Die Gartenlaube (1875)/Heft 18
[293]
No. 18. | 1875. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennige. – In Heften à 50 Pfennige.
Das Mädchen hob rasch den Kopf und musterte ihn mit einem Blicke sprachlosen Erstaunens. Er wiederholte die letzten Worte, als wollte er jeden Zweifel beseitigen und nickte dabei freundlich. Ihm war eine Last vom Herzen. Juliette fand sich nicht sogleich in das ganz Unerwartete. „Sie, mein Herr …“ sagte sie mit ängstlich verhaltenem Tone; „Sie haben mein Bild –“
„Es war ein Zauber darin, den keine Philosophie ergründet. Und wenn alle Schätze der Welt dort oben aufgehäuft gewesen wären, sie hätten mich nicht verlockt. Aber dieses Bild … Ich wußte ja selbst nicht, was ich that, als ich es nahm. Die merkwürdigen Augen fesselten mich, diese lachenden Augen, die zu sprechen schienen: ‚ich bin das Glück; halte es fest!‘ Und als mir’s dann gehörte, das kleine Bild, da wurde es meine Unruhe. Es trieb mich zurück in dieses Haus, es zwang mich, hier Quartier zu nehmen; es gab mir den Rath ein, Ihren Vater zu begleiten, als er Sie aus der Pension abholte, es sprach mir Muth zu, wenn Ihr patriotischer Eifer meine freundschaftliche Annäherung verletzend zurückwies; es ließ mich selbst in jener traurigsten Stunde des Abschiedes nicht ganz trostlos; es begleitete mich in die Heimath und lachte mir auch dort glückverheißend zu. Und daß ich nun wieder vor Ihnen stehe, Juliette, auch das ist sein Werk. Sie ahnten nicht, welche Bedeutung Ihre Worte hatten, als Sie dem unbekannten Entführer eine unlöschliche Sehnsucht in’s Herz wünschten, als Strafe seiner Vermessenheit. Ihr Richterspruch hatte sich schon erfüllt.“
Juliette stand da, wie in tiefes Nachdenken versunken. Sie hatte die rechte Hand auf’s Herz gelegt und faltete mit der herabhängenden Linken mechanisch den Mantel, um ihn gleich wieder herabsinken zu lassen und das Spiel von Neuem zu beginnen. Sonst schien in der ganzen Gestalt keine Bewegung zu sein. Erst als er schwieg, hoben sich ihre langen Augenwimpern ein wenig, als erinnerte sie sich nun wieder an sich selbst. Er glaubte einen leisen Seufzer zu vernehmen, und die Lippen schienen etwas sprechen zu wollen. Er beugte sich vor und horchte gespannt; ihm war, als müßte die nächste Secunde über Sein und Nichtsein entscheiden. „O, das ist ein schweres Schicksal …“ hörte er sie fast tonlos hauchen.
„Ein Schicksal,“ berichtigte Arnold, „ohne Zweifel ein Schicksal. Aber warum ein schweres? Sind wir nicht seiner Herr, wenn wir uns ihm beugen? Und weshalb Widerstand versuchen? Ich bekenne mich machtlos, Juliette, und Sie – sprechen Sie, theuerste Juliette! – empfinden nicht auch Sie diesen Zwang wie etwas Unabwendliches, Unaufhaltsames –“
Unter ihren Wimpern stürzten die hellen Thränen hervor.
Sie wandte sich rasch ab und ging einige Schritte vor. „O, warum thun Sie mir das?“ sagte sie mit bebender Stimme. „Es kann – es darf ja nicht sein.“
Arnold folgte ihr. „Wenn Sie, wie ich, entschlossen sind –“
„Aber Sie sind ein Mann,“ unterbrach sie, „und Sie haben nicht einen Vater …“
„Ihr Vater wird sich bewegen lassen –“
„Nie, nie würde er einwilligen – glauben Sie mir: nie!“
„Wenn ich ihm sagen darf, daß Sie mich lieben –“
„Das wäre sein Tod. Nein, Sie dürfen nicht … O, mein Gott, wie kann ich Sie überzeugen …? Ich – ich – ich liebe Sie nicht.“
„Juliette –!“
„Ich liebe Sie nicht.“
„Und Ihr Bild ruft mir zu: ‚laß dich nicht beirren – du bist doch geliebt.’“
„Es ist Täuschung, mein Herr, Täuschung. Geben Sie das Bild zurück, und Sie werden wieder frei sein in Ihrem Gefühle –“ Sie eilte mit schnellen Schritten fort, der Ecke des Hauses zu, um welche der Weg nach dem hinteren Theile des Gartens führte.
„Ich trenne mich nicht mehr von ihm,“ rief er; „es ist mir ein Talisman, und ich gebe keine Hoffnung verloren, so lange ich ihn besitze. Beantworten Sie mir nur noch eine Frage: ist es wahr, daß Ihr Vater bereits über Ihre Hand verfügt hat?“
„So weit geht seine Macht nicht,“ entgegnete sie, sich stolz aufrichtend. „Ich werde nie einem Manne die Hand reichen, den ich nicht liebe.“
„Und dem Manne, den Sie lieben –“
„Nie ohne meiner Eltern Zustimmung.“ Das sagte sie zwar ohne Zögern, aber nicht mit derselben Sicherheit und Schärfe. Bildete er sich’s nur ein, daß ihre thränenfeuchten Augen dabei sprachen: aber du bist der Mann, den ich liebe!? Sie grüßte mit der Hand, kehrte sich rasch ab und entschwand ihm hinter dem Hause. Er wagte nicht, ihr nachzugehen.
Arnold hatte sich’s ja selbst nie anders gedacht, als daß er sein geliebtes Mädchen mit der Eltern Zustimmung heimführen wolle; nun aber gefiel es ihm doch wenig, daß Juliette das volle Gewicht darauf legte und der Hauptfrage auswich. Sich geliebt wissen, schien seinem Herzen ein so starkes Bedürfniß, daß dagegen der praktische Zweck der Werbung weit zurücktrat. Zwei Menschen, die ihrer Liebe gewiß seien, meinte er, könnten nicht unglücklich sein, auch wenn ein äußeres Hinderniß ihrer Vereinigung entgegentrete; gerade im gemeinsamen Kampfe werde
[294] sich die Stärke ihrer Neigung bewähren. Juliette wagte aber nicht, sich zu binden, sie hielt jede Bemühung seinerseits für hoffnungslos. Das drückte seine Stimmung nieder, während er nun langsam dem Portale zuschritt, oft stehenbleibend und überlegend, was am rathsamsten zu thun sei. Es war da eigentlich gar nichts zu überlegen: zurück durfte er auf keinen Fall. Die Zaghaftigkeit suchte nur nach Gründen, eine Entscheidung hinzuhalten, die ihn sehr schmerzlich berühren konnte. Aber vorstellen mußte er sich seinen alten Quartiergebern doch. Er zog, unwillig über seine Unentschlossenheit, mit einem kräftigen Rucke an der Glocke – sie wollte wieder gar nicht aufhören, zu läuten, wie in jener Nacht im verlassenen Hause.
Er schickte seine Karte hinein. Madame Blanchard empfing ihn nicht unfreundlich im Salon, der eine neue Ausstattung von Teppichen, Decken und Vorhängen erhalten hatte. Sie fand es ganz natürlich, daß er, wenn er Geschäfte halber nach Paris kam, einen Besuch in ihrem Hause nicht versäumte, und glaubte sich’s nicht erst bestätigen lassen zu dürfen, daß er Geschäfte halber komme. Man habe noch oft an ihn gedacht, versicherte sie, und werde ihm auch ferner ein gutes Andenken bewahren. Das Gespräch wurde eine Weile in jenem heitern Gesellschaftstone weitergeführt, der so bequem über alle Unebenheiten der Situation hinweghilft, indem er sie mit höflichen Redensarten ausfüllt. Arnold, der sich auf eine sehr kühle und gemessene Aufnahme gefaßt gemacht hatte, war sehr geneigt, dieses freundliche Sichgehenlassen zu überschätzen, und kam bald in die beste Laune, indem er die kleinen häuslichen Ereignisse des vorigen Jahres humoristisch beleuchtete. Man scherzte und lachte und hätte in derselben Weise auch noch Stunden lang scherzen und lachen können, ohne einander näher zu kommen.
Herr Blanchard, hieß es, mache noch Toilette. Er brauchte viel Zeit dazu, und als er dann endlich, auf einen Stock gestützt, erschien, war Arnold nicht wenig erschreckt über sein leidendes Aussehen. Seine Magerkeit hatte noch zugenommen; Rock und Weste hingen lose von seinen Schultern herab wie von einem Knochengerüste. Die Haut auf den eingefallenen Backen war lederfarben; die linke Seite des Gesichts zeigte deutliche Spuren einer nicht gründlich gehobenen Lähmung, und beim Gehen schleppte auch der linke Fuß ein wenig nach. Arnold eilte ihm entgegen und reichte ihm zum Gruße beide Hände hin. Der Franzose berührte aber nur die eine mit den Fingerspitzen und winkte wieder auf den Platz zurück. Seine Frau schob ihm einen Sessel hin; er stützte sich auf die Lehne desselben und steckte die Hand in die Weste. Arnold war auf eine politische Standrede gefaßt.
„Sie kommen, die Physiognomie eines Landes zu studiren, mein Herr,“ begann er nach kurzem Räuspern, „das einen unglücklichen Krieg durchgemacht hat. Sie werden wenig finden, was Sie daran erinnert; nur das Frankreich, das sich selbst zerfleischte, zeigt dem Fremden noch überall seine klaffenden Wunden. Aber auch sie werden sich schließen, schneller als unsere Feinde wünschen. Die ungeheuren Opfer – Opfer – Opfer …“ Er verlor mitten im Pathos der Rede, auf die er sich wahrscheinlich beim Ankleiden vorbereitet hatte, den Faden, wiederholte sich, stieß mit der Zunge an und suchte mit den Augen bei seiner Frau Hülfe.
„Du hast Recht,“ sagte sie, „die Opfer, die man Frankreich zumuthete, waren ungeheuer.“
Er schüttelte unwillig den Kopf. „Sie wiegen zu leicht, wenn man drüben geglaubt hat, uns zu Grunde – uns zu Grunde zu richten. Frankreich besitzt eine Lebenskraft … Sehen Sie mich an! Ich bin Frankreich –“ seine Hand zitterte auf dem Stocke, während er sich aufrichtete, um sich eine imposante Haltung zu geben – „ich bin Frankreich. Der Krieg hat mich um ein Vermögen gebracht, das die Arbeit vieler Jahre repräsentirte – und heute blüht mein Geschäft wieder; eine schwere Krankheit warf mich auf’s Lager, und heute sehen Sie mich wieder frisch und kräftig … frisch und – frisch …“ Sein Blick wurde wieder flimmernd und irrend.
„Du solltest Dich nicht aufregen, lieber Charles,“ mahnte seine gute Frau, indem sie ihn unter den Arm faßte und sanft auf den Sessel niederdrückte. „Herr Rose hat sich uns immer als ein Mann ohne Vorurtheil bewiesen; er zweifelt gewiß keinen Augenblick –“
„Daß Frankreich mit bewunderungswürdigem Muthe und mit scheinbar unerschöpflichen Kräften an seiner Wiederherstellung arbeitet,“ fiel Arnold ein.
Herr Blanchard nickte mit wohlgefälligem Lächeln. „Einen Riesen mag man um einen Fuß kürzen,“ sagte er, „und er bleibt doch ein – bleibt doch ein – ein …“
„Riese,“ ergänzte der junge Mann. „Wir in Deutschland wissen das.“
Wieder ein gnädiges Nicken. „Wissen Sie das? Gut! das ist gut. Man hat drüben allen Grund bescheiden zu sein.“
„Bescheiden im Glück, stolz im Unglück,“ bemerkte Arnold, „so wünsche ich mir meine Freunde.“
„Stolz zu sein werden die Deutschen nie lernen, auch nicht im Unglück,“ entgegnete der Kaufmann mit einem Blick von oben her. „Eine Nation von – von – von …“
„Von Philosophen,“ half Madame.
„Das meinte ich nicht. Von … Gut! es kommt nicht darauf an. Was führt Sie her, mein Herr? – wenn die Frage nicht indiscret ist.“
Arnold überlegte einen Moment. „Ich komme, mir in Frankreich eine Frau zu suchen,“ sagte er dann möglichst leichthin.
„Ah!“ rief Herr Blanchard und warf den Kopf zurück, was wahrscheinlich bedeuten sollte: darauf zu antworten wäre Thorheit. Ein moquantes Lächeln konnte diese Annahme fast zur Gewißheit machen.
Madame Blanchard schenkte seiner sonderbaren Behauptung doch mehr Aufmerksamkeit. „Sie scherzen,“ äußerte sie kopfschüttelnd und sah ihn doch dabei so prüfend an, als habe sie geheime Zweifel an ihrem eigenen Unglauben.
„Ich scherze durchaus nicht,“ versicherte Arnold lebhaft, aber doch noch mit einer Art humoristischer Reserve, um nöthigenfalls den Rückzug offen zu lassen. „Ich habe im vorigen Jahre eine sehr liebenswürdige junge Dame kennen gelernt, die zu besitzen mir ein großes Glück bedeuten würde. Ich glaube zu wissen, daß mir die junge Dame auch ein wenig geneigt ist, und wenn sie den Muth haben sollte, dies einzugestehen –“
„Aber die Eltern?“ fiel Madame Blanchard. offenbar beunruhigt, ein. „Können Sie es für denkbar halten, daß die Eltern –“
„Ah!“ rief der Hausherr wieder dazwischen, und sein kleiner Kopf rückte noch einen halben Zoll aus der Binde. Der Laut klang diesmal verweisend, als wolle er sagen: warum über dergleichen Unsinn noch ein Wort verlieren? Sein Gesicht drückte Aerger aus. Die Frau nahm seine Hand und streichelte sie.
Der Gast stand auf. „Ich hoffe,“ sagte er, „daß auch in Frankreich noch das Recht der Liebe über allen Rechten ist. Eine so hochherzige Nation sollte in keinem ihrer Glieder so kleinlich denken, es denen verkümmern zu wollen, die glücklich sein können.“ Er sprach diese Worte ganz ernst und so nachdrücklich, daß eine Beziehung kaum zu verkennen war. Madame Blanchard schien sie auch zu verstehen; sie senkte die Augen und zog die Unterlippe ein wenig zwischen die Zähne. Ihr Mann, der sich mit Hülfe des Stockes zitternd erhoben hatte, sah ihn dagegen groß an, als erwartete er eine Erklärung zu dieser dunkeln Rede. Arnold gab sie nicht. „Ich habe meinen alten Onkel mitgebracht,“ sagte er, sich verabschiedend, „denselben, der Ihnen aus Victor’s Briefen bekannt sein wird. Darf ich mir die Ehre geben, ihn morgen vorzustellen?“
„O – wir bitten sehr,“ antwortete die Hausfrau für ihren Mann, der sich in diese neueste Neuigkeit nicht sogleich schien finden zu können.
„Er hat nur eine einzige Untugend,“ bemerkte Arnold schon an der Thür mit schalkhaftem Lächeln, „aber freilich eine große, fast unverzeihliche: er spricht nicht Französisch. Darüber wird er sicher morgen die tiefste Reue empfinden, wenn er sich um das Vergnügen gebracht sieht, Ihnen alle die Artigkeiten zu sagen, zu denen ihn sein Herz drängt. Nehmen Sie gütigst mich zum Dolmetscher an!“
Madame Blanchard war nicht undankbar für diese höfliche Schlußwendung: sie reichte ihm zum Abschied huldvoll die Hand und gestattete einen Kuß auf dieselbe. –
Als Arnold, ganz vertieft in Gedanken über das so eben Erlebte, sich dem Gasthause näherte, fand er eine beträchtliche Menschenmenge vor demselben und als er eingetreten war, den [295] alten Onkel in einem wahrhaft erbarmenswürdigen Zustande. Er lehnte todtenbleich und ganz aufgelöst in einer Sophaecke, hatte die Hände gefaltet und erwartete sein Ende in Schrecken. „Kommen sie schon, diese entsetzlichen Menschen?“ fragte er mit lallender Stimme, „bin ich rettungslos verloren? Wenn Du entfliehst – nimm Dich meiner armen Cläre an, Arnold … ach! es ist mein Tod!“
Nur sehr langsam gelang es, ihn so weit zu beruhigen, daß er erzählen konnte, was geschehen. Er habe sich verleiten lassen, von der geraden Straße abzugehen, um ein Etablissement seitwärts zu besichtigen. Dahinter habe er die Spuren von Verschanzungen gefunden, die sein Interesse erregten und ihn weiter vom Wege abführten. Er begreife selbst nicht, wie er bei seiner Aengstlichkeit sich so in’s Ungewisse habe wagen können. Er müsse wohl die Kreuz und Quer gegangen sein, denn als er sich nun zurückgewandt, sei er auf einen unrichtigen Weg gerathen. Zu seinem Unglück sei ihm nun der Gedanke gekommen, seinen Plan von Paris und Umgebung hervorzuziehen und den Versuch zu machen, sich mit Beistand desselben zu orientiren. Gleich darauf hätten sich ihm zwei Männer genähert, die ihn schon vorher aus einiger Entfernung beobachteten, und ihn gefragt, was er da so geheim treibe. Aus seiner Antwort müßten sie wohl sofort gemerkt haben, daß er ein Deutscher sei, und nun hätten sie ihn einen Spion genannt und in ihre Mitte nehmen wollen. In seiner Angst gemißhandelt zu werden, habe er sich nun eiligst aus dem Staube gemacht; sie wären ihm aber nachgelaufen und hätten immer geschrieen: ‚ein Spion – ein deutscher Spion!‘ Bald wäre eine größere Schaar hinter ihm her gewesen; er habe seinen Hut und seine Brille verloren. Endlich habe man ihn ergriffen und „unter den furchtbarsten Drohungen“ hierher escortirt, nachdem er den Namen seines Hôtels genannt. Mit Mühe nur habe der Wirth ihn den Armen dieser „blutgierigen Wütheriche“ entreißen können die „zu vielen Tausenden“ das Haus belagerten. Er erwarte von diesem „Bestienvolk“ das Schlimmste. „Das Beste wäre,“ meinte er, „wir warteten die Dunkelheit ab und suchten dann nach dem Stationsgebäude der Eisenbahn zu entkommen. Hätte ich mich doch niemals zu dieser unglückseligen Reise überreden lassen!“
„Nun sind wir aber einmal hier, Onkel,“ begütete Arnold, „und müssen auf unserm Posten aushalten. Verlassen wir uns auf unser gutes Gewissen! Nur nicht Faust zeigen! Nur nicht Heimlichkeiten vornehmen! Glaube mir: man hat jetzt seine Komödie gespielt und kümmert sich nicht weiter um uns.“
Wie zur Bestätigung dieser Ansicht brachte der Hôtelbesitzer Hut und Brille des alten Herrn. Eine Frau habe sie abgegeben, „da man der fremden Sachen wegen nicht Unannehmlichkeit haben wolle.“ Er lachte jetzt schon selbst über den Vorfall und meinte, die Leute seien doch recht närrisch. „Es ist ihnen freilich nicht zu verdenken,“ fügte er hinzu.
Nach dem Mittagessen schlug Arnold eine Fahrt nach Paris vor, um Victor Blanchard aufzusuchen; aber Helmbach, so gern er den alten Bekannten begrüßt hätte, den er wirklich recht lieb gewonnen, war nicht zu vermögen, das Haus zu verlassen, „es sei denn bei Nacht und Nebel“. Der Neffe entschloß sich, allein zu fahren.
Er traf glücklich den jungen Officier in seiner Wohnung. Die Begrüßung war recht herzlich; er mußte sogleich umständliche Auskunft über alle seine Angehörigen in der Heimath geben, auch über das „schöne blonde Fräulein“, das ihm so gutherzig die schweren Tage der Gefangenheit habe kürzen helfen. Von Zeit zu Zeit warf Victor einige deutsche Brocken in die Unterhaltung ein, um zu zeigen, daß seine Studien fruchtbar gewesen seien. Arnold glaubte sich ihm ganz frei eröffnen zu können.
„Ah! dachte ich’s doch!“ rief der Lieutenant, „dachte ich’s doch! Juliette, die sonst so gut Spaß versteht, ließ sich mit Ihnen durchaus nicht necken. Ja, ich will’s Ihnen nicht verdenken, daß Sie dem Mädchen gut sind; meine kleine Schwester – ich kann’s ja sagen, da Sie jedenfalls ungeprüft meinen Enthusiasmus theilen – ist ein reizendes Geschöpf Gottes, dem ich von Herzen alles Glück wünsche, das in dem besten Herzen Platz hat. Ich bin ohne Vorurtheil. Warum soll sie nicht einen Deutschen lieben? Was hat die Liebe zweier Menschen aus bürgerlichen Familien mit der Politik zu schaffen? Hätte ich Juliette’s kleine Hand zu vergeben … nun! ich will nicht sagen, daß Sie mir der erwünschteste Schwager wären, aber entgegen wollte ich ihrer Neigung gewiß nicht sein, und jedenfalls wären Sie mir lieber, als Herr Credillon, der Maire, der ein sehr zweifelhafter Charakter ist und den Vater durch geschmeidiges Wesen und allerhand Vorspiegelungen von weitreichenden Verbindungen ganz bethört hat.“
„Ist meine Bitte unverschämt,“ fragte Arnold nicht ohne Beklommenheit, „daß Sie sich bei Ihrem Vater für mich verwenden? Sie kennen meine häuslichen Verhältnisse, Sie würden –“
Victor lachte. „Da fallen Sie gerade auf den untauglichsten Vermittler. Ich lebe mit meinem Vater auf ziemlich gespanntem Fuße, müssen Sie wissen. Das Wenigste ist, daß ich ihm zu oft mit Geldforderungen komme – aber unsere Ansichten über tausend Dinge in der Welt stimmen nicht, und ich kann nun einmal nicht den Mund halten, wenn ich etwas besser zu verstehen glaube. Seit seinem Schlaganfall ist er ungemein reizbar. Ich darf ihm jetzt nicht einmal mehr widersprechen; er sieht mir’s schon vom Gesicht ab, daß ich innerlich anderer Meinung bin, und da sein bester Freund, der Maire, in der unvernünftigsten Weise alle seine Marotten bestärkt, wird die Differenz zwischen uns von Tage zu Tage größer. Spreche ich für Sie, so werden Sie ihm bald als der gefährlichste Mensch unter der Sonne erscheinen. Günstiger wär’s für Sie, wenn ich vor Ihnen warnte – ha, ha, ha!“
„Aber wie hat eine solche Entfremdung –“
„Lieber Freund, die Politik spielt jetzt in Frankreich eine garstige Rolle, ganz ebenso in jedem Privathause wie im Saale der Abgeordneten. Erwarten Sie von mir keine Enthüllungen, keine Eröffnungen – ich bin Soldat. Nur das Eine darf ich Ihnen vertrauen: ich bin, wie die Verhältnisse einmal liegen, ungern Soldat. Ginge es nach meinen Wünschen, ich nähme meinen Abschied. Aber mein guter Papa … ah! lassen wir das, ich sage nichts mehr.“
„Und ich darf also in keiner Weise auf Ihren Beistand hoffen?“
„Was kann ich für Sie thun? Ich will Sie hinaus begleiten, will mit meiner Schwester, vielleicht auch mit meiner Mutter sprechen, wenn sich’s so fügt, aber – mein Vater hat die entscheidende Stimme, und ich zweifle sehr …“
Er zuckte die Achseln, und Arnold seufzte tief: „Weit, weit vom Ziel.“
Arnold nahm das Anerbieten mit Dank an. Die beiden Männer fuhren zusammen bis zum Gasthause; dann ging Victor zu Fuß bis zur Villa. Spät Abends sah Arnold, der am Fenster stand, ihn von dort mit jenem Herrn zurückkehren, dessen Bekanntschaft er am Gitter gemacht zu haben sich erinnerte. Es mußte der Maire sein. Victor verabschiedete sich sehr förmlich von ihm und trat in das Haus. „Ich bestelle mir hier den Wagen,“ hörte er ihn beim Eintreten sagen.
Arnold ging ihm vor Ungeduld entgegen. „Nun – was bringen Sie?“
„Wenig Tröstliches,“ antwortete der Officier, wie es Arnold vorkam, nicht ganz in dem früheren freundlichen Tone. „Herr Credillon ließ mich kaum aus den Augen – er betrachtet mich als seinen Widersacher und hat ja Grund dazu. Er wußte übrigens schon, bevor er es von den Meinigen erfuhr, daß Sie derselbe Arnold Rose sind, der im vorigen Winter in unserm Hause Quartier genommen hatte, und ich irre wohl schwerlich, wenn ich annehme, daß er noch mehr zu wissen glaubt. Dieser Mensch hat eine ganz eigene Combinationsgabe. Nehmen Sie sich vor ihm in Acht!“
„Ich gehe nicht auf unrechten Wegen,“ bemerkte Arnold.
„Gleichwohl! Leuten seiner Art kommt es auf einen Machtmißbrauch mehr oder weniger nicht an. Uebrigens wird er bei Juliette nichts erreichen. Sie hatte sich unwohl melden lassen und blieb auf ihrem Zimmer. Ich konnte sie also ein paar Minuten allein sprechen; aber es war nichts aus ihr herauszubringen, als daß sie entschlossen sei, keinen Zwang zu dulden. Kein Wort der Ermuthigung kam über ihre Lippen, aber sie verwahrte sich auch nicht gegen Ihre Werbung. ‚Es ist nicht gut zu fragen,‘ sagte sie, als ich heftiger in sie drang, ‚wenn die Antwort nichts entscheiden kann.‘ Das arme Mädchen leidet schwer; ich kenne dieses feste Herz, das so viel Gewalt aber sich selbst hat. Geben Sie mir als Ehrenmann das Versprechen, [296] Juliette nicht weiter zu beunruhigen, wenn Sie sich überzeugen sollten, daß Sie bei den Eltern nicht zum Ziele gelangen können!“
„Was verlangen Sie von mir?“ fuhr Arnold auf. „Nie – nie werde ich vergessen –“
Victor ergriff seine Hand und drückte sie. „Das steht bei Ihnen. Sie empfinden heute so, und das kann mich nur freuen. Aber es handelt sich hier um etwas Anderes: um die Einwirkung auf Entschlüsse, die nicht gefaßt werden können ohne schwere Pflichtverletzungen. Was wollen Sie? Juliette ist ein Kind Frankreichs. Achten Sie die Rücksichten, die sie dieser Mutter zu schenken hat, wenn sie dem Manne ihrer Wahl folgt, noch so gering – sie werden auch in Ihrer Schätzung größere Bedeutung gewinnen müssen, wenn der berechtigte Widerspruch der leiblichen Eltern sie stärkt. Das Mädchen, das Ihnen in Feindesland folgte ohne den Segen von Vater und Mutter, könnte Ihnen, wie ich Sie kenne, unmöglich eine erwünschte Gattin sein. Und ich setze noch Eines hinzu: alle Ihre Liebe würde sich machtlos erweisen, ihr den Frieden zu geben, den das Glück braucht.“
Arnold war nicht befangen genug in seiner Leidenschaft, um die Wahrheit dieser Worte zu verkennen, die offenbar ein theilnehmender Freund sprach. Er erwiderte stumm den Druck der Hand, und Victor war mit diesem Zeichen der Zustimmung zufrieden. Beide traten nun in’s andere Zimmer zu Helmbach ein, der ein Glas Punsch präparirte, zur Stärkung, wie er sagte, wobei es eine offene Frage blieb, wer nach seiner Meinung derselben am meisten bedürfte. Der junge Officier suchte seinen deutschen Sprachschatz hervor, um den alten Herrn bei dem Gespräche zu betheiligen, das dadurch bald eine humoristische Wendung nahm. Man stieß an auf des blonden Clärchens Wohl, und Victor versicherte mit einem Blicke auf Arnold, daß er „gewisse Thorheiten“ ganz gut begreife und wahrscheinlich auch den Muth gehabt hätte, sie zu begehen, wenn er in Deutschland seinen Namen hätte besser zu Ehren bringen können. Wenn man freilich ein armer Gefangener sei, so müsse man sich den Appetit vergehen lassen, Eroberungen zu machen. Das war so scherzhaft gesagt, daß darauf im Ernste gar nicht zu antworten war. Man plauderte noch ein halbes Stündchen, bis der Hôtelwagen vorgefahren war; dann verabschiedete sich Victor von den deutschen Freunden mit einem deutschen „Glück auf!“ –
Onkel Helmbach hatte nach einer guten Nacht den Schreck des vorigen Tages so weit überwunden, daß er den Bitten des Neffen, ihn nach der Villa zu begleiten, nur schwachen Widerstand entgegensetzte. Er mußte wohl einsehen, daß er sich nicht fernhalten dürfe, nachdem sein Besuch einmal angemeldet worden. Nur bestand er noch darauf, daß man sich trotz der kurzen Strecke in den Wagen setze. Die beiden Herren warfen sich also in feinste Visitentoilette und machten sich auf den Weg – Arnold mit sehr schwerem Herzen. Es kam ihm, je mehr sie sich dem Hause näherten, immer unsinniger vor, so auf Freischaft zu gehen, und doch gab es keine vernünftigere Möglichkeit, sich zu erklären. Um einen Brief zu schreiben, hätte er keine weite Reise nötig gehabt.
Als sie durch den Vorgarten gingen, bemerkte Arnold, oben am letzten Fenster hinter der Gardine Juliette. Als er hinauf grüßte, zog sie sich eilig zurück. Es war ihm ein gutes Omen, sie vor seinem Eintritte in’s Haus gesehen zu haben.
Herr und Madame Blanchard warteten schon im Salon. Sie empfingen die Gäste mit ausgesuchter Höflichkeit und doch zugleich mit kühler Zurückhaltung. Es war wunderlich, wie Onkel Helmbach ihre feierlichen Anreden mit verlegenem Lächeln entgegennahm und mit ein paar angelernten Phrasen beantwortete, die nur sehr unvollkommen paßten. Ein Franzose hätte sich umgekehrt in deutscher Gesellschaft schwerlich so gedrückt gefühlt.
„Mein Onkel ist entzückt von der freundlichen Aufnahme, die er in diesem mir so werthen Hause findet,“ dolmetschte Arnold, „und bedauert nur, Ihnen nicht selbst seine Gefühle nach Wunsch ausdrücken zu können.“ Er wandte sich an Helmbach und sagte mit demselben hochtönenden Pathos, aber in seiner Muttersprache: „Thu’ mir die Liebe, Onkel, und nicke zu Allem, was ich sage, mit dem Kopfe! Ich werde dafür sorgen, daß Dein liebenswürdiges Lächeln von unseren Wirthen auf’s Günstigste ausgelegt wird.“ Der alte Herr nickte und lächelte. „Wären wir nur erst zur Thür hinaus,“ dachte er bei sich.
Madame Blanchard richtete wieder eine lange und sehr lebhafte Rede an ihn. Sie dankte für die Gefälligkeiten, die er ihrem Sohn erwiesen und die ihr das ganze Leben lang unvergeßlich bleiben würden.
„Er hat sich bei Ihnen so wohl gefühlt,“ setzte ihr Mann hinzu, „daß er fast verlernt hat, ein guter Franzose zu sein.“ Er zog dazu ein verdrießliches Gesicht.
„Bin ich nicht bei Ihnen ein halber Franzose geworden?“ warf Arnold ein. „Zum halben Deutschen fehlt bei Victor noch viel. Nicht wahr, Onkel?“
Helmbach nickte. „Wo ist denn aber das Mädchen?“ fragte er leise; „ich wäre doch begierig –“
„Nenne nur getrost ihren Namen, Onkel, damit ich anknüpfen kann. Ich muß doch ein Stichwort haben.“
„Nun, ich meine Fräulein Juliette.“ Sein glattes Gesicht wurde rosig, wie von der Morgenröthe angehaucht, als er das Losungswort aussprach.
„Du bist zum Küssen, Onkel,“ rief Arnold. „Sie hörten da einen Namen nennen, Madame,“ wandte er sich an die Mama, „der Ihnen auch ohne meine Erklärung die Wünsche meines Onkels deutlich gemacht haben wird. Es würde ihm so viel Ehre wie Vergnügen sein, Ihrem Fräulein Tochter vorgestellt zu werden, von der er durch mich so viel Gutes gehört hat und für die er seinem Neffen zu Liebe schwärmt. Nicht wahr, Onkel, ich sage nicht zu viel?“
Der alte Herr, der wenig davon verstanden hatte, nickte eifrig. „Aber so schüttele doch den Kopf!“ bedeutete der Neffe rasch. Auch das geschah.
„Es thut mir unendlich leid,“ bedauerte Madame Blanchard, „mich selbst des Vergnügens beraubt zu sehen, den würdigen Herrn mit meiner Juliette bekannt zu machen. Sie ist seit gestern unwohl und nicht zu vermögen, das Zimmer zu verlassen. Ich bitte, sie zu entschuldigen.“
„Ich bitte, sie zu entschuldigen,“ wiederholte Herr Blanchard.
Arnold biß sich auf die Lippe, um ein Gefühl von Zaghaftigkeit schneller zu überwinden, das sich in diesem Augenblicke seiner bemächtigte. Das Gespräch war glücklich auf das Mädchen geleitet und durfte sich von diesem Gegenstande nicht mehr entfernen. „Sollte ein besonderer Anlaß …“ sagte er schüchtern ausholend. „Ich hatte gestern, ehe ich bei Ihnen eintrat, die Freude, Fräulein Juliette – im Garten vor Ihrem Hause – begrüßen zu können, und ich bemerkte nicht …“
„Sie haben Juliette schon gesprochen,“ fiel Blanchard überrascht ein. „Aber davon hat sie uns ja kein Wort gesagt.“ Er sah dabei fragend seine Frau an.
„Vielleicht hat Ihr plötzliches Kommen sie erschreckt,“ bemerkte sie, zur Erde blickend. „Das arme Kind hat so schwache Nerven, und Ihre Person – das ist ja so natürlich – mußte bei ihr Erinnerungen erwecken, die …“
„Die auch stärkere Nerven angreifen können,“ ergänzte der Herr Gemahl, die Hand in die Weste steckend.
„Ich hoffe, Sie täuschen sich,“ sagte Arnold, „sich im Sessel vorbeugend. „Ich bin eitel genug, zu glauben, daß mein Anblick dem Fräulein nicht so schreckenerregend war. Wir schieden im letzten Frühjahr, was auch im Augenblicke störend einwirkte, als gute Freunde, und es ist, wie ich annehmen darf, in der Zwischenzeit Nichts geschehen, was dieses Band gelockert haben könnte. Auf meiner Seite hat es sich nur noch mehr befestigt, und wenn Sie aufrichtig sein wollen und können, meine verehrte Madame, so werden Sie mich vielleicht auch darüber beruhigen können, daß Juliette’s gute Meinung von mir sich nicht geändert hat.“
Madame Blanchard beschäftigte sich damit, die Spitzen ihrer Manschette unter einem goldenen Armbande vorzuzupfen, das zu weit auf die Hand herabgefallen war. Die Finger der schmalen Hand zitterten dabei merklich; der Hausherr richtete sich im Stuhl auf und ließ einen knurrenden Ton vernehmen, der Arnold wie fernes Gewittergrollen in’s Ohr klang. Onkel Helmbach mußte wohl begreifen, daß man bei den Präliminarien der wichtigen Verhandlung angelangt war, bei der er Zeuge sein sollte; ihn überfiel plötzlich ein Husten, der ihn zwang das Taschentuch vorzuziehen und sich damit abgewandt die Augen zu wischen. Dann herrschte eine Secunde lang tiefes Schweigen – die Stille vor dem Sturme.
Mit Abbildung.
So warst du! Ja, das ist dein liebes Bild,
Streitbarer Pfarrherr mit dem Frohgemüthe!
Welch Leben unter deinem Schirm und Schild
In Haus und Garten und Gemeinde blühte,
Das reinste, nun schon längst vergangne Glück
Ruft heiter mir dein liebes Bild zurück.
Bescheidner hat wohl selten Einer sich
Erbaut die Gartenlaube – auf zwei Stecken;
Und doch, wie freut’s vom ersten Lenze dich,
Wenn zum Beschatten sich die Blätter strecken
Und aus dem Boden ungeziert und frei
Die bunten Blumen lockt der lust’ge Mai.
Denn also hältst du’s auch in deinem Haus.
Nicht ängstlich hütest du die jungen Triebe:
„Die Bäume und die Herzen schlagen aus
Von selbst im freien, warmen Strahl der Liebe
Ein frei Entfalten, keinen Seelenputz,
Doch gegen Ungeziefer trotz’gen Schutz!“
Das war dein Satz; er war es alle Zeit,
In Haus und Kirche. Seht ihr auf dem Thurme
Hoch auf dem Kreuz den Hahn der Wachsamkeit?
Ihn pflanzte auf der Muth im Glaubenssturme:
Da ruft er, bricht das Ungeziefer ein,
Noch heute: Mensch, du sollst ein Kämpfer sein!
Du warst ein Kämpfer, doch nicht Glaubensgroll
Ließ deinen Brustton von der Kanzel tönen.
Dein liebster Kampf war, überzeugungsvoll
Den Glauben mit dem Wissen zu versöhnen;
Du freutest dich, wenn immerdar Verstand
Und Herz der Eintracht Siegeskranz umwand.
Wie also du gefolgt der Gottheit Spur,
Nachsinnend ihren ewigen Gesetzen,
Die mahnend steh’n im Buche der Natur,
Sogst du aus ihr Erhebung und Ergötzen;
Voll Dankes athmetest du Gotteshauch
Aus jedem frischen Blatt am kleinsten Strauch.
So wölbtest deines Gärtleins Laube du
Zu einem Tempel an des Friedhofs Frieden,
Der Meise lauschend in stillsel’ger Ruh’
Und doch vom Geisterweltgang ungeschieden.
Ein Frühling aus der Jugend, hell und mild.
So grüßt im Herzen mich dein liebes Bild.
Von Siegfried Mühsam.
Jedes lebende Wesen ist ein chemisches Laboratorium, in welchem die interessantesten chemischen Processe vor sich gehen. Die Zuführung des Materials zu diesen Processen, die bei Thieren und Pflanzen verschieden ist, wird bei beiden „Nahrung“ genannt. Die Nahrungsmittel sind die Grundlage und die Bedingung des Bestehens des Organismus. Wie dieser aber durch Vorenthalten der Nahrungsmittel seiner Auflösung entgegengeht, so ist die Erhaltung desselben von der Auswahl der Mittel und der Menge derselben abhängig. – Im schroffsten Gegensatze zu dem Begriffe Nahrungsmittel steht der Begriff „Gift“. Wir sind aber nicht berechtigt, alle Körper, denen die Eigenschaften der Nahrungsmittel abgehen, als Gifte zu betrachten, ebensowenig wie wir als Nahrungsmittel ansehen dürfen, was nicht ein Gift ist. – Was ist nun aber ein „Gift“? Ja, darüber hat sich schon mancher Gelehrte den Kopf zerbrochen, ohne eine allgemein verständliche Erklärung, die auch gleichzeitig eine wissenschaftliche Berechtigung hat, gefunden zu haben. Bezeichnen wir als Gift einen jeden Körper, der schädlich auf den thierischen Organismus wirkt und ihn zu zerstören geeignet ist, so würden wir hierdurch die mechanisch wirkenden Körper nicht ausschließen. Wir dürfen, wie gesagt, weder die der Eigenschaften der Nahrungsmittel entbehrenden Substanzen als Gifte, noch die mit dem vollen Besitze dieser Eigenschaften ausgestatteten als Nichtgifte bezeichnen; denn selbst unter gewöhnlichen Verhältnissen unschädliche Nahrungsmittel, wie Brod, Fleisch, Kartoffeln etc., die gewiß Niemand in die Kategorie der Gifte zählen würde, können unter Umständen als solche wirken, wenn sie beispielsweise zur Unzeit oder im Uebermaße genossen werden, während andererseits anerkannte sogenannte Gifte oft nicht nur ohne Nachtheil dem Körper zugeführt werden können, ohne schädliche Wirkung zu äußern, sondern geradezu die Nahrung unterstützen helfen, oder, bei gewissen Krankheitserscheinungen, als Arzneimittel und zur Erhaltung des Körpers mit Erfolg angewendet werden. Vergleicht man die vielen sich oft widersprechenden Erklärungen, so gelangt man schließlich zu der Ansicht derer, die da behaupten, daß es keine Substanz gebe, die ein absolutes Gift sei, sondern nur solche Stoffe, die unter gewissen Bedingungen Gifte würden. Festhalten müssen wir jedoch, daß nur Körper als Gifte betrachtet werden dürfen, die durch ihre chemische Eigenschaft störend auf die Verrichtungen des thierischen Organismus wirken. Alle mechanischen Einwirkungen kommen als Vergiftungen nicht in Betracht. Wir wollen also bei solchen Stoffen, deren Genuß oder sonstige Ueberführung in das Blut eine schädliche Wirkung auf das Individuum ausübt und das Leben zu vernichten im Stande ist, die gewöhnliche Bezeichnung „Gift“ beibehalten. Das Gift theilt sich dem Organismus in flüssiger oder Gasform mit; die feste Form geht vor der Wirkung in die flüssige über. Die Vergiftungen sind unvermeidlich, so lange wir auf den Umgang mit Giften angewiesen sind, und diese finden wir in unseren Nahrungs- und Genußmitteln, in denen die schädliche Substanz entweder bereits vorhanden ist und das betreffende Mittel für seine Bestimmung qualificirt – dies sind die eigentlichen Hausgifte – oder welchen sie absichtlich zugesetzt wird, um eine qualitativ oder quantitativ vortheilhafte Veränderung hervorzubringen – dies sind die Verfälschungen. Sodann kommen diejenigen Gifte in Betracht, auf deren Benutzung wir durch ein bestimmtes Gewerbe angewiesen sind, ferner die, denen wir durch Sorglosigkeit und Unvorsichtigkeit begegnen, und schließlich die, welche in Folge der Verwechselung von Nahrungsmitteln mit giftigen Substanzen in’s Haus gebracht werden. Am häufigsten begegnet man den Gewohnheitsvergiftungen, das heißt der Anwendung solcher Gifte, deren specifisch giftiger Charakter nicht bestritten werden kann, an deren Genuß man aber durch den fortgesetzten Gebrauch geringer, sich allmählich steigernder Mengen gewöhnt wird. Nicht nur die Arsenik-Esser in Steiermark bieten hierfür ein interessantes Beispiel, sondern wir haben an uns selbst nur zu oft Gelegenheit, wahrzunehmen, wie sich der Körper mit seinen Feinden ausgesöhnt hat. Wir wissen uns des ersten schüchternen Versuches, eine wirkliche Cigarre regelrecht zu rauchen, zu erinnern. Und welch große Mengen einer giftigen Substanz haben wir seit jener Zeit geschluckt; denn nicht der durch die Verbrennung des Krautes erzeugte Rauch, nicht die im Tabak enthaltenen indifferenten Stoffe sind es, die uns den Genuß des Tabaks so unwiderstehlich machen, sondern einzig und allein ein Gift, ein sehr heftig wirkendes Gift ist es, dessen Genusse wir fröhnen, das uns den Tabak zu einem der beliebtesten Genußmittel gemacht hat. Die Blätter der zu der Classe der Solaneen gehörenden verschiedenen Arten von Nicotiana liefern den allgemein bekannten Tabak. In Amerika zuhause, wird er fast überall cultivirt, um zu Rauch-, Schnupf- oder Kautabak verwendet zu werden, und erfreut sich nun einer Verbreitung über die ganze Erde. Die am häufigsten angebauten Arten Nicotiana tabacum und Nicotiana macrophylla [299] liefern die bekannten Havanna-, Cuba-, Varinas-, Portorico-, holländischen und pfälzer, türkischen und chinesischen Tabake.
Die verschiedenen Species verdanken ihre Wirkung einem vorzüglich in den Blättern der Pflanze enthaltenen flüchtigen ölartigen Körper, dem „Nicotin“, dessen Gehalt in den verschiedenen Arten auch verschieden ist. Das Nicotin, eine organische Base, das heißt eine organische Verbindung, die mit Säuren ein Salz bildet, gehört zu den stärksten und am schnellsten tödtlichen Giften. Es bildet eine wasserhelle oder schwach gelbliche, ölartige, flüchtige Flüssigkeit, die einen penetranten, fast betäubenden Geruch und lange anhaltenden, brennenden Geschmack hat. Im reinen Zustande wirkt es schon in den kleinsten Dosen und recht schnell tödtlich.
Obwohl durch die Gewöhnung an den Gebrauch des Tabaks die Wirkung abgeschwächt wird, finden dennoch bei Gewohnheitsrauchern und -Kauern nach dem Genusse größerer Quantitäten Vergiftungserscheinungen statt. – Es ist gleichgültig, auf welche Weise das Nicotin dem Körper zugeführt wird, die Wirkung ist nicht ausgeschlossen, und deshalb theilen die Schnupfer die Vergiftungsgefahren der Raucher und Primer. Vergiftungserscheinungen bei Schnupfern sind jedoch nicht immer auf Nicotinvergiftung zurückzuführen; häufig hat man es mit einer Bleivergiftung zu thun. Man findet nicht selten Schnupftabak in Bleifolie verpackt; bei längerer Berührung mit dem Tabak oxydirt sich das Metall und geht mit einer im Schnupftabak enthaltenen organischen Säure eine Verbindung ein, die sich dem Tabak mittheilt. Auf diese Weise bringt der Schnupfer eine nicht geringe Menge eines Bleisalzes in seine Nase. Nun sind aber unter den Metallgiften die Blei-Oxyde höchst gefährlich, und man kennt Vergiftungen mit tödtlichem Ausgange in Folge des Schnupfens von Tabak, der in Blei verpackt war und in unmittelbarer Berührung mit den Bleiwänden gestanden hatte. Obwohl die Literatur nicht gerade arm ist an Beispielen von Tabaksvergiftungen mit tödtlichem Ausgange, so stehen dieselben doch in keinem Verhältnisse zu dem außerordentlichen Consum an Tabak und betreffen nur selten absichtliche Vergiftungen.
Eine ähnliche Erscheinung liefert uns der „Alkohol“, der ein gar starkes Gift ist und zu den verbreitetsten Genußmitteln gehört, aber selten zum Zwecke absichtlicher Vergiftung, um den Tod herbeizuführen, benutzt wird. Im reinen Zustande weder Nahrungs- noch Genußmittel, erfreut er sich in seinen verschiedenen Verdünnungen der größten Verbreitung und ruft die häufigsten Vergiftungserscheinungen hervor. Alle sogenannten geistigen Getränke verdanken ihre Benutzung und Wirkung dem Gehalte an Alkohol, der in den verschiedenen Formen seiner Verdünnung, in Wein, Bier, Schnaps etc., den wichtigsten Bestandtheil ausmacht. Der Alkohol, eine farblose, dünne, sehr leicht entzündliche Flüssigkeit, von angenehmem, durchdringendem Geruche und brennendem Geschmacke, kommt in der Natur fertig gebildet nicht vor, sondern tritt als Product der Entmischung gewisser organischer Körper auf, vorzugsweise bei dem Processe der sogenannten geistigen Gährung des Zuckers, wobei derselbe in Alkohol und Kohlensäure zerfällt.
Die giftige Wirkung des Alkohols tritt häufig schon bei dem Genusse einer geringen Menge ein, wird aber in dem Maße gedämpft, als derselbe verdünnt ist, so daß also dieselbe Menge Alkohol, verdünnt, nicht die Wirkung des reinen unverdünnten hervorbringt. Unbekannt dürfte die Wirkung wohl Niemand sein, denn man hat sie entweder selbst empfunden und gern empfunden – denn, wer nie einen Rausch gehabt, der ist kein braver Mann – oder man hat sie empfinden sehen, es sei denn, daß man noch keinen Betrunkenen gesehen hat; sie beruht auf der Eigenschaft des Alkohols, Wasser anzuziehen und Blut, respective Eiweiß gerinnen zu machen. Je nach dem Genuß größerer oder kleinerer Mengen geistiger Getränke tritt die Wirkung in verschiedenen Graden auf, denen der Volksmund gewisse Bezeichnungen gegeben hat, die allgemein verständlich sind und gebraucht werden wie „Spitz“, „Affe“ etc.
Da der Alkoholgehalt der verschiedenen geistigen Getränke ein sehr unterschiedlicher ist, so äußert sich selbstverständlich dieselbe Menge der verschiedenen Flüssigkeiten nicht auch durch dieselbe Wirkung. Wollte man aber die Veranlassung jeder krankhaften Erscheinung nach dem Genusse von Spirituosen dem Alkohol in die Schuhe schieben, so thäte man ihm offenbar Unrecht. Nicht selten wirken Ursachen mit, die mit dem Alkohol nichts zu schaffen haben. Besonders sind die Färbemittel der Liqueure oft nicht ganz unschädlich, ja zuweilen recht gefährlich. Mit diesen wird ein grober Unfug getrieben. Um den Liqueuren ein dem Auge schmeichelndes Aussehen zu geben, werden, ohne Rücksicht auf ihre Schädlichkeit, die verschiedensten Färbemittel angewendet, so das Anilin, verschiedene Kupferfarben, selbst Arsenikfarben etc. In neuerer Zeit kam ein gelbes Pulver in den Handel, das ein Surrogat für den theuren Safran sein soll und unter dem vielsagenden Namen „australischer Safran“ an den Mann gebracht wird, aber mit Ausnahme der Färbefähigkeit nichts weniger als die Eigenschaften des Safrans theilt; denn wie eine vorgenommene chemische Untersuchung gelehrt hat, besteht dieser sogenannte australische Safran (der dem Verfasser zur Untersuchung vorlag) aus Pikrin- und Chromsäure, ist also ein starkes, ätzendes Gift.
Um das Bier schmackhafter zu machen, ebenso um das Nachgähren desselben zu verhüten, werden häufig ebenfalls Mittel angewandt, die nicht immer unschuldig, in ihren Massen aber geradezu höchst bedenklich sind. Ein beliebter Zusatz, um eine angenehme Bitterkeit hervorzubringen, sind die sogenannten Krähenaugen oder Brechnüsse, Samen von Strychnos nux vomica, die das Strychnin, eins der stärksten Gifte, liefern. Zu demselben Zwecke setzen unsere Bairisch-Bier-Brauer ein sogenanntes „englisches Bierextract“ ihrem Fabrikate zu. Dieses Bierextract ist aber durchaus kein Bierextract, sondern ein mehr oder weniger concentrirter Auszug von Kokkelskörnern, den beerenartigen Früchten von Anamirta cocculus, und natürlich mit dem in letzteren enthaltenen Picrotoxin, das stark giftig ist. Erscheinungen nach dem Genusse von Bairisch-Bier, wie furchtbare Schwere des Kopfes, trockene Speichelabsonderung, kalter Schweiß etc. bei sonst völligem Bewußtsein und ohne Störung des Erinnerungsvermögens, sind nicht Symptome einer Alkoholvergiftung, sondern rühren von den schädlichen Beimengungen unserer Biere her.
Neben den geistigen Getränken, welche in der Absicht auf Nervenwirkung genossen werden, spielt als Genußmittel durch seine eigenthümliche Wirkung auf das Nervenleben der Kaffee eine hervorragende Rolle. Hier ist es wiederum ein Gift, das die Verbreitung und Verwendung vermittelt hat, eine Substanz, die, in geringer Menge genossen, die wohlthuendste Wirkung äußert, dem Körper aber in größerer Menge zugeführt, denselben zu zerstören geeignet ist. Ein Alkaloid, das „Coffeïn“ oder „Caffeïn“, ist der eigentliche Träger des Werthes und der Wirkungsfähigkeit des Kaffees, ihm verdankt der Kaffee seine große Verbreitung und Beliebtheit; der Gehalt an Coffeïn bestimmt die Güte des Kaffees – je reicher an diesem Alkaloid, desto größer, je ärmer, desto geringer der Werth. Schon eine verhältnißmäßig geringe Menge dieses Körpers ist im Stande, eine schädliche und, wie Versuche an Thieren gelehrt haben, tödtliche Wirkung hervorzubringen. Unangenehme Empfindungen und Beschwerden nach dem Genusse sogenannten starken Kaffees sind die Folge einer Coffeïnvergiftung. Schwächere Auszüge wirken nicht nur nicht schädlich auf den Körper, sondern ernährend und vorzugsweise belebend und anregend.
Das wirksame Princip des Kaffees findet sich auch in den Blättern des Theestrauchs (Thea chinensis oder bohea), die durch Aufguß den bekannten und ebenfalls verbreiteten Trank „Thee“ liefern. – Nicht selten werden verdorbene Kaffeebohnen, welche ihre ursprünglich grüne Farbe, die sie, nach Rochleder, einem Gehalte an viridinsaurem Kalke verdanken, verloren haben, ebenso verdorbene und mißfarbige Theesorten künstlich wieder hergestellt und nicht immer durch Anwendung unschuldiger Färbemittel; giftige Kupferfarben müssen hierzu häufig herhalten. Es ist daher nothwendig, sich durch Abwaschen der Kaffeebohnen oder der Theeblätter von der Echtheit der Farbe und somit der Waare selbst zu überzeugen.
Von vielleicht größerer Bedeutung als diese Gewohnheitsvergiftungen, wenn sie so genannt werden dürfen, und solche, die beim Betriebe gewisser Gewerbe durch den Umgang mit Giften herbeigeführt werden, sind die, die ihr Vorkommen der Verwechselung von Nahrungsstoffen mit giftigen, in Folge von Unvorsichtigkeit, Unerfahrenheit oder maskirter Erkennungsmerkmale verdanken. Daß anstatt grüner Petersilie Schierlingsblätter oder Hundspetersilie in der Küche verwendet werden, ist durchaus nicht selten. Eine wesentliche Rolle unter solchen im Haushalte vorkommenden Giften spielen die Pilze und Schwämme, von deren [300] vieltausenden Arten nur wenige als eßbar gelten, die wiederum durch den Einfluß verschiedener äußerer Verhältnisse als Nahrungsmittel ungeeignet werden. Mehr als jede andere Pflanze ist der Pilz für eine Zersetzung geeignet, durch welche der eßbare seine ungiftige Eigenschaft verliert und sich durch irgend einen noch unbekannten Einfluß ein giftiger Stoff entwickelt, der sich äußerlich nicht wahrnehmen läßt; kurz, es wird aus dem eßbaren Pilze ein giftiger, ohne daß wir uns durch das Auge davon überzeugen können. Da charakteristische Kennzeichen für die Brauchbarkeit der sogenannten eßbaren Pilze nicht bekannt sind und auch botanische Verwechselungen mit anerkannt giftigen nicht ausgeschlossen sind, so ist es besser, sich des Genusses der Pilze vollständig zu enthalten, oder doch wenigstens so lange, bis es der Botanik gelungen ist, scharfe Unterscheidungsmerkmale zwischen eßbaren und giftigen festzusetzen und die Chemie im Stande ist, die An- und Abwesenheit eines Giftes im Pilze zu constatiren.
Am verbreitetsten und bekanntesten, wenn auch nicht als Nahrungsmittel, so doch als Begleiter vieler derselben, sind gewisse Fadenpilze, die unter dem Allgemeinnamen „Schimmelpilze“ bekannt sind. Diese pflanzlichen Gebilde, die sich auf den meisten Nahrungsmitteln vegetabilischen wie animalischen Ursprungs entwickeln, geben diesen einen unangenehmen, widerlichen Geschmack und Geruch, berauben ihre Unterlage ihres Nahrungswerthes und machen sie ungenießbar und schädlich.
Neben den bereits fertig gebildeten Giften giebt es im Haushalte eine Menge anderer, deren Vorhandensein nicht Bedingung ist, die irgend einem günstigen Umstande, einer chemischen Zersetzung – in Folge bekannter oder unbekannter Einflüsse – etc. ihre Existenz verdanken. Solche Gifte sind um so gefährlicher, als ihre Anwesenheit nicht immer angezeigt wird. Eins der interessantesten und gefährlichsten dieser Gifte ist das sich besonders in Leber- und Blutwürsten erzeugende sogenannte „Wurstgift“; diesem schließen sich, ebenfalls als Produkt einer chemischen Zersetzung, in den Fischen das nicht minder gefährliche „Fischgift“ und im Käse das „Käsegift“ an. Die Entstehung und das Wesen dieser Gifte sind noch völlig unbekannt; daß aber der eintretende Verwesungsproceß die Bildung derselben begünstigt, ist nicht unwahrscheinlich.
Zu diesen zufälligen Giften gehören auch die, welche durch Verfälschungen von Nahrungsmitteln mit schädlichen Substanzen (Essig mit Schwefel- oder Salzsäure etc.) in’s Haus gebracht werden; ferner die, die durch Unsauberkeit oder Sorglosigkeit im Hause selbst erzeugt werden. Für letztere ist der Gebrauch kupferner oder kupferhaltiger Gefäße die häufigste Veranlassung. Solche Gefäße sind zur Aufnahme eines jeden Körpers, namentlich zur Aufnahme einer jeden Flüssigkeit durchaus nicht geeignet. Beim Kochen saurer oder fetter Speisen, Milch etc., beim Erkalten und Stehenlassen solcher in Gefäßen von Kupfer oder Messing (Kupfer und Zink) entsteht eine grüne lösliche Kupferverbindung, die sich den betreffenden Speisen mittheilt und dieselben vergiftet. Dasselbe gilt vom Neusilber, das bekanntlich aus Kupfer, Zink und Nickel besteht.
Es ist für das Zustandekommen einer Vergiftung durchaus nicht Bedingung, daß das betreffende Gift auf dem gewöhnlichen Wege, das heißt durch Vermittelung des Magens sich dem Organismus mittheile; die Aufnahme giftiger Stoffe in die Luftwege begünstigt ebenfalls die giftige Wirkung. Bei der Aufnahme in die Luftwege, also durch Einathmen, kommen die gas- und dampfförmigen Gifte und unter diesen im Haushalte vorzugsweise „Kohlenoxyd“- und „Leuchtgas“ in Betracht. Bei vollständiger Verbrennung kohlenstoffhaltiger Körper nimmt der Kohlenstoff derselben zwei Gewichtstheile Sauerstoff aus der Luft auf und wird zur Kohlensäure. Ist die Verbrennung aber nicht vollständig, das heißt wird nicht so viel Sauerstoff zugeführt, als zur Bildung der Kohlensäure nothwendig ist, so kann der Kohlenstoff nur einen Gewichtstheil Sauerstoff aufnehmen und das Product der Verbindung heißt alsdann „Kohlenoxyd“. Dieses, ein farb-, geruch- und geschmackloses Gas, ist stark giftig und hat, eingeathmet, sehr häufig den Tod zur Folge. Es findet sich unter den Producten der unvollständigen Verbrennung unserer Heizmaterialien, wie Holz, Steinkohle, Torf etc., wenn durch ungenügende Ventilation in den Oefen oder theilweise Absperrung der atmosphärischen Luft nicht genügend Sauerstoff zugeführt wird, um die vollständige Verbrennung zu unterstützen.
Bei der durch die Luftwege stattfindenden Einführung von Giften spielen die giftigen Farben, die in gasförmigem Zustande oder in Form feinen Staubes sich dem Organismus mittheilen, eine nicht zu unterschätzende Rolle. Es sind dies vorzugsweise viele grüne Farben, die durch ihren Gehalt an „arseniger Säure“ sich auszeichnen. Die den Damen wohlbekannten grünen Tarlatankleider sind großentheils mit Scheel’schem oder Schweinfurter Grün gefärbt; diese Farbestoffe, von denen ersteres „arseniksaures Kupferoxyd“, letzteres ein Doppelsalz von „essigsaurem und arseniksaurem Kupferoxyd“ ist, sind gewöhnlich nur durch schwache Bindemittel auf dem Zeuge befestigt und lösen sich sehr leicht von demselben los. Eine einfache Berührung oder schwache Bewegung genügt oft schon, um die Farbe von der Unterlage zu entfernen. Gleich schädlichen Einfluß auf die Gesundheit haben die mit Arsenikfarben grün gefärbten Tapeten. Beim Gebrauche grüner Fächer, grünen Mützenfutters, grüner Schleier etc. kommen Vergiftungserscheinungen vor, über die sich der Laie in der Regel keine Rechenschaft geben kann und die auf den Arsengehalt in der grünen Farbe zurückzuführen sind. Große Vorsicht ist bei dem Gebrauche grüner Lampenschirme und grün gefärbter Lichte erforderlich, da die etwaige Giftfarbe durch die entwickelte höhere Temperatur sich verflüchtigt und als gasförmiger Körper eingeathmet wird. Grünes Kinderspielzeug entbehre man vollständig. Außer diesen Farben kommen noch solche in Betracht, die als Schminke der Haut aufgetragen und so unter dieselbe und in das Blut gerieben werden. Auch die Anwendung des rothen, mit Zinnober gefärbten Siegellacks hat ihr Bedenken, weil beim Brennen desselben Quecksilberdämpfe entstehen, deren fortgesetzte Einathmung unmöglich wirkungslos bleiben kann.
Es ist nicht ausführbar, alle im Haushalte vorkommenden sogenannten Gifte von dem Gebrauche im täglichen Leben auszuschließen. Wenn auch einzelne entbehrlich sind, so sind wir doch auf den Umgang mit der Mehrzahl derselben angewiesen. Es tritt also nur die Aufgabe an uns heran, diesen Stoffen die günstigen Bedingungen nicht zu gewähren, unter denen sie Gifte, also für den normalen Zustand des thierischen Körpers schädlich werden können.
Die kleine württembergische Festung Hohenasperg hatte seit dem dreißigjährigen Kriege ihre Glanzzeit hinter sich; sie konnte keiner Belagerung hinfort mehr Trotz bieten; daß sie dennoch wieder genannt und bekannt wurde, dankt sie vorzugsweise dem zweifelhaften Ruhme, einen Dichter als Gefangenen in ihren Mauern beherbergt zu haben – Christian Friedrich Daniel Schubart.
So traurig aber auch dessen Gefangenschaft dort war, so streng ihn Herzog Karl behandelte, und so viel er während des ersten Jahres in seinem schrecklichen Thurme erduldete – vielleicht wäre ohne den Namen Asperg sein eigener nicht soweit in deutsche Lande hinaus geklungen. Wer Schubart’s Leben genau prüft, von seinen Studienjahren und dem Magisterthume zu Geißlingen an bis auf den Organisten von Ludwigsburg und den Chronikenschreiber in Ulm, der muß gestehen, daß es ein zerfahrenes und ruheloses war, in welchem sich kein volles, harmonisches Schaffen entwickeln konnte.
So reich mit Talenten begabt, zersplitterte er dieselben nach allen Seiten. Wenn er am Claviere, das er meisterhaft zu spielen verstand, Beifall errungen, begann er zu improvisiren oder er hielt eine dramatische Vorlesung unter dem Staunen und Grausen der Zuhörer, von denen die Einen seine beredte [301] Mimik und die Andern seine pathetische Stimme nicht genug rühmen konnten. Nach einem Trinkgelage, das bis zum hellen Morgen gewährt, wurde die Feder eingetaucht, um scharfe Pasquille und Epigramme, durch welche er sich erbitterte Feinde schuf, vielleicht auch eine ihm durch den Kopf summende Melodie niederzuschreiben.
Sein ungeregeltes Leben hatte in dem glänzenden Ludwigsburg seinen Höhepunkt erreicht – hier, wo er auf dem Parquetboden in den Zimmern schöner Aristokratinnen so sicher ging, als sei nicht an ein Ausgleiten zu denken, und im Wirthshause bei Wein und Tabak die Hofleute und selbst den Herzog carrikirte und sein einfaches, aber mit rührendster Liebe an ihm hängendes Weib und die Kinder daheim vergaß.
Nicht allzu lange sollte er sich indeß selbstgefällig im modischen, goldbordirten Kleide sehen und das lustige Leben weiter führen unter den Sängern und Sängerinnen von Herzog Karl’s berühmter italienischer Oper. Sein schwarzberockter Vorgesetzter, der gestrenge Herr Special Zilling, stieß einen Schrei der Entrüstung aus über den weltlich gesinnten Organisten, besonders darum erzürnt, weil derselbe allerlei Melodien beim Orgelspiel einschob, die mit Tanzweisen und sonstigen heitern Gesängen mehr Aehnlichkeit hatten, als mit den hergebrachten, ehrwürdigen Kirchenliedern. Um diese Zeit verließ auch Helene Schubart den Mann, an welchem sie, alle seine Fehler verzeihend, bisher eine Engelsgeduld bewiesen, weil er ihr eine neue schwere Kränkung zugefügt hatte, ja, es wurde auf einen Antrag des Special Zilling von der geistlichen Behörde eine Haft über ihn verhängt, und nach Abbüßung derselben dictirte ihm die weltliche sogar Landesverweisung zu.
Auf die unbekümmert fröhlichen Tage im schwäbischen Versailles folgten nun die traurigen der Wanderzeit, sein Umherirren ohne Stellung und Brod, sein Hinüberneigen zum Katholicismus in München, wozu ihn nicht Ueberzeugung trieb, sondern der Gedanke, „sein Glück machen zu wollen“, endlich dann ein Aufenthalt in Augsburg, wo er, ruhiger geworden, den Gedanken faßte, die „Deutsche Chronik“ zu gründen.
In der langen Zeit, welche zwischen seiner Ausweisung von Ludwigsburg und der Niederlassung in Augsburg lag, war weder ein Lied noch eine Composition entstanden – seine ganze schöpferische Kraft lag brach. Glücklicher Weise hatte die Chronik mehr als erhofften Erfolg; wieder mit seiner Gattin vereint, siedelte er nach Ulm, der freien Reichsstadt, über, um sich kurze Zeit eines geregelten, thätigen Lebens zu befleißen – dann faßte ihn die mächtige Hand, welche ihn nach dem Asperg hinüber zog.
Von dieses „Thränenberges Höhen“ sind, nachdem das erste schwere Kerkerjahr überstanden und dem Dichter Festungsfreiheit und der Gebrauch der Feder wieder gestattet worden war, Schubart’s schönste und gelungenste Lieder hinabgeflattert. Erst durch die Gefangenschaft wurde die Aufmerksamkeit des gesammten Deutschlands auf ihn gelenkt, und wenn wieder ein Lied seinen Weg hinabgefunden, das von den „klirrenden Ketten“ an seinem Arme erzählte, so waren stets neue Sympathien für den „gefangenen armen Mann“ erweckt.
Daß in Wahrheit die Haft Schubart’s eine weit leichtere war, als seine Lieder sie mit dichterischer Freiheit beschrieben, konnte man draußen freilich nicht wissen und man hatte umsomehr Mitleid mit ihm, weil ein Grund seiner Verhaftung eben so wenig angegeben wurde, als man eine Untersuchung gegen ihn einleitete. Nur vermuthen ließ sich, daß seine vielen Ausfälle gegen die verschiedenen Regierungen, der Haß der Geistlichkeit, besonders der katholischen, die er beständig geißelte, während er früher im Begriff gewesen war, sich zu ihrem Werkzeug machen zu lassen, und endlich der Groll Herzog Karl’s, den er oft verspottet, die Ursache waren.
Von Friedrich dem Großen an bis zum kleinsten Winkelpoeten hinab bemühte man sich unablässig für seine Freiheit – der Herzog blieb ungerührt. Daß dies aber nicht allein persönlicher Groll Karl’s, sondern durch Schubart’s Charakter und Benehmen begründet war, muß sich Jeder gestehen, der David Strauß’ berühmtes und bedeutendes Buch „Schubart’s Leben in seinen Briefen“ zur Hand nimmt. So begeistert der Autor für seinen Helden ist, kann er uns doch die Schattenseiten des Schubart’schen Charakters nicht verhehlen. Wir sehen den Gefangenen des Aspergs zwischen seinen Gefühlen wankend und schwankend, wie ein vom Winde bewegtes Rohr, hin- und hergeworfen. Heute segnet er den Mann, der ihn den Seinen entführte, als Erretter, um ihm morgen zu fluchen; jetzt singt er Bußpsalmen und bekennt sich als größten Sünder, um eine Stunde später, wenn eine lustige Gesellschaft um ihn versammelt ist und der Commandant des Aspergs, der pietistisch-frömmelnde Oberst von Rieger, ihn nicht hört, Alles zu verspotten und zu verlachen.
Aber der, welcher ihm die Freiheit nahm, wollte nicht allein strafen, sondern auch bessern. Die schlimme Zeit lag hinter Herzog Karl; zu jung, aber geistvoll und lebensfroh, hatte er die Macht eines Regenten erhalten und mit ihr gespielt, oft ahnungslos bösen Einflüsterungen seiner Umgebung folgend. Jetzt war der Ernst gekommen. Ungezwungen und freimüthig, wie nie ein Fürst zuvor, hatte er seinem Volke, das ihn trotz seiner früheren Herrscherlaunen liebte und verehrte, bekannt, daß er selber nicht mit der vergangenen Regierungsperiode zufrieden war und daß er nun ein anderes Leben zu beginnen gewillt sei:
„Da wir aber Mensch seynd und unter diesem Wort von dem so vorzüglichen Grad der Vollkommenheit beständig weit entfernt geblieben und auch vor das künftige bleiben müssen, so hat es nicht anderst seyn können, als daß theils aus angebohrner menschlicher Schwachheit, theils aus nicht genugsamer Kenntniß und sonstigen Umständen, sich viele Ereignüsse ergeben, die, wann sie nicht geschehen, wohl vor jetzo und das künftige eine andere Wendung genommen hätten. Wir bekennen es freymüthig, denn dies ist die Schuldigkeit eines Rechtschaffenen, und entladen Uns damit einer Pflicht, die jedem Rechtdenkenden, besonders aber den Gesalbten dieser Erden, vor beständig heilig seyn und bleiben sollte.
Wir sehen den heutigen Tag als eine zweite Periode Unsers Leben an. – – Württembergs Glückseeligkeit soll also von nun an und auf immer auf der Beobachtung der echtesten Pflichten des getreuen Landesvaters gegen seine Unterthanen und auf dem zärtlichen Zutrauen und Gehorsam der Diener und Unterthanen gegen ihren Gesalbten beruhen.“
In dieses andere Leben führte ihn die Hand seines Schutzgeistes, Franziska’s von Hohenheim, seiner zweiten Gemahlin. Fortan unterblieben die glänzenden Feste; die italienischen Sänger und französischen Tänzer wurden heimgeschickt; die 1770 zuerst auf der Solitüde gegründete Karlsschule wurde erweitert und so zu einer der großartigsten Erziehungsanstalten, an welcher die Wissenschaften und Künste blühten, wie nirgends im deutschen Reiche, erhoben. Neben wie manchen Namen, welchen die Nachwelt anerkennend und bewundernd nennt, steht die Bezeichnung „Zögling der Karlsakademie“! Schiller, ihr berühmtester Schüler, hat, obgleich er sich des Herzogs energischem Willen widersetzte, dankbarlichst die Vorzüge der Anstalt gerühmt, ja, lebenslang für den Stifter derselben eine Anhänglichkeit bewahrt. Er weilte gerade im Heimathlande, als Karl’s Ende herannahte.
„Ich sah ihn,“ erzählt Hoven in seiner Selbstbiographie, „bei der Nachricht, daß der Herzog krank und seine Krankheit lebensgefährlich sei, erblassen, hörte ihn den Verlust, den das Vaterland durch dessen Tod erleiden würde, in den rührendsten Ausdrücken beklagen, und die Nachricht von dem wirklichen Tode des Herzogs erfüllte ihn mit Trauer, als wenn er die Nachricht von dem Tode eines Freundes erhalten hätte.“ An der Gruft Karl’s brach er tiefbewegt in die Worte aus: „Da ruht er also, dieser rastlos thätig gewesene Mann. Er hatte große Fehler als Regent, größere als Mensch; aber die ersten wurden von seinen großen Eigenschaften weit überwogen, und das Andenken an die letzteren muß mit dem Tode begraben werden; darum sage ich Dir, wenn Du, da er nun dort liegt, nachtheilig von ihm sprechen hörst, traue diesem Menschen nicht! Er ist kein guter, wenigstens kein edler Mensch.“
Die Haft Schubart’s bestand nach dem ersten Jahre lediglich nur in der Beschränkung seines Aufenthaltes auf den Asperg; er besaß ein Clavier, durfte jeden Besuch entgegennehmen und sprach auf diese Weise viele berühmte Leute, wie Lavater, Jakobi – nur Frau und Kinder sollte er Jahre lang nicht sehen.
Eine grausame Ausnahme! und doch, wie sehr hatte er sein Weib gekränkt, wie offenkundig – vielleicht wollte man erst die echte Reue zum Durchbruch kommen lassen.
[302] Helene Schubart weilte, vom Herzog mit einer jährlichen Pension von zweihundert Gulden unterstützt, in Stuttgart; ihr Knabe war in die Karlsschule gekommen, ihre Tochter in eine Bildungsanstalt für Mädchen, die Ecole des demoiselles, welcher die Gräfin Hohenheim vorstand.
Und endlich kam in der Einsamkeit mit der Reue auch die alte Liebe in das wankelmüthige Dichterherz zurück – Schubart sehnte sich nach Weib und Kindern.
Am 9. Mai 1784 ruft er seiner Gattin zu:
„Einzige! Nur daß ich den M. nicht ohne Brief fortschicke, muß ich Dir kürzlich sagen, daß ich Antwort auf ein Memorial erwarte, welches ich dem Herzog um die Erlaubniß zuschickte, mit Dir und den Meinigen sprechen zu dürfen.“
Dieses „Memorial“ selber ist weder David Strauß zugänglich gewesen, noch in dem umfangreichen Buche über die Karlsschule von H. Wagner enthalten; wohl nahe an hundert Jahre mag es unberührt in dem Actenbündel im königlichen Staatsarchiv zu Stuttgart gelegen haben, in welchem es jetzt aufgefunden wurde.
In schöner, deutlicher Handschrift, auf die Schubart besonders hielt, und für damalige Zeit auffallend guter Rechtschreibung lautet es mit der Aufschrift:
M. Christian Friedrich Daniel Schubart bittet allerunterthänigst um die höchste herzogliche Gnade, nach beinahe achtjähriger Trennung seine Familie wiedersehen und sprechen zu können.
Es sind bereits achthalb Jahr, daß ich dem Schooße meiner Familie entrissen bin. Aber auch diese lange Zeit hat die Liebe zu meiner Gattin und Kindern nicht geschwächt, sondern vielmehr mit jedem Monde die zärtliche Sehnsucht nach selbigen vermehrt. Wie sehr wünscht ich also, aus dem Munde der Meinigen einmal den Dank für die unzähligen Gnaden zu vernehmen, wodurch sich Ewer Herzogliche Durchlaucht an dieser meiner armen Familie zu verherrlichen geruhten; auch wünscht ich ein dankvoller Zeuge von den Fortschritten meiner Kinder in Künsten und Wissenschaften zu seyn und dann mit Vaterfreuden gen Himmel zu schauen, um für Ewer Herzogliche Durchlaucht die Fülle jedes Seegens für Zeit und Ewigkeit von Gott dem Allbelohner herabzuflehen.
Da Ewer Herzogliche Durchlaucht gleich im Anfang meiner Gefangenschaft mir die huldreicheste Versicherung zu ertheilen geruhten, mich nicht auf immer von den Meinigen zu trennen, so wag ich’s um so mehr, Allerhöchst Denenselben die allerunterthänigste Bitte zu Füßen zu legen, mir nach beinahe achtjähriger Trennung von meiner alten am Grabe schwankenden Mutter, meiner Gattin und Kindern die allergnädigste Erlaubniß zu ertheilen, mich mit selbigen zuweilen besprechen und nach so langer, harmvoller Entfernung das Glück des Sohnes, Vaters und Gatten wieder empfinden zu können.
Meine Tochter widmet sich, wie ich vernehme, dem Theater und soll nach dem Zeugniß der Kenner ziemliche Talente verrathen. Wie glücklich würde mich Ewer Herzogliche Durchlaucht machen, wenn Allerhöchstdieselben gnädigst zu genehmigen geruhten, meiner Tochter zuweilen Unterricht in der Deklamation, Mimik, im schönen Gesange und auf dem Klavier ertheilen zu dürfen, um sie zu ihrem künftigen Berufe desto tüchtiger zu machen!! –
Ewer Herzogliche Durchlaucht denken zu groß und empfinden zu tief, als daß Allerhöchstdieselben nicht eine Bitte zu gewähren geneigt sein sollten, die der Erguß eines von Liebe und Sehnsucht erfüllten Herzens ist.
Inzwischen leg ich mein Schicksal auf’s neue Ewrer Herzoglichen Durchlaucht zu Füßen, mit der vesten Ueberzeugung, daß Gott, der Lenker der Fürstenherzen, auch Höchstdero großes Herz noch fernerhin zum Besten eines armen Gefangenen und seiner dürftigen Familie lenken werde.
Ich habe die Gnade mich mit einem Herzen voll innigster Dankbarkeit, der demüthigsten Hofnung und der allertiefsten Ehrfurcht zu nennen.
Hohenasberg, den 22. Mai 1784.
Daß der Herzog nicht allein geneigt war, die Bitte zu gewähren, sondern an gänzliche Befreiung des Dichters und seine Wiederanstellung gedacht, geht aus einem dem Memorial beigelegten Gutachten des Obersten Seeger hervor. Derselbe, pünktlich, klug und rechtschaffen, besaß als Intendant der Karlsschule des Herzogs ganzes Vertrauen. Er macht in dem genannten Schriftstücke, welches das Datum des 28. Mai 1784 trägt, seinem Herzog den Vorschlag, Schubart als Lehrer für die dem Theater gewidmeten jungen Leute anzustellen.
„Dem Theater selbst,“ heißt es in jenem Memorial, „aber gehet von jeher eine Person ab, welche nicht allein die Deklamation und Mimik, sondern hauptsächlich die Reinigkeit der deutschen Sprache zum allgemeinen Besten des Publikums mehr kultivirte.
Und diese hat Schubart, ob er gleich in seiner unterthänigen Bittschrift nichts davon berührt, so in seiner Gewalt, daß er gewiß mit allen hiesigen, vielleicht mit den meisten Schriftstellern Deutschlands darinnen um den Vorzug streiten kann.
In allen deutschen Sing- und Schauspielen, zu deren Aufführung der Capellmeister Poli weder Brauchbarkeit noch guten Willen besitzt, würde Schubart mit Nuzen am Clavier sizen und mit eben so großem Nuzen die noch nicht ausgebildeten jüngern Sänger und Sängerinnen auf dem Clavier fortbilden.
Es dürfte vielleicht noch verschiedene andere Fälle geben, wobey man sich des Schubart in Absicht auf seine Schreibsucht mit Nuzen, aber auch nicht ohne die größte Aufmerksamkeit bedienen könnte. Dahero ihme bey seiner Anstellung zur Verhütung aller künftigen Entschuldigungen solches, zwar beditten, aber in dem Anstellungs-Decret selbst, damit er sich keines akademischen Berufs rühmte, bloß als allgemeinen Ausdrucks: Theater, bedient, folglich auch kein Titel ertheilt, hingegen seine Besoldung, welche der bevorstehenden Aus Musterung der dem Theater gewidmeten jungen Leuten noch angehängt werden könnte, desto ergiebiger eingerichtet werden dürfte, damit er in den Fall gesetzt würde, sich aller Klagen so wohl in, als außerhalb des Herzogthums zu enthalten.
Ewer Herzoglichen Durchlaucht höhern gnädigsten Einsichten habe ich dieses mein unterthänigstes Gutachten in der tiefsten Ehrfurcht anheimstellen und erstadten sollen
Auf beiden Schreiben findet sich, ganz gegen alles sonstige Herkommen, keine Randbemerkung des Herzogs; ein zweites Gutachten des gewissenhaften Obersten vom 31. Mai 1784, in welchem er sich auf herzoglichen Befehl „über die Wiederanstellung des Arrestanten Schubart bestimmter herauslassen soll“, bringt Strauß wörtlich.
Am 5. Juni klagt der Gefangene seiner Helene: „Auf mein Memorial ist noch keine Antwort gekommen. Ob dies Zaudern gut oder schlimm sei, wird sich bald zeigen.“
Es war schlimm. Ueber ein Jahr sollte es währen, bis er die Seinen wiedersah – erst am 5. Juli 1785 hielten sich die Langgetrennten zum ersten Male wieder umschlungen.
Längst war ihm indessen die Erlaubniß geworden, seine Gedichte dem Druck zu übergeben, auch seine heimlich in der Zelle verfaßte Biographie durfte er denselben hinzufügen. Dann hatte man endlich in Stuttgart über sein Schicksal entschieden und die Stellung für ihn gefunden, welche seinen Talenten angemessen war und der Welt gegenüber keinen Anlaß zu Klagen gab. Er wurde bekanntlich als Hof- und Theaterdichter mit sechshundert Gulden Jahresgehalt und der Verpflichtung, auch die Musik und Mimik des Theaters zu leiten, angestellt.
Am 18. Mai 1787 verließ Schubart den Hohenasperg, nach zehnjähriger Gefangenschaft.
In einer Audienz, welche ihm der Herzog gewährt, hat den Letzteren die berühmte Liebenswürdigkeit desselben ebenso bezaubert, wie schon so Manchen vor ihm:
„Letztern Freitag war ich lang bei dem Herzog in der Audienz. Ich muß gestehen, er war außerordentlich gnädig und versprach, mir das Leben von nun an leicht und angenehm zu machen. Er bestellte einige lateinische und deutsche Inscriptionen, die ich als Hofpoet – versteht sich – sogleich verfertigte. Ich habe nun keine Instanz als diesen meinen gnädige Herrn, gegen
[303] den nun aller Groll wie Nachtgewölk weggeschwunden ist,“ erzählt er seinem in Berlin weilenden Sohne.
Ja, sogar eine besondere Vergünstigung gewährte ihm der Herzog, die Censurfreiheit für seine „Chronik“, deren Fortsetzung ihm gestattet worden war. Wie gut der leichtherzige und vergeßliche Schubart dieselbe indessen benützte, beweisen die zahllosen Beschwerden, welche von den Regierungen und Reichsstädten einliefen. Sehr häufig warnte ihn der Herzog selber, und fast jede Nummer brachte in Folge davon einen Widerruf ihres Herausgebers.
Nach seiner Freilassung hat Schubart außer der „Chronik“ und den ihm für festliche Gelegenheiten aufgetragenen Prologen, die keinen dichterischen Werth haben, nichts mehr geschaffen – er ließ sich an behaglichem Wohlleben genügen und suchte wieder häufig den Wirthshaustisch auf, wo er einer lustigen Tafelrunde Scherze und Anekdoten mittheilte.
Wie unvorsichtig er trotz seiner traurigen Erlebnisse war, beweist ein ebenfalls bisher nicht veröffentlichter Rapport Seeger’s, in welchem er dem Herzoge in gerechtem Zorne am 30. Juni 1789 meldet:
„Ewer Herzoglichen Durchlaucht habe ich mit dem heutigen Rapport dasjenige Stück der Schubartischen Chronik, das ich bey meinem gewöhnlichen Besuche in der Buchdruckerey unter der Presse angetroffen, deßwegen unterthänigst einsenden sollen, weil etwas von der höchsten Person Ewer Herzoglichen Durchlaucht darinnen gerügt ist. Da der Hof- und Theater-Dichter Schubart mir gar nichts vorhero von dieser Rüge wissen ließe und auch ebenso wenig von dem Buche selbst, welches ihm die Veranlassung dazu gebe, bekannt ware: so schickte ich gleich balden nach diesem Buche, worauf er mir sagen ließe, daß er es wirklich gar nicht bey der Hand hätte, aber so bald er es wieder bekäme, mir zustellen wollte, um es an Ewer Herzogliche Durchlaucht unterthänigst einsenden zu können. – – Soeben erhalte ich von Schubart das oben unterthänigst bemerkte Buch, welches ich mit derjenigen tiefsten Ehrfurcht beyfügen sollen etc.“
Herzog Karl’s Zorn ist längst verraucht, er beachtet den Angriff auf seine Person nicht und kritzelt nach seiner Gewohnheit mit Bleistift auf den Rapport:
„Erhalten und finde es unter meiner Würde, auf das Geschmier eines Blätterschreibers zu attendiren.“ –
Die Censurfreiheit ist aber für den Chronisten zu verlockend. Er benutzt sie in so ausgedehnter Weise, daß Nürnberg, Worms, Landau und der kursächsische Gesandte sich beklagen; neue Warnungen helfen nichts, und so klatscht endlich auch auf ihn die „Censurgeißel“ herab.
Lange zwar drückte ihn der Zwang nicht. Seine Tage waren gezählt: schon im vierten Jahre der Freiheit, am 10. October 1791, schloß ihm der Tod die Augen; er hatte erst das Alter von zweiundfünfzig Jahren erreicht. Ohne viel Gepränge wurde er in’s Grab gesenkt, das durch kein Denkmal bezeichnet und bald verschollen war. Die Mitwelt hatte das Interesse für ihn verloren, seit er ein freier Mann war und nicht mehr ihres Mitleids bedurfte – und die Nachwelt kümmerte sich weniger um seine Lieder, unter welchen doch verschiedene ein Anrecht auf Unvergänglichkeit haben, als um sein romantisches Lebensschicksal. Dasselbe hat Roman- und Novellenschreibern willkommenen Stoff geboten, doch ist derselbe meistens nur in einseitiger Weise zur Darstellung gekommen. Diejenigen, welche mit Schubart’s Dichtungen vertraut sind und die von Strauß gesammelten Briefe kennen, werden vorstehende kleine Ergänzungen zu denselben willkommen heißen.
Es ist seit einer Reihe von Jahren ein liebenswürdiger Brauch meines Freundes Ernst Keil, die Mitarbeiter der „Gartenlaube“ dem Publicum in Bild und Wort vorzuführen. So früher Gerstäcker und Benedix, die ebenfalls ihre Selbstbiographien schrieben, so zuletzt den feinen Naturbeobachter Guido Hammer, diesmal Herbert König.
Dieser ist nun laut Redactionsbeschluß auch zu einer Selbstbeschreibung seines Lebens verurtheilt, und wir wollen sehen, wie er sich aus der Schlinge ziehen wird.
Künstler, wie alle Menschen, deren Leben sich unter fortwährendem Ringen und Kämpfen abnutzt und abspinnt, können selten mit einem wohlhäbigen Philistergesichte aufwarten. Darum möge der Beschauer meines Gesichts entschuldigen, wenn ich ernster und verbitterter dreinschaue, als es der gute Ton einem so verehrungswürdigen Leserkreise gegenüber gestattet. In einem Alter, da Andere schon im Sattel sitzen, hatte ich den Fuß erst im Steigbügel. Zehnmal schwang ich mich auf, zehnmal fiel ich wieder herunter, und ich weiß bis zur Stunde noch nicht, ob ich oben sitze oder unten liege. Schon mein Eintritt in die große Welt war wenig glückverheißend, indem mich mein erster Ausflug nach Hamburg führte, um Augenzeuge des schrecklichen Brandes zu werden. Nach einer Reihe fehlgeschlagener Pläne und Hoffnungen kam ich im Jahre 1848 aus dem äußersten Norden Deutschlands in München an. Einen bewährten Freund, den letzten Rettungsanker, an den ich mich anzuklammern dachte, suchte ich vergebens auf und sehr niedergeschlagen kehrte ich in den bescheidensten aller Gasthöfe zurück. Ich überzählte meine Baarschaft, wozu ich nicht viele Stunden brauchte, denn ich stieß auf ein furchtbares Deficit. Da mein erster Grundsatz war und ist: „Kopf oben behalten“, entwarf ich in dieser Lage mehrere humoristische Skizzen und stellte mich mit diesen den Herren Braun und Schneider, den Verlegern der „Fliegenden Blätter“, vor. Meine Arbeiten wurden angenommen, was wohl weniger ihrer Brauchbarkeit, als der zartfühlenden Rücksichtnahme jener braven Männer zuzuschreiben war, und die Folge dieses ersten Schrittes war, daß ich im Laufe der Jahre mit allen hervorragenden illustrirten Zeitungen Deutschlands in Verbindung trat und ihnen ein dauernder Mitarbeiter wurde.
Während meines zweijährigen Aufenthalts in München führte mich ein günstiges Geschick mit den vorzüglichsten Persönlichkeiten unter den Vertretern der Kunst und Wissenschaft zusammen, was ich allerdings nur meinem glücklichen Temperament zu verdanken hatte: Kaulbach und Schwind zeichneten mich mehrmals aus; Rottmann, Schnorr von Carolsfeld, Genelli, Kreling halte ich das Glück näher kennen zu lernen, ebenso den jetzt berühmten Karl von Piloty. Diese feine, durch und durch noble Künstlernatur ließ schon damals ihre einstige Größe ahnen. Was Piloty zeichnete, war so correct wie einfach und vom edelsten Geiste durchweht, und es gab keinen seiner Studiengenossen, der sich nicht gern vor ihm neigte. Als ein Cavalier von Geburt und Gesinnung erschien mir und Jedem, der ihn kannte, der talentreiche Graf Pocci; eine ernste, in sich abgeschlossen Natur begegnete mir in Franz von Kobell, eine liebenswerthe, wahrhaft bescheidene in Dr. Hermann Schmid, den ich den Lesern der „Gartenlaube“ nicht erst näher zu bezeichnen brauche. Die unglückselige Lola-Affaire sollte ich von A bis Z, theilweise aus nächster Nähe, kennen lernen.
In Kreuz- und Querzügen, nachdem ich München Lebewohl gesagt, durchreiste ich nun Deutschland nach allen Richtungen, einen Theil Oesterreichs, Ungarns, der Donaufürstenthümer, Belgiens, Hollands und Frankreichs, Bleistift und Skizzenbuch als unzertrennliche Begleiter mit mir führend. Und diese sind mir fortan die liebsten Gefährten auf allen meinen Reisen geblieben; sie stören nicht durch unnütze Bedürfnisse, belästigen nicht durch überflüssige Gespräche, bereiten aber dafür den reinsten Genuß dem, der sie zu brauchen versteht. Der Mensch sollte mit Bleistift und Skizzenbuch auf die Welt kommen – er würde sich nie langweilen.
Im Jahre 1852 kam ich auch nach Leipzig zu längerem Aufenthalt. Hier trat ich in nähere Verbindung zur „Gartenlaube“ und „Illustrirten Zeitung“, bis mich der Verleger des „Kladderadatsch“, wenn auch nicht für diesen selbst, sondern für eine Montagszeitung, unter festen Contractverhältnissen nach Berlin berief. Dieser Stadt, mit Recht der Wohnsitz der Intelligenz genannt, muß jeder sich dort länger aufhaltende Gast, sich verpflichtet fühlen – das fühlte auch ich. Der Mensch, um sich nur halbwegs hier zu behaupten, muß all seine Kräfte anspannen, immer schlagfertig fein, sich niemals schlaff und überwältigt zeigen, wenn
[304]er auch zusammenbrechen möchte. Berlin ist ohne Zweifel die hohe Schule für jeden Deutschen; hat er hier bestanden, so ist er gestählt für das übrige Deutschland und gefeit gegen alle Rippen. und Bruststöße, die ihm das Schicksal noch sonst versetzen mag. Aber das Leben in Berlin reibt auf, und so schnürte ich nach fünfjährigem Aufenthalt eines Tages mein Bündel und ging nach Dresden, meiner Geburts- und Heimathsstadt.
Das Kriegsjahr 1866 gab mir Gelegenheit, Studien in den Lazarethen zu machen, namentlich unter den so verschiedenartigen Nationalitäten Oesterreichs fand ich die interessantesten Köpfe und hatte bald eine leidliche Sammlung in der Mappe, die ich auf Anrathen eines Freundes mit einer Anzahl früherer Skizzen zu einem Wohlthätigkeitszwecke öffentlich ausstellte. Dies gab Veranlassung zu meinen späteren wiederholten Ausstellungen von „Aquarellskizzen“ sowohl in Dresden wie in Wien und Stuttgart. Nach Wien lud mich der Vorstand der dortigen Kunstgenossenschaft ein, und seitens der österreichischen Regierung wurde mir die Auszeichnung, auf Staatskosten der demnächstigen Eröffnung des Suezcanals beiwohnen zu sollen. Abhaltungen privater Natur hinderten mich jedoch später, von dieser Ehre Gebrauch zu machen. Da es mir nicht indiscret, sondern nur als ein Act der Dankbarkeit erscheint, so nenne ich hier die Frau Fürstin Pauline Metternich, die sich auf’s Lebhafteste, Eingehendste und Verständnißvollste für meine Skizzen interessirte und in dieser Protection so weit ging, dieselben später nach Paris an den kaiserlichen Hof mit sich zu nehmen. Auch zeichnete ich die Fürstin, und ich befand mich in denselben Räumen des Metternich’schen Palais am Rennwege in denen ich vor zwanzig Jahren dem alten Staatskanzler vorgestellt wurde.
Der deutsch-französische Krieg gab mir Gelegenheit, meine Lazarethstudien von 1866 fortzusetzen, so daß einige sechszig Blätter dieses Genres entstanden. Mein verehrter Freund Karl Hallberger veranlaßte mich nach meiner dritten Ausstellung in Dresden, meine Sammlung in Stuttgart auszustellen, wo ich, wie nicht minder in Dresden und Wien, beim Publicum und bei der Presse das wohlwollendste Interesse fand. Königin Olga von Württemberg, in deren Besitze bereits meine Lazarethskizzen von 1866 nebst vielen anderen Blättern waren, hatte eine ähnliche Serie aus dem deutsch-französischen Kriege gewünscht. Ich kam dem Wunsche selbstverständlich nach, und so entstand jene Sammlung kriegerischer Charakterköpfe und Scenen, die, wie ich höre, sich jetzt im Besitze des Kaisers von Rußland befinden. [305] Diese und andere Skizzen, welche nach Tausenden zählen, die mannigfachsten Seiten des Lebens berühren und in fast aller Herren Länder verstreut sind, sind mit wenigen Ausnahmen Naturstudien und das Ergebniß eines consequenten Fleißes, wie ich mit einiger Genugthuung verzeichnen darf.
Die Hauptaufgabe, die ich mir gestellt, ist jedoch, unsere Zeit in ihren frappantesten Situationen und Figuren zu schildern, eine Aufgabe, die mir wichtig genug erscheint, um die ganze Arbeitskraft, die mir noch beschieden ist, daran zu setzen. Mit meiner vierten Ausstellung, die ich im Mai dieses Jahres in Dresden zu eröffnen gedenke, wage ich mich noch einmal auf’s Eis, wohl wissend, daß, wer wiederholt seine, und seien es auch immer wieder neue, Geistesproducte dem Publicum vorführt, das öffentliche Urtheil herausfordert und sich nicht wenig exponirt.
Ich entbehre als Autodidakt jeder akademischen Schule, und zwar einfach deshalb, weil dies zur Zeit meine Verhältnisse veranlaßten. Ich habe mühsam nachgeholt, was nachzuholen möglich war, und thue dies noch jetzt in meinem fünfundfünfzigsten Jahre.
Ich bin im strenge Sinne des Wortes weder ein besonderer Zeichner noch ein besonderer Maler, sondern vielleicht eher, wie mir Karl von Holtei in ein Buch schrieb, das er mir schenkte: „Ein Poet mit Griffel und mit Feder“. Ich arbeite das Geringste mit einem guten Theil Herzblutes, gestützt auf eine reiche Vergangenheit, auf Erfahrungen, welche ich in der großen Schule des Lebens gesammelt habe. Und da es auch solche Käuze geben muß, so nehme man sie hin, wie sie sind, ohne die Lupe vor’m Auge, ohne das Secirmesser in der Hand. Für Leute von Gemüth sei noch erwähnt, daß ich seit Jahren auf dem Lande in der reizenden Niederlößnitz bei Dresden wohne, und zwar, was mich in den Augen rangirter Leute hochstellen wird, als Haus- und Grundbesitzer. Hier habe ich mir auch ein Atelier gebaut. Und so oft ich durch das große Fenster auf die idyllische Landschaft hinausblicke, denke ich mit Wehmuth meiner geplagten Freunde in den Städten, die im Winter Steinkohlenrauch schlucken und im Sommer Staub fressen, „wie meine Muhme die Schlange“.
Am Himmel ballten sich Gewitterwolken, und auf den Wipfeln der Linde waren sämmtliche Spatzen aus den benachbarten Gärten zu jenem eifrigen überlauten Concert versammelt, welches sie nur zu geben pflegen, wenn ein Regenschauer droht. Ihre hellen Stimmen begleiteten andere, die drinnen im Zimmer hinter den weißen Vorhängen hörbar wurden.
Am Fenster stand ein junges Mädchen und sah unverwandt hinaus, als fessele etwas ganz besonders Interessantes ihre braunen Augen, in denen es äußerst trotzig funkelte. Die Arme waren verschränkt und die Haltung der kleinen, etwa achtzehnjährigen Dame mindestens sehr selbstbewußt.
Jetzt sprach sie auch. „Das ist Thorheit, Georg,“ sagten die frischen Lippen. „Du bist eigensinnig.“
Vom Sopha im Hintergrunde des Zimmers erhob sich ein junger Mann und nahm seinen Platz neben der erzürnten Schönen, aber er hütete sich, ihr in’s Gesicht zu sehen, wahrscheinlich aus schlimmer Erfahrung von den Resultaten solches Unterfangens, vielmehr wählte er für seine Blicke eine der ihrigen entgegegesetzte Richtung des Gartens und studirte nun emsig, wie es schien, die Architectur eines Taubenschlages, der in geringer Entfernung den gefiederten Bewohnern zum Asyl diente.
Die junge Daune ließ ihn ruhig gewähren.
„Du bist eigensinnig, Georg,“ wiederholte sie mit sehr entschiedener Betonung.
„Aber Du, Mathilde – Du bist immer nachgiebig, immer freundlich und sanft, nicht wahr? – Besonders heute ist Deine Stimmung unvergleichlich.“
Die hübschen Schultern zogen sich ein wenig empor, und der Mund nahm ganz matronenhafte Falten an.
„Wie man in’s Holz ruft, Georg, so schallt es zurück.“
Er wandte sich schnell herum und ein Streifblick traf die verschlungenen Arme, höher hinauf wagte er sich offenbar nicht. „Machen wir es kurz, Mathilde! Du willst mir also den Gefallen nicht thun? – Du liebst in der That Dein neues Kleid mehr, als Deinen Verlobten?“
Die Spatzen auf der Linde hüpften vor Schreck hoch empor, als diese Gewissensfrage und diese eilige Bewegung so unerwartet zusammentrafen. Ihr Zwitschern verdoppelte sich.
„Georg,“ versetzte das junge Mädchen, „Du bist – ja, ja,“ unterbrach sie sich dann, „es ist so, wie Du sagst. Ich liebe mein Kleid mehr. Das schwarze Seidencostüm will ich anziehen oder wir bleiben zu Hause; mein neues blaues soll nicht im Regen verdorben werden.“
„Aber ich mag Dich nicht wie eine Matrone gekleidet sehen; ich kann schwarze Anzüge nicht leiden. Mir zu Liebe mußt Du das blaue nehmen.“
„Nimmermehr!“
„Mathilde, wenn ich Dich bitte – –“ sagte er zärtlich, fast weich. „Es ist mir jetzt schon nicht mehr des Kleides wegen, aber daß Du so entsetzlich widerspruchsvoll bist, so – –“
Ein leises Lachen trennte die Rosenlippen. „So unausstehlich!“ ergänzte die junge Dame den Satz. „Warum Du wohl eine so hausbackene, ganz prosaische Braut gewählt hast, die nicht einmal ein Kleid, das nur zwölf Thaler kostet, aus purer Verliebtheit im Regen anziehen will? – Warum doch eigentlich, Georg?“
„Ja,“ seufzte er, „warum? Vielleicht solltest Du derartige Worte nicht sprechen, Mathilde. Aber laß uns zu Ende kommen, – gehen wir, oder gehen wir nicht?“
„Im schwarzen Kleide, recht gern.“
„Adieu!“ antwortete er verstimmt. „Ich komme heute nicht wieder, Mathilde.“
„Adieu, Georg!“
„Und Du willst mich nicht einmal ansehen, mir keinen Kuß geben?“
„Zur Belohnung für alle Deine Galanterien vielleicht? – Es beginnt zu regnen; ich will den Teppich vom Balcon nehmen und die Rosenstöcke in Sicherheit bringen – hörst Du wohl? Auch diese sollen nicht zu Grunde gehen, ebenso wenig wie das blaue Kleid.“
Und mit diesen Worten ergriff die junge Dame den offenstehenden Fensterflügel, um ihn zu schließen. Die Spatzen schwirrten in eiliger Flucht davon.
Als sie sich umwandte, war Georg verschwunden.
Der trotzige Zug des hübschen Gesichtchens verstärkte sich womöglich noch, obgleich ein dunkler Purpur die Wangen überflog. Mathilde mochte geglaubt haben, daß Georg nicht den Muth finden würde, wirklich ohne einen Abschiedskuß fortzugehen.
„Einerlei,“ dachte sie jetzt, „Unrecht hatte er, und – und – nachgeben ist gar nicht meine Art.“
Dann aber, als sie in das Nebenzimmer trat, schien ein plötzliches Erschrecken ihre hübschen Züge zu überfliegen. „O, Tante,“ sagte sie verwirrt, „Du hier?“
Eine alte Dame mit schneeweißem Haare und magerem, blassem Gesichte streckte ihr, im Lehnstuhle sitzend, beide Hände entgegen. Als Mathilde näher trat, sah sie, daß in den Augen der Greisin klare Thränen perlten.
„Großtante,“ rief sie bestürzt, „bist Du krank?“
Die Alte zog das hübsche trotzige Kind an ihre Seite, und streichelte ihm die glühenden Wangen. Eine Pause folgte dieser Bewegung, dann erst antwortete sie:
„Vergieb mir, Kind, daß ich – zum ersten Male im Leben horchte. Ich that es aus Liebe für Dich.“
Das junge Mädchen küßte zärtlich die weiße, durchsichtig magere Hand der Achtzigjährigen.
„Großtante, wie Du nur sprichst!“ flüsterte sie beschämt. „Georg war so eigensinnig heute. Ich konnte doch unmöglich das neue Kleid im Regenwetter anziehen.“
Die Greisin lächelte freundlich. „Wäre das wirklich so schlimm gewesen, mein Herz? – Ein paar Fältchen oder ein [306] Fleck, im schlimmsten Falle eine Droschke, jetzt aber ein Zank – ist denn das nicht weit ärger?“
„Tante, Großtante, auch Du nimmst Partei gegen mich?“ rief bestürzt das erschreckte Kind. „Papa hat es nur mit der größten Mühe, mit Selbstverleugnung und Anstrengungen aller Art, überhaupt möglich machen können, mich zu Dir reisen zu lassen, weil Georg hier wohnt. Ich weiß, welche Opfer es ihm kostet, deshalb –“
Die Alte unterbrach das erregte Mädchen. „Ich sprach nur von der Art und Weise, in der Du gegen Deinen Verlobten auftratest, mein Herz. Das Kleid ist eine Kinderei, eine Thorheit, die er über den ersten zärtlichen Blick vergessen hätte, aber Deine Worte waren ganz geeignet, ihn tiefer zu verstimmen.“
Mathilde sah auf ihre Hände herab, und antwortete im ersten Augenblicke nicht.
„Tante,“ fragte sie nach längerer Pause, „sag’ mir, muß ein Mädchen, das überall nur das Gute und Vernünftige will, außerdem auch noch nachzugeben und einzulenken verstehen, wo ihr geradezu Thorheiten entgegentreten?“
Die Achtzigjährige nickte freundlich.
„Sie muß es, mein Herzenskind. Ein Mädchen muß sich immerfort die Liebe, welche ihr zu eigen gegeben, ängstlich zu erhalten suchen, als könne solches Gut verloren gehen. Das ist das große, schwererlernte Geheimniß des Frauenglückes. Die Liebe will genährt und gepflegt sein, behütet in jeder Minute. Die Jugend glaubt zwar, daß Liebe nicht sterben könne, während Eigensinn und starrer Trotz nirgends im Leben häufiger gefunden werden, als gerade bei Liebenden.“
Mathilde sah, lächelnd durch Thränen, empor.
„Großtante,“ sagte sie leise, „es jubelt Alles in mir vor lauter Glückseligkeit, wenn ich sehe, daß Georg nachgiebt. Es ist so überaus angenehm, ein Herz ganz zu beherrschen. Und glaub’ mir’s, ich liebe ihn nie mehr, als wenn ich trotzige Worte sage. Gott weiß, woher jedesmal ein böser Wind weht, sobald von Ordnung oder Arbeiten oder Sparen die Rede ist! Ich habe oft gedacht, daß für Georg eine ganz leichtlebige Frau weit passender sein würde, als ich es bin.“
„O, Kind – Kind, wie thöricht!“ sagte die Alte. „Du mußt Dich in ihn hineinleben, und was er nicht liebt, ihm verbergen, was er nicht gern hört, verschweigen, das ist der Weg zum äußeren und zum inneren Frieden.“
Das junge Mädchen war ernst geworden durch den Ernst der Alten.
„Großtante,“ fragte sie leise, „woher weißt Du das Alles? Kanntest Du ein Mädchen, das nicht verstand, sich die Liebe des Verlobten zu erhalten, und das – diese Liebe verlor?“
Ueber das bleiche Gesicht der Achtzigjährigen flog ein leichter Rosenschimmer, schnell verschwindend, wie der scheidende Sonnenblick die grauen Mauern einer Ruine secundenlang mit Glanz und Jugendschein umhüllt.
„Ja, mein Liebling, ich kannte ein solches Mädchen, und – ich will Dir seine Geschichte erzählen.“
Mathilde sah unverwandt in das ehrwürdige, von silbernem Haare umrahmte Gesicht der Alten.
„Großtante,“ rief sie, „nein, ich täusche mich nicht, es ist Deine eigene Jugend, von der Du sprechen willst. Du, die Du so gut, so lieb bist, die Hülfe und der Trost aller Bedrängten, Du wärest betrogen worden? – O, ich kann es nicht glauben, nicht denken.“
„Still, mein Liebling!“ lächelte die Greisin, „still! Ich bin nicht betrogen worden – das ist ein hartes, schlimmes Wort – ich verstand es nur nicht, meinen Schatz zu hüten, daher blieben mir die traurigen Folgen später nicht aus. Komm, Du kannst, wie in einen Spiegel, in Dein eigenes Schicksal hineinsehen, wenn ich Dir von dem meinigen erzähle.“
Mathilde schmiegte sich gerührt an die Brust der greisen Freundin, und diese küßte sie zärtlich, bevor sie ihre Geschichte begann. Das junge Mädchen lauschte regungslos der seltsamen Verkündigung des Glühendsten, Gewaltigsten, was das Menschenleben birgt, aus dem Munde der Achtzigjährigen.
„Ich wurde sehr jung verlobt,“ begann die Großtante, „und noch dazu mit einem Manne, der nicht älter war, als ich selbst. Das ist immer ein Unglück, zumal wo nicht Reichthum die Wege ebnet und Alles gleich macht, bei mir aber kam noch hinzu, daß ich nicht hübsch war und auch kein gefälliges liebenswürdiges Wesen besaß. Mir hatte es eben der Himmel in anderer Weise geschenkt: ich verstand zu sparen, hauszuhalten und mit Wenigem auszureichen, das, meinte ich denn, sei genug, und ich gab mir keine Mühe, auch eine angenehme Außenseite zu erwerben.
Mein Bräutigam und ich waren immer bei einander geblieben von den Schuljahren her, wenigstens in einer Stadt. Er mußte sich seinen Weg als Commis in fremder Leute Dienst sehr mühevoll bahnen, während ich die Haushaltung meiner alten Mutter führte und zusammen mit ihr durch Unterricht in einer von uns gegründeten Schule für Kinder das tägliche Brod verdiente. Nur an Sonntagen sahen wir einander, und dann wurden Pläne für die Zukunft entworfen, dann sprachen wir von unseren Hoffnungen, unseren Wünschen, und waren glücklich trotz Armuth und Mangel.
So ging es, bis ich achtundzwanzig Jahre zählte, da endlich schien das Schicksal uns in den Hafen führen zu wollen. Mein Bräutigam hatte, obwohl ich immer so heftig dagegen protestirte, heimlich in der Lotterie gespielt und etwa sechstausend Thaler gewonnen – jetzt konnten wir heirathen.
Schon seit elf Jahren wußten die Nachbarn, daß ich Braut sei. Wie oft schon hatte mir das Wort heimliche Thränen erpreßt; wie oft hatte ich alle Hoffnung aufgegeben, und nun kam das Glück so plötzlich.
Ich sollte ‚Frau‘ genannt werden, ‚Frau Herbold‘ – o dies Entzücken! Mein Verlobter miethete einen Laden in der besten Geschäftsgegend und schaffte Waaren in’s Haus, während ich meine Aussteuer nähte. Er kannte alle Bewohner der Stadt; man versprach ihm überall seine Kundschaft und die Sache schien im besten Zuge, sogar der Hochzeitstag war schon festgestellt. Nur Eines erregte sehr häufig zwischen uns Beiden einen Zwist, und das war meine Sparsamkeit.
‚Nimm diesen Stoff für die Handtücher!‘ sagte er einmal, ‚das Stück ist billig gekauft.‘
Ich protestirte heftig. ‚Das thut für uns nicht nöthig, Hermann; wir können mit Geringerem auskommen. Hast Du billig gekauft, so verdienst Du desto mehr daran.‘
‚Ja, beste Hanne,‘ rief er, ‚aber man soll doch auch dem Dienstmädchen gegenüber ein Bischen auf das Aeußere halten – man wird beklatscht.‘
‚Wir werden nie ein Dienstmädchen haben, Hermann,‘ rief ich entrüstet aus.
‚O doch, Liebe, das geht nicht anders. Wolltest Du etwa früh um sechs Uhr die Treppensteine und den Laden eigenhändig scheuern? Wollten Du Wasser tragen und Holz spalten?‘
Ich sah ihn erstaunt an. ‚Thue ich das nicht etwa jetzt auch persönlich, Hermann?‘
‚Freilich, Hanne, aber das ist eine andere Sache,‘ lächelte er. ‚Als meine Frau mußt Du ein Mädchen halten, sonst werden Rückschlüsse gezogen, die meinen Credit benachtheiligen müßten.‘
Jetzt weinte ich bereits. ‚Hermann, Hermann, Du denkst, daß die sechstausend Thaler ein Vermögen sind, welches niemals erschöpft werden kann. Gieb Acht, wenn Du so fortfährst, so steht der Concurs vor der Thür.‘
‚Gott im Himmel!‘ rief er. ‚Aber Du verstehst es, Jemand von Allem die schlimme Seite zu zeigen! Das ist leider wahr, Hanne.‘
Wenn derartige Kleinigkeiten dann gründlich besprochen und meistens ein Vergleich zu Stande gekommen war, so wurden sie für den Augenblick vergessen, aber Jedes von uns hütete sich, irgend einen Plan, einen Wunsch zu äußern, weil ja leider so selten eine Uebereinstimmung der Ansichten zu erlangen war. Als wir noch ganz arm waren, bauten wir einträchtig an unseren Luftschlössern, jetzt aber, auf der Basis jener sechstausend Thaler, ließ sich kein Zusammenwirken mehr denken.
Um diese Zeit starb der Bruder meiner Mutter und hinterließ eine siebenzehnjährige unversorgte Tochter, die er auf dem Todtenbette unserer Sorgfalt empfahl. Das paßte gerade, weil meine alte Mutter doch für Schule und Haus einer Stütze dringend bedurfte, und so holten wir denn die Cousine eines Sonntags aus der Hauptstadt zu uns, damit sie sich in den Kreis meiner täglichen Verpflichtungen hineinleben könne, bevor ich heirathete.
[307] Das sollte aber nicht so leicht werden, als wir hofften. Malwine kam gleich einem Sonnenstrahl, einer farbenprangenden Blume in unser stilles ehrbares Haus hinein; überall machte sich zwischen ihr und uns eine so weitgehende Verschiedenheit geltend, daß sich das Zusammenleben mit ihr für beide Theile zur Qual gestaltete.
Als ich sie zum ersten Male den Schulkindern vorstellte, da wollte mir fast die Geduld vergehen. Sie hielt es eine Stunde lang ziemlich ruhig aus, den kleinen Geschöpfen auf der Schiefertafel ein A und ein B. vorzumalen; die Kinder selbst schienen auch von der neuen ‚Tante‘ ganz entzückt, aber schon sehr bald hörte ich in der Gegend ihres Platzes ein unbefugtes Flüstern und Kichern, und als ich dann mit schlimmen Ahnungen nach dem Rechten sah, da zeigte mir die Cousine eine ganze Reihe von Zeichnungen, welche ihre gewandten Finger geschaffen. Das hübsche, von braunen Locken umwallte Gesicht blickte in lachender Fröhlichkeit zu mir empor, als ich so voll Entsetzen auf diese Thorheit herabschaute. Springende Mäuschen, ein Storch, dem der Frosch davonhüpfte, und eine Unzahl von anderen Thieren und Gestalten – aber kein A und kein B. Ich wußte im ersten Augenblicke vor Verdruß nicht, was ich sagen sollte.
Visionen von dem Erscheinen erzürnter Mütter und dem Ausbleiben des Quartalgeldes drängten sich schwarz und drohend zwischen mich und die lachende Cousine. Ich hörte kaum, daß sie leise, wie entschuldigend, sagte: ‚Es war so langweilig, Du und die Kinder müssen doch auch zeichnen lernen. Sieh nur, wie gerne sie mich leiden mögen!‘
Ich war ganz fassungslos. ‚Geh fort, Malwine. Das – das muß überlegt werden,‘ versetzte ich.
Sie entfernte sich sogleich, aber am Abend kam die Sache wieder zur Sprache, und zwar in Hermann’s Gegenwart. ‚Tante,‘ rief das hübsche Kind, ‚Du bist auch so erschrecklich ernsthaft und griesgrämig wie eine wahre Großmama. Ich glaube, Du rechnest immer.‘
Mein Bräutigam lachte laut. ‚Das thut sie auch, Winchen,‘ rief er, ‚und Du würdest Dich um mich sehr verdient machen, wenn Du sie ein wenig heiterer stimmen könntest. Also Du Schelmin hast es gewagt, allerlei Allotria auf die ehrwürdige Schiefertafel Deiner Cousine zu malen? Was denn zum Beispiel?‘
Malwine stand auf und ahmte unter den possirlichsten Bewegungen die Sprünge eines Kätzchens nach, das auf der Mäusejagd seine ersten Studien macht. ‚Das war das Beste, Vetter,‘ rief sie, ‚die Kinder hätten so gern laut gelacht, aber –‘
Ein komisch schmollender Blick zu mir hinüber vollendete den Satz,
‚Aber der Drache Griesgram versperrte den Eingang der Höhle,‘ lachte Hermann, ‚und die armen Elfen waren gefangen, konnten nicht hinaus in den grünen Wald und ihre Märchenreigen beginnen. Du mußt schon künftig für mich Deine Neckereien malen, kleiner Kobold; ich werde Dir’s nicht verkümmern, weil Du doch immerhin selbst fast noch ein Kind bist.‘
Das Letztere sagte er sehr ernsthaft, aber mit unverkennbarer Absichtlichkeit, mir gegenüber. Ich stand gerade am Plättbrett und kehrte ihm daher den Rücken; er sah nicht, daß Thränen auf die Wäsche fielen.
Meine Mama mochte ahnen, was in mir vorging. Sie stand auf und küßte mich zärtlich.
‚Du hast Recht, Hermann,‘ antwortete sie. ‚Malwine ist noch ein Kind, und muß daher erzogen werden, wie alle Kinder. Ich wüßte nicht, wer dazu passender wäre, als eben Hanne, die seit ihrem zehnten Lebensjahr verstanden hat, wie eine Erwachsene zu denken und zu arbeiten. Ohne sie wäre die Schule nie das geworden, was sie factisch ist, eine Quelle des ehrenhaften Lebensunterhaltes für meine Tochter und mich – Hanne muß daher in ihrer eignen Angelegenheit durchaus selbst disponiren können.‘
Diesen Worten folgte ein längeres Schweigen. Gerade ich war am meisten verstimmt. Mama hatte mich vertheidigt; das that mir im Herzen weh – ich wußte nicht eigentlich, warum. In die Schule kam Malwine seitdem nicht mehr, aber auch bei anderen Arbeiten, welche man ihr übertrug, machte sie es nicht besser, als dort mit der Schiefertafel. Es mußte ihr eben Alles zum Vergnügen dienen und, was das Aergste war, sie gewann spielend überall die Herzen.
Einmal, als ich aus Hermann’s Laden die nöthigen Gardinenstoffe geholt, um zuzuschneiden und zu nähen, da verschwand Malwine aus dem Wohnzimmer, und als ich, ihrer Thorheiten wegen in steter Unruhe, fortging, um sie zu suchen, da traf ich sie vor dem Spiegel der kleinen Schlafkammer, auf einem Stuhle stehend, völlig als Orientalin costümirt. Sie hatte mit ihrer wunderbaren Geschicklichkeit den rothen französischen Kattun und den weißen Tüll derartig drapirt, daß ihr Schelmengesichtchen, wie aus Wolken heraus, in den Spiegel blickte. Bei meinem Anblick sprang sie erschreckt vom Stuhl und flüchtete zur Thür,
‚O Tante, nimm es nicht übel!‘ schmeichelte sie. ‚Mache kein so böses Gesicht! Sieh doch, steht mir nicht Dein Kattun zum Entzücken?‘
Mama öffnete neugierig die Thür, und so kam es, daß Hermann die ganze Geschichte mit ansah. Er lachte und fragte, ob die reizende Odaliske geneigt sei, mit ihm eine Cigarre zu rauchen. Malwine sprang eiligst zu ihm, und ich glaube wohl, daß sie den Scherz noch weiter ausgedehnt haben würde, wenn nicht Mama höchst ärgerlich dazwischen getreten wäre.
‚Du solltest Dich schämen, Malwine,‘ hörte ich sie sagen, ‚noch ist Dein Vater kaum seit zwei Monaten begraben, und Du hast ihn bereits völlig vergessen. Nimm den rothen Stoff fort! Er ist eine Beleidigung für Deine Trauerkleider.‘
‚In der That, Cousine,‘ fügte ich hinzu, sehr unangenehm berührt von dem Anblick der vielen Falten, welche meine Gardinen aufzeigten, ‚Du bist unglaublich kindisch für Dein Alter. Geh’ und nimm Dein Strickzeug! Heute hast Du noch keine zehn Maschen gemacht.‘
Malwine schälte sich hastig aus der Umhüllung der Orientalin heraus. Sie schluchzte leise, aber ohne zu antworten. Ich fand, daß sie nie hübscher gewesen war, als in dieser Verwirrung ihres ganzen Wesens. Hermann hatte bis jetzt geschwiegen, aber ich bemerkte mit Herzklopfen auf seiner Stirn jene Falten, welche die Augenbrauen herabzogen – das war ein Zeichen von Unmuth; ich kannte es genau.
‚Geh’ fort!‘ wiederholte ich leise.
Da aber räusperte sich mein Bräutigam. ‚Winchen,‘ sagte er, ‚und auch Du, Hanne – wie wäre es, wenn wir einen Spaziergang machten? Der Abend verbringt sich angenehmer im Freien, als hier drinnen in den engen Zimmern.‘
Ich erröthete vor Zorn. ‚Entschuldige, Hermann!‘ rief ich, vielleicht etwas rasch. ‚Ich habe zu thun.‘
‚Noch jetzt, nach dem Abendessen, Hanne?‘
‚Noch jetzt, Hermann!‘ versetzte ich trocken.
‚Ach – das thut mir leid. So komm’ denn, Winchen! Dein Strickzeug wird nicht einrosten bis morgen.‘
Das arme Kind stand verlegen mitten im Zimmer, ohne zu wissen, was es thun sollte. Die Thränen hingen noch an den Wimpern, während der Mund bereits wieder lächelte.
‚Tante – darf ich?‘ fragte sie mich schüchtern.
Wieder mischte sich Mama in scharfem Tone ein.
‚Kind, ich begreife nicht, weshalb Du Deine Cousine so beharrlich „Tante“ titulirst?‘ fragte sie. ‚Ich bin es, die Du so nennen solltest.‘
Malwine wurde purpurroth.
‚O bitte,‘ flüsterte sie verlegen, ‚ich will es nicht wieder thun. Es kam wohl, weil die Cousine so viel älter ist, als ich.‘
Hermann stand abgewandt und sah zum Fenster hinaus. Ich freute mich unsäglich, daß ihm mein Erschrecken in dieser Weise entging. War es doch, als habe die Bemerkung des ahnungslosen Kindes plötzlich einen Feuerbrand in meine Seele geworfen. Ja, ja, ich war viel, viel älter.
‚Setze Deinen Hut auf, Winchen!‘ warf Hermann in die verlegene Pause hinein. ‚Dort kommen Bekannte von mir, denen ich Dich vorstellen will; mach’ fort! Du darfst es.‘
Sie schlüpfte hinaus, wahrscheinlich weil sie der Versuchung, einen Spaziergang in größerer Gesellschaft zu machen, nicht widerstehen konnte. Als sich die Thür hinter ihr geschlossen, trat Hermann zu mir und wollte meine Hand erfassen, die ich ihm jedoch schnell entzog.
‚Hanne,‘ sagte er, ‚findest Du nicht, daß Ihr Beide, Mama und Du, dem armen Kinde gegenüber viel zu strenge seid? Mir däucht, Ihr laßt es Winchen bitter fühlen, daß sie eine unwillkommene Bürde ist.‘
[308] Ich sah ihn nicht an. ‚Mama,‘ sagte ich laut, ‚Hermann spricht mit Dir.‘
‚Nein, Hanne,‘ rief er nachdrücklich, ‚mit Dir selbst, und ich denke, daß mir auf alle Fälle eine Antwort zu Theil werden wird. Am besten wäre es, Du gingest mit uns; ich bitte Dich wirklich darum, mein –‘
Ich unterbrach ihn, spöttisch lachend. ‚Willst Du nicht vielleicht gar, daß ich die Cousine um Verzeihung bitte, Hermann?‘ rief ich, so gereizt wie nie zuvor.
Er sah mich trüben Blickes an. ‚Aus Deinen Worten spricht das Bewußtsein der Härte,‘ hörte ich ihn sagen.
Dann kam Malwine zurück, und unser Gespräch war beendet. Sie trug an diesem Abende einen schwarzen Barège-Anzug und einen Strohhut mit schwarzen Federn, dazu eine lange goldene Kette, das einzige Andenken an ihren verstorbenen Vater. Noch jetzt, nach so vielen Jahren, schwebt mir‘s vor, wie reizend sie aussah.
Es traf sich, daß wir Beide vor dem Spiegel standen, als sie treuherzig die Hand ausstreckte, um mir Adieu zu sagen. Hermanns Blicke ruhten auf uns – ich zog die Rechte zurück, wie von einer Schlange gestochen, und verließ, ohne ein Wort zu sagen, das Zimmer.“
Aus Amsterdam geht uns aus dem nordamerikanischen Consulate nachfolgender Brief zu, welchen wir im Interesse der Sache hier wiedergeben:
„Geehrtester Herr Keil! Als Ihr vieljähriger Abonnent bin ich so frei, mich bittweise an Sie zu wenden. Die ‚Gartenlaube‘ weigert ihre Dienste ja niemals, wenn es gilt, ein gutes Werk zu verrichten. Eine gewisse alte Jungfer Pienemann, die hier in der Nähe vor Kurzem das Zeitliche segnete, hinterließ die Totalsumme von vierundzwanzigtausend Gulden (24,000 fl.) an nachstehende Personen oder deren rechtmäßige Erben:
- Anna Maria Negengehrt oder Negengeerth, geborene Rotnot, Rothnot oder Rotnoth.
- Anna Maria Luisa – Elisa Charlotta – Johann Heinrich – Katharina Margaretha – und Margaretha Regina Lieneman, Linneman oder Lindemann, Kinder der Margaretha Amalia Lieneman, Linneman oder Lindemann, geborenen Rotnot, Rothnot, oder Rotnoth.
- Herman Heinrich und Katharina Maria Hekket, Hekkert oder Heckert, Kinder der Christina Maria Henrietta Hekket, Hekkert oder Heckert, geborenen Moorman oder Mohrmann.
Sämmtliche genannte Personen wanderten vor vielen Jahren von Pente, Kirchspiel Bramsche, Hannover (ob diese Ortsnamen wohl die richtigen sind? Die Erblasserin war durchaus nicht sattelfest, was Namen anbetrifft) nach Amerika aus und siedelten sich im Staate Pennsylvania, in Pittsburg oder dessen Umgegend an. Die Erbschaft verfällt drei Jahre nach dem Tode der Erblasserin an sichere reformirte und katholische Stifte in der Nähe von Haarlem. Im Interesse der Erben liegt es darum, sich sobald wie möglich an mich zu wenden.
Durch die Erblasserin testamentarisch verpflichtet, genannte Erben aufzurufen, weiß ich für diesen Zweck kein Medium, das bessere Dienste leisten könnte, als die ‚Gartenlaube‘, selbst die verbreitetsten deutsch-amerikanischen Zeitungen nicht ausgenommen. Die ‚Gartenlaube‘, wie mir aus eigener Erfahrung bekannt, wird nicht nur in den bevölkerten Städten Amerikas gelesen, sondern findet ihren Weg in die einsamste Blockhütte des Westens, wo nur immer die deutsche Zunge klingt. Darf ich darum auf Berücksichtigung hoffen?
Amsterdam, den 7. April 1875.
Ein Wahnsinn in der Kinderstube. Bei der jetzt herrschenden mangelhaften Kenntniß der anatomischen Zusammensetzung des menschlichen Körpers ist es nicht zu verwundern, wenn über diesen Zweig des Wissens die merkwürdigsten Ansichten auftauchen. So lange es nur bei den Ansichten bleibt, kann man dem Fachmanne die Danaidenarbeit ihrer Ausrottung erlassen. Werden sie dagegen auf das praktische Leben übertragen, und zwar nicht in vereinzelten Fällen, sondern als historisches Gemeingut von Nationen, so sollte doch endlich der hergebrachte Ammenglaube einer richtigen Auffassung der Sache zum Wohle der Menschheit Platz machen, vorzüglich wenn dadurch der Entwickelung des jungen Organismus hindernd in den Weg getreten wird. So schadlos und sogar bestechend der im Folgenden beispielsweise angeführte Brauch scheint, desto gefährlichere Folgen kann seine fortgesetzte Anwendung mit sich führen.
Wie bekannt, ist die Athmung die erste Arbeit des neugeborenen Kindes. Den Sauerstoff, welchen es bisher von der Mutter zugeführt erhalten, muß es sich jetzt vermittelst seiner Lungen selbst erwerben. Diese liegen vor der Geburt zusammengefallen in der Brusthöhle, ohne eine Spur von Luft zu enthalten. Durch den Reiz der Kohlensäure dehnen die Brustmuskeln den Thorax aus; es entsteht zwischen Lunge und Brustkasten ein luftleerer Raum, in welchen durch den Druck der Außenluft mittelst kräftiger Einathmungen die schwammige Lunge hinein ausgedehnt wird. Findet dieses nicht statt, an einzelnen Stellen oder auch an ganzen Lappen, so bleiben diese eingesunken, luftleer und bis in die spätesten Zeiten von den übrigen Theilen erkennbar. Dadurch wird aber immer ein Theil von Lungenfläche für den aufzunehmenden Sauerstoff, also für seinen Zweck unbrauchbar. Es ist nun klar, daß, je mehr der Brustkasten sich ausdehnt, um so kräftigere Einathmungen (vielfach die umgekehrte Ansicht wie beim Frosche) sich anschließen, und dadurch die Lungen sowohl am schnellsten an ihre neue Gleichgewichtslage gewöhnt, wie auch durch die stärkere Ausdehnung zu größerem Umfange gebracht werden und mit mehr Arbeit, also Sauerstoffaufnahme und Kohlensäure-Abgabe antworten können. Als das Natürlichste wäre nun zu erwarten, daß man auf jede Weise diese Arbeit erleichtern und jede Beengung des Brustkastens als ein Hinderniß für die Athmung entfernen würde. Doch was geschieht? Man nimmt ein Stück leinene Rolle, welche den sehr bezeichnenden Namen „Wickelbinde“ führt, und schlingt es in Touren von dem Leibe nach aufwärts mit ziemlicher Festigkeit um die Brust des armen Wurmes. Es gehört wirklich deutsche Zähigkeit dazu, um unter solchen drückenden Verhältnissen überhaupt noch Einathmungen zustande zu bringen.
Wie unangenehm aber für das arme Kind diese Einwickelung ist, davon kann sich jeder Familienvater auf das Leichteste überzeugen. Denn sobald es aus dieser Marterrolle herausgenommen, reckt und dehnt es sich, daß man es jeder Bewegung ansieht, wie froh einmal der ungehinderten Athmung Genüge geleistet wird. Die Athemzüge werden sogleich um ein Bedeutendes tiefer. Noch in anderer Hinsicht ist dieser Brauch ungemein gefährlich. Der kindliche Brustkasten dehnt sich in den ersten Monaten relativ am meisten aus, und jedes Hinderniß dieser Ausdehnung wird sich später sicher rächen. Denn 1) werden die noch weichen Rippen nach vorn und unten gedrückt; es entsteht eine Hinneigung zum schwindsüchtigen Brustkasten; 2) wird die Lunge an eine kleinere Gleichgewichtslage gewöhnt; die Einathmungen geschehen viel zu flach und dem Körper kann nicht die genügende Menge Sauerstoff zugeführt werden, zwei Factoren, welche bei der jetzt so häufigen Schwindsucht und Scrophulose immerhin mit in Rechnung zu bringen sind. Wird aber 3) das Kind zu dieser Zeit von einer Lungenkrankheit befallen, so sind dann diese Lungen um vieles mehr zu chronischen Erkrankungsprocessen disponirt als normal ausgedehnte, zumal auch vor Allen das Kind nicht gelernt hat, durch tiefe Einathmungen angesammeltes Secret zu entfernen. Die Häufigkeit dieser Unsitte ist leider nicht übertrieben. Mit wenigen Ausnahmen vernünftiger Mütter wird man sie beinahe in jeder deutschen Kinderstube antreffen. Der Nutzen dieser Wickelei soll darin bestehen, daß durch sie ein Auswachsen und Verbiegen des Neugeborenen verhindert wird – natürlich eine gänzlich irrthümliche Meinung. Denn einestheils ist diese Vorsicht übertrieben, und anderntheils erhält das vor der Geburt ebenfalls ungewickelte Rückgrat durch das Bettchen genügende Festigkeit, um, falls nicht sinnlose Bewegungen vorgenommen werden, welche die Binde ebenfalls nicht verhindert, nach den Regeln der Körperform zu wachsen. Vor allen Dingen befreie man den jungen deutschen Nachwuchs aus dieser ererbten Zwangsjacke, und ein frischeres Leben wird schon in den ersten Monaten durch die befreite Athmung den jugendlichen Körper durchströmen können.Ein rachsüchtiges Reh. Vor Kurzem bemerkte Herr Oberförster Brake, ein durchweg glaubhafter Ehrenmann, dessen Dienstwohnung bei Sondershausen dicht an der Waldung der Hainleite liegt, in der Nähe des Hauses ein Reh, welches wohl die äußerste Noth des diesjährigen Winters dahin getrieben hatte. Beim Anblick des Hundes, welcher den Oberförster begleitete, sprang das arme Thier auf und suchte zu entfliehen, wurde aber von dem durch alle Rufe und Pfiffe des Herrn nicht zu bändigenden Hunde verfolgt und, da es entkräftet war, eingeholt und gefangen. Der rasch hinzueilende Forstmann befreite das arme Thier von seinem Feinde und ging dann daran, den ungehorsamen Hund nach Gebühr zu strafen. Während dieser Züchtigung blieb nun das Reh nicht nur zur Verwunderung Brake’s in der Entfernung einiger Schritte stehen, sondern kam bald näher und schlug und stieß nun zornig nach seinem Feinde. Zuletzt stand es sogar über dem furchtsam zusammengeschmiegten Hunde und bearbeitete dessen Körper mit seinen Vorderläufen. Ist diese gewiß selten beobachtete Rache ein Act der äußersten Verzweiflung oder glaubte das Thier in dem Oberförster einen Bundesgenossen zu erkennen, dessen Hülfe ihm erlaubte, sein Müthchen einmal an dem Feinde zu kühlen?
Für das National-Denkmal auf dem Niederwalde gingen uns unaufgefordert von verschiedenen Seiten Geldbeiträge zu, als von: Forst-Assistent Poppe in Berka, beim Sedan Feste im Kreise froher Zecher ges. Mark 16.–; E. H. in Villingen 3.–; vom Stammtische zu Niederschlema 25.50; durch Lehrer Fuchs in Kleinbardorf[WS 1] (Baiern) ges. in einer Gesellschaft von katholischen Lehrern und Lehrerfreunden 30.–; durch O. Bonde in Altenburg ges. bei der Sedan Feier in Serbitz 9.80: ges. in der Gesellschaft „Erholung“ in Dippoldiswalde 10.50; ges. beim Pütze Pitter in Düsseldorf 6.–; Einer, der dabei war, 2.99; K. H. Loguard in Emden 13.50; N. N. in Schwalenberg 3.–, mit den Worten:
Die Reichen sollen nicht allein
Des deutschen Denkmals Stifter sein,
Auch Arme wollen Gut und Leben
Dem Vaterland zum Opfer geben:
Der schönste Wald blickt öd’ und matt,
Reiht sich in ihm nicht Blatt an Blatt.
Beim Sedan-Feste in Rothenburg, ges. durch Dr. Beichhold 52.30; von einer Gesellschaft in Offenbach 17.13; im „Deutschen Hause“ in Pritz ges. 30.–; eine Vereinigung deutscher Männer in Wüstewaltersdorf an der hohen Eule 70.–; von F. R. in Guatemala (Central-Amerika), Beiträge der Deutschen und deutschen Schweizer 700.–.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Kleinbarfarf