter Vorwurf. Die naive Schwabennatur erlag der chaotischen Weltstädterei, und ein wunderbares Gemisch von Haß und Liebe für Paris, eine etwas petrolös angehauchte Weltstimmung zeigte sich schon damals. Die bittern, obschon selbstverschuldeten Erfahrungen in Deutschland, seine in Zürich bald darauf folgende Ausweisung, in welche unter vielen anderen Deutschen auch ich hineingerissen wurde, vollendeten den Proceß der Gemüthsverbitterung, und jedesmal, wenn ich in Zwischenräumen mit Herwegh zusammentraf, hatte er ein neues heroisches Mittel in petto, um den Lazarus Menschheit von seinen Wunden zu heilen. Die meisten dieser Mittel waren nach dem Recepte des Bären, welcher seinem schlafenden Herrn die Fliege von der Stirn jagen wollte und sich, in Ermangelung des Steins der Weisen, dazu eines schweren Feldsteins bediente.
Aber – ich komme immer wieder darauf zurück – jene seltsame Zeit, die weder Fleisch noch Fisch war, erklärt das Alles, wenn sie es auch nicht rechtfertigen kann. Herwegh war zu lange das verzogene Kind der theoretischen Revolution gewesen, um im praktischen Leben nicht ihr ungezogenes werden zu müssen. Dazu die, was wirkliches Arbeiten betrifft, etwas träge Natur, der hieraus folgende Müßiggang, der ja aller möglichen Dinge Anfang ist, ein Wollen, welches sich in Ermangelung von Können, im periodischen Sensationmachen gefiel, das aber, hinter den Thatsachen der Zeit zurückgeblieben, meistens spurlos vorüberging – das Alles bewirkte, daß der Mitwelt von dem schönen Dichtergenius wenig mehr bekannt geblieben ist, als einige politische und literarische Donquixoterien. Andere Leute haben sie auch begangen, aber sie konnten sie durch rastloses Arbeiten vergessen machen. Bei Herwegh dienten sie seinen Gegnern als Anhaltspunkte, und der Dichter mußte die Zeche bezahlen, wenn der Politiker und Mensch stolperte. Das Echo auf den Namen Herwegh antwortete zuletzt nicht mehr mit den „Gedichten eines Lebendigen“, sondern mit schreiendem Hinweis auf diesen oder jenen Streich, den er als Politiker und Mensch geführt hatte und meiner festen Ueberzeugung nach nicht geführt haben würde, wenn die poetisch naive Grundanlage seines Naturells nicht im schönsten Blühen erstickt worden wäre. – –
Herwegh ist todt – einst von Hunderttausenden auf den Schild gehoben und vergöttert, nur von Wenigen beweint, ein Meteor auf dem Wege zu den Sternen, in den Boden der abstractesten Parteialltäglichkeit gefallen. Aber trotz alledem war Herwegh ein Dichter, vollendet in der Form, berauschend durch die Gedanken, magnetisch fesselnd durch die Plastik und das Colorit seiner Gebilde. Jetzt, da er todt ist, werden die Parteizeitungen wohl weniger Anstand nehmen, den Dichter der Vergessenheit zu entreißen. Der strengste Richter darf ja jetzt, unbeschadet seiner Regulative, die Person von der Sache trennen. Wir schlagen uns ja nicht mehr. Der Soldat im Kriege begräbt seinen Feind mit militärischen Ehren und zergliedert nicht die individuellen Fehler und Schwächen desselben. Er begräbt in ihm den Kämpfer.
Und somit dürfen auch wir ohne jeden menschlich schwachen Hintergedanken dem Dichter auf den Leichenstein schreiben:
„Ein unvollendet Lied sank er in’s Grab;
Der Verse schönsten nahm er mit hinab.“
[321]
„Von meinem Erkerstübchen aus sah ich Hermann und Malwine über die Straße gehen,“ fuhr die Großtante in ihrer Erzählung fort. „Sie gesellten sich zu den übrigen Promenirenden, und ich bemerkte, daß mein Bräutigam die Cousine vorstellte, ebenso, daß er die Achseln zuckte, als ihn Jemand aus der Gesellschaft anredete. Dabei drehte er sich um und sah zu unserm Hause zurück.
Mich überlief es heiß. Jetzt antwortete er wohl auf die Frage nach mir: ‚Ja, die arbeitet noch; die ist nicht herauszulocken – sie hat fortwährend zu thun.‘
Und immer böser, immer trotziger wurde es in mir. Als die plaudernde Gruppe nicht mehr zu sehen war, trat ich vor den Spiegel und studirte das eigene Aeußere. Das geschah zum ersten Male in meinem Leben. Sonst sah ich wohl flüchtig in das handgroße Glas, wenn ich ausgehen wollte, oder mich frisirte, aber nie hatte ich Zeit oder Neigung gehabt, vor demselben zu träumen. Heute that ich’s.
Ja, ja, die achtundzwanzig Jahre standen in lesbaren Zügen auf meiner Stirn verzeichnet. Die Frisur war einfach und der Anzug sauber, aber – was sagte das Alles im Vergleiche zu den braunen Sammetaugen meiner Cousine, zu ihrem weißen Teint und den seidenen Locken!
Ich hatte gearbeitet und gerechnet, so lange schon, – sie war ein lachendes, fröhliches Kind. Warum that mir der Unterschied so weh, warum träufelte er ein gährendes Gift in das sonst so ruhige Herz? Ich biß mich so lange auf die Lippen, bis das Zucken derselben vorüber war. Heute Abend wollte ich ja nicht weinen – um keinen Preis, und hätte mich der Zorn erstickt.
Als ich in’s Wohnzimmer hinab kam, versuchte Mama mich zu trösten und gegen Hermann Partei zu nehmen, aber ich schnitt ihr sogleich in unfreundlichster Weise das Wort ab. Nachher hat mir es oft leid gethan, wie hart ich die alte Frau behandelt, aber an diesem Abende konnte ich von Hermann nicht sprechen hören, konnte nicht zugeben, daß ich beleidigt worden sei – jeder Blutstropfen kochte in mir.
Als später die Beiden lachend und plaudernd nach Hause kamen, von mehreren Anderen begleitet und in der heitersten Stimmung, da ließ ich mich nicht mehr sehen. Mama sagte mit sehr trockenem Tone, daß ich bereits zu Bette gegangen sei.
Das war zum ersten Male ein offener Zank zwischen meinem Verlobten und mir; ich breitete unwillkürlich die Arme aus, als er die Treppe hinab ging – wie konnte ich ihn auch ohne ‚Gute Nacht‘, ohne Versöhnung fortgehen lassen!
‚Hermann‘, flüsterte ich leise, ‚Hermann!‘
Da stand er still unten bei der Hausthür, als habe er noch etwas vergessen. ‚Hanne,‘ hörte ich ihn halblaut rufen, ‚Hanne, schläfst Du schon?‘
Ich biß die Zähne zusammen, um nicht vor Schmerz zu schreien. Und wäre er fortgegangen für immer – ich konnte dem Eigensinne nicht gebieten. Er wartete noch einige Augenblicke, dann sprang er in schnellem Tempo die Treppe hinauf und legte den Mund an das Schlüsselloch. ‚Hanne, Du schläfst nicht, ich weiß es – sag’ mir ein gutes Wort!‘
Aber ich blieb stumm, ganz stumm. Alle sanften Regungen waren wie durch einen Zauberschlag in mir erstorben, sobald seine Stimme erklang. Wieder verging eine qualvolle Pause. Ich hörte ihn seufzen und leise husten, wie immer, wenn er in Aufregung gerieth. Seine Brust war nicht die stärkste. ‚Gute Nacht, Hanne,‘ flüsterte er mit traurigem Tone. ‚Ich will Dir doch einen ruhigen Schlaf wünschen, wenn Du selbst für mich keinen freundlichen Gedanken hast. Aber – möchtest Du nie mit Reue an diese Stunde zurückdenken müssen, Hanne!‘
Mich trafen die Worte wie glühende Tropfen, einzeln auf das Herz fallend, aber dennoch fühlte ich ein unaussprechliches Entzücken bei dem Gedanken, daß Hermann sehr wohl wisse, ich wolle nicht antworten. Er sollte sich grämen, das wünschte ich – eben weil ich ihn so sehr, so innig liebte. Mag das Jeder widersinnig nennen, der es nicht selbst erfahren hat; ich weiß doch, daß es Wahrheit ist.
Nachdem Hermann gegangen, und die Hausthür von Mama geschlossen worden war – der Ton schnitt mir durch’s Herz – beeilte ich mich, wirklich zu Bett zu gehen. Winchen sollte wenigstens meine entsetzliche Aufregung nicht bemerken. Ich drehte das Gesicht gegen die Wand und schloß die Augen, als ihr leichter Schritt die Treppe herauf kam. Mochte sie glauben, daß ich schlafe.
Malwine schlich leise an mein Bett heran und küßte mich. ‚Tan– Cousine,‘ flüsterte sie, bittend wie ein gescholtenes Kind, ‚sei mir nicht mehr böse! Sieh, wir haben Dir ein Bouquet gepflückt, die Anderen und ich – ach, es war himmlisch draußen vor der Stadt. Das nächste Mal mußt Du unter jeder Bedingung mit uns gehen, Hanne. Sieh einmal, das ist Waldmeister, und hier ein blaues Vergißmeinnicht – das hat Hermann für Dich gepflückt.‘
Ich drehte mich hastig herum. Warum nannte das Kind seinen Namen?
‚Malwine,‘ antwortete ich in strengem Tone, ‚man weckt nicht die Leute, um sie mit kindischem Geplapper zu unterhalten. Jetzt schweig’!‘
Und dann warf ich das Bouquet achtlos bei Seite und strich einige herabgefallene Blüthen – es war das Vergißmeinnicht – von der Decke herab, wie man etwas Unsauberes, Lästiges sorgfältig entfernt. Nur einer der kleinen blauen Sterne war in eine Falte gerollt, ganz nahe zu mir heran. Winchen konnte ihn nicht sehen – den ließ ich an seinem Platze und schloß die Augen, wie gelangweilt, erzürnt im höchsten Grade.
Als Malwine, bitterlich weinend, zu Bette gegangen war, lag ich die ganze Nacht, ruhelos und mit den qualvollsten Gedanken beschäftigt, ohne zu schlafen. Die kleine Blüthe hielt ich zwischen den Fingern – am Morgen war sie schwarzer Staub geworden.
Seit diesem Tage schien zwischen meinen Verlobten und mich ein Schatten getreten zu sein, der sich nicht wieder lichtete. So oft er bat, daß ich an Sonntagen oder am Abende mit ihm ausgehen möge, verweigerte ich meine Zustimmung, und eben so häufig folgte darauf ein stummes unerquickliches Beisammensein, bis endlich zuweilen Tage vergingen, in denen Hermann gar nicht zu uns kam. Ich wünschte mit brennender Sehnsucht den Zeitpunkt meiner Heirath herbei, um nur diesem unhaltbaren Zustande ein Ende zu machen. Früher, ehe Malwine in das stille ehrbare Haus eine so plötzliche Veränderung hineingebracht – ach, früher war Alles anders gewesen.
Und Hermann schien jetzt bitter zu werden, so oft er mit der Cousine von mir sprach. Hatte er noch kürzlich gelacht, als von meiner Pedanterie die Rede war, so klang sein Ton jetzt spöttisch. Einmal sprachen wir von Namen, und da meinte Malwine. daß doch ‚Hanne‘ ein ausgesucht häßliches Wort sei. ‚So gewöhnlich,‘ sagte sie in ihrer lachenden, muthwilligen Weise, ‚ich hätte mir eine ‚Hanne‘ nur als eine Magd mit großen dummen Augen und röthlichem Haare denken können, als einen weiblichen Hans.‘
Die Anderen lachten, nur ich nicht. Was ging das Kind mein Name an? Mochte doch das Wort Hanne so häßlich sein, wie es mochte, ich selbst war ja häßlich.
‚Wenn ich Johanna hieße,‘ plauderte das Kind weiter, ‚so dürfte mein Name nicht derartig zerhackt werden. Man müßte mich wenigstens Jone nennen.‘
Hermann lächelte. ‚Wie Du Alles in’s hellste Licht zu setzen verstehst, Winchen!‘ antwortete er. ‚Ach, das ist ein wahres Gottesgeschenk.‘
Mama zuckte die Achseln. ‚Pflegt gewöhnlich mit schlimmem Unkraute auf Einem Acker zu wachsen,‘ antwortete sie. ‚Leichter Sinn und – Leichtsinn, das ist nichts so sehr Verschiedenes.‘
Winchen erröthete stark. Ich sah das überhaupt in der letzten Zeit sehr häufig an ihr.
‚O,‘ sagte sie verwirrt, ‚Tante, das meinst Du gar nicht so. Ich finde, wir könnten die Cousine füglich umtaufen und aus [323] der Hanne eine Jone machen, schon wegen der Heirathsanzeige. Wie müßte es wohl aussehen: ‚Hanne Herbold!‘ – nein, nein, das geht nicht. Vetter, was sagst Du?‘
Seine Antwort blieb aus, und das machte mich stutzig. Ich blickte zu ihm hinüber. Sein Gesicht zeugte eher von allem Anderen, als von einer harmlosen Spielerei. Er sah fast böse aus.
‚Frage sie selbst, ob es geht!‘ versetzte er, ‚ich – weiß es nicht.‘
Meine Mama saß so bolzengerade am Tische und hielt die Lippen so fest aufeinander gepreßt, daß ich förmlich erschrak. Erst lange nachher wurde es mir klar, warum sie in dieser ganzen Zeit so wortkarg und verschlossen gewesen. Ihr Blick hatte tiefer auf den Grund gesehen, als der meine.
Winchen strickte emsig, während Purpur ihre Wangen überflog. Das arme Kind fühlte, daß es wieder etwas Ungehöriges gesagt, ohne doch eine schlimme Absicht gehabt zu haben. Hermann entfernte sich auffallend früh.
Am andern Tage traf es sich zufällig, daß ich mit der Mama über die Tapeten für das künftige Wohnzimmer sprach und daß dabei eine Meinungsverschiedenheit sich herausstellte. ‚Nun,‘ sagte ich, ‚lassen wir es ruhen, bis er da ist!‘
Bei diesen Worten hüpfte Malwine ganz vergnügt zu uns heran und rief unbefangen: ‚Hermann kommt heute Abend nicht!‘
Wir Beide sahen sie überrascht an. ‚Woher weißt Du das, Winchen?‘
‚Nun,‘ versetzte sie, ‚er hat mir’s gesagt. Ist das solches Wunder?‘
Mama winkte mir verstohlen. ‚Kind,‘ sagte sie, ‚wie kam er dazu? Was kann es Dich interessiren, ob er seine Braut besucht oder nicht?‘
Winchen sah sehr verblüfft aus. ‚Er weiß, daß ich mich immer über sein Kommen freue, Tante. Der Vetter ist doch – lustig und – und gütig mit mir. Ihr Beide seid so still – ganz anders als ich.‘
Mama antwortete nichts, aber am Abende nahm sie mich bei Seite und erklärte rund heraus, die Cousine müsse bis nach meiner Hochzeit bei einer andern Tante bleiben. ‚Ich will noch heute schreiben,‘ setzte sie hinzu, ‚und Du wirst es mit Hermann ausmachen, daß er mir dem Kinde keine Widerreden in den Kopf setzt. Fort soll sie.‘
Ich sah Mama voll Verwunderung an. ‚Weshalb das?‘ fragte ich. ‚Und was könnte es meinen Bräutigam kümmern, wohin Malwine geht.‘
Mama schüttelte den Kopf. ‚Du willst nicht sehen Hanne,‘ sagte sie endlich.
Alles Blut trat mir in’s Gesicht. Ich wußte kaum, was ich sprach.
‚Mama, Du beleidigst ihn furchtbar. Du hältst den besten, ehrenhaftesten Mann eines Bubenstückes fähig,‘ rief ich, wie außer mir. ‚Sprich, hast Du Beweise?‘
Mama lächelte seltsam. ‚So schlimm ist die Sache noch nicht, Hanne, aber – eben darum will ich Malwine bei Zeiten fortschicken.‘
Jetzt lachte ich – vor Glück, vor Aufregung? – ich wußte es selbst kaum. Mama hatte also Nichts gesehen, sondern nur etwas vermuthet; das war genug, um mich zu beruhigen. Wenn man so grenzenlos liebt, wenn man durch lange Jahre nur einen einzigen Wunsch, einen Gedanken gehabt hat, dann umhüllt ja geistige Blindheit die Sinne. Es ist dem reinen Herzen gleichsam unmöglich, einen Verdacht gegen sein Theuerstes überhaupt aufkommen zu lassen. Dennoch aber vergaß ich die Sache nicht wieder, und als späterhin Mama in Hermann’s Gegenwart von Malwinens bevorstehender Reise sprach, da beobachtete ich unter peinlicher Angst sein Gesicht; aber ich entdeckte nichts. Er wurde etwas blasser, schien mir, und auch das kurze Husten hörte ich, sonst blieb er gleichgültig wie zuvor.
‚Weiß Winchen schon davon?‘ fragte er nach einer Pause.
‚Nein,‘ versetzte Mama. ‚Ich hoffe übrigens, daß Du sie mir nicht rebellisch machen werdest, mein lieber Sohn.‘
Da sah er jäh und erstaunt empor.
‚Ich, Mama? Wie käme ich dazu? Laß’ sie in Gottes Namen reisen! Mir ist es recht. Uebrigens war ich bekanntlich von jeher derjenige, welcher behauptete, daß Winchen zu Euch durchaus nicht paßt. Bei Tante Elisabeth ist sie viel besser aufgehoben.‘
Meine Blicke suchten Mamas Gesicht. ‚Siehst Du!‘ sagten sie, ‚siehst Du! Ich wußte es ja.‘
Hermann war aufgestanden und zündete seine Cigarre an.
‚Wenn ich nicht in letzterer Zeit immer mit allen meinen Vorschlägen bei Euch eine ungünstige Aufnahme gefunden hätte,‘ fuhr er fort, ‚so würde ich längst ausgesprochen haben, daß Winchen von hier fort muß. Morgen fahre ich, einiger Einkäufe wegen, in die Residenz. Ist’s Euch recht, so bringe ich das Kind zur Tante.‘
Mama wandte sich ab. ‚Ich denke,‘ versetzte sie trocken, ‚so schnell geht es nicht.‘
‚Nun, wie Ihr wollt.‘
Es wurde jetzt nicht mehr über die Sache gesprochen, aber obgleich ich fast beruhigt war, schien mir doch die ausdrückliche und mehr als ruhige Zustimmung meines Verlobten wieder etwas auffallend. Er hatte nicht gesprochen, als sei ihm die Sache gleichgültig, sondern vielmehr sehr erwünscht. Eine heimliche Unruhe fieberte in mir fort. Ich konnte jetzt den Augenblick, wo Malwine abgereist sein würde, kaum mehr erwarten.
Sie selbst nahm die Veränderung der Dinge nur mit Ueberraschung, aber ohne Verdruß, entgegen.
‚Tante Elisabeth hat mehrere Töchter,‘ hörte ich sie sagen, ‚und ich weiß auch, daß dort im Hause viel Leben ist, viel Besuch; dahin gehe ich gern, nur –‘
Ich fixirte sie scharf. ‚Nur, Winchen?‘
‚Nur, daß ich Hermann nicht mehr sehen werde, bis Ihr verheirathet seid, Cousine! Und dann bleibt er natürlich immer zu Hause. Er hatte mich gern, glaube ich.‘
In diesen Worten lag eine stille, uneingestandene Klage. Wir Beide, die Mutter und ich, ernste und arbeitende Frauen, denen das Leben mit harter Hand von jeher alle Blüthen abgestreift, wir hatten freilich das verzogene einzige Kind des Oheims nie so recht gern gehabt, das ließ sich nicht leugnen. Er war ein Künstler, ein lustiger, thörichter Künstler, der es nie verstanden, mit dem Seinigen Haus zu halten, und der seine Tochter gleich einer wilden Rose emporblühen ließ, ohne Anderes auszubilden, als das reine, zärtliche Kindesherz. Malwine hatte nichts gelernt, um auf eigenen Füßen stehen zu können, ja, sie verstand es nicht, die Strümpfe für ihr zierliches Füßchen selbst anzufertigen. Daher schickte sie der Sterbende zu seiner Schwester, im richtigen Gefühl dessen, was der hübschen Waise Noth that.
Aber das ging nicht so schnell. Zwischen hüben und drüben lag ein Meer von Verschiedenheit, und so fand das Kind des todten Malers im Hause seiner Tante Alles, was nützlich und nothwendig war, nur das Eine nicht, wonach es sich so schmerzlich sehnte – die Liebe.
Mama war nicht im Zimmer; das freute mich herzlich. Was mir Malwine sagte, trug den Stempel unschuldigster Offenheit, aber dennoch konnte es falsch verstanden werden. Gut sein und – gut sein, das ist häufig ein himmelweiter Unterschied.
Ich sprach während der drei Tage, an denen Malwine noch bei uns weilte, mehr und freundlicher mit ihr, als jemals zuvor. Ich überzeugte mich vollständig, daß mir das ahnungslose Kind nichts zu verheimlichen habe. Milder und weicher wurde es in meiner Seele; ich beschloß, auch mit Hermann ein besseres, innigeres Verhältniß wieder herzustellen, bevor ich den Schwur am Altar leistete. Es sollte nichts Halbes, Getrübtes sein, das ich ihm entgegenbrachte.
Er kam während dieser Zeit äußerst selten, und als er am letzten Abend vor Winchen’s Abreise in meiner Gegenwart von dieser Abschied nahm, geschah das mit fast kalter Gleichgültigkeit. Sie bot ihm mit Thränen in den Augen die frischen Lippen zum Kuß – o gewiß, Winchen war unschuldig und rein wie die Sonne am Himmel – ich wartete athemlos auf das, was er thun würde. Hermann schien es nicht zu bemerken.
‚Adieu, Kind,‘ sagte er, ‚bis auf Wiedersehen! Die vier Wochen sind leicht herum und – zur Hochzeit darfst Du ja nicht fehlen.‘
‚Ach!‘ rief sie sehr erfreut, ‚das ist gut. Dann kann ich schon ein weißes Kleid anziehen und tanzen, nicht wahr, Tante?‘
Er nickte, und seine Lippen verzogen sich sonderbar. Man konnte dieses Zucken nicht ein Lächeln nennen.
[324] ‚Verlaß’ Dich darauf – zur Hochzeit sollst Du wieder hier sein, Winchen.‘
Dann reichte er mir die Hand und ging fort, ohne die Cousine wieder anzusehen. Leichten Herzens begann ich die Garderobe Malwinens zu packen und Einiges, das noch der ausbessernden Hand bedurfte, nachzusehen. Das Kind selbst bekümmerte sich um solche Dinge nicht freiwillig; am letzten Abend des Beisammenseins aber wollte ich allen Streit vermeiden und that das Nöthige mit eigener Hand. Mama war ausgegangen, und Winchen bei einer Nachbarin, der sie Adieu sagte.
Es mochte etwa zehn Uhr Abends sein, und der Garten hinter unserem kleinen Hause, welcher gleich denen der angrenzenden Grundstücke, auf eine Wiese hinausführte, war fast ganz dunkel. Die Nachtigallen sangen in den hohen Bäumen, und der Wind trug Wogen von Blumenduft hinein in die geöffneten Fenster, aber ich dachte nicht weiter an die Schönheit des Abends, sondern begann es seltsam zu finden, daß Winchen so lange ausblieb. Sie konnte freilich von einem Garten zum anderen gehen, war ganz in der Nähe, aber dennoch begriff ich nicht, was sie bei der alten Nachbarin festhielt.
Meine Hände glätteten das letzte Wäschestück; jetzt lag Alles sauber und zierlich im Koffer. Ich wollte ihn schließen und dann die Kleinigkeiten in die Ledertasche packen. Da wehte wieder der Abendwind die Blumendüfte in’s Fenster, und es fiel mir ein, daß ich noch etwas Reseda zwischen die Taschentücher schieben könne. Vielleicht gab es ja dabei eine Gelegenheit, Malwine zu rufen; sie sollte um fünf Uhr Morgens aufstehen, und ich kannte ihre Neigung, lange zu schlafen; es war also die höchste Zeit.
Als ich in den Garten kam, sah ich in den Fenstern der Nachbarin kein Licht mehr; das war höchst auffallend. Wo konnte das Kind sein? Ein wunderliches Etwas schnürte mir die Brust zusammen. Ich wollte es heftig abwehren, aber es kam immer wieder, halb wie eine Frage, halb wie leise Furcht; es brannte mir heiß im Gehirn.
Nur schnell einige Blüthen vom Resedabeet – und dann mußte ich Malwine finden um jeden Preis. Nochmals blickte ich zurück, im Nachbarhause waren die Läden verschlossen, und Alles war dunkel. Flüchtigen Fußes durcheilte ich den Garten. Das Beet lag weit entfernt, und ich hatte ja Eile. Meine Hand raffte hastig die duftigen Blumenhäupter von den Stielen.
Um mich herum glühte der Sommer in höchster Schöne; das geheimnißvolle Weben der Nacht sang und klang in leisen Stimmen, hier raschelnd, dort fliegend – und dann wieder ein leiser Laut aus Vogelbrust, ein Locken und Flüstern von den nächsten Zweigen. So schön rings die ganze Natur, so wonnig und süß in berauschender Sommernacht, und dennoch – was klang durch die Stille, dort von drüben her, vom Flußufer, wo die alten Pappeln mit glänzendem Weiß ein Dach bildeten – ein dunkles einsames Versteck unter Blumen und Nachtigallen – Was? – Was? – Ich hörte es so deutlich – ein Schluchzen.
Die Resedablüthen fielen in das Gras. Meine Augen versuchten, das Dunkel zu durchdringen – ich horchte angestrengt – athemlos. Und dann kam es wieder – noch stärker, anhaltender als das erste Mal. Woher der Eisfrost in der Julinacht? – Wie der Tod lief mir’s durch alle Glieder. Die dort weinte, war Malwine, und was sie sprach, war ein theurer wohlbekannter Name.
‚Hermann, Hermann, das ist Sünde. Sag’s nicht wieder, das schlimme Wort!‘
Ich griff in die Stachelbeerhecke, unbekümmert um ihre Dornen; ich brauchte eine Stütze für den kurzen Weg bis zur Wiese, an deren Rand der Fluß dahinlief. Schwankend ging ich weiter.
‚Sei stille, Winchen!‘ hörte ich Hermann’s Stimme sagen, ‚es muß sein, ob’s auch Sünde ist. Kann man das ganze Lebensglück dahingeben, nur um ein Versprechen zu halten, das uns in Fesseln schlägt? – Hanne ist eine starke, willenskräftige Natur. Sie wird es ertragen; sie weiß es, glaube ich, schon.’
‚O Hermann,‘ flüsterte Winchen, ‚wie sollte sie? – Wußte ich doch selbst nichts.‘
‚Du süßes Kind,‘ sagte er zärtlich, so weich und lieb, wie er zu mir seit langer Zeit nicht mehr gesprochen, ‚Du kleines gefangenes Singvögelchen, fühlst Du es nicht, daß wir uns frei machen müssen, alle Beide? Ich habe gegen Dich geschwiegen, weil es mir unredlich schien, zu sprechen, so lange Du bei der Tante im Hause warst; ich fand nicht den Muth, sie unter ihrem eigenen Dache zu betrügen, aber jetzt will ich ihr Alles ehrlich gestehen.‘
Malwine seufzte tief. ‚Gute Nacht!‘ flüsterte sie, ‚ich muß fort, Hermann. O, was Du sagst, ist ein wilder, schrecklicher Traum.‘
Ein Geräusch in den Zweigen entstand. Er mochte sie fest an seine Brust pressen.
‚Gute Nacht, Winchen, gute Nacht, mein herziges Mädchen! Aber sag’ mir’s, bist Du dem Vetter, der so viel älter ist, als Du selbst, nicht ein klein wenig gut?’
Da tönte wieder jenes leise Schluchzen durch die Sommernacht. ‚Hermann, wie Du fragst! Warst Du nicht der Einzige, von dem ich freundlich aufgenommen wurde, der Einzige, welcher mich nicht stündlich fühlen ließ, daß man mir jedes Stück Brod schenkte – und ungern schenkte?‘
‚Ja,‘ sagte er tief erschüttert, ‚ja, Kind, Du armes Herz, das sich zu dem anderen verarmten naturgemäß fand. Es mußte dahin kommen, und Hanne allein trägt die Schuld. Jetzt geh’, damit nicht noch so kurz vor dem Scheiden eine Scene entsteht. Gieb mir den Kuß, den ich vorhin ausschlug, mein Liebling!’
‚Hermann – ach, wie soll ich Deiner Braut wieder in’s Auge sehen?’ schluchzte Winchen.
‚Meiner Braut?‘ wiederholte er traurig. ‚Hanne ist es längst nicht mehr.‘
Das war das Letzte, was ich hörte. Ich muß wohl ohnmächtig geworden sein, denn als ich wieder völlig zur Besinnung kam, befand sich Niemand in meiner Nähe. Eisiger Frost durchschauerte mich; der Kopf war schwer wie Blei, und die Hände bluteten von der Berührung der Dornen.
Wie vernichtet im Innersten, ging ich nach Hause. Hermann hatte Recht: Wozu eine Scene?“
M. N. Der Krankheitszustand eignet sich nicht zu öffentlicher Besprechung. Wenden Sie sich unter Doppelverschluß mit Adresse der Redaction und unter vertrauensvoller Namensnennung an den sachverständigen Korrespondenten unseres Blattes!
Louis D. aus L. Der Zustand ist zweifellos der Besserung fähig; thun Sie, was unter M. N. vorgeschlagen wird.
A. v. T. in Dresden. Ihre Novelle ist in der Charakterzeichnung und Scenerie recht ansprechend, läßt aber in der Technik noch zu viel zu wünschen übrig, als daß wir von derselben Gebrauch machen könnten. Unter welcher Adresse wünschen Sie das Manuscript in Empfang zu nehmen?
Langjährige Leserin in Ro. Dr. O. Müller’s Anstalt zu Blankenburg im Harze.
Mth. in Frankfurt a. M. Die von Ihnen angeführten sogenannten Kräftigungsmittel sind sämmtlich der Apotheke des Schwindels entnommen und keinen Pfifferling werth. Essen Sie gut und kräftig, leben Sie solid und viel in freier Luft, und Sie werden binnen wenigen Monaten wieder die alte Gesundheit und Heiterkeit erlangen.
F. J. in Brünn. Fünfzehn Gulden für Meiningen sind im Januar eingegangen.
T. B. in Seemen. Der Vorname Karl Friedrich in dem weimarischen Oberpfarramtszeugniß über Schiller’s Tod und Begräbniß ist unrichtig; laut des Taufbuchs der Gemeinde Marbach von 1759 waren seine Vornamen Johann Christoph Friedrich. (Vergl. „Beiträge zur Schiller-Literatur“, von v. Keller, Tübingen 1859, S. 6. 7.)
E. St. in Zw. Fast jede größere Antiquarienhandlung hat dergleichen ältere und neuere Werke; der sonderbare Frager sollte doch der Redaction gegenüber so artig sein, nicht als Anonymus aufzutreten; alsdann könnte man ihm Kataloge schicken.
Berichtigung. Der Einsender einer Summe von 925 Franken (Gartenlaube 1874, Nr. 46) aus Alexandrien heißt nicht Trotzmann, sondern Karl Protzmann.
Zur Nachricht. Etwaige Beiträge zur Errichtung des National-Denkmals auf dem Niederwald sind nicht an uns, sondern an die „Deutsche Vereinsbank“ in Frankfurt a. M. zu richten, welcher Firma wir auch die früher an uns für den genannten Zweck eingegangenen Gelder haben zugehen lassen. Eine Sammlung für das National-Denkmal haben wir, um jede Zersplitterung zu vermeiden, nicht eröffnet.