ADB:Wilhelm II. (Kurfürst von Hessen-Kassel)
Landgraf Wilhelm IX., ließ ihm eine vorwiegend militärische Erziehung geben. Doch studirte er auch, noch im Knabenalter, in Leipzig und Marburg. Später unternahm er größere Reisen. Am 13. Februar 1797 verheirathete er sich mit der am 1. Mai 1780 geborenen Prinzessin Auguste von Preußen, einer Schwester König Friedrich Wilhelm’s III. Als sein Vater (1. Nov. 1806) durch Napoleon aus Hessen vertrieben wurde, begleitete er ihn auf seinen Irrfahrten nach Gottorp, Rendsburg, Itzehoe und Prag. Dort gewann er Fühlung mit dem Freiherrn vom Stein und suchte dessen Hülfe bei den Plänen zur Wiedererlangung des Stammlandes zu gewinnen, was ihm jedoch mißlang. Von Prag ging er (1809) für längere Zeit nach Berlin, wo er in die Netze der dort 1791 als Tochter eines Gewerbetreibenden geborenen Emilie Ortlöpp gerieth. Im Feldzuge von 1813 war er im Heere der Verbündeten für die Befreiung Hessens thätig. Er schloß sich dem Yorck’schen Corps an. Führte er doch seit dem 24. November 1804 den Titel eines preußischen Generallieutenants von der Armee und hatte er doch auch in der kritischen Zeit von 1806 seine preußenfreundliche Gesinnung bethätigt, indem er seinen Vater zu bestimmen suchte, sich Preußen anzuschließen. Doch scheint er im Yorck’schen Hauptquartier eine klägliche Rolle gespielt zu haben. Das lehrt folgender Zug. Als er am 8. October ein kleines Fest gab, äußerte er die Hoffnung, daß er nun bald das Land seiner Ahnen wiedersehen würde, konnte jedoch selbst nicht einen leisen Zweifel unterdrücken, ob man ihm sein Gebiet wiedergeben würde. Schlagfertig bemerkte ihm der ebenso tüchtige wie witzige und elegante General Hünerbein: Wenn es nach seinem Willen ginge, bekäme er nicht soviel zurück als er Schmutz unter seinen Nägeln hätte. Als W. verstimmt zu Yorck aufsah, versetzte auch dieser ironisch: Er würde es allerdings nicht so grob gesagt haben. Am 30. October zog W. in Kassel ein und erließ sofort einen Aufruf zur Theilnahme an Deutschlands endgültiger Befreiung, der mit den Worten begann: „Hessen, mit eurem Namen nenne ich euch wieder!“ Bei der Ausrüstung des [76] hessischen Contingents für den Feldzug von 1814 erwarb er sich Verdienste, aber wenig Ruhm bei der ihm zufallenden Festungsblokade (Metz und Luxemburg), sodaß man ihn im Feldzuge von 1815 nicht wieder verwandte. Seine mittlerweile auf 300 000 Thlr. angewachsene Schuldenlast mußten die Stände zu verzinsen sich verpflichten (28. Juni 1815). Sein Verhältniß zu der Ortlöpp wurde zur Bekümmerniß seiner schon von Natur ängstlich scheuen Gemahlin immer ärgerlicher und als W. am 27. Februar 1821 die Regierung antrat, da zog auch seine Favoritin sofort in das Residenzschloß ein. Sie wurde zur Gräfin Reichenbach erhoben und hat in den zehn Jahren der alleinigen Regierung Wilhelm’s den entscheidendsten Einfluß auf den Gang der Dinge in Hessen gehabt. Der sich weder durch Bildung, noch Willenskraft, noch Klugheit auszeichnende W. wurde von dem dämonischen Weibe vollkommen gelenkt. Seine geistige Verfassung, insbesondere sein Jähzorn ließen ihn in einem derartigen Lichte erscheinen, daß ihn Stein bereits 1822 als halb wahnsinnig bezeichnen konnte. Die edle Kurfürstin war den rohesten Verfolgungen ausgesetzt und wurde dadurch der Gegenstand allgemeiner Theilnahme. Der Kurprinz war überhaupt seines Lebens vor den väterlichen Mißhandlungen nicht sicher. Die brutale Willkür Wilhelm’s zeigte sich auch bei der gewaltsamen Entführung seiner alten geisteskranken Schwester, der Herzogin Marie Friederike von Anhalt-Bernburg, aus Bonn (Ende 1822), wenn er auch damals im preußischen Sinne zu handeln glaubte. Jener eine grobe Verletzung des preußischen Gebiets in sich schließende Gewaltact führte zu einem zeitweiligen Abbruch der diplomatischen Beziehungen durch Preußen, bis W. seine Beamten völlig desavouirte und auch sonst einlenkende Schritte that.
Wilhelm II., Kurfürst von Hessen, wurde am 28. Juli 1777 zu Hanau geboren. Sein Vater, der damaligeDie ganze Regierungszeit Wilhelm’s ist von der großen Familientragödie erfüllt und die meisten Regierungshandlungen des indolenten Fürsten stehen im Zusammenhange damit. Der Verdacht am 31. Jan. 1822 einen Giftmordversuch auf den 1802 geborenen Kurprinzen Friedrich Wilhelm gemacht zu haben, wird immer auf dem Kreise der Reichenbach lasten bleiben, der außer dem Kurfürsten und seiner Maitresse hauptsächlich durch den Cabinetsrath Rivalier (später v. Meysenbug genannt), den Finanzrath Deines und den Bruder der Reichenbach, Ferdinand Ortlöpp, später Heyer v. Rosenfeld geheißen, gebildet wurde. Als W. im Juni 1823 plötzlich den Hauptmann Radowitz und drei andere Officiere, die zur Umgebung des Kurprinzen gehörten, in kleine Garnisonen verwiesen hatte, erhielt er mehrere Drohbriefe, in denen von einer Verschwörung gegen sein Leben die Rede war, die aber schwerlich etwas anderes als einen groben Unfug bedeuteten, dessen Endziel darauf ging, auf W. einen Druck auszuüben und die Entfernung der Reichenbach herbeizuführen. Seit der Zeit fühlte sich W. jedoch seines Lebens nicht mehr sicher. Er ließ die umständlichsten Vorkehrungen zu seinem persönlichen Schutze treffen und in der chicanösesten Weise nach den Urhebern der Briefe fahnden. Zahlreiche Verhaftungen von Unschuldigen wurden vorgenommen und diese zum theil grausam behandelt, doch ließ sich nichts ermitteln. Der Polizeidirector Manger selbst wurde verhaftet und auf den Spangenberg geschickt, obwol ihm nur nachgewiesen werden konnte, daß er die Nachforschungen nicht bis zur letzten Stelle fortgesetzt habe, weil sie sich „in unnahbaren Regionen“ verloren, also wol auf den Kurprinzen führten. Die fünf Jahre Festung, die Manger erhielt, verschärfte W. auf Lebenszeit. Als der Bruder der Reichenbach in ein Duell verwickelt wurde, erließ W. zur Rettung seines Günstlings ein Mandat gegen den Zweikampf, das an Strenge alles bisher Dagewesene übertraf. Im Grunde seines Wesens eine gutmüthige Natur, unterschied sich W. von seinem Vater auch dadurch, daß er zwar habsüchtig, aber nicht so geizig war. Er befand sich gewöhnlich in Geldverlegenheit, sodaß das Haus Rothschild ihm häufig [77] aushelfen mußte und die beim Vater eingenommene Vertrauensstellung am Hofe beibehielt. Verschwendungssucht bewies W. u. a., indem er wiederholt Regimentern eine Janitscharenmusik von Ebenholz und reinem Silber schenkte, noch mehr aber in der Ueberhäufung seiner Maitresse mit Geschenken. Er kaufte ihr u. a. die Herrschaft Lessonitz in Böhmen. Infolge der traurigen Verhältnisse zu Kassel sah sich die Kurfürstin schließlich veranlaßt, mit dem Kurprinzen lange Jahre außer Landes, nach den Niederlanden, Berlin und Bonn zu gehen. W. entzog ihnen darauf alle Unterhaltsmittel, sodaß Friedrich Wilhelm III. den übrigens nicht einfachen Haushalt seiner Schwester bestritt. Alle Bemühungen Preußens eine Einigung der kurfürstlichen Familie herbeizuführen, scheiterten. Weder der Präsident Motz, noch der General Natzmer vermochten etwas auszurichten, als sie zu diesem Zwecke nach Kassel geschickt wurden. Der ebenfalls entsandte Varnhagen v. Ense verschlimmerte die Sache sogar noch durch seine Ungeschicklichkeit.
Auf diesem Untergrunde baute sich Wilhelm’s Politik auf. Getreu dem väterlichen Beispiele regierte er als unbeschränkter Selbstherrscher und erhob ohne jede ständische Bewilligung die Steuern fort. Ganz zweckmäßig war es, daß er die in keinem Verhältniß zu der Größe Kurhessens und auch nur auf dem Papier stehende Truppenzahl von 20 000 auf 7000 Mann herabsetzte. Zwar kamen die dadurch erzielten Ersparnisse dem Lande durchaus nicht im vollen Umfange zu gute. In den Anfang seiner Regierung fällt auch die wichtige, einen wesentlichen Fortschritt gegen früher bedeutende Verordnung wegen Organisation der Staatsverwaltung (29. Juni 1821). Sie war nach preußischem Muster ausgearbeitet und theilte das Land in vier Provinzen und ebensoviel Finanzkammern. Ihr Hauptvorzug war die darin enthaltene Trennung von Justiz und Verwaltung. Seiner einseitigen militärischen Neigung entsprach es, wenn W. den Officieren eine solche Stellung gab, daß es den Bürgern schwer wurde, sich ihr Recht jenen gegenüber zu verschaffen. Der Wangenheim’schen Triaspolitik schloß sich W., der mit Bewußtsein in der Großmachtspolitik seines Vaters fußte, voller Freude an. Niemand hielt so hartnäckig daran fest wie er. Schließlich mußte ihm Fürst Metternich im Herbst 1823 verständlich machen, daß Oesterreich unter diesen Umständen nicht den Güterankauf für die Reichenbach in Böhmen gestatten könne. Das wirkte. Am meisten Aufmerksamkeit in der Politik erforderte während Wilhelm’s Regierung Preußens Thätigkeit für den Zollverein. W. setzte die von seinem Vater begonnene Opposition dagegen mit einer Willkür und einer Kurzsichtigkeit fort, die den beißendsten Spott der fremden Staatsmänner herausforderte. Die Gesandten am Kasseler Hofe waren seiner stets sicher, wenn sie seinem Souveränetätsstolz schmeichelten. Bald neigte er zu Oesterreich, bald zu Baiern, zu Darmstadt, zu Sachsen. Anfänglich noch Preußen zugewandt, trieb ihn der Familienconflict in einen scharfen Gegensatz zu dieser nahe verwandten Macht, woran die Reichenbach den Hauptantheil trägt, die es ohnehin eifrig mit Oesterreich hielt, weil sie von dort Vortheile erhoffen durfte. Der zu Kassel am 24. September 1828 mit Sachsen, Hannover, Nassau, Thüringen, Frankfurt und Bremen auf sechs Jahre abgeschlossene mitteldeutsche Handelsverein, nach Treitschke’s Urtheil die krankhafteste und unnatürlichste Mißbildung, die dem deutschen Particularismus je gelang, war hauptsächlich dadurch zu Stande gekommen, daß W. seinem Schwager in Berlin einen Streich spielen wollte. Die Unzuträglichkeiten dieses Zollvereins führten am 27. März 1830 zum Abschluß des Eimbecker Vertrags mit Hannover, Oldenburg und Braunschweig, der Grundlage des späteren norddeutschen Steuervereins, einer gleichfalls dem allgemeinen Zollverein nur zu hinderlichen Maßregel. Die Folge dieser Schritte waren die schlimmsten Mißstände im ganzen Lande. Der Verkehr litt [78] entsetzlich. Nur zu oft vernahm man von Zusammenrottungen des hungernden Volks an den verschiedensten Orten. An den Grenzen kamen unaufhörlich blutige Kämpfe wegen des Schleichhandels vor. Namentlich in Hanau wurde die Bevölkerung infolge der Zollpolitik Wilhelm’s schwierig. Allmählich mochte W. wol das Gefühl haben, daß ihm der Boden unter den Füßen wankte. So kam es denn urplötzlich zu einem Ausgleich der widerstrebenden Tendenzen zwischen Fürst und Volk sowie zwischen W. und seiner Familie.
Im Juli 1830 unternahm W. nämlich eine Reise nach Wien, um der Reichenbach den Reichsfürstenstand zu erwirken. Metternich hielt es für gerathen, ihm aus dem Wege zu reisen und so kehrte W. mit leeren Händen nach Karlsbad zu seiner Geliebten zurück. Was dort zwischen den beiden vorgegangen ist, hat man nie mit Bestimmtheit erfahren. Nur daß W. schwer erkrankte, ist bekannt geworden. Daß seine Herrin niemand, selbst den Arzt nicht, zu ihm ließ, spricht dafür, daß die Angabe, sie habe ihn schwer mißhandelt, wahr ist. Der Zustand des Kurfürsten beunruhigte die Bevölkerung lebhaft. Der Kurprinz eilte herbei und versöhnte sich mit dem Vater. Die Kasseler schickten eine Abordnung nach Karlsbad. Am 12. September zogen Vater und Sohn bei Todtenstille in die Residenz ein. Am 15. erschien abermals eine Abordnung der Bürger vor W. und veranlaßte ihn unter Hinweis auf die Nothlage zu der Zusammenberufung der Landstände. Diese brachten im November die Grundzüge zu einer Verständigung über das Landesvermögen zu Stande. W. erhielt außer den Schatulleinnahmen die Hälfte des von ihm angegebenen Betrages seiner Geldmassen mit einem Jahresertrage von 350 000 Thlr. als Hausschatz sowie aus den Domäneneinkünften eine Civilliste von 392 000 Thlr. angewiesen. Am 5. Januar 1831 aber wurde die langverheißene Verfassung gegeben, deren Verkündigung (8. Jan.) das Volk in einen Freudentaumel versetzte. Mitten in den Jubel hinein fiel die Rückkehr der Reichenbach, was sofort veranlaßte, daß die eben erst beruhigten Kasseler eine drohende Haltung annahmen und die Abreise der unheilvollen Person verlangten. Diese erfolgte, aber nun hielt es W. nicht mehr lange in der Hauptstadt. Ihm schien es unfaßbar, daß das Volk, dem er eben seinen Willen gethan hatte, sich nun in seine persönlichen Angelegenheiten einzumischen wagte. Im März folgte er der Geliebten auf die Schlösser bei Hanau, wo er sich so einrichtete, als wenn er nicht mehr nach Kassel zurückkehren würde. Eine Weile sahen die Kasseler das mit an. Aber auf die Dauer ging es nicht, daß die Regierung von Hanau aus geführt wurde, während der Sitz der Behörden in Kassel blieb. Außerdem begann Kassel sehr durch die Entfernung des Hofes zu leiden. Man schickte also wieder eine Abordnung an W. und suchte ihn zur Rückkehr zu bewegen. Schon zeigte er sich bereit, da traten gewisse Einflüsse dazwischen und er lehnte endgültig ab. Schließlich (15. Sept. 1831) verständigte er sich mit den Abgesandten dahin, daß sein Sohn Friedrich Wilhelm für die Zeit seiner Abwesenheit von Kassel alle Regierungsgeschäfte übernehmen und den Titel eines Mitregenten führen sollte. Er ist nie wieder nach Kassel zurückgekehrt. In Hanau, Frankfurt und Böhmen hat er noch sechzehn Jahre von seinen großen Renten gelebt. Als die Kurfürstin Auguste, die nach der Aussöhnung mit W. lange Zeit ihren Hof in Fulda aufgeschlagen hatte, am 19. Februar 1841 zu Kassel tiefbetrauert von der Bevölkerung gestorben war, verheirathete sich W. bald darauf (8. Juli 1841) zu Besenz in Mähren mit der Reichenbach. Doch lebte sie nur noch bis zum 12. Febr. 1843. W. verheirathete sich nun (28. Aug. 1843) zum dritten Male, und zwar mit Karoline v. Berlepsch, die zur Baronin, später zur Gräfin v. Bergen erhoben wurde. Am 20. November 1847 starb W. selbst zu Frankfurt. Er wurde zu Hanau in der Marienkirche beigesetzt. Aus der Ehe mit [79] der Kurfürstin Auguste hatte er drei Söhne und drei Töchter. Nur ein Sohn überlebte ihn. Die zahlreiche Descendenz der Reichenbach starb bald im Mannesstamm aus. Die Ehe mit der Berlepsch blieb kinderlos.
Persönlich noch weniger bedeutend als sein Vater ist W. auch zu einer Zeit Regent gewesen, die an Bedeutung mit der Zeit Wilhelm’s I. nicht zu vergleichen ist. Seine Regierungszeit erhält ihr Gepräge durch die Dirnenherrschaft, die in der neueren Geschichte einzig in ihrer Art ist. Ein gewisser Zug des Wohlwollens, dessen Ergebniß schließlich auch die Einigung über das Landesvermögen und der Erlaß der Verfassung ist, kann in Wilhelm’s Charakter nicht geleugnet werden. So ist das Bild, das man von diesem tragikomischen Despoten empfängt, nicht ganz so abstoßend als das des ersten hessischen Kurfürsten.
- H. v. Treitschke, Deutsche Geschichte, Band III u. IV. – C. W. Wippermann, Kurhessen seit dem Freiheitskriege, Cassel 1850. – (Klauhold), Drei Lebensläufe in absteigender Linie von Hippel d. J., Hamburg 1860. – (H. F. Rumpf), Deutscher Regentenalmanach auf das Jahr 1825, Ilmenau, S. 350–394: Wilhelm II., Kurfürst von Hessen. – Otto Bähr, Das frühere Kurhessen, Kassel 1895. – Pertz, Stein. II–VI. – J. G. Droysen, Das Leben des Feldmarschall Grafen York v. Wartenburg. – Gneomar Ernst v. Natzmer, Unter den Hohenzollern, Band I, Gotha 1887. – Varnhagen, Blätter a. d. preußischen Geschichte. Bd. 5. Leipzig 1869. – W. Dorow, Erlebtes, Leipzig 1845, Theil 3, S. 283–289. – Hessenland, Jahrgang II, 1888, S. 277–280.