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ADB:Hillebrand, Karl

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Artikel „Hillebrand, Karl“ von Richard Moritz Meyer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 50 (1905), S. 333–339, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Hillebrand,_Karl&oldid=- (Version vom 5. November 2024, 23:08 Uhr UTC)
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Hillebrand, Wilhelm
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Hillebrand: Karl H., hervorragender Essayist, Kritiker und Historiker, geboren am 17. September 1829 in Gießen, † am 18. October 1884 in Florenz.

H. war der Sohn des Philosophen, Litterarhistorikers und Scholarchen Joseph Hillebrand (s. A. D. B. XII, 415). Von dem Vater erbte er wohl die jederzeit stark betonte Abneigung gegen den Ultramontanismus (vgl. z. B. Reumont, Charakterbilder S. 286), die liberale Weltanschauung, die der Sohn freilich stark in aristokratischem Sinn modificirte, und besonders die Hochschätzung der Philosophie, die ihn alle bloße Empirie verachten ließ. Kunst und philosophische Speculation galten ihm unbedingt als „die höchsten Tätigkeiten des Menschengeistes“ (Essays 5, 366). Im übrigen liegt zwischen der Schrift des Vaters über „Deutschlands Nationalbildung“ (1818) und dem Bildungsideal des Sohnes natürlich die ganze Entwicklung der Zeit, die ja schon Joseph Hillebrand selbst von dem Schillercultus jenes Werkes (S. 104) zu den oft harten Urteilen über unsern Nationaldichter in seiner „Deutschen Nationallitteratur“ (2. Ausg. 2, 413 u. o.) geführt hatte. Wenn aber der Vater ein Gelehrter von specifisch deutschem Gepräge war, so ist der Sohn trotz seinem starken, ja leidenschaftlichen Patriotismus ein Schriftsteller von kosmopolitischem Anstrich; noch 1870 hat er geradezu Deutschland und Frankreich als „seine beiden Vaterländer“ bezeichnet (Villari S. 4). Nichts konnte deshalb ungerechter sein, als der gegen ihn von Rothan (Souvenirs diplomatiques. L’Allemagne et l’Italie Vol. 2, S. 261) 1871 erhobene Vorwurf, er habe nach dem Krieg seinem Adoptivvaterland die Aufnahme mit chauvinistischem Haß vergolten – eine Beschuldigung, die P. Villari sofort in der „Rivista storica“ ausführlich und glänzend widerlegte.

Ueber Hillebrand’s Jugend berichtet ein Freund und Schulkamerad, Herr Geh. Med.-Rath Weber in Darmstadt, daß das Haus des Professors und Gymnasiarchen Joseph H. den Mittelpunkt des geistigen Lebens in Gießen bildete, bis durch Liebig’s Berufung ein Schisma zwischen philosophisch-ästhetisch und naturwissenschaftlich gerichteten Kreisen entstand – ein Gegensatz, der in Karl Hillebrand’s theoretischen Aufsätzen unzweifelhaft nachklingt. Vier Söhne und drei Töchter – eine später die bekannte Schulvorsteherin Marie H. (vgl. über sie Jean Roland, Marie H. Gießen 1895) – wurden früh in die Bildung und die Interessen der Zeit eingeführt; Karl H. hat beides stets als einen selbstverständlichen Besitz angesehen, für dessen Mangel weder Fachgelehrsamkeit noch Talent, weder vornehme Herkunft noch großes Ansehen entschädigen könnten. Der „schöne, blonde Knabe (später nannte ihn Bülow seiner röthlichen Haarfarbe wegen gern ‚volpe‘, Fuchs) mit angenehmen, weichen Gesichtszügen, etwas aufgeworfenen aber scharf geschnittenen Lippen, großen, hellblauen Augen und treuem Blick“ war eine heitere Natur, dem besonders das Erlernen von Sprachen leicht fiel. Als Lieblingslectüre schon des Gymnasiasten wird neben Börne und Heine, Goldsmith, Bulwer, und zum Theil auch Shakespeare, besonders die französische Roman- und Geschichtslitteratur genannt. Fielding hat er immer unter die größten Meister gerechnet. In Mathematik und Physik stand er dagegen hinter den Mitschülern zurück. Körperlich nicht sehr kräftig, in Körperübungen sonst wenig geübt, war er doch ein unermüdlicher Schwimmer.

Ein lebensvolles Bild dieser jugendlichen Zustände gibt Dernburg aus eigner Erinnerung. Er hebt schon in den Knabenjahren einen litterarischen Zug hervor. Cooper’s „Letzter Mohikaner“ wurde nachgelebt oder in dem nahen Wetzlar an Wertherstätten Homer gelesen. So früh wäre das Einfühlen in Dichtungen, das den Kritiker H. auszeichnet, in ihm vorgebildet gewesen! Dann soll Bulwer’s „Pelham“ ihm die Richtung auf den „Gentleman“ gegeben haben, die Freude an der Eleganz der Erscheinung, die er selbst in der [334] revolutionären Zeit der Calabreserhüte und Heckerbärte aufrecht gehalten habe. In der Studentenzeit spürt D. Einflüsse des „Wilhelm Meister“ auf; jedenfalls ist hier alles für die litterarische Doppelexistenz der 48er Jugend charakteristisch. Als Corpsbursche ward er auch mit Otto Roquette befreundet und dichtete natürlich selbst.

Fast unerklärlich trat plötzlich in dies glatt gebahnte Leben ein verhängnißvolles Ereigniß, zuerst durch den Waffenstillstand von Malmö, dann durch die Ablehnung der Kaiserkrone seitens Friedrich Wilhelm IV. (Dernburg IV, VI); erregt lief er als neunzehnjähriger Student mit den Freischaren nach Baden (vgl. Bamberger, Schriften 2, 141 f.), nachdem er schon vorher in Frankfurt auf den Barrikaden gestanden hatte, ward bei der Capitulation von Rastatt (vgl. zu dieser Corvin, Erinnerungen au meinem Leben 2, 240) gefangen genommen und wäre unzweifelhaft wie Kinkel zum Tode verurtheilt oder „zu Zuchthaus begnadigt“ worden. Aber seine Schwester Marie wußte ihn ins Spital zu bringen und von hier ward er durch einen anderen Freischärler ins Freie gebracht und auf einem französischen Kahn nach Straßburg gerettet.

So hatte auch Hillebrand’s Leben seinen „Bruch“ wie das so vieler Altersgenossen, G. Keller’s voran; aber mit wunderbarer Kunst wußte er das Unglück sich zum Segen zu wenden. Der sonst vielleicht ein stiller, kaum bemerkter deutscher Professor geworden wäre, ward einer jener großen, noch keinswegs genügend gewürdigten Völkervermittler, einer jener kühnen Vorbereiter einer neuen europäischen Bildung; und im specifischen Sinn der vertieften Cultur hat er seine revolutionären Schicksalsgenossen wie Bamberger, Kapp, Karl Blind u. s. w. alle überragt.

Er ging nach Paris und ward Heine’s Secretär. Er dachte des Dichters jederzeit mit freundlicher Dankbarkeit (Brief bei H. Hüffer, Aus dem Leben H. Heine’s S. 156 f.) und hat für seine Würdigung der Arbeit aus Form und Stil gewiß hier viel gelernt. Dann bereitete er sich in Bordeaux auf ein französisches Lehramt vor und legte 1862 mit einer Arbeit über den italienischen Historiker Dino Compagni sein Examen ab („Dino Compagni, Etude historique et littéraire sur l’époque de Dante“) – einer culturhistorisch angelegten Schrift, durch die er den lebhaften Kampf um die Echtheit von Dino’s Chronik anregte, der schließlich in Hillebrand’s Sinn mit der Anerkennung des bedeutenden Schriftstellers Dino Compagni endete (vgl. noch Essays 5, 309).

Die Arbeit wurde gleichsam fortgesetzt in den „Etudes historiques et littéraires: Tome I Etudes Italiennes“ 1868 (mehr ist nicht erschienen). Das geistreiche Buch handelt über Epos (Dante, Karolingische Epik) und Drama (Italienische Komödie), wie er denn auch 1863 eine Preisschrift über die Epoche der „bonne comédie“ in Frankreich verfaßt hatte, die gekrönt wurde. Die „Etudes“ zeigen bereits jene Meisterschaft psychologischer Charakteristik (z. B. Macchiavells S. 316 f.) und jene breite Entfaltung des culturhistorischen Hintergrundes (etwa für die Mediceer S. 207), jene Neigung zu völkerpsychologischen Parallelen (das Volksepos S. 96 f.), die für ihn bezeichnend sind. 1863 war er Professor der romanischen Litteratur in Douai geworden, hielt sich aber viel in Paris auf, besonders seit ihn (Bamberger S. 147) das politische Interesse wieder gepackt hatte.

Seine Aufgabe, zwischen den Culturnationen zu vermitteln, übernahm er nun gleichsam officiell. Ein Buch „La Prusse contemporaine“ 1867 sollte das seit Sadowa grollende Frankreich mit dem werdenden Deutschland versöhnen und mit seinen Kräften bekannt machen; er faßte die Aufgabe mehr im descriptiv-culturhistorischen Sinne, die gleichzeitig Bamberger in „Mr. de Bismarck“ vom politischen Standpunkt glänzend löste. Es folgten in der „Revue des [335] deux mondes“ Aufsätze „De la société de Berlin 1798–1815“ (analysirt bei Bamberger S. 151).

Aber mitten in die Veröffentlichung fiel der Ausbruch des Krieges. H. war in Paris eingebürgert, in den besten Salons zu Hause; gleichwohl entschloß er sich natürlich sofort, sein wahres Vaterland wieder aufzusuchen. Unvorsichtiger Weise reichte er einen nach Darmstadt adressirten Brief aus dem Eisenbahncoupé einem Schaffner und wurde darauf als „Spion“ von der Menge fast zerrissen, bis der tüchtige Präfect ihn in Sicherheit brachte. Er kehrte dann doch nicht dauernd nach Deutschland zurück, sondern lebte seit 1871 in Florenz, dessen Klima, das eigentliche wie das culturelle, dem feingebildeten Bewunderer der Renaissance am meisten zusagte. Berufungen an deutsche Universitäten (Bamberger S. 157) und das italienische Istituto di studi superiori (Homberger S. 185) lehnte er ab. Er schuf sich eine ganz neue Stellung: persönlich als Mittelpunkt und anerkanntes Haupt jener glänzenden deutschen Colonie in Florenz, der Adolf Hildebrand, Arnold Böcklin, Hans v. Marées, K. Bayersdorfer, später auch Isolde Kurz angehörten; schriftstellerisch als Essayist großen Stils. Wie er schon früher französisch geschrieben hatte und mit solchem Erfolg, daß die akademisch strenge „Revue des deux mondes“ ihm die Pforten öffnete, so schrieb er auch englisch für die größten Zeitschriften („German thoughts“, nach Vorlesungen, 1879 erschienen), weniger italienisch. Ueberall wird seine Sprachmeisterschaft gerühmt (Bamberger S. 162); freilich war die freie Beherrschung mehrerer Sprachen gerade in jenem Kreis der Rudolf Lindau, Bamberger, Georg v. Bunsen u. s. w. häufiger, als sie es jetzt ist. Er berichtete auch regelmäßig für Zeitungen, z. B. über die Eroberung Roms 1870 für die „Times“ (vgl. Homberger, Essays S. 183) und konnte sich bald auf gesicherter Grundlage ein glückliches Heim gründen, indem er eine seit lange geliebte, in Florenz lebende Engländerin heimführte. Die Ehe blieb kinderlos; der noch in voller Geisteskraft lebenden Wittwe bin ich für gütige Mitteilungen und Berichtigungen verpflichtet.

Jetzt begann erst Hillebrand’s große Zeit. Zwar mußte die Zeitschrift „Italia“ (1874–77) bald eingehen, die „ein Jahrbuch zur Verbindung der Geister zwischen Italien und Deutschland“ sein sollte. Aber 1874 erschienen auch die geistsprühenden „Zwölf Briefe eines ästhetischen Ketzers“, anonym schon deshalb, weil sie gleichsam ein officielles Manifest der ganzen deutsch-florentinischen Künstlergenossenschaft waren (Bayersdorfer, Leben und Schriften S. 435). Sie vertreten zuerst jene Anschauung, die später durch Nietzsche, Fiedler, Langbehn, Helfferich etc. mit so Viel Glück verfochten wurde: daß das Uebermaß wissenschaftlichen Betriebes und volksthümlicher Bestrebungen der Kunst gefährlich werde, und daß eine echte Cultur nur auf aristokratisch-ästhetischer Basis möglich sei. Die „Museomanie“, das bürgerliche Mäcenatenthum, die leere Virtuosität werden schroff abgelehnt. Das Schriftchen hat seinerzeit wie ein Blitz eingeschlagen. Man versteht bei seiner Lectüre leicht, daß H. der erste bedeutende Schriftsteller Deutschlands war, der (Essays 2, 291, 311) auf Nietzsche rühmend hinwies.

Für sich selbst vertrat er die gleichen Anschauungen in seinem Hauptwerk, den sieben Bänden gesammelter Essays, die unter dem Gesammttitel „Zeiten, Völker und Menschen“ (1872–1882) erschienen. (Eingehende Analyse bei Bamberger S. 154; über Hillebrand’s Bedeutung für den deutschen Essay Homberger S. 124, R. M. Meyer, Deutsche Litteratur des 19. Jahrhunderts S. 590 f.; Vergleichung der einzelnen Bände bei Reumont S. 280 f.). Es sind litterarische, psychologische, eulturhistorische Einzelstudien, auf Grund eingehendster Arbeit (vgl. Bamberger S. 150 und besonders Homberger S. 280 f.) mit [336] leichter Hand und sicherer Kunst entworfen. Ich möchte nicht mit Bamberger (S. 169) sagen, daß H. hier „eine vergleichende Wissenschaft von den soeialen Verhältnissen der großen Culturvölker“ schaffe; dazu sind die Essays vor allem viel zu actuell gemeint. Durchaus sind sie aufzufassen als abwehrende oder werbende Manifeste des einer neuen Culturblüthe vor allem Deutschlands mit Leidenschaft vorarbeitenden Mannes.

Aristokrat ist er auch hier, in der strengen Auslese des Besten (vgl. die charakteristischen Briefe an S. Schott, Biographische Blätter 1, 452) wie in der Abneigung gegen alles schwer pathetisch, streng fachmäßig Auftretende, die ihn gern die „Unzünftigen“ bevorzugen läßt, Schopenhauer (2, 353), Varnhagen (2, 389, 5, 344), die Gräfin Hahn (2, 394) und die ihn dem Dilettantismus immer noch mehr Gunst zuwenden läßt als dem Specialistenthum (2, 447 Anmerkung). „Er verkörperte das Recht der unzünftigen Litteratur“, sagt Reumont (S. 270) von ihm selbst. Die „schönste Zeit“ ist ihm die der Restauration, wenn er auch einschränkend hinzufügt: „in vieler Beziehung“ (2, 242 vgl. 4, 88 und 5, 346, 359); einer neuen deutsch-nationalen Cultur von ähnlicher Feinheit strebt er (2, 337) entgegen und sucht besonders auch seine schon im französischen Staatsdienst unternommenen Studien zur Schulreform (Bamberger S. 149) in den Dienst dieses Ideals zu stellen (6, 362 f.). Demokratie (6, 152) und Halbbildung (6, 365) scheinen ihm die schlimmsten Feinde; der historische Sinn (2, 311 f.) ist ihm wie Nietzsche ein gefährlicher Mitarbeiter an der Untergrabung der Individualität (Ketzerbriefe S. 77 u. o.), die ihm die selbstverständliche Basis aller echten Cultur ist.

Diese praktische Absicht leuchtet überall unverkennbar durch, und wenn Ste Beuve (5, 354 f.) ihm das Ideal des Kritikers war, gilt das der Redlichkeit, dem Fleiß, der Kunst des großen Litterarpsychologen mehr als seiner Objectivität. Verliert doch H. zuletzt in dem paradox-geistreichen Aufsatz „Vom alten und neuen Roman“ (7, 168 f.) alle Unparteilichkeit so weit, daß er den Verfasser des „Wilhelm Meister“ gegen die angeblich überall herrschende moralistische Absicht der modernen Romanschriftsteller ausspielt und sich einseitig immer nur auf Fielding bezieht, dem doch der Moralist Goldsmith zur Seite steht. (Anderswo verkannte er dessen herrschendes sociales Interesse keineswegs: 5, 67.) Und hat die Tendenz, die an „Madame Bovary“ so heftig getadelt wird, Cervantes gehindert, ein Meisterwerk zu schaffen?

Aber diese Absichtlichkeit und Parteilichkeit des aristokratischen, lebensfreudigen, formstrengen Schülers Goethe’s und der Franzosen hat ihn allerdings nie gehindert, in seiner eingehender Analyse zahlreiche glänzende Charakterbilder zu entwickeln, die originellen, ihm verwandten Naturen wie Carlyle oder Mérimée, Rahel oder Mme de Rémusat mit Sympathie, die steifen, selbstgerechten wie Guizot oder Gervinus, Metternich oder (nach seiner Vorstellung) Zola mit Antipathie (vgl. Homberger S. 204 f.), alle aber mit aufrichtigem Bedürfniß zu verstehen und verstehen zu lehren. Die unübersehbare Gemäldegalerie, die besonders die Renaissance, das 17. und den Anfang des 19. Jahrhunderts bei den vier großen Culturnationen fast vollständig in Typen und Persönlichkeiten vorführt, versetzt H. in die Reihe jener letzten geschichtlichen Polyhistoren, die noch einmal allen Reichthum des historischen Charaktervorraths zusammenfassen, wie Ranke und Droysen vom universalhistorischen, Burckhardt und Buckle vom culturhistorischen Standpunkt; man denke etwa an die ungeheure Mannigfaltigkeit der Vortragsthemata Burckhardt’s! Doch herrscht bei H. eben immer doch eine gewisse Beschränkung durch jenen Hinblick auf die Culturnoth der Gegenwart: was dazu nichts zu sagen hat, interessirt ihn wenig. Gerade diese lebhaft anregende und oft anreizende Auffassung machte [337] ihn zum Meister des Essays. „In der Kunst des historischen Essays“, urtheilt selbst Giesebrecht (S 225), „werden ihn wenige erreichen“. Seine Anforderungen an den Stil entwickelt besonders der Aufsatz gegen Gervinus (2, 205 f.), an dessen maßloser Heftigkeit freilich wohl auch der Mensch H. Antheil hat: es erzürnte ihn, daß man seines Vaters Werk über der Geschichte der deutschen Nationallitteratur des so gründlich unphilosophischen Gervinus vergaß. Doch war dieser freilich so recht sein Antipode in engherzig politischer Befangenheit, Vergessen der Lebensfülle über magern „Gesetzen“, Formlosigkeit, und Mangel an Ehrfurcht vor wahrer Größe.

Hillebrand’s eigenem Urtheil war Augustin Thierry der größte Geschichtsschreiber (2, 215 u. o.; 5, 278). Er schätzte den Anteil der Kunst an der Geschichtsschreibung sehr hoch ein (2, 218 u. o.) und interessirte sich für die Darstellung mindestens so sehr wie für das Dargestellte. Spät rief ihn eine äußere Aufforderung (vgl. Giesebrecht S. 224) zu einem großen Werk: der „Geschichte Frankreichs von der Thronbesteigung Louis Philipps bis zum Falle Napoleons III.“ für die Heeren-Ukert’sche Sammlung. Nur zwei Bände (1830–48 umfassend) sind 1879 erschienen; fünf waren geplant (Bamberger S. 160) und für den dritten lag das Manuscript fast druckfertig vor (Homberger S. 191); das Vorwort ließ Villari in der Rivista storica abdrucken.

Ueber den dauernden geschichtlichen Werth des Werkes urtheilt einer unserer besten lebenden Kenner französischer Geschichte, Professor R. Sternfeld: „In der Vorrede entschuldigt sich der Verfasser, daß dieser 1. Band so umfangreich ausgefallen, obwol er nur bis 1837 gehe. Er motiviert dies, indem er die 40 Jahre von 1830–1870 mit einem großen Drama vergleicht und im 1. Acte die Erlaubniß beansprucht, wie in einer Exposition ausführlich die dramatis personas einzuführen. Grade deshalb vermißt man eine Einleitung, die in großem Zuge die Juli-Revolution und ihre Ursachen darlegen mußte: auf der ersten Seite ist Louis Philipp bereits König. Was man zweitens hier vermißt, eine Darstellung „der geistigen Bewegung der 30er Jahre“, verspricht der Verfasser für den zweiten Band; und hier hat er in der That im ersten, fast 300 Seiten umfassenden Drittel ein großes Bild der geistigen Entwicklung Frankreichs bis 1848 gegeben. In diesen Capiteln – worin der Verfasser die Gesellschaft, die litterarische, religiöse, sociale, wirtschaftliche, legislative und administrative Bewegung nacheinander umrissen hat – zeigt sich H. in seinem vollen Können; hier kann er seine intime Bekanntschaft mit der französischen Geistesarbeit und seine langjährigen Erfahrungen vom gesellschaftlichen Leben verwerthen. Die andere Hälfte des 2. Bandes ist dann angefüllt durch die politische Geschichte von 1837–48; ziemlich kurz ist endlich die Darstellung der Februar-Revolution und die Schlußbetrachtung ausgefallen.

Was die Quellen zu der Darstellung der politischen Ereignisse anbetrifft, so hat H. seine Aufgabe sehr ernst genommen. Er hat nicht nur alles gedruckte Material benutzt und sorgfältig gesichtet, daß ihm nichts entgehe, sondern auch durch Heranziehung ungedruckter Archivalien, besonders aus den Archiven von Turin, Berlin, Karlsruhe, die Forschung bereichert. Sein litterarischer Geschmack bewahrt ihn in der Anwendung dieser Quellen davor, zu weitschweifig zu werden; so ist z. B. die Darstellung der „spanischen Heirathen“ von 1846 ein Muster dafür, wie man eine Reihe höchst verworrener diplomatischer Intrigen auf Grund eines reichen Materials knapp und richtig auseinandersetzt.

Für die allgemeine historische Auffassung kam es H. sehr zu statten, daß er – sieben Jahre nach dem deutsch-französischen Kriege – die richtige Distanz gewonnen hatte; wie so mancher Achtundvierziger war er ein Verehrer Bismarck’s [338] geworden und konnte so mit nüchternem Urtheil den Werth der Institution betrachten, die jener französischen Periode vor 1848 das Gepräge aufgedrückt hat: des Parlamentarismus und seines Verhältnisses zum Bürgerkönig, der herrschen, aber nicht regieren sollte. „Erkannte er die Schwächen und Unwahrheiten jener constitutionellen Doctrinen, besonders im napoleonisch-centralisirten Frankreich, so bewahrte ihn doch die Anerkennung und Zuneigung zu dem Lande, in dem er so lange gelebt hatte, vor dem entsprechenden Tadel, den so viele andere deutsche Kritiker jener Epoche zu theil werden ließen …“

Als lernender Laie möchte ich diesem sachkundigen Urtheil hinzufügen, daß H. mit seiner Darstellung mir nicht erreicht zu haben scheint, was er (2, 215) mit besonderem Nachdruck von dem Geschichtswerk fordert: daß sich dem Leser die großen Linien der Ereignisse für immer ins Gedächtniß prägen. Er bleibt auch als Historiker zu sehr Essayist und schafft freilich glänzende Portraits wie von Lafayette und Lamartine; aber die im liberal-conservativen Sinn geschriebene (oder, wie H. selbst es nennt, vom Standpunkt des „höheren Conservativismus,“ Essays 5, 66 vgl. 342 aufgefaßte), Casimir Périer und noch mehr fast Martignac als unvergleichliche Staatsmänner feiernde Schilderung überrascht uns durch eine plötzliche Wendung, die eigentlich alles seit der Charte Geschehene als überflüssig oder schädlich ansieht. Auch schädigten den Verfasser zuweilen seine ästhetischen Idiosynkrasien. Geht es an, bei der Herzogin von Berry von der verzeihlichsten der Sünden zu sprechen, wenn eine Fürstin ihr Kind und die Ehre ihres Geschlechts einer Schäferstunde opfert? Und wenn man hier etwas mehr von der moralischen Entrüstungskraft Schlosser’s gewünscht hätte, sieht man mit doppeltem Erstaunen der Presse und den Agitatoren gegenüber ein Maaß von Entrüstung aufgewandt, das der eleganteren Corruption der höheren Stände vielleicht mit größerem Recht zugemessen würde.

Hillebrand’s großer Anspruch auf Unsterblichkeit werden die Essays bleiben, so schwer er auch selbst daran trug, daß seine „Geschichte Frankreichs“ Fragment blieb. 1881 brach der bis dahin kerngesunde Mann, überarbeitet, zusammen; erbliche Anlage scheint (Bamberger S. 168) mitgewirkt zu haben. „Er trug sein Leiden heiter und philosophisch, murrte nur gegen die Abhaltung von der Arbeit, die er aber nicht aufgab, bis ihn im letzten Sommer die Kräfte verließen.“ Todkrank kam er aus Baden Baden in seiner Häuslichkeit an und starb sanft am 18. October 1884. Die Feuerbestattung fand in Rom am 27. October statt; der berühmte Historiker Pasquale Villari, der H. auch männlich gegen Angriffe Rothan’s und anderer (vgl. Homberger S. 183 Anmerkung) vertheidigte, brachte die Aschenurne nach Florenz (Notiz des „Berliner Tageblatts“ vom 26. October 1884). Die neue Heimathstadt stiftete an sein Haus eine schöne Inschrifttafel (bei Homberger S. 220 Anmerkung), in der sie ihn „bene merito del popolo italiano“ nannte. Aber der geistreiche Vermittler zwischen vier Culturnationen und zwei durch eine tiefe Kluft (Ketzerbriefe 2, 47) geschiedenen Generationen hat sich wohlverdient gemacht vor allem um das eigene Volk, dem er neben Herman Grimm die Kunst des Essays neu geschenkt hat und für dessen Zukunft jede Zeile seiner Schriften seit dem großen Kriege wirken wollte.

Außer der bereits im Text citirten Litteratur, besonders den Aufsätzen von Bamberger (Schriften 2, 137) und Homberger (Essays S. 180), vgl. A. v. Reumont, Charakterbilder aus d. neueren Geschichte Italiens, S. 267. – F. Dernburg, Nationalzeitung, März 1885: „Erinnerungen an K. Hillebrand“ I–IV. – W. v. Giesebrecht, Berichte der Kgl. Bayr. Akad. d. Wissensch., 28. März 1885, S. 220 f. – Mario Pratesi, Illustrazione Italiana, 16. März 1884, S. 310 f. – Persönliche Mittheilungen von H. Geh. Med.-Rath Weber [339] in Darmstadt und Frau Jessie Hillebrand. – Den Abdruck von Briefen verbot H. ausdrücklich; nur die Briefe an Schott (s. o.) und auf eine vom Großherzog von Weimar gewünschte Anstellung bezügliche Aeußerungen sowie zwei Briefe an H. v. Bülow (Br. 4, 357, 532) machten eine Ausnahme.