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ADB:Friedrich Wilhelm (Kurfürst von Hessen)

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Artikel „Friedrich Wilhelm I.“ von Karl Wippermann in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 7 (1878), S. 528–535, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Friedrich_Wilhelm_(Kurf%C3%BCrst_von_Hessen)&oldid=- (Version vom 24. Dezember 2024, 17:37 Uhr UTC)
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Band 7 (1878), S. 528–535 (Quelle).
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Friedrich Wilhelm I., dritter und letzter Kurfürst von Hessen, aus dem Hause Brabant, zweiter der drei Söhne, viertes Kind des Kurfürsten Wilhelm II. und der Prinzessin Friederike Christiane Auguste, Tochter König Friedrich Wilhelms II. von Preußen; geb. am 20. August 1802 zu Hanau (Philippsruhe bei Hanau), † am 6. Januar 1875 zu Prag. (Die Brüder waren im zartesten Alter, 1800 und 1806, gestorben.) In früher Jugend mußte er in Folge der französischen Fremdherrschaft mit seinen Eltern eine Reihe von Jahren im Auslande zubringen. 1813, nach dem Ende des Königreichs Westfalen, kehrte die hessische Fürstenfamilie in die Heimath zurück. F. W. wurde mit seiner Mutter beim Betreten des hessischen Bodens in Netra mit großem Jubel der Bevölkerung empfangen. Landleute überreichten dort dem eilfjährigen Prinzen eine Fahne, welche sie während der Fremdherrschaft versteckt hattten. Friedrich Wilhelms Mutter schenkte ein diese Scene darstellendes Bild der Stadt Kassel, wo es seitdem im Rathhaussaale hängt. Von 1815 bis 1820 studirte F. W. unter der Leitung von Suabedissen, Inspector der Bürgerschule zu Kassel, in Marburg und Leipzig. Als am 21. September 1821 sein Vater zur Regierung gelangt war, durchreiste er mit demselben den größten Theil Kurhessens, wobei sie überall mit Jubel und großen Hoffnungen aufgenommen wurden; allein die Beziehungen [529] zwischen Vater und Sohn wurden schon bald erheblich dadurch gestört, daß ersterer die Emilie Ortlöpp, Tochter eines Gewerbtreibenden in Berlin, welche ihm 1820 von dort nach Kassel gefolgt war, unter Ernennung zur Gräfin von Reichenbach, in officieller Weise an den Hof zog und F. W. durch Reisen ins Ausland vom Hofe fern zu halten suchte. Die Mißstimmung des Sohnes stieg in Folge eines anscheinend gegen ihn gerichteten Vergiftungsversuchs, dessen Urheberschaft man vielfach in den Kreisen der Gräfin Reichenbach vermuthen zu müssen glaubte: am 31. Januar 1822 besuchte der Prinz, ohne daß außer seinem Adjutanten jemand etwas davon wissen sollte, einen Maskenball, welcher unter der Leitung des Oberpolizeidirectors Manger stand; nachdem er dort mit seinem Diener Bechstädt die Maske gewechselt, wurde dieser durch ein von unbekannt gebliebener Seite gereichtes Getränk vergiftet. Die Untersuchung blieb erfolglos, seitdem aber schien ein tiefes Mißtrauen F. W. eigen geworden zu sein. Auf wiederholten Wunsch des Vaters ging er auf Reisen, besuchte die Schweiz und begab sich dann mit Mutter und Schwester nach Berlin. Nach Kassel zurückgekehrt, verkehrte er mit einer Anzahl Offiziere (worunter der spätere preußische General v. Radowitz), welche dann plötzlich in Aufsehen erregender Weise in andere Garnisonen versetzt wurden, während dem Kurprinzen F. W. gleichzeitig, am 13. Juni 1823, Marburg als Aufenthaltsort angewiesen wurde. Wenige Tage später erhielt sein Vater in Bad Nenndorf von anonymer, aber mit den Verhältnissen des Hofes genau vertrauter Seite einen Brief, in welchem er und die Gräfin Reichenbach mit dem Tode bedroht wurden, wenn deren Einfluß auf die Regierung nicht gehemmt und nicht eine Verfassung verliehen werde. Nachdem in fortgesetzten Drohbriefen auch die Versetzung Manger’s verlangt war, regte Minister Rivalier, neben Anordnung außerordentlicher Vorsichtsmaßregeln, auch Nachforschungen gegen die plötzlich aus Friedrich Wilhelm’s Umgebung entfernten Offiziere an. Manger kam der Weisung nicht nach, gerieth selbst in Verdacht und entschuldigte sich mit der Vermuthung, daß die Drohbriefe von fürstlicher Seite herrührten. Als der Einfluß der Gräfin Reichenbach-Lessonitz übermächtig wurde, verließ F. W., gegen den Wunsch des Vaters, mit Mutter und Schwester Caroline das Land, machte, ohne vom Vater Mittel zu erhalten, Reisen in Preußen und verweilte insbesondere längere Zeit in Bonn, wo er seine spätere Gemahlin Gertrude geb. Falkenstein, Gattin des Lieutenants Lehmann, kennen lernte. Auf die Nachricht, daß sein Vater auf der behufs Erlangung der Fürstenwürde für die Gräfin Reichenbach nach Wien unternommenen Reise in Karlsbad schwer erkrankt sei, begab er sich im Juli 1830 dorthin und versöhnte sich mit ihm. Dieser selbst zeigte, in Friedrich Wilhelms Gegenwart, das Ereigniß einer Deputation des Stadtraths von Kassel an. Unter dem Eindrucke der Pariser Julirevolution hielten Beide am 12. September 1830, unter Fernhaltung der Gräfin Reichenbach, ihren Einzug in Kassel und wurde die Berufung des seit 1830[WS 1] nicht versammelt gewesenen Landtags behufs Vereinbarung einer zeitgemäßen Verfassung zugesagt. F. W. trat zum ersten Male in Staatsangelegenheiten auf, indem er am 28. September in dem durch die Erhebung einer drückenden Mauthabgabe und arge Polizeiwillkür sehr beunruhigten Hanau, neben der Erklärung, daß er Bürger und Bürgerfreund sei, seine Verwendung für Abstellung der Mißstände verhieß. Beim Zusammentritte des Landtags begab sich F. W. nach Fulda, dem Wohnsitze seiner Mutter; nachdem aber die Verfassung zur größten Freude der Bevölkerung zu Stande gekommen war, traf F. W. wieder in Kassel ein und saß seinem Vater zur Seite, als dieser am 8. Januar 1831 mit großer Feierlichkeit die Verfassungsurkunde den Ständen übergab und Hessen Glück dazu wünschte. Hierauf kehrte er nach Fulda zurück, [530] wo er am 20. August 1831 seine vom evangelischen Pfarrer zu Ronshausen vollzogene morganatische Ehe mit der unter dem Namen einer Freifrau v. Schaumburg in Fulda lebenden geschiedenen Gemahlin des Lieutenants Lehmann zu Bonn kundgab. Nachdem die Gräfin Reichenbach, welche, trotz der Rückkehr der Kurfürstin Auguste nach Kassel, sich im Stillen wieder zu Wilhelm II. nach Wilhelmshöhe begeben hatte, in Folge drohender Haltung der Bevölkerung von Kassel nach Hanau geflüchtet, letzterer ihr gefolgt und zur Rückkehr nach Kassel nicht zu bewegen war, wurde F. W. durch Gesetz vom 30. September 1831 zum Mitregenten angenommen, als welcher er jedoch thatsächlich die alleinige Regierung führte. Seine erste Regierungshandlung war die Erhebung seiner Gemahlin zur Gräfin von Schaumburg; am 7. October 1831 hielt er seinen Einzug in Kassel, ließ am 8. October den Ständen seinen Revers über Angelobung der Verfassung übergeben und bat in einer Ansprache, unter Hinweis auf diese Angelobung, um das Vertrauen des Landes. Schon bald jedoch erregte sein Verhalten Bedenken. Als die Bevölkerung von Kassel für seine Mutter, welche der Gräfin Schaumburg abgeneigt war, Partei nahm, ließ F. W. erstere ungebührlich behandeln und am 7. December 1831 kam es sogar zum Einhauen des Militärs gegen das zur Begrüßung seiner Mutter vor dem Theater in Kassel versammelte Volk, unter Nichtbeachtung der gesetzlichen Vorschriften, wonach zunächst die Bürgerwehr zum Einschreiten berufen gewesen wäre. Der dieserhalb wegen Mißbrauchs der Amtsgewalt verurtheilte Polizeidirector Giesler wurde begnadigt und mit dem hessischen Löwenorden ausgezeichnet. F. W. nahm zwar noch 1832, bei der ersten Jahresfeier der Verfassungsvereinbarung, am Festmahle des gesammten Offizierscorps der Garnison von Kassel Theil und brachte hier seinem Vater als „dem Begründer der Verfassung“ ein Hoch, wie er auch selbst als „starker Erhalter und Schützer der Verfassung“ gefeiert wurde; allein schon in demselben Jahre begannen die Verfassungsstreitigkeiten, welche seine ganze fast 35jährige Regierung durchzogen. Der Grund dieser Kämpfe lag vorwiegend in Friedrich Wilhelms Charakter in Verbindung mit Rücksichten, welche sich für seine unebenbürtige Familie in den Vordergrund drängten. Die plötzliche Berufung des in großer Verstimmung lange Zurückgesetzten zur Regierung veranlaßte, daß er in diesem Vollgefühle von Macht von Anfang an die ihm durch die Zeitverhältnisse auferlegten Schranken lästig empfand, und bald genug mit List zu umgehen oder illusorisch zu machen liebte. Zum Theil wol in Folge seine Jugenderlebnisse, zum Theil durch die lange Abgeschiedenheit des kurfürstlichen Hofes von anderen fürstlichen Höfen, größtentheils aber vermöge einer einseitigen, der Zeitrichtung und den Landesinteressen nicht Rechnung tragenden Auffassung seiner fürstlichen Souveränetät, verkehrte sich die hessische Zähigkeit in Friedrich Wilhelms Charakter immer mehr zu einem ins Kleinliche und Sonderbare gehenden starren Eigensinne, der, zuweilen sogar als besonderer Muth erscheinend, stets mit Mißtrauen und einer schadenfrohen Rach-, Ueberlistungs- und einer weitgehenden Verfolgungssucht vereinigt, der Entwicklung des kurhessischen Staatswesens die größten, zum Theil die seltsamsten Hindernisse bereitete und schließlich sowol zu einer bedenklichen Herabsetzung sogar seines persönlichen Ansehens, als auch zur Abwendung von der überlieferten Politik seines Hauses und damit im Wesentlichen zum Untergange des Staates führte. F. W. bewährte nicht viel Glauben an edle Beweggründe, unterließ Einwirkungen auf dieselben, zeigte keine herzliche Empfänglichkeit für Zeichen der Anhänglichkeit, bewegte sich in Unentschlossenheit, bewachte ängstlich seine Selbständigkeit und hatte kaum Sinn für eine über legalen Formen stehende moralische Pflicht. Eine gewisse Schlauheit hat ihn oft in schwierigen Lagen einen einfachen und praktischen Weg finden lassen, bis das überstarre Festhalten an ungeschmälerter [531] Souveränetät ihn das Nächstliegende übersehen ließ. Stets verschmähte er alle Mittel, sich beliebt zu machen. Bei der Wahl seiner Rathgeber sah er, wo irgend er freie Hand zu haben glaubte, vorwiegend auf Personen, welche nicht wagen würden, gegen ihn ihre Meinung durchzuführen und denen er vieles bieten zu können glaubte. Freilich gehörte schon zu den ersten Ministern, welche er allmählich an die Stelle der vom aufrichtigsten Streben nach Schaffung eines harmonischen Staatslebens erfüllten Rathgeber seines Vaters (Wiederhold, Eggena) berief, seit Mai 1832 auch Hassenpflug mit seinem eisernen Charakter; derselbe empfahl sich ihm aber nicht blos als Sohn eines Mannes, der lange Jahre das Zustandekommen einer festen Verfassung gehindert, sondern auch als Meister gerade in der Kunst, durch Auslegung der Verfassung dem Souveränetätsgefühle seines Herren zu dienen. Die Regierungsjahre von 1832 bis 1837 waren den Bestrebungen gewidmet, durch eine Fülle gesuchter Mittel an den Vereinbarungen von 1831 zu rütteln und die Bürgschaften der Verfassung hinfällig erscheinen zu lassen. Dabei kam es wiederholt zu den ernstesten Auftritten zwischen Regierung und Ständen. Die althessische Ritterschaft stellte sich auf Friedrich Wilhelms Seite, nahm seine Söhne in ihre Körperschaft auf und wurde im Hof-, Staats- und Militärdienste bevorzugt. Zwar mußte Hassenpflug im Juli 1837 zurücktreten, weil seine Herrschsucht F. W. unbequem wurde, aber sein System ward von 1837 bis 1847, besonders vom Minister Scheffer, sogar bis zur thatsächlichen Erdrückung der verfassungsmäßigen Ordnung fortgesetzt. Sehr lästig erschien F. W. die 1831 vollzogene Scheidung des kurfürstlichen Privat- und des Staatsvermögens. Schwere Kämpfe zwischen Regierung und Landesvertretung entstanden, als F. W. 1834, nach dem Tode des letzten Landgrafen von Hessen-Rotenburg, die 1627 zum Besten dieser Linie des Fürstenhauses abgesonderten Domänen für sich beanspruchte. 1847 ließ F. W. eine Commission niedersetzen, um eine Verfassungsrevision in seinem Sinne vorzubereiten, und als er am 20. November 1847 durch den Tod seines Vaters Kurfürst geworden, hoffte er, ohne Rücksicht darauf, daß dieser testamentarisch den Nachfolgern die Verfassung des Landes empfohlen hatte, der beim Antritte der Mitregentschaft im Verfassungsreverse ertheilten Zusage ledig zu werden; der Plan scheiterte jedoch an der Haltung des durch den Diensteid auf die Verfassung verpflichteten Offiziercorps, welches Bedenken trug, einen letztere nicht erwähnenden Diensteid zu leisten; es leistete ihn erst, nachdem F. W. dem durch den Commandeur der Garde, v. Urff, vertretenen hessischen Offiziercorps erklärt hatte, es solle durch den neuen Eid der frühere Diensteid nicht entkräftet werden. Nachdem durch Minister Scheffer obiges Regierungssystem auf die Spitze getrieben war und dieser im Februar 1848 in Folge verschiedenartiger Einwirkungen der Regierung endlich eine der Führer beraubte gefügige Kammer erlangt hatte, trat in Folge der französischen Revolution ein schroffer Umschlag ein; allein F. W. gab nur sehr allmählich den Volkswünschen nach. Was er am 5. März einer Deputation, welche die letzteren vortrug, erklärte, rief allgemeinen Unwillen hervor; seine Zusagen vom 6. März genügten nicht; eine Deputation aus Hanau sprach ihm geradezu Mißtrauen in letztere aus, ihre weiteren Forderungen gab er jedoch nur nach neuem hartnäckigem Sträuben am 11. März zu. Auf allgemeinen Volkswunsch ernannte er die bisherigen Führer der Opposition, Eberhard und Wippermann, zu Ministern, suchte und fand in ihnen den rechten Schutz seiner Person und seiner Rechte, betrachtete sie aber doch nur als aufgedrungen, wenngleich er sich kurze Zeit durch dieselben befriedigt fühlte. Als am 9. April seine Leibwache aufs Volk einhieb, fiel allgemein der Verdacht der Urheberschaft auf ihn, doch ist erwiesen, daß er der Sache [532] fremd war. Er genehmigte eine Reihe von Gesetzen, durch welche die Verfassung zum ersten Male zur Wahrheit wurde, und sein Erscheinen bei dem Volksfeste in der Karlsaue bei Kassel am 6. August erregte größten Jubel, sodaß man endlich die Eintracht zwischen Fürst und Volk hergestellt glaubte. Kaum aber zeigten sich im November 1848 die ersten Vorboten einer allgemeinen Reaction, so erhob F. W. große Schwierigkeiten in Erledigung der Geschäfte. An die neue Ordnung der Dinge konnte er sich nicht gewöhnen und im Festhalten an den Verwaltungsgrundsätzen des Ministeriums fand er Beengung seiner Macht. Dieses bat daher wiederholt um Entlassung, jedoch die warme Anhänglichkeit des Volks an dasselbe nöthigte F. W., es vorläufig noch zu behalten. Um so entschlossener war er aber, sich desselben bei erster Gelegenheit zu entledigen, und traf am 2. Juli 1849 mit dem Könige von Hannover die geheime vertragsmäßige Verabredung, kraft welcher dieser für den Fall, daß die Entlassung des Ministeriums zu Unruhen führen sollte, militärische Hülfe zusagte; bei der folgenden Ministerkrisis fand sich jedoch am 11. August 1849 niemand, der die Märzminister zu ersetzen gewagt hätte. In der Frage der deutschen Reform schloß sich F. W. am 6. August 1849 dem Dreikönigsbündnisse an; aus Besorgniß jedoch, zum Vasallen Preußens herabgesetzt zu werden, ernannte er, zum Zweck eines Wechsels in der deutschen Politik, am 22. Februar 1850 Hassenpflug wieder zum leitenden Minister, nachdem Tags zuvor Hannover und Sachsen von jenem Bündnisse zurückgetreten waren. Hassenpflug bestimmte zwar F. W. zur vorläufigen Wahrung des Scheines, dem Congresse der Unionsfürsten in Berlin beizuwohnen, ging aber auf Sprengung der Union aus und rief durch sein Verhalten in finanziellen Angelegenheiten einen tiefgehenden Streit zwischen Regierung und Ständen hervor, deren correctes Verhalten im September 1850 Friedrich Wilhelms Ausnahmeverordnungen veranlaßte. Als jedoch deren Durchführung, insbesondere die des Kriegszustandes, an der verfassungsmäßigen Haltung der Bevölkerung und der Gerichte scheiterte, wurde F. W. schwankend und zeigte sich unzufrieden über die von Hassenpflug ihm bereiteten Täuschungen. Dieser schien sich nicht mehr halten zu können, das zugesagte Einrücken hannöver’scher Truppen ließ sich nicht rasch genug ins Werk setzen und so wurde F. W. durch Hassenpflug’s Vorspiegelung eines ausgebrochenen Militäraufstandes bewogen, sich heimlich und auf großen Umwegen, 13. bis 17. September 1850, von Kassel nach Hanau zu begeben, nicht ohne über diesen Schritt unterwegs bedenklich zu werden. In Hannover hatte ihm König Ernst August vorgehalten, daß er sich von Hassenpflug habe anführen lassen; die ihn begleitenden Minister v. Baumbach und v. Haynau (Enkel Kurfürst Wilhelms I. und der Frau v. Lindenheim geb. Ritter aus Haynau in Schlesien), gaben die Sache des Kurfürsten „rein verloren“, man wollte sich sogar nach Berlin wenden, aber Vilmar bewirkte die Fortsetzung der Reise. Nachdem F. W. den Regierungssitz nach Wilhelmsbad bei Hanau verlegt und weitere Versuche zur Durchführung der Septemberverordnungen an der Haltung des Offiziercorps unter Berufung auf den Verfassungseid gescheitert waren, rief Hassenpflug am 15. October 1850 die Hülfe des von Oesterreich wieder berufenen Bundestags an. Am 1. November in Kurhessen eingerückte Bundestruppen erzwangen die Befolgung der Verordnungen, während die ebenfalls eingerückten preußischen Truppen in Folge der Punctation von Olmütz sich zurückzogen. Am 27. December 1850 nach Kassel zurückgekehrt, erstattete F. W. Dank für die Gründung eines Treubundes; sein Verfassungsrevers wurde von Hassenpflug gewaltsam dem ständischen Archive entnommen. Thatsächlich regierten dann längere Zeit, unter Ueberschreitung ihrer Vollmachten, Commissare des Bundestags. Dieser erklärte am 27. März 1852 die Verfassung von 1831 für unvereinbar mit den Bundesgesetzen, worauf [533] F. W. am 13. April 1852 eine provisorische Verfassung verkündete, in seiner Thronrede vom 16. Juli 1852 die auf Grund derselben berufenen Kammern als die „wahren Stände“ bezeichnete, jedoch deren vorbehaltene Genehmigung der neuen Verfassung niemals vollständig erlangen konnte. 1855 entließ er Hassenpflug aus Unwillen über den Versuch von dessen Freund Vilmar, eine das landesherrliche Ansehen beschränkende Hierarchie in der protestantischen Kirche zu gründen. Nachdem F. W. auf Grund des Bundesbeschlusses vom 24. März 1860 die provisorische Verfassung am 30. Mai 1860 als endgültige verkündet hatte, erhob sich unter dem Einflusse der in Deutschland wieder aufgenommenen Bestrebungen für eine deutsche Reform, sowie des Regierungswechsels in Preußen eine Bewegung für Herstellung der Verfassung von 1831. Als die zweite Kammer sich wiederholt für incompetent erklärt hatte, unternahm F. W., von den Mitgliedern des Treubundes mit dem Namen „der Standhafte“ belegt, vom 11. bis 14. October 1861 zur Beeinflussung der Neuwahlen eine Reise in die Gegend von Eschwege und Sontra, jedoch ohne Erfolg. Er versuchte dann durch Verordnung vom 26. April 1862 einen Gewissenszwang bei den Neuwahlen aufzulegen, allein Preußen erhob Einsprache, worauf er den im besonderen Auftrage des Königs von Preußen gesandten General v. Willisen in einer für ersteren beleidigenden Weise empfing. Durch Bundesbeschluß vom 24. Mai 1862 genöthigt, stellte F. W. die Verfassung von 1831 wieder her, zeigte sich aber in Ausführung seines bezüglichen Patents vom 21. Juni 1862 höchst unwillfährig und wurde erst durch eine entschiedene preußische Note vom 24. November 1862 von der stärksten Umgehung des Bundesbeschlusses abgehalten. Den Liberalen die Freude an dieser Wendung zu verderben, hatte er entschiedene Feinde der hergestellten Verfassung zu Ministern ernannt. Als F. W. bei der Erinnerungsfeier vom 18. October 1863 in der Mitte des Volkes erschien, war in diesem kein Zeichen freudiger Erregung mehr zu bemerken. Die von den sich folgenden Ministerien v. Stirnberg, v. Dehn-Rotfelser, Rohde und Abee mit den Ständen unternommenen Versuche zur Neuordnung der wichtigsten Landesangelegenheiten fanden an F. W. fortdauernd solche Hindernisse, daß der permanente Ständeausschuß am 30. September 1864 den fast völligen Stillstand des Staatslebens constatirte und die Stände den 31. October 1864 die schwersten Beschuldigungen gegen die Regierung erhoben, in Friedrich Wilhelms Antwort vom 30. November aber schroff und mit Gegenvorwürfen zurückgewiesen wurden. Es war bekannt, daß die vom April bis Juni 1865 ständischerseits aufs neue gegen die Regierung erhobenen Beschwerden thatsächlich gegen F. W. gingen. Dessen fast völlige Einstellung der Staatsgeschäfte dauerte fort, sodaß der permanente Ständeausschuß am 24. Januar 1866 berichtete, es sei noch kein Zeichen vom Ende des Stillstandes zu erblicken und die Stände am 14. März 1866 offen erklärten, das wegen Herstellung der Verfassung von 1831 gegebene Fürstenwort sei gebrochen und es herrsche eine Mißregierung. – Bei der Wendung, welche in demselben Jahre die Frage der deutschen Reform nahm, betheiligte sich F. W. an dem gegen Preußen gerichteten Bundesbeschlusse vom 14. Juni; am 15. Juni wurde er von den Ständen zur Bewahrung der Neutralität aufgefordert, am 16. Juni ernannte er den Thronfolger, Landgrafen Friedrich von Hessen, zum Oberbefehlshaber der gegen Preußen bestimmten Truppen, entsetzte ihn jedoch aus Mißtrauen in dessen Absichten schon folgenden Tags. Nachdem am 20. Juni General v. Beyer, Befehlshaber der in Kurhessen eingerückten preußischen Truppen, die Minister und am 21. Juni die Autorität des Kurfürsten für suspendirt erklärt hatte, wurde dieser am 22. Juni preußischerseits durch General v. Röder wiederholt zum Anschluß an Preußens deutsches Reformwerk aufgefordert, auf Ablehnung jedoch am 23. Juni von Wilhelmshöhe nach Stettin gebracht. Zuvor hatte er [534] in einem „Scheidegruß“ an sein Land die Hoffnung ausgesprochen, daß das Schicksal, welches ihn betroffen, ihm und dem Lande „zur Läuterung gereichen“ möge. In Stettin gefiel es dem Kurfürsten nicht; seine mehrfachen Gesuche an den König Wilhelm von Preußen um Aenderung des Wohnsitzes hatten, nachdem der Kurfürst Hanau, die Schweiz, zuletzt Aachen, der König dagegen Königsberg und Schloß Brühl bei Bonn vorgeschlagen hatte, keinen Erfolg, weil der Kurfürst sich nicht entschließen konnte, zu versprechen, sich nur mit Genehmigung des Königs von dem Orte zu entfernen. Am 17. September 1866 schloß er in Stettin mit der Krone Preußen einen Vertrag, wonach er, ohne auf seine politischen Rechte zu verzichten, lebenslänglich seine bisherige Civilliste von 300000 Thlr., jedoch unter Abzug der in Folge des kurhessischen Gesetzes vom 27. Februar 1831 auf diese gelegten, bisher stets sehr unvollständig aufgewandten, jährlich 265617 Thlr. 2 Sgr. 8 Pf. betragenden Kosten der Verwaltung und Unterhaltung des kurfürstlich hessischen Familienfideicommisses, und die sich auf jährlich 350000 Thlr. belaufenden Nutzungen dieses nun unter preußische Verwaltung kommenden Vermögens erhalten sollte. Sodann entband er mittelst Ansprachen vom 17. und 18. September das Militär des Fahnen-, die Civilbeamten des Unterthaneneides, worauf Kurhessen durch Gesetz vom 20. September 1866 der preußischen Monarchie einverleibt wurde. Aus Stettin entlassen, begab sich F. W. nach Hanau, erklärte von da mittelst Schreibens vom 10. October 1866 dem Könige von Preußen, daß er sich „zur Zeit“ der schweren Schickung fügen wolle, empfing im October in Dresden eine ihm für erwiesene Gnadenacte dankende Deputation des hessischen Adels, begab sich im Juli 1867 von Hanau nach Kissingen und schlug dann den Wohnsitz auf seiner Herrschaft Horzowitz in Böhmen auf. Nachdem er sich schon im Januar 1867 über die ihn „völlig rechtlos“ machende Art der preußischen Verwaltung obiger Capitalien beim Könige von Preußen beschwert, begann er 1868 Streit mit der Krone Preußen über Auslegung des Stettiner Vertrags und machte in einem veröffentlichten, für Geschenke aus Hessen danksagenden Schreiben solche Kundgebungen, daß ihm am 29. Februar 1868 durch den Administrator von Hessen die Beschlagnahme jener Gelder angedroht wurde. Auf die Erwiderung, daß er auf seine Fürstenrechte nicht verzichtet habe, nachdem ferner sein Anhang der Verbreitung einer Aufruhrflugschrift in Hessen verdächtig geworden, auch er selbst mittelst Denkschrift vom 24. September 1868 alle Höfe Europas zur Losreißung Hessens vom norddeutschen Bunde aufgefordert, endlich am 8. Januar 1869 in einem für das Geschenk eines Thronsessels erlassenen Dankschreiben die „Zuversicht auf einen Tag der Sühne“ ausgesprochen, sowie einige Regentenhandlungen unternommen hatte, wurden seine obigen Bezüge mittelst preußischen Gesetzes vom 12. Februar 1869 mit Beschlag belegt. Ihn gravirenden Behauptungen Graf Bismarck’s bei den bezüglichen Verhandlungen vom 30. Januar im preußischen Abgeordnetenhause trat sein Cabinetssecretär am 18. Februar in der demokratischen „Hess. Volkszeitung“ zu Kassel entgegen. Auch den 1. Juli 1869 und 23. Juni 1870 erließ F. W. protestirende Denkschriften, die nirgends ernstliche Beachtung fanden; jedoch ergriffen die gegen Einführung eines Nieder- und Oberhessen gemeinsamen Consistoriums renitenten orthodoxen hessischen Geistlichen reformirter Confession seit August 1872, besonders am 9. Juli 1873 auf der Pastoralconferenz zu Melsungen, offen Partei für Friedrich Wilhelms Wiedereinsetzung. Dieser äußerte in einem am 31. August 1874 für seine Geburtstagsfeier danksagenden Schreiben, er „harre, wenn auch immer ungeduldiger, so doch getrost“ des Tages seiner Wiedereinsetzung, „ohne daß darum die Wege der Empörung und Auflehnung betreten zu werden brauchten“. Indeß war doch sein am Organe jener kurfürstlichen Partei, den „Hessischen Blättern“ zu Melsungen, mitarbeitender [535] Cabinetssecretär am 30. September 1873 vom Kreisgerichte zu Rotenburg wegen Beleidigung des Königs von Preußen zu 6 Monaten Festungshaft verurtheilt. Zum letzten Male ließ F. W. sich am 16. September 1873 aus Horzowitz vernehmen mit einem Proteste, in welchem er „als Chef des Kurhauses“ die am 26. März 1873 zwischen dem früheren hessischen Thronfolger und der „usurpatorischen Regierung des Kurfürstenthums ohne sein Wissen und Willen“ getroffene Vereinbarung „für null und nichtig“ erklärte, in welcher der Landgraf Friedrich von Hessen zu Rumpenheim die Einverleibung Kurhessens als unabänderlichen staatsrechtlichen Act und das Fideicommißvermögen des Kurhauses als preußisches Staatseigenthum gegen eine Jahresrente von 202240 Thlr. anerkannte. Die übrigen Agnaten sprachen dem Kurfürsten für diese Wahrung ihrer Rechte Dank aus. In Prag, wohin er am 15. September 1874 seinen Winterwohnsitz verlegt hatte, erkrankte der Kurfürst am 1. December; seit dem 21. December wurden wegen nachhaltiger Besserung des Befindens keine Bulletins mehr ausgegeben, am 6. Januar 1875 aber starb er plötzlich in Folge von Herzlähmung, nachdem er zwei Tage vorher den Ausspruch gethan: „Für mich hoffe ich nichts mehr, für mein Land noch alles.“ Nach seinem testamentarischen Wunsch wurde die Leiche, mit Genehmigung des Königs von Preußen, am 12. Jan. auf dem alten Friedhofe zu Kassel im Mausoleum der Kurfürstin Auguste beigesetzt. Die Einsegnung nahm hier der zweite Pfarrer der deutsch-evangelischen Gemeinde zu Prag, Färber, vor, welcher auf Wunsch der Familie mit den renitenten Geistlichen beim Einzuge in Kassel dem Leichenwagen vorangegangen war. Gedächtnißreden hielt am 12. Januar der abgesetzte Metropolitan Vilmar aus Melsungen in der renitenten Gemeinde zu Kassel und am 17. Jan. Superintendent Wendel in der Marienkirche zu Hanau.

Jac. Hoffmeister, Histor.-genealog. Handbuch über alle Linien des hoh. Regentenhauses Hessel-Kassel[1], 3. Aufl., Marb. 1874; C. W. Wippermann, Kurhessen seit den Freiheitskriegen, Kassel 1850; Grenzboten, 1850, Nr. 45 (Der Kurfürst und Hassenpflug); Gegenwart, VI. S. 531, Leipz. 1851 (Kurhessen seit März 1848); Unsere Zeit, erste Folge, IV. (Leipz. 1860) S. 226; Unsere Tage, Bd. I. (Braunschw. 1860) S. 456; Hinterlassene handschr. Denkw. d. Staatsraths Eberhard, dat. 9. Aug. 1850 u. 21. Jan. 1853, im Besitz d. Fam.; Kurhess. Urkundenbuch (Frankf. a. M. 1861); Ilse, Die Politik d. deutsch. Großmächte u. d. B.-Verf. in d. kurh. Frage (Berl. 1861), S. 38–40; Kurhessen unter dem Vater, dem Sohn und dem Enkel (demokratische Studien v. L. Walesrode; auch in bes. Abdr. u. d. Titel „Drei Lebensläufe in absteig. Linie“ v. Hippel d. Jüngern), Hamb. 1860. Die umfangreiche Litteratur zum kurh. Verfassungsstreit s. in Welcker, Staatslex., 3. Aufl., Bd. VIII. (Leipz. 1863) S. 33–126; Wortlaut d. Stettin. Vertr., Hess. Morg.-Ztg. Nr. 2897; Ueber die Flucht von 1850: Aus Vilmar’s Nachlaß in Hessische Blätter Nr. 167 v. 11. Sept. 1875, vgl. Hess. Morg.-Ztg. Nr. 6874, 76, 78 und Grenzboten, 1875, IV. S. 32–35; über „Die Gefangenschaft d. Kurf.“ s. Hess. Bl. Nr. 54–58 v. 1873; Heppe, Denkschrift üb. d. Untergang d. kurh. Staats, Marb. 1866; Müller, Kassel seit 70 Jahren, Kassel 1876; Nekrol.: National-Ztg. Nr. 21 v. 14. Jan. 1875, Feuill.; Unsere Zeit, 1875, 1. Hälfte, S. 161; Kurf. F. W. I. v. H., kurze biogr. Skizze v. E. Waplar, Kassel 1875, 2. Aufl.; Leichenbegängniß: S. Junghans in Köln. Ztg. v. 13. Jan. 1875; K. G. Färber, Reminiscenzen an den letzten deutschen Kurfürsten, Prag 1877.[2]

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 535. Z. 27 v. o. l.: Hessen-Kassel. [Bd. 29, S. 774]
  2. S. 535. Z. 4 v. u.: Vgl. ferner L. Hahn, Fürst Bismarck, Bd. I (1878), S. 84, 811. [Bd. 7, S. 796]

Anmerkungen (Wikisource)

  1. recte: 1816