ADB:Dingelstedt, Franz Freiherr von
[708] er Freundschaft und Liebe feierte; ihr entstammt auch eine Parodie auf Schiller’s Glocke „Die Ressource“, die witzig und gewandt die Vorgänge in einer großen Gesellschaft seiner Vaterstadt schilderte und manche von deren Mitgliedern porträtirte.
Dingelstedt: Franz D., deutscher Dichter, ist am 30. Juni 1814 in Halsdorf in Hessen geboren. Sein Vater war Militär, Ritter des kurhessischen Verdienstordens vom eisernen Helm, als Klostervogt thätig, eine rauhe, nüchterne, praktische, ehrgeizige Natur, ein pedantisch ordentlicher Mann; seine Mutter, eine Frau von auffallender Schönheit, weckte und nährte in dem Knaben den Hang zur Poesie und vererbte ihre Eigenschaften auf den Sohn. Dieser hat ihr Wesen in seinem Geburtstagsgedicht (Werke VIII, 285) hübsch dargestellt. Er kam frühzeitig mit den Eltern nach Rinteln, wo er das Gymnasium besuchte. Seit 1822 führte er ein Tagebuch, in dem er alle kleinen Ereignisse der Kindheit und der Jugend notirte, auch die erlangten Schulauszeichnungen zu buchen nicht vergaß. Unter seinen Geschwistern stand ihm die Schwester Auguste am nächsten. Mit ihr genoß er Vergnügungen, wie Spaziergänge und Theatervorstellungen. Er besuchte die Schule mit vieler Auszeichnung. Wegen seiner großen Jugend war er drei Jahre in Prima und schied von der Lehranstalt 1831 als primus omnium mit einer Rede „über die Sehnsucht des Menschen nach einer besseren Zukunft“, in der er deutliche Anspielungen auf das Revolutionsjahr im freiheitlichen Geiste einflocht. Der Gymnasialzeit gehören auch einzelne Dichtungen an, in denenOstern 1831 bezog er die Universität Marburg, wurde Corpsbursche und studirte und dichtete fleißig. Als Früchte seiner Studien sind fünf Predigten, als Erzeugnisse seiner poetischen Thätigkeit zwei kleine Theaterreden, „Der Einzug“ und „Der Auszug“ erhalten, deren zweite er später einmal in Eisenach aufführen sah; er erntete dafür den Beifall des berühmten Schauspielers Karl Unzelmann. Lebhaft entbrannte in ihm der Kampf zwischen Theologie und Poesie, ein Kampf, der in seinen Briefen an seinen Jugendfreund Friedrich Oetker (s. A. D. B. XXIV, 541 ff.) und an G. A. Vogel, einen geistreichen, aber nicht vom Glücke begünstigten Journalisten, zu starkem Ausdruck kam. Er schlug eine Art Mittelweg ein, indem er, durchaus nicht nach dem Wunsch seiner Eltern, zunächst 1835, ohne Ablegung eines Lehrerexamens, Lehrer in dem englischen Erziehungsinstitut zu Ricklingen bei Hannover wurde. Dort war er litterarisch sehr thätig, arbeitete an der von G. Harrys herausgegebenen Zeitung „Die Posaune“, für die er eine Zeitlang über Theater berichtete, schrieb Kunstberichte für den Frankfurter „Phönix“, veröffentlichte auch einige Gedichte in dem Chamisso- und Schwab’schen Musenalmanach und anderen Zeitungen, gedachte mit den Freunden ein „Nesselblatt“ herauszugeben und Uebersetzungen aus dem Englischen zu machen. Er verkehrte viel in vornehmen und geistreichen Cirkeln. Sein hauptsächlicher Umgang war der bekannte J. H. Detmold (s. A. D. B. V, 83 ff.) und Klenke Worosdar (etwa der A. D. B. XVI, 157 geschilderte? Wanderbuch I, 104–112), sowie der Maler Osterwald (s. A. D. B. XXIV, 523 ff.). Manchmal besuchte er von dort aus seine Heimath, wo er für Auguste Dunker schwätmte, wie er denn auch in Hannover kleine Liebesspiele trieb und sie in Sonetten verherrlichte (Rodenberg I, 97 ff.). Der Tod seiner Mutter (3. April 1836) erregte ihn tief. Der Vater vermählte sich im folgenden Jahre aufs neue. Die Stiefmutter (erst 1886 gestorben) verstand es, dem Sohn das Vaterhaus zu erhalten.
Am 13. April 1836 wurde er Gymnasiallehrer in Kassel, führte dort ein sehr angenehmes geselliges Leben, außer mit dem schon genannten Friedr. Oetker mit den Juristen D. E. Freys und Wiegand, unterhielt einen lebhaften sehr merkwürdigen Briefwechsel mit dem zu Rinteln lebenden hessischen General v. Bardeleben, der später 1848 sechs Wochen lang hessischer Kriegsminister war, und war daneben schriftstellerisch thätig. Die „Bilder aus Hessen-Cassel“, die in Lewald’s „Europa“ erschienen, erregten zum Theil unliebsames Aufsehen, machten aber den Namen des jungen Schriftstellers bekannt. An der neuen „Kurhessischen Allgemeinen Landeszeitung“ nahm er lebhaften Antheil und redigirte das belletristische Beiblatt „Die Wage“. Durch den Hauptredacteur Beurmann kam er mit den Führern des jungen Deutschland in Verbindung: von Heine, dessen Charakter er nie sonderlich schätzte, entnahm er den witzig ironischen Ton seiner Reiseschilderungen und Novellen, bewahrte sich für Gutzkow, den er auf einer Rheinreise 1837 persönlich kennen lernte und von dem er gleichfalls stark beeinflußt wurde, eine persönliche Verehrung; wogegen mit Laube sich nie eine freundschaftliche Verständigung fand, später sogar grimmige Feindschaft eintrat. Wilhelmshöhe, Göttingen, bei Gelegenheit des Universitätsjubiläums, wurden besucht und beschrieben, ebenso Weimar, wo er St. Schütze ein besonderes Interesse schenkte (Wanderbuch I, 276 f.). In Kassel wurden die „Spaziergänge eines Casseler Poeten“ gedichtet [709] und gedruckt (Werke VII, 109–137), das hessische „Album für Litteratur und Kunst“ und eine Schrift „Frauenspiegel“ (Nürnberg) herausgegeben. Das bereits angeführte Verhältniß mit Auguste Dunker führte zur Verlobung, aber es war keine ruhige, behagliche, sondern eine stürmische Verbindung, die mehrere Jahre darauf nach manchen Trennungs- und Wiederanknüpfungsversuchen gelöst wurde.
Die „Bilder aus Hessen-Cassel“, soweit sie jetzt in den Werken V, 1–17 abgedruckt worden, sind recht unschuldige Betrachtungen über Kassels Lage, Geschichte und Kunst, in denen kaum der zahme Hinweis auf 1830 und die nicht übermäßig respectvolle Sprechweise über die Herrscher anstößig im Sinne der damaligen Regierung zu nennen sind. Die „Spaziergänge eines Casseler Poeten“ (Werke VII, 109–140) dagegen enthalten die heftigsten Angriffe auf die Fürsten, auf ihre Soldatenverkäufe, verkünden begeistert Wesen und Bedeutung der ständischen Verfassung; der Dichter spottet darüber, daß in Hessen nur bei Dachgemächern das Licht zu brauchen sei, er beklagt ironisch das Verschwinden der Zöpfe und findet in der „Au“ alles, nur keine Menschen. Er läßt den großen Christoph auferstehen, die Rathsmänner um Dienst bitten, ihn aber, nachdem er die Reinigung des Augiasstalles übertragen bekommen, nach fünfzig Tagen auf seinen Dienst mit den Worten verzichten: „So viel Mist, wie ich gefunden, kann auch Herkules nicht zwingen“. Die in den Werken gedruckten „Spaziergänge“ enthalten auch das „Jordanslied, ein Osterwort im Schloßhofe zu Marburg“ 1840, das gewaltige Lied auf Sylvester Jordan (s. A. D. B. XIV, 513 ff.). Aber dieses Lied kann erst, wie das Datum besagt, während des Fuldaer Aufenthaltes entstanden sein.
Als Strafe für die etwas freien Worte der „Bilder“ und der „Spaziergänge“ wurde D. von Kassel nach Fulda versetzt (21. Sept. 1838). Dort wurde er bei Lehrern und Schülern sehr bald beliebt, schon am 9. Januar 1839 erfolgte seine Ernennung zum ordentlichen Lehrer. Von Fulda aus wurde der Briefwechsel mit den Kasseler Freunden, namentlich Oetker, eifrig betrieben. Konnte sich auch in der kleinen Stadt ein ähnlich reger Verkehr wie in der hessischen Residenz nicht gestalten, so war der Umgang nicht ganz leer. D. schloß sich an Heinrich König an, der von Hanau nach Fulda versetzt wurde; das nahe Frankfurt und der Rhein lieferten Gäste genug; einzelne vornehme Familien gaben dem jungen Lehrer Gelegenheit seiner Lust zu genügen, sich in fremden Sprachen auszudrücken. In Fulda begann seine productive Zeit. Er schrieb die beiden Romane „Die neuen Argonauten“ und „Unter der Erde“, das Drama „Das Gespenst der Ehre“ (gedruckt in der Novellenzeitung, Beiblatt z. Illustr. Zeitung 1845, Nr. 53–56), das aber völlig durchfiel, hauptsächlich gewiß wegen seiner vollständigen Werthlosigkeit, zum Theil infolge der Intriguen seiner Feinde; er dichtete ferner Novellen „Eselfritze“ (jetzt in den Badenovellen) , „Gutenbergs Tod“ (jetzt in „Bunte Reihe“); eine kurze Zeit gab er auch eine Zeitschrift „Der Salon“ heraus.
Der Roman „Die neuen Argonauten“, bei dessen Beurtheilung Rodenberg’s, der das Werk bewunderungswürdig findet, es aber mit Recht für verschollen erklärt, kurze Notizen mich leiten müssen, da ich ihn selbst mir nicht verschaffen konnte, enthält die Abenteuer des Herrn Eusebius Trentelfuß, Marktmeisters und Mitglieds der Ortsspolizei in Gersfeld (Hersfeld). Der Genannte lebt vollkommen in maritimen Vorstellungen und kann sich daher nicht entschließen, seine Brautfahrt nach Kesselstadt (Kassel) per Wagen zu machen, sondern tritt sie in einem „Bocke“, der Korn geladen hatte, an. Der Haupttheil des Romans besteht in satirischen Schilderungen der litterarischen und politischen Kreise Kassels und Rintelns. Es kommen vollkommene Porträts [710] von Personen aus Dingelstedt’s Umgangskreis vor, z. B. das des Magisters Hudel, eines Lehrers des Französischen (Doctor Lobe).
Wegen dieses Romans wurde D. mit einem ernsten Verweise und einer Geldstrafe von 20 Thalern bestraft, ein kurzer Urlaub ihm verweigert, die Genehmigung versagt, den in Jena erworbenen Doctortitel zu tragen, sein Gehalt gesperrt, als er, durch Krankheit verhindert, vom Sommerurlaub ein paar Tage zu spät nach Hause kam. Durch solche Quälereien und andere Unannehmlichkeiten, z. B. die damals erfolgte definitive Aufhebung der Verlobung, wurde er seines Fuldaer Aufenthalts müde, den er als Verbannung betrachtete und, durch mehrfache Eingaben, freiwillig vergeblich aufgehoben zu sehen wünschte. Trotz mancher Freundschaftsbeweise, auch einer Adresse und eines Geschenkes seiner Quartaner sehnte er sich fort, dachte sogar daran, mit dem Zauberkünstler Döbler durch Europa zu reisen, freilich unter der Bedingung, der deutschen Journalistik weder als Secretär, noch als Dolmetsch, sondern als Freund genannt zu werden und endlich an keinen bestimmten Contract gebunden zu sein; auch schmiedete er andere abenteuerliche Pläne. Infolge dessen wünschte er zunächst auf längere Zeit einen Urlaub zu haben; als ihm dieser verweigert wurde, reichte er sein Entlassungsgesuch ein, das ihm am 4. October 1841 bewilligt wurde, und ging nach Stuttgart, nachdem er vorher mit Cotta in Augsburg verhandelt hatte, um theils dort, theils auf größeren Reisen für die Blätter jener Welthandlung thätig zu sein.
In Fulda war das „Jordans-Lied“ erschienen, die „Lieder eines cosmopolitischen Nachtwächters“ gedichtet; sie erschienen in Hamburg sehr bald nach der Aufgabe des Schulamtes (1841). (Ein zweiter Band wurde 1843 veröffentlicht; D. dachte ursprünglich an einen dritten, der die Wanderungen des Nachtwächters in den außereuropäischen Ländern enthalten sollte.) Das „Jordans-Lied“ ist ein herrliches Gedicht: in prachtvollen Versen wird das fröhliche Erwachen des Frühlings dem düsteren Verweilen des in Gefängnißmauern Gezwungenen gegenübergestellt, das frühere Glück des Gefangenen mit seinem jetzigen Elend verglichen. Zum Schluß wird dem Fürsten der Rath gegeben, kleine Fehler nicht zu strafen, sondern sich des Gnadenrechts zu erinnern. – Die „Nachtwächterlieder“ gehören zu den bedeutendsten Stücken der deutschen politischen Poesie. Am wenigsten gelungen ist die Composition, die Wahrung der Nachtwächtermaske, so glücklich sie erfunden ist – man denke nur an den berühmten Anfang, in dem sich der Nachtwächter von seinem Weibe verabschiedet, um seine Runde anzutreten. – So sehr einzelne seiner Gänge der Berufswanderung des Nachtwächters entsprechen, auch die Klage, daß ihm sein Horn genommen, oder die Trauer über sein altes häßliches Weib aus dem Munde eines Nachtwächters stammen können, so wird jene Fiction doch bald aufgegeben. Auch die Sprache ist nicht die eines subalternen Beamten, sondern eines hochgebildeten Mannes. In dem Gedichte spricht sich der Zorn aus gegen die Ueppigkeit und Sittenlosigkeit der Großen, gegen die Hartherzigkeit, mit der sie die Niedrigstehenden behandeln, der Haß gegen die Regierenden, die einstweilen nur im Traum von der Angst geschüttelt werden und die Verkündigung, daß sie ihrer Strafe nicht entgehen werden, speciell die Erregung gegen den Kurfürsten von Hessen, der nicht bloß wegen seiner neugierigen Einmischung in die Verhältnisse der Stadt und des Theaters lustig verspottet, sondern wegen seiner politischen Maximen wüthend verfolgt wird. In Frankfurt eifert der Dichter gegen die Börse und Rothschild, in München gegen Katholicismus und Griechenthum, in Wien gegen die Mischung von Frömmelei und Sinnlichkeit, in Berlin gegen das Geistreichthum des Königs, seine großen Verheißungen und seine kleinen Thaten. Neben einzelnen [711] hochpoetischen Phantasien, z. B. von dem Haideweib, das, mit dürren Fingern überall anklopfend, Noth und Tod verbreitet; neben manchen Lobpreisungen hervorragender Männer, todter und lebender, Goethe, A. Grün, Lenau, enthalten die Lieder geradezu Aufrufe zur Revolution, überaus heftige Angriffe gegen die Hofschranzen, die Schmeichler, die Namenspatrioten („Was ist, Ihr Herren, ein deutscher Patriot“), enthüllen rücksichtslos die Kleinlichkeit und Erbärmlichkeit der Duodez-Vaterländchen und drücken doch in der Heimath wie in der Fremde die glühende Sehnsucht aus nach einem großen und mächtigen deutschen Vaterland.
Die Uebersiedelung nach Augsburg bedeutete für D. kein Verweilen in dieser Stadt. Er trat nicht in die Redaction der Cotta’schen Blätter ein, denn der Besitzer und der Chefredacteur des Blattes, Gustav Kolb, mit dem D. lange befreundet blieb, mußten es für bedenklich halten, den dem preußischen und anderen kleineren Staaten gefährlich erscheinenden politischen Dichter bei sich aufzunehmen. Er wurde vielmehr im Auftrage der Redaction auf Reisen nach Paris und London geschickt. In Paris genoß er das Leben, machte interessante Bekanntschaften, z. B. mit Lamartine, und war viel mit Herwegh, Heine u. A. zusammen. Aber dieser Verkehr festigte nicht seine politische Ueberzeugung, sondern erschütterte sie. Gerade das Flüchtlingsleben, das er poetisch zu verklären suchte (vgl. unten), widerte ihn schließlich an, das trotzige Republikanerthum der Genossen reizte ihn zunächst zur Uebung seines Spottes, sodaß er dem Herwegh’schen Liede „Ich will ein deutscher Bürger werden“ sein selbstironisirendes „Ich muß Geheimer Hofrath werden“ entgegensetzte, nöthigte ihn aber endlich zum Hervorkehren seiner aristokratischen Neigungen, die nur in der Maiblüthe kleinstaatlich-politischer Entrüstung geschwiegen hatten. Von einer politischen Fahnenflucht, von der Wandlung aus einem demagogischen Saulus in einen conservativen Paulus kann man bei D. nicht reden. Ebensowenig davon, daß sein politischer Freisinn am Anfang der 40er Jahre nur eine Maske gewesen sei. Es war eben nur der Tribut, den er, unter der kleinstaatlichen Misère seufzend, den in dem Kreise der Jugend herrschenden Ideen abstattete. Gerade das freie Land, die große Stadt nährte seine Neigungen und gab ihn den vornehmen Anschauungen und Forderungen zurück, die immer in ihm geschlummert hatten.
Von Paris ging er nach London.
Ueber diese Zeit seiner Reisen handelt das „Wanderbuch“, zwei Bände, 1839–1843. Der erste Band hatte eine empfindsame Weserreise, Erinnerungen aus Althannover, neuhessische Märlein, sächsische Skizzen enthalten: Landschilderungen, kleine Humoresken, Liebesepisoden, auch kleine tragische Novelletten, dabei auch einzelne poetische, mit einem gewissen Schauergemisch, wie eine Novelle Pygmalion; Skizzen, die interessante, oben benutzte Details zur Selbstbiographie bieten, sowie manche Notizen über Freiligrath, Grabbe (später verwerthet in einem Aufsatz „Die Externsteine“, Werke V, 388 ff.), Ernst Schulze, über Weimarische Dichter, enthalten. Charakteristisch für diesen ersten Band ist der vielfache spöttische Hinweis auf zeitgenössische Schriftsteller: Tromlitz, v. d. Velde, Lafontaine, Spindler, Laube (Bd. I, S. 10, 12, 39, 76, 84). Der zweite Band enthält außer wenig ergiebigen Rhönfahrten die Briefe aus Paris, ein Tagebuch aus Ostende und holländische Schildereien. Aus dem ersten Band ist sehr wenig in die neue Ausgabe des Wanderbuchs (Werke V) aufgenommen; vom zweiten Band dagegen fast alles; hinzugefügt ist außer den schon oben erwähnten Externsteinen ein Aufsatz: „Ein Tag in Heilbronn“ (mit einem Besuche Kerner’s) und „Der Zauberer von Rom“, wo von Gutzkow’s gleichnamigem Roman mit vielem Lobe gesprochen wird. Die [712] Briefe aus Paris, die den Haupttheil des zweiten Bandes ausmachen, sind frische Feuilletons, die über alles mögliche handeln: deutsche Lebensart, Straßenbilder, Börse und Morgue, die Grisettenbälle und große Oper, das Théâtre français mit einer eingehenden Schilderung der Rachel und einer stimmungsvollen Würdigung Molière’s, auch kleine Theater, wobei der Schauspieler Bouffé gerühmt wird. Endlich auch St. Cloud mit seinen landschaftlichen Schönheiten. Fernliegendes wird fast gar nicht berührt. Einmal findet sich eine ausführliche Betrachtung über den Brand von Hamburg. Aber auch Litteratur, wenn man vom Theater absieht, und Politik wird fast gar nicht behandelt. Die Bilder aus Ostende sind ganz amüsant; eine darin vorkommende Schilderung des Königs Leopold von Belgien hat ein gewisses culturhistorisches Interesse. Auch die holländischen Schildereien sind leichte, flüchtige Schilderungen meist von Land und Leuten, vermischt mit ein bischen Natur- und Kunstbegeisterung.
Der Aufenthalt in England, wohin D. im Juni 1842 ging, wurde für ihn wichtig wegen der Weitung seines Blickes, wichtiger wegen der tiefen Neigung, die er zu der Sängerin Jenny Lutzer faßte. Mochte er auch noch im Wanderbuch (II, 127) kühl sagen: „Die Grisi vereinigt, was deutsche Künstler, Dem. Lutzer eingerechnet, nur andeuten und im Detail besitzen“, aus den in London entstandenen Gedichten spricht starkes Entzücken für die hochbegabte und schöne Frau und innigste Neigung zu ihr. Beides wuchs, als D. ihr (Herbst 1842) nach Wien nachzog. Dort war er für Wiener Zeitungen, ferner für Morgenblatt und Allgemeine Zeitung, thätig, Correspondenzen, die in Wien durchaus nicht gern gesehen wurden; bewegte sich viel in Gesellschaften, schloß sich an Lenau an und wurde durch Ottiliens v. Goethe Vermittlung in den vornehmen Cirkeln der Kaiserstadt Mode. Er liebte Jenny, zweifelte aber zunächst daran, ihre Hand erlangen zu können, theils, weil er ihr keine Stellung bieten konnte, theils, weil er Bedenken trug, als Kritiker der Mann einer Schauspielerin zu werden. Durch eine merkwürdige Fügung wandte sich sein Schicksal. Durch Baron v. Cotta und vornehme Damen, die ihm günstig gesinnt waren, wurde er dem König von Württemberg empfohlen und von ihm Mitte April 1843 (die amtliche Bestallung erfolgte am 1. Octbr.) als Bibliothekar und Vorleser unter dem Titel eines Hofraths mit einem Gehalt von 2000 Gulden angestellt. Die ehemaligen Gesinnungsgenossen, Heine, Herwegh, Freiligrath, Hoffmann von Fallersleben, auch unpolitische, aber unabhängige Männer brandmarkten ihn seitdem als Ueberläufer. Das war er in dem Sinne nicht, daß er etwa seine ehemaligen Gesinnungsgenossen bekämpfte und nun alle freiheitlichen und deutschen Gesinnungen verleugnete. Er besaß nur nicht das Zeug zum Märtyrer. Eine gewisse Neigung zum Wohlleben, ein Hang zu den vornehmen Kreisen, vielleicht auch die Erkenntniß, daß ihm zum wirklichen Politiker Muth und Talent fehlten, gewiß auch der Wunsch, seine Geliebte heimzuführen und ihr behagliche Verhältnisse zu bieten, drängten ihn in eine höfische Laufbahn, die ihm durch Gönner leicht gemacht wurde. Bei dieser Wandlung verfuhr er ehrlich, wie er bei seinem ersten politischen Auftreten ehrlich gehandelt hatte. Wie alle die Freiheitssänger am Anfang der 40er Jahre war er über die kleinlichen Verhältnisse, die unwürdige Bedrückung in seinem Heimathlande und in anderen deutschen Städten empört; während sich aber bei den Anderen der Haß im Laufe der Zeit verschärfte, trat bei ihm infolge seiner Reisen, gerade durch die Entfernung von der Stätte seines Unmuthes, eine Gleichgültigkeit gegen die von ihm befehdeten Zustände und eine Ernüchterung seiner politischen Begeisterung ein. Am 27. April 1844 heirathete er Jenny, die von der Bühne auf die ehrenvollste [713] Weise Abschied genommen hatte, wenn sie auch ferner später mannichfache Kunstreisen nach den verschiedensten Städten Deutschlands unternahm. In schönen Liedern, die unter den Titeln „Für Haus und Herz“, „Flitterwochen“ (Rodenberg II, 12–26) vereinigt sind, verkündete er sein erstes Glück. Aber auch in zahllosen Liedern, die alljährlich am 4. März und bei vielen anderen Veranlassungen der Gattin geweiht wurden, verklärte er seine gleichbleibende, leidenschaftliche, jugendliche Liebe zu dem Weibe, das sein starker und treuer Kamerad blieb, bis der Tod sie von ihm entfernte. Mehrere Kinder, das erste ein Töchterchen (21. Januar 1845 geboren) entsprossen der Ehe; auch sie erhielten zu den verschiedensten Ereignissen ihres Lebens poetische Grüße des eng mit ihnen verbundenen Vaters. Von Stuttgart, wie auch von seinen späteren verschiedenen Residenzen aus, unternahm er fast alljährlich Reisen. Die nach Scheveningen, wo er von seinem ehemaligen Landesherrn, dem Kurfürsten von Hessen freundlichst nach der Heimath eingeladen wurde, gab zu dem Buche „Jusqu’à la mer, Erinnerungen an Holland“ 1847 Veranlassung. Einige Monate, vom 24. April 1846 an, war er Dramaturg des Stuttgarter Hoftheaters; für das Haustheater des Kronprinzen schrieb er Prologe und Stücke: „Ritter Toggenburg“, „Genoveva“, letzteres eine Parodie auf Tieck’s Trauerspiel (Rodenberg II, 53 ff.). Die Revolution von 1848 brachte ihn in die peinlichste Lage. Er fürchtete seine Stellung bedroht, suchte in Hessen eine Unterkunft, gab eine kurze Zeit in Stuttgart das Witzblatt: „Die Laterne“ heraus; äußerte sich antidemokratisch, aber nicht geradezu freiheitsfeindlich in seinen Liedern, namentlich in seinen Epigrammen auf Mitglieder der Paulskirche, die in seine Sammlung „Nacht und Morgen“ (1851) übergingen, in die Werke aber nicht aufgenommen wurden. In die Stuttgarter Zeit, 1847 bis 1849, gehört der Plan und der Anfang der Ausarbeitung eines großen Romans „Sieben Jahre“ (von dem drei Capitel 1849 in einem hessischen Unterhaltungsblatt und einzelne Fragmente bei Rodenberg II, 75 ff. gedruckt sind). Der Roman sollte die Entstehung und Entwicklung des westfälischen Königreichs poetisch behandeln. Doch versuchte D. auch sich selbst – unter dem Namen Valentin –, seine Verwandten und Freunde in diesem Buche, von dem er auch später gern sprach, darzustellen. In Stuttgart wurde an seinem Drama „Das Haus der Barnevelds“ gearbeitet (vergl. unten). Durch dessen Aufführung wurde die Aufmerksamkeit der Münchener auf ihn gelenkt.
Anfang 1851 ging er als Intendant an das Münchener Theater. Hier kam er in die Stellung, die ihm zusagte, in der er Bedeutendes durch seine Persönlichkeit und durch sein Können leistete. (Er selbst hat diese Zeit in den „Münchener Bilderbogen“, Berlin 1879, einer liebenswürdigen, mit classischem Witze geschriebenen Schrift, geschildert.) Diese dramaturgische Thätigkeit, die er später in Weimar und Wien fortsetzte, mag gleich hier im Zusammenhang betrachtet werden. (Für das Folgende vgl. Lothar, Das Wiener Burgtheater; Leipzig 1899, bes. S. 143 ff. und Paul Lindau, Laube und Dingelstedt als Regisseure „Nord und Süd“, Bd. 98, S. 160–182.)
Von seiner fascinirenden Wirkung auf die Schauspieler gibt es Zeugnisse genug. Die Frau eines Schauspielers sagte einmal: „Er ist unwiderstehlich; wenn er mir beföhle, von einem Thurm herunterzuspringen, ich müßte es thun.“ Er setzte gegenüber dem herrschenden französischen Geschmack Shakespeare und die Classiker wieder in ihre Rechte. Dadurch blieb er ungerecht gegen das ältere und neue französische Repertoire. Aber auch modernen Schriftstellern: in München Halm und Gutzkow, in Wien Anzengruber, Ibsen; Wilbrandt, auch dem neueren Lustspiel, selbst Possen gewährte er Eingang. Er suchte das Virtuosenthum zu unterdrücken, arbeitete wesentlich auf ein [714] gutes Ensemble hin: er hatte mehr Interesse an der Inscenirung, als an dem wirksamen Herausarbeiten des Dialogs. In allen seinen Anordnungen bewies er feinsten Geschmack, „alle tausend Kleinigkeiten, denen das Publicum kaum irgend welche Bedeutung schenkt, die es als selbstverständlich hinnimmt und die thatsächlich so schwer auf der Bühne durchzusetzen und von so großer Bedeutung sind, regelte Dingelstedt mit wahrhaft feinem Gefühl. Wann und wo Schauspieler sich zu setzen, wann sie aufzustehen haben, wann für Stellungswechsel der richtige Augenblick gekommen war, wie sie zuzuhören, wie sie sich in unbeschäftigten Augenblicken zu benehmen hatten – es war ein wahres Vergnügen zu beobachten, wie reizend er das alles einrichtete. In seinem eigentlichen Element war er aber erst, wenn sich ihm größere scenische Schwierigkeiten entgegenstellten, wenn er mit Massen arbeiten konnte, aus denen sich dieser oder jener loszulösen hatte, wenn er Figuren entweder kaum merklich vorschob oder in wilder Bewegung durcheinanderwarf, wenn er den Eindruck irgend eines hochdramatischen Moments auf eine große Versammlung reflectiren zu lassen hatte, und dabei die einzelnen Interessenten je nach ihrer Eigenart betheiligte“.
Seine bedeutendsten Leistungen waren das Gesammtgastspiel in München 1854, die Vorstellung der Königsdramen Shakespeare’s in Weimar 1864 und der Shakespearecyklus in Wien, 17.–21. April 1875. Der Erfolg der Wiener Vorstellung war ein ganz außerordentlicher und ermuthigte zu Wiederholungen desselben Cyklus in den folgenden Jahren. Das Münchener Gesammtgastspiel umfaßte 12 Vorstellungen: Minna von Barnhelm, Faust, Kabale und Liebe (alle drei je 2 Mal), Maria Stuart, Braut von Messina, Nathan der Weise, Emilia Galotti, Clavigo, Egmont, Der zerbrochene Krug. Mitwirkende waren 12 auswärtige Gäste, 10 einheimische Mitspieler; unter den Ersteren die Damen Haizinger, Marie Seebach, Rettich, die Herren Emil Devrient, Döring, Hendrichs. Der materielle Reinertrag bestand in mehr als 10 000 Gulden. Der künstlerische Erfolg war jedenfalls der, daß vollendete Darstellungen der dramatischen Meisterwerke geboten wurden und dadurch der fruchtbare Gedanke an ähnliche Gesammtgastspiele in Deutschland erzeugt ward. Ueber die Weimarer Festvorstellung drückte sich ein kenntnißreicher Besucher, Adolf Stahr, so aus: „Die Vorstellung war ein hoher Genuß. Die theatralische Leistung der Mitspielenden, Bühne und Zusammenspiel, Arrangement, Costüme, Scenirung, Fleiß und Lust der Schauspieler des höchsten Lobes werth. Als Regisseur ist Dingelstedt fraglos der erste seiner Art in Deutschland. Gegen seine Bearbeitung der Shakespear’schen Stücke dagegen, bei der er oft mit husarenhafter Verwegenheit zu Werke gegangen ist, läßt sich viel einwenden!“ (Für das Folgende vgl. Ad. Stahr, Die Shakespeare-Feier in Weimar, 1864, und Kleine Schriften, Berlin 1875, IV, S. 199 ff.) Zur Aufführung gelangten die 7 Historien: Richard II., Heinrich IV. (2 Theile), Heinrich V. und VI. (letzterer 2 Theile), Richard III. Die Bearbeitung war „von dreister Willkürlichkeit“ und „beeinträchtigte und trübte den Genuß an mehr als einer Stelle“. Sie suchte die Haupthandlung möglichst herauszuschälen und gab geschickt abgerundete Bilder, ging aber zu weit in Kürzungen wie Zusätzen. So verwandelte sie in Heinrich VI. die leidenschaftliche Scene zwischen Margarethe und Gloster’s Frau in ein gewöhnliches Zankduett und machte aus der Fortführung der bestraften Gemahlin durch den Herzog einen förmlichen Mobaufruhr. Sie fügte in Heinrich IV. die der Wittwe Percy Heißsporn’s in den Mund gelegte Erzählung eines Traums ein. Unter den Mitwirkenden waren Grans, Lehfeld, Wünzer die am meisten betheiligten und [715] fast tadellos; unter den Frauen: Hettstedt, Stöhr, Knauff und Bußler besonders zu loben.
Auch in Dingelstedt’s übrigen Bühnenbearbeitungen Shakespeare’scher Dramen herrscht starke Willkür (das Folgende nach einer Mittheilung des Herrn Professor Conrad). „Er begnügt sich hier nicht mit der Weglassung, Verkürzung, Umgestaltung gewisser Scenen und der selbständigen Ausfüllung der durch dieses Verfahren etwa entstandenen Lücken; er erfindet vielmehr neue Motive, führt schattenhaft angedeutete Charaktere in bestimmter Zeichnung aus – so hat er aus dem farblosen französischen Könige in „Heinrich V.“ eine Charakterrolle geschaffen – und dichtet ganze Scenen hinzu – alles zu dem Zweck erhöhter Bühnenwirkung. Den Zweck hat er allerdings erreicht; er hat „Shaksperes Historien“ (Deutsche Bühnenausgabe. 3 Bde., Berlin 1867) auf der deutschen Bühne, wenn auch nicht eingebürgert, doch bekannt gemacht. Aber wenn wir ins Theater gehen, um Shakespeare’s „Heinrich VI.“ zu sehen, wollen wir eben jene Pfuscherarbeit eines unbekannten Dramatikers sehen, die seltsamerweise vom dauernden Tode gerettet wurde durch einige Ströme gesunden dichterischen Blutes, welche Shakespeare ihr an verschiedenen Stellen einflößte. An dem Drama, das D. an die Stelle dieser chimärischen Mißgeburt gesetzt hat, liegt uns wenig, obgleich es zweifellos sich als Ganzes schöner ausnimmt und einen besseren Eindruck hinterläßt als jene. Das, was D. als „Bearbeitung“ bezeichnet, ist eine eigenmächtige Behandlung fremden Eigenthums, wie sie überhaupt nicht, am allerwenigsten aber einem Dichter wie Shakespeare gegenüber zu verantworten ist“.
Zu diesen dramaturgischen Arbeiten kann auch die Herausgabe von J. V. Teichmann’s Literarischem Nachlaß (Stuttg. 1863) gerechnet werden, denn dieses Werk – einestheils der Versuch einer Berliner Theatergeschichte 1740–1840, anderntheils der Briefwechsel classischer Dichter und Schriftsteller mit der Berliner Theaterverwaltung – bewegt sich durchaus auf dramaturgischem Gebiete. Aber was D. zu diesem Werke gethan hat, ist nicht viel: ein kurzes Vorwort über Teichmann’s Leben, Thätigkeit und Bedeutung, ein kürzeres Nachwort über künftige Theatergeschichten, endlich eine zweiseitige Einleitung zu den Briefen, in der er selbst gesteht, nichts weiter als die Sichtung und Anordnung des Briefwechsels besorgt zu haben, der ihm übrigens nur in Abschriften vorlag. Die Anmerkungen im Text, die nichts anderes sind als Verweise auf die Nummern des Briefwechsels, sind gleichfalls sein Werk. –
Trotz bedeutender Leistungen und seines Glückes im Hause, des glänzenden Umgangs mit Dönniges, Liebig und manchen Anderen, trotz vieler Ehrentitel und Orden, die er freudiger annahm, als er Wort haben wollte, war Dingelstedt’s Leben in München nicht allzu glücklich. Der Grund war, daß er die rechte Hofgunst, nach der er strebte, nicht besaß, von König Maximilian an dessen Symposien mit den Schriftstellern und Künstlern nicht zugelassen wurde (vgl. Heyse, Jugenderinnerungen, S. 201 ff.), daß er sich mit den Altbaiern nicht vertrug, die gegen die Norddeutschen einen grimmigen Haß hegten (vgl. die Briefe Pocci’s an Justinus Kerner, Stuttgart 1897, Bd. 2), daß er es mit den Kritikern verdarb, weil er in seiner Selbstherrlichkeit so weit ging, bei einer Münchener Zeitung gegen Julius Grosse, der eine Aufführung getadelt hatte, mit Gewalt einen anderen Kritiker durchzusetzen (vgl. Grosse, Ursachen und Wirkungen, 1896, S. 267 ff.). Alles dieses hätte jedoch nicht seinen jähen Sturz erwirkt. Dieser wurde vorbereitet durch die geringen pecuniären Erträgnisse in den letzten Jahren seiner Theaterleitung und unmittelbar herbeigeführt durch die Dingelstedt’s Muth und ehrlicher Freundschaft zur Ehre gereichende That, daß er bei der Aufführung des „Sohnes der Wildniß“ [716] Friedrich Halm als Verfasser nannte, den thörichten Ansprüchen des bairischen Schullehrers Franz Bacherl trotzend, der Halm des Plagiats, geradezu des Diebstahls geziehen hatte. Durch diese That rief D. einen unerhörten Theatersturm hervor und beschleunigte seinen Sturz.
Im J. 1857 wurde D. ziemlich ungnädig seines Amtes entlassen. Ehe er an eine Wiederaufnahme seiner schriftstellerischen Thätigkeit denken konnte, wurde er durch die Vermittelung des ihm seit lange befreundeten Franz Liszt, der schon vorher beabsichtigt hatte, ihn für die Goethestiftung nach Weimar zu locken, als Generalintendant des Theaters und der Capelle nach Weimar berufen. Am 1. October 1857 trat er die neue Stelle an und behielt sie bis 1867. Auch in Weimar führte er ein recht geselliges Leben, selbst mit Hoffmann von Fallersleben, der ihn früher als Ueberläufer angegriffen, kam es zu einem leidlichen Verkehr. (Vgl. Gedichte von und an H. v. F. bei Rodenberg II.)
D. war eine der Säulen des Neuweimarer Vereins, der, von Liszt gestiftet, Dichter und Musiker vereinte, und im wesentlichen der neuen musikalischen Richtung eine Stütze bereiten sollte. Mit Liszt, der ihm amtlich untergeordnet war, stand er stets in bestem Einvernehmen. Dessen Fortgehen 1859 war nicht die Folge einer Differenz beider Männer, sondern wurde durch Liszt’s Wanderlust, theilweise auch durch seine Unzufriedenheit über den Durchfall von Cornelius’ „Barbier von Bagdad“ hervorgerufen. (Manche haben diese auf Dingelstedt’s Intriguen zurückgeführt.) Dingelstedt’s harmonisches Zusammensein mit dem großen Musiker, auch später in Wien bezeugte das beste Einvernehmen Beider. Doch fehlte es nicht an Unannehmlichkeiten von anderer Seite, hauptsächlich von Gutzkow, der als Generalsecretär der Schiller-Stiftung in Weimar lebte, sich durch Dingelstedt verfolgt wähnte und ihm viele üble Nachreden, auch unwahre Anklagen eintrug. Der beschränkte Wirkungskreis in Weimar füllte D. nicht aus. Er dachte wol an Preußen, hätte gern die Königsdramen auf einer Berliner Bühne vorgeführt, leitete eine „Wintermärchen“-Vorstellung im Berliner Victoria-Theater 1861, die er mit einem schönen Prolog zu König Wilhelm’s erstem Geburtstag eröffnete; 1866 meinte er infolge der Uebernahme der drei neuen Hoftheater, durch Preußen an einer dieser Bühnen für sich eine Stellung zu erlangen.
Statt nach Preußen wurde er, vermuthlich gefördert durch vornehme Damen, die sich in Weimar für ihn interessirten, nach Wien berufen. Dort war er zuerst Hofoperndirector, wurde aber am 20. December 1870 zum Hofburgtheaterdirector ernannt mit 8000 Gulden Gehalt, Belassung der Wohnung im Opernhaus und mit dem Titel eines Königlich-Kaiserlichen Hofraths. (1876 wurde er geadelt.[1]) Als Bedingung hatte er den Bau eines neuen Burgtheaters und die Uebersiedlung des Schauspiels ins alte Kärtnerthortheater gefordert. Das letztere geschah übrigens nicht, da die Kosten der Adaption zu groß waren. Er zog die Regisseure zu größerer Thätigkeit heran, sodaß diese zuerst über die neu eingereichten Stücke ihr Urtheil abgaben, erwirkte ein neues Tantièmengesetz u. a. m. Gelegentliche Verstimmungen legten D. einmal den Gedanken nahe, das Frankfurter Theater zu übernehmen, im allgemeinen aber herrschte schönste Eintracht. 1875 wurde D. Generaldirector der beiden Hofbühnen, trat aber 1880 von der Leitung der Oper zurück. Einer seiner letzten Pläne war die Aufführung des zweiten Theiles des Faust, zu welcher Brahms die Musik schreiben sollte.
Dingelstedt’s Leben in Wien war ehren- und erfolgreich. In seiner Familie war er glücklich. Die Kinder machten ihren Weg, aber der Tod der innigstgeliebten Gattin am 3. October 1876[2] bereitete ihm den größten Schmerz. [717] Bis dahin hatte sich in seinem Hause eine glänzende Gesellschaft versammelt, er selbst blieb bis in sein hohes Alter ein Gesellschaftsstern, liebenswürdig, witzig im Hause und auf der Reise. Zahlreiche ernste und scherzhafte Gelegenheitsverse entstammen den letzten Jahren. Die letzte von D. vorgenommene Arbeit war der Text zu einem von Liszt zu componirenden Oratorium „Der heilige Stanislaus“, eine gut gereimte, mit lateinischen Versen versehene Dichtung, die, auch schon durch ihre ziemlich freie Erfindung, mehr zu einer Oper als einem Oratorium geeignet, von dem großen Musiker zurückgewiesen werden mußte. Die zunehmenden Jahre übten schließlich auf D. ihre Wirkung. Sie machten ihn einsam; auch sein intimster Freund, Fritz Oetker, mit dem trotz einiger Mißhelligkeiten das alte gute Verhältniß immer wieder aufgenommen war, starb vor ihm, am 17. Februar 1881. Am 15. Mai 1881 starb D. Er wurde neben seiner Gattin auf dem Centralfriedhof in Wien begraben, sein überlebensgroßes Marmorbild im neuen Burgtheater aufgestellt.
Dingelstedt’s schriftstellerische Thätigkeit fällt hauptsächlich in die 40er und 70er Jahre. Vieles ist schon angedeutet. Hier sei zusammenfassend von seinen epischen und dramatischen Arbeiten gesprochen.
Das erstere größere Werk ist der Roman „Unter der Erde“. Sein Inhalt ist schnell erzählt. Edmund v. Schallershausen, der Sohn eines reichen nobilitirten (natürlich zum Christenthum übergegangenen) Juden hat Felicia, die Tochter des ersten Ministers eines kleinen Staates, geheirathet. Die Eheleute könnten glücklich sein, zumal sie einen Sohn bekommen, wenn nicht Edmund durch eine schwärmerische Neigung zu Emilie, der älteren Schwester seiner Frau, die lange als Stiftsdame von dem Elternhause fern geweilt hatte, gefesselt würde, und wenn nicht Felicia den Einflüsterungen des Erbprinzen Victor Gehör gäbe. Emilie wird, als sie das Treiben der Schwester entdeckt, wahnsinnig, hat aber noch Kraft, ihrem Schwager das Geheimniß anzuvertrauen; dieser entfernt sich heimlich von Hause, nachdem er den Erbprinzen gefordert und letzterer das Duell angenommen, aber auf sechs Monate verschoben hatte. Das Duell findet statt. Die Zwischenzeit hat Edmund an einem entfernten Ort in stiller Zurückgezogenheit zugebracht. Der Erbprinz wird schwer verwundet, Edmund flieht. Er wird in einem entlegenen Bergdorfe Bergmann, gewinnt unter fremdem Namen (Felix) und ohne Lüftung seines Geheimnisses die Liebe der Tochter des Obersteigers, Dörtchen, die ihren früheren Bräutigam, der übrigens bei einem Grubenunglück stirbt, verabschiedet, muß aber, nachdem er die Liebe des Mädchens genossen, fliehen, da seine Spur aufgefunden wird. Sein Vater in Begleitung seiner Frau und seines Kindes kommen in jenes Dorf, Dörtchen will sich, nachdem sie das Geheimniß, also auch die Ehe ihres Liebhabers erfahren, in den Schacht stürzen, wird zwar gerettet, stirbt aber bald darauf. Als Edmund-Felix nach längeren Irrfahrten wieder zurückkommt, kann er nur ihr Grab besuchen.
Als D. diesen Roman in seine Werke aufnahm, ließ er ihn fast gänzlich unverändert. Er fügte nur ein Schlußcapitel hinzu, mit ein paar Notizen über das Schicksal der Felicia, die irgend einen reichen Mann heirathet, und eine kurze Einleitung zu dem zweiten Buch, die den Uebergang von dem Berg- in den Hofroman ausmacht. Die Eintheilung ist nämlich die, daß zuerst der Bergroman und zwar in Briefen des Felix an einen vertrauten Freund erzählt, im zweiten Buch die Vorgeschichte nachgetragen wird. Statt der früheren drei Abschnitte „Glückauf“, „Sonst“, „Einst“ wählt er nun drei Bücher „Glückauf“, „Schicht“, „Glück zu“. Seltsame Hinzufügungen ähneln der folgenden: in der ersten Fassung erinnern Edmund-Felix beim Anhören [718] einer dörflichen „Romeo“-Aufführung die Melodien an die Weisen Bellini’s; in der zweiten hieß es „oder Gounod’s“; nicht geändert dagegen wurde der Ausdruck: „er lag ihr zu Füßen im verschwiegenen Closet“, ein Ausdruck, den man wol 1840, nicht aber 1877 brauchen konnte, ohne lächerlich zu werden. Der Roman ist so unwahrscheinlich wie möglich: Es ist undenkbar, daß ein allbekannter Cavalier eines Kleinstaates ein Duell mit dem Erbprinzen wagt, daß er wegen dieses Duells nicht mit allen Mitteln verfolgt wird, daß er zuerst sechs Monate, dann eine noch längere Zeit sich gänzlich verborgen halten kann, daß er in seiner Seelenzerrüttung in Deutschland bleibt, um ein neues Leben zu beginnen, statt etwa nach Amerika zu gehen. Es ist schwer denkbar, daß jemand sein schuldloses Kind verläßt, ohne je Nachricht von ihm zu erlangen, daß ein nicht sinnlicher Mensch wie Edmund-Felix immer geschildert wird, namentlich, wenn er ein Rachewerk an seiner Gattin üben zu müssen vermeint, sich sofort wieder verliebt, und zwar auf die erste beste Dorfschöne hineinfällt. Die Technik des Romans, mit der Mitte anzufangen, und den Anfang nachzuerzählen, ist gänzlich verfehlt. Die Ausdrucksweise ist theils gekünstelt, theils salopp; eine Phrase wie „sie wälzte sich auf schlaflosem Kissen“ ist geschmack- oder sinnlos. Eine gewisse Bedeutung besitzt das Buch durch die in ihm gepredigte Gesinnung. Edmund ist ein Jungdeutscher, der für die Ideen der Julirevolution empfänglich ist, der Verfasser ein Demokrat, der gegen die Leere und Aeußerlichkeit des Hoflebens polemisirt, bei den Niedrigstehenden Sittenreinheit, Treue und Tugend findet. Gerade diese politisch-socialistische Tendenz des Romans verschaffte ihm bei seinem Erscheinen viele Leser und Bewunderer.
Die Novellen sind sehr zahlreich, sie können aber nicht nach ihrem Entstehen, sondern nur nach gewissen Gruppen durchgenommen werden, die der Autor, als er seine Werke sammelte, nach ihrem Zusammenhang feststellte. Sie stammen fast ausschließlich aus dem fünften Jahrzehnt, nur wenige aus dem Anfang des sechsten, manche Anspielungen auf die Zeitverhältnisse kommen vor. Vielfach ist von der Post die Rede, während die Eisenbahn kaum eine Rolle spielt; auch litterarische Hinweise auf damals beliebte Stücke, wie „Hampelmann amüsirt sich“ finden sich. Es ist die Zeit, da „Donna Diana“ das einzige Lustspiel war, da man sich über Liszt ereiferte, die Romane von Sue, Dumas und George Sand las. Daraus darf man indessen nicht schließen, daß litterarische Gespräche häufig vorkommen, oder daß viele Urtheile über poetische Schöpfungen ausgesprochen werden: einmal kommt ein solches über Ulrich Bräker’s Schriften vor, ein ander Mal wird eine Unterhaltung über die Wahlverwandtschaften geführt. Doch sollte ein Schriftsteller, der etwas auf sich hält, nicht aus Faust citiren „wenn ihrs nicht fühlt, ihr werdet’s nicht ergreifen“ (statt erjagen). Die Helden der Novellen sind mit Vorliebe Adelige, waschechte Barone und Grafen oder Geadelte. Daneben kommen vielfach Künstler, Dichter, Maler, Bildhauer vor. Der Autor liebt es, seine Helden französisch sprechen zu lassen, übrigens nicht immer ganz correct.
Die Erzählungen bekunden das, was man alte Manier nennen kann. Sie zeigen meist den leicht ironisch gefärbten Ton, der seit Heine Mode geworden war. Gelegentlich führt sich der Schriftsteller selbst ein. Anreden an den „geehrten Leser“ und „die schöne Leserin“ finden sich vielfach.
Den ersten Band der „Werke“ nehmen die „Badenovellen“ ein, deren Bezeichnung nach den einzelnen Badeorten: Ischl, Karlsbad, Kreuth, Ems, Baden-Baden, Helgoland etwas Gekünsteltes an sich hat; denn wenn man etwa Kreuth und Helgoland ausnimmt, könnte jede Geschichte auch irgend wo anders passirt sein. Das eigentliche Localcolorit fehlt, trotz der Anführung [719] von Straßen, Bergen, Häusern. Die meisten der Novellen verkünden glückliche und unglückliche Liebe. „Reine Liebe“: ein verzogenes Mädchen erhört keinen Freier, will auch nicht den vom Vater ihr zugedachten Vetter ehelichen und heirathet ihn schließlich doch, nachdem sie sich als Fräulein Müller verkleidet, in ihn, der als Maler Daniel Stern auftrat, und ihr ganzes Wesen von Grund aus umgestaltete, sterblich verliebt hatte. „Der Schein trügt“: eine verbrauchte Intriguengeschichte; ein Baron läßt sich durch ein Complott seiner auf seine Besitzungen erpichten Agnaten verleiten, an die Untreue seiner Gattin zu glauben, wird aber durch Vermittlung einer Gräfin, die er liebt, von dem an ihr begangenen Frevel und dem durch ihn geschehenen Unrecht überzeugt. „Molkenkuren“, ein etwas öder Parallismus: ein Graf, der eine Sängerin geliebt, die sich durch eine Verheirathung mit einem Standesgenossen ihm entzogen, wird glücklich mit einer Tänzerin, die einen Grafen heirathen sollte, der sich am Vermählungstage nach heftigen Vorwürfen seiner Schwester, einer mediatisirten Fürstin, durch Selbstmord aus dem Staube gemacht hat. Neben diesen Darstellungen glücklicher Liebe gibt es auch zwei unglückliche. „Eselfritze“: die Neigung eines Eseljungen zu einer adeligen Dame; er zieht ihr, die in ihrer Ehe unglücklich ist, nach und ertrinkt. Eigentlich hübsch ist nur die letzte Novelle „Das Mädchen von Helgoland“, die einzige, in der der Erzähler selbst als Hörender und Mithandelnder erscheint. Die Helgoländerin rettet einen Amerikaner und heirathet ihn. Er stirbt, sie wird von der Familie unwürdig behandelt und geht nach ihrer Heimath zurück.
Der zweite Band „Bunte Reihe“ enthält meist moderne Erzählungen. Nur zwei sind historisch, „Das böse Auge“ und „Meister Gutenbergs Tod“. Die letztere, etwas sentimental, bringt einen Sohn aus einer französischen Liebschaft des Meisters herbei, der des Alten letzte Tage verklärt und ihm treu bleibt, nachdem dem viel verfolgten, schließlich Erblindeten, zuletzt die Gnade des Mainzer Erzbischofs gelächelt. Die erstere spielt im dreizehnten Jahrhundert ganz in der Nähe von Fulda und führt die dämonische Frau Winfriede von Ebersberg dem Leser vor. Sie wüthet förmlich in Blut und Leichen, denn nachdem Winfriedens Gemahl, ein gewaltiger Raubritter, hingerichtet worden, wird der Abt Berthold der Zweite, auf Anstiften der Winfriede, die ehemals von jenem verlassen worden war, von den Brüdern des Hingerichteten abgeschlachtet und schließlich diese und ihr ganzer Anhang im Rachekampfe getödtet. Das Historische steht D. ebenso wenig an, wie das Dämonische, der Charakter jener Frau mit dem bösen Blick bleibt durchaus unerklärt, gerade wie die Zeit Gutenberg’s, trotz der angeführten Urkunden und des ein wenig archaistischen Tones der Sprache. „Kinderliebe“ erzählt die unglückliche Liebe eines nachgeborenen englischen Edelmanns. Es ist eben nicht sehr geschickt, daß wir fünf Seiten lang in einer Conditorei der Stadt Hannover warten müssen, um dem Schriftsteller zur Bekanntschaft des wenig interessanten Engländers zu verhelfen. „Blinde Liebe“ berichtet von einer nicht minder unglücklichen Neigung zweier Nachbarskinder, eines hübschen Mädchens und eines jüdischen Arztes, die, nach der Entfernung des Letzteren dreißig Jahre getrennt, sich noch einmal verlassen, nachdem der Arzt die wirklich Erblindete wieder sehend gemacht hatte. Unglückliche Liebe ist auch das Thema der „Nachbarkinder“, eines Kaufmannssohnes und einer Officierstochter, wo Reichthum und Armuth höchst seltsam bei den Personen der Handlung abwechseln und die etwas spröde Geliebte sich ihres Jugendfreundes erst erinnert, als es zu spät geworden. Nur „Die Schule der Welt“ zeigt den Dichter in seinem Fahrwasser: zwei deutsche Jugendfreunde, die in Paris zusammenkommen, sich in der Gunst einer Gräfin ablösen, sich schließlich [720] duelliren, obgleich sie durch innigste Jugendfreundschaft aneinander gefesselt sind, aber durch diesen Kampf geläutert werden; die Gräfin entschwindet ihnen, aber auch die wirkliche Geliebte des Einen, die der Andere nur kurze Zeit begehrt, die, da sie sich verlassen sieht, sich den Tod gibt. Das Ganze ist ein bischen ausgeklügelt und künstlich zugespitzt, aber eine gute Beobachtung des deutschen Journalisten- und Diplomatentreibens in dem Paris der 50er Jahre macht sich geltend, und die frische Darstellung eines zwar nicht durch das Gesetz aber durch die Sitte geheiligten Grisettenthums. Die Sprache in diesen Novellen ist manchmal geziert, z. B. „ihr Herz war so kalt, daß es der Frost nicht tiefer durchschauern konnte, und so dunkel, daß kein Licht darin Eingang fand“. Ein Schriftsteller, der so stolz auf sein Französisch war, wie D., sollte nicht „Boulevart“ schreiben, eine Schreibart, die zwar von der Akademie zugelassen, aber höchst ungewöhnlich ist, und dürfte gewiß nicht „in ihr Fauteuil“ sagen.
Am frischesten sind die „Künstlernovellen“ (Gesammelte Werke III). In der Schilderung des Künstlervölkchens, dem er selbst angehört, fühlt sich der Erzähler am wohlsten. Hier ist die flotte humoristische Erzählungsart, gelegentlich ein burlesker Humor, am meisten angebracht. In diesen Künstlergeschichten sind jedenfalls Typen verwendet, die der Dichter nicht zu erfinden brauchte, sondern in seinem Milieu vorfand: der Klexer, der sich für ein Genie hält, und nachdem er den von ihm erwarteten Preis nicht erhalten und einen verunglückten Selbstmordversuch gemacht hat, Handwerker und Ehemann wird und ein vortreffliches Leben führt („Der Schmied von Antwerpen“); der Dichter, der ein reiches Mädchen freit, sich, durch den geldstolzen Schwiegervater gereizt, Selbständigkeit und Ruhm erwirbt, aber aus innerer Leere und Mangel an Liebe zu seiner Gattin sich das Leben nimmt („Der arme Poet“); Karl Faulstich (genannt Carlo Farniente), der aus den elendesten Verhältnissen heraus, Hofdichter wird, und seine schwärmerisch geliebte Näherin heimführt („Der reiche Poet“). Die letztere Geschichte, wenn auch freilich das Liebesverhältniß und die Sitten des Dichters gar zu grotesk sind, liest sich recht gut. Die engeren Berufscollegen des Dichters, die Helden der beiden letzten Novellen, sehen völlig so aus, als wenn sie nach lebenden Mustern gearbeitet wären. Diesen sehr lebendigen Novellen gegenüber stehen merkwürdig altmodische und sentimentale. Die eine („Myrthe und Lorbeer“) wimmelt dazu noch von Unglaublichkeiten. Ein italienischer Sänger kommt mit seiner Tochter nach Deutschland, findet dort einen Sohn des von ihm in Italien getödteten Verführers seiner Frau, will auch diesen vernichten, trifft aber statt dessen einen Gönner, einen reichen Künstler, der freilich großherzig zu Gunsten seines Freundes, eines Kritikers und Dichters, zurückgetreten war und kurz vor dem Sterben Letzteren zum Erben einsetzte. Wenn schon hier unglaubhafte Voraussetzungen, unwahrscheinliche Entwicklung, conventionelle Typen den denkbar schärfsten Contrast zu den eigentlichen Künstlererzählungen bilden, so gemahnt die Novelle „Vier Jahreszeiten“ gar zu sehr an das Thema von Lorbeerbaum und Bettelstab. Ein Bauernmädchen, das eine große, verwöhnte Künstlerin geworden und durch die Verheirathung mit einem Grafen von der Bühne entfernt worden war, sehnt sich nach dieser zurück, fällt aber, da sie ihre Stimme verliert und den Reiz beim Publicum eingebüßt hat, schmählich durch. Dies ist eine so comödienhafte Erzählung, daß sie in keiner Spur Dingelstedt’s Gepräge zeigt, und auch nicht wahrscheinlicher wird dadurch, daß ihr Schauplatz nach England und Italien verlegt wird. Einem ganz anderen Genre endlich gehört die Schlußnovelle („Deutsche Nächte in Paris“) an. Ihre Einleitung ist höchst stimmungsvoll. Drei Deutsche, ein Buchhändler, ein [721] Lehrer und ein Dichter finden sich in einem Winkelcafé in Paris zusammen und erzählen sich dort ihre Liebesabenteuer; dieser Bericht ist nicht gerade frivol, denn die Darlegung des Liebesgenusses des Buchhändlers mit zwei Ladenfräuleins und des Lehrers mit einer Gesandtenfrau werden im Vergleich zu modernen realistischen Darstellungen höchst decent erzählt. Sie athmen die frische Genußfreudigkeit des aus dem Zwange deutscher Provinzialstädte in das freie Paris versetzten Dichters. Sie geben ferner der Vermuthung Raum, daß hier Abenteuer benutzt sind, die so oder ähnlich dem Erzähler begegnet sein könnten (übrigens erinnert manches an die schon oben behandelte „Schule der Welt“), oder daß Persönlichkeiten gezeichnet werden, die Dingelstedt’s Umgangskreis in der Seinestadt ausmachten. Der Lehrer, der scherzhaft Diplomat genannt wird, trägt Züge seines Wesens; vielleicht versteckt er sich auch unter dem Dichter, der statt der Erzählung, die man von ihm erwartet, einen Brief schickt, in welchem er den Bericht für die Zukunft verspricht. Endlich – und das ist das merkwürdigste – gibt sie vollkommen die antiaristokratische Gesinnung des Romans „Unter der Erde“ wieder (vgl. Werke II, 324) und bietet (a. a. O. S. 276) ein treues Bild der Flüchtlingsstimmung, wie sie bei freiwillig und unfreiwillig Verbannten am Anfang der 40er Jahre herrschte.
Die erzählenden Dichtungen, die mit Romanen begannen, schließen auch mit einem solchen. „Die Amazone. Roman in zwölf Kapiteln“, zuerst 1868 erschienen, jetzt Werke VI, kann am besten den Künstlernovellen angereiht werden. Das große Werk, das freilich auf seinen immerhin mäßigen Umfang stolz, am Schluß auf die drei- bis neunbändigen Ungethüme ironisch hinweist, ähnelt den kleineren in der flüssigen, humoristisch gefärbten, manchmal etwas geistreichelnden Manier, ferner dadurch, daß Künstler die Hauptpersonen bilden. Es unterscheidet sich jedoch von ihnen durch den Umstand, daß außer auf die Aristokratie des Geistes auch auf die der Geburt großer Werth gelegt wird, sodaß schließlich die Primadonna sich als Tochter eines alten schottischen Adeligen entpuppt, ferner durch einen heftigen Spott gegen jüdische Journalisten, von denen in Hirsch Meyer und Meyer-Hirsch recht böse Zerrbilder gegeben werden. Denn daß Kritiker angesehener Blätter wirklich so bestechlich und gemein sind, und wie diese noch 1868 in schlimmster Weise mauscheln, glaubte D. wol selbst nicht. Der Roman spielt in einer deutschen Residenzstadt, vermuthlich Stuttgart. Ob der König und der österreichische(?) Gesandte Porträts sind, läßt sich nicht entscheiden. Sicher sind es indessen andere Frauen- und Männergestalten: die Heldin, die Amazone, die ihren Beinamen, wonach auch der Roman genannt ist, nicht etwa von ihren kriegerischen Neigungen, sondern von einer Oper führt, in der sie die Hauptrolle creirt – vielleicht nach des Dichters Gattin –, der Bankier, der Künstler, dessen Factotum, sie alle sind nach wirklichen Modellen geschildert. Die Geschichte selbst ist nicht einwandsfrei, wenn sie auch in dem Bankier eine vorzügliche Figur darstellt, eine moderne Finanzgröße, deren Speculationen, deren Thätigkeit bei der Emission neuer Eisenbahnpapiere und deren Machenschaften in amerikanischen Effecten bei Gelegenheit des Krieges mit den Südstaaten höchst charakteristisch vorgeführt werden, ferner prächtige Darstellungen des Vorzimmers einer Diva und einer Künstlerwirthschaft bietet. Schon die Technik gibt zu manchen Bedenken Anlaß: daß alle vier Helden, der Künstler, die Sängerin, der Bankier, der Gesandte, ihre Geschichte ziemlich rasch nacheinander etwas langathmig erzählen, ist ermüdend und ungeschickt. Daß der Gesandte im Auftrage des Künstler und des Bankiers bei der Sängerin um ihre Hand anhält, ihr von [722] Beiden abräth, sich selbst empfiehlt, jedoch, da er sie durch eine Indiscretion in große Empörung versetzt, schließlich die Tochter des Bankiers heirathet, während der Künstler Roland – Paphnutius Meyer, der Sohn eines Hirten – mit der Amazone Seraphine Lommond, eigentlich einer Gräfin v. Menteith, glücklich wird, – das Factotum des Künstlers und die böhmische Zofe der Künstlerin bilden dann das dritte Paar, – leidet doch recht stark an innerer Unwahrscheinlichkeit. Das Ganze ist aber frisch und lustig erzählt. Die Charaktere werden gut aus einandergehalten; die Apologie des rothen Haares (S. 55) wirkt ebenso modern, wie der Zweifel unmodern ist, ob es auch Rechen- und Schreibmaschinen geben werde (S. 277). Viele amüsante Schilderungen wechseln mit schlechten Witzen: die Bemerkung, daß es unmöglich sei mit den Namen Meyer und Schmidt berühmt zu werden (S. 77), die Erklärung des Wortes Geschäftsträger als träg in Geschäften (S. 206) oder die Bemerkung, die neue Musikschule führe vom „Wagen“ den Namen (S. 143), wobei erwähnt sein mag, daß gegen die Zukunftsmusik, trotz aller Freundschaft mit Liszt, häufig spöttische Bemerkungen vorkommen. Die Typen aus der Theater-, Kunst-, Börsen- und Diplomatenwelt sind scharf beobachtet und wahrheitsgetreu dargestellt; einer bestimmten Tendenz soll der Roman ebenso wenig dienen, wie der Darlegung großer Gedanken. Gegenüber der leichtfertigen Art, mit der sonst Theaterprinzessinnen dargestellt werden, ist der Eifer auffallend, mit welchem hier die Jungfräulichkeit der Primadonna vertheidigt wird.
D. war kein Dramatiker. Zwar seine mannichfachen Prologe aus der Kasseler Zeit, aus Stuttgart, Weimar, München, Wien, die ein Menschenalter hindurchgehen, von etwa 1840 bis 1875, sind stimmungsvoll und den Umständen gemäß. Sie geben Wagner die Ehre, ebenso wie Shakespeare, Molière, Schiller, Beethoven; gewähren Huldigungen einigen Fürsten und finden den rechten Ton, um zum Wohlthun aufzurufen. Seine größeren Dramen indessen beweisen seine Unfähigkeit als dramatischer Dichter. Von dem „Gespenst der Ehre“ ist schon die Rede gewesen, aber auch sein berühmtes Trauerspiel „Das Haus des Barneveldt“ in fünf Aufzügen ist keine vollendete Leistung. Das Trauerspiel beweist fleißige geschichtliche Studien; den Stoff hatte er schon in seinem Buch „Jusqu'à la mer“ angedeutet und gab am Schlusse der ersten Ausgabe als seine Quelle Kampen’s Geschichte der Niederlande und die dort angeführten Gewährsmänner an. Die drei verschiedenen Kreise des Dramas, Moritz von Oranien und die Seinen, die Familie Barneveldt, die Verschwörer, sind gut aus einander gehalten. Auch enthält das Drama einige höchst wirksame Scenen. Im ersten Act das erfolglose Erscheinen Oranien’s im Barneveldt’schen Hause, um die alte Frau zu veranlassen, den Gatten zur Umkehr zu bewegen, im letzten Acte das gleichfalls vergebliche Erflehen der Gnade Oranien’s durch die alte Frau und ihre Schwiegertochter Wallburg; im dritten die Verschwörungsscene und Anderes. Aber die Umkehr der zwei zum Morde Oranien’s gedungenen Gesellen, des Soldaten Faassen und des Malaien Siad, der, wie man richtig bemerkt hat, an den Mohr in Schiller’s Fiessco erinnert, ist nicht genügend motivirt, obwol die Scene effectvoll genug ist. Ebenso wenig begründet ist die Liebe der Wallburg zu ihrem Schwager Rainer, dem ältesten Sohne des Barneveldt’schen Hauses, und die durch sie geschehende Aushändigung des für Rainer ausgestellten Freibriefes an dessen Bruder, ihren Gatten Wilhelm, der von ihr und der Mutter verachtet wird, eine That, die man bei ihrer Liebe zu Rainer schwer versteht. Der Charakter dieses Rainer bleibt völlig unklar; er ist ein Mann der Ordnung, will sich zur Verschwörung nicht verleiten lassen [723] und doch unterschreibt er schließlich den Wechsel, wodurch, wie er weiß, die Möglichkeit der Verschwörung gegeben ist. Von seiner großartigen Stellung, seiner Beliebtheit beim Volke, seiner Unentbehrlichkeit für das geplante Unternehmen wird beständig gesprochen, ohne daß diese Stellung und Berechtigung erklärt wird. Der Schluß ist verfehlt. Statt einer Tragödie großen Stils gewährt er ein schwächliches, durch die Vorgeschichte unbegründetes Melodrama. Wilhelm, der auf jenen Freibrief hin sich gerettet hatte, kehrt zurück. Statt von Mutter und Gattin verstoßen zu werden, eine That, die im Wesen dieser heroischen Frauen begründet wäre, wird er nach einem unglaubhaften Reuebekenntniß von Beiden wieder aufgenommen. Die Unschuldigen, an denen man Interesse hat, gehen zu Grunde, die Schuldigen bleiben am Leben, – ein schwacher Ausgang eines mit kraftvollen Scenen und manchen gutgezeichneten Typen gesättigten Stückes.
Die mir vorliegende gedruckte Bühnenhandschrift aus Hemsen’s Besitz bietet übrigens zahlreiche Verschiedenheiten gegenüber dem in den Werken aufgenommenen Text. Einzelne Personen treten hier auf, die später weggelassen sind, z. B. die Stiefmutter Moritzens, Ludowika, Prinzessin von Oranien. Vor allem war der Schluß ganz anders. Wilhelm kommt auch hier zurück, will sich, nachdem die Mutter ihn verstoßen, erdolchen, läßt aber auf Befehl der Mutter den Dolch fallen. Nun wird Rainer zu ihr geführt, um vor seinem Todesgang sich den mütterlichen Segen zu holen. Wallburg erklärt ihm ihre Liebe und er wird zum Tode abgerufen. Auch dieser melodramatische Schluß ist zwar kein Meisterstück, aber natürlicher als der in der neuen Ausgabe hinzugedichtete. Das Stück wurde auf vielen deutschen Bühnen, Dresden, Stuttgart, München, Mannheim mit Erfolg zur Aufführung gebracht.
Dramatische Pläne beschäftigten D. außerdem genug. Am häufigsten Milton und André Chenier, Pläne, über die er den Rath von Fachgenossen, Hackländer und Devrient, einholte. Der letztere Plan ist deswegen merkwürdig genug, weil er in dieselbe Zeit fällt, in der Griepenkerl, Gottschall u. A. die französischen Revolutionsmänner zu Dramenhelden wählten. Auch die ungarische Revolution wollte er in seinem Drama „Der Ungar und sein Kind“ bearbeiten, wurde aber von der Bearbeitung durch das Bedenken abgehalten, die österreichischen Bühnen sich zu verschließen. Auch eine dramatische Satire auf 1848 war beabsichtigt; einem Plan (Armida) gab die Lola Montez-Episode ihren Ursprung. Daneben war ein Lustspiel „Herr Oberkellner“ und andere beabsichtigt. Doch über alle diese Dramen vermögen die einzig erhaltenen „Geistreichen Frag- und Antwortspiele“ zwischen D. und seinen Freunden keine genügende Auskunft zu geben.
Unter seinen dramaturgischen Arbeiten sind außer dem „Literarischen Bilderbuch“ (Berlin 1878), das eine Anzahl Essays, die auf Dramen bezüglich sind, enthält, hauptsächlich die Goethe, Molière und Shakespeare gewidmeten Arbeiten zu erwähnen. Ueber die Bearbeitung Shakespeare’s ist oben gesprochen. Wol aber muß über die Shakespeare-Uebersetzung hier ein Wort gesagt werden. Ueber sie, die im J. 1867 erschien, verdanke ich Herrn Professor H. Conrad folgende Bemerkungen: „Sie hat unter den Gebildeten Deutschlands niemals recht Wurzel fassen können. D. hat nur vier Dramen übersetzt; seine Arbeit ist nicht als hervorragend gelungen zu bezeichnen. Obgleich es ihm als geborenem Dichter und leidlichem Kenner der englischen Sprache leichter als seinen Mitarbeitern Jordan, Seeger, Simrock u. A. wird, den Sinn schwieriger und bedeutsamer Stellen zu fassen und in schöner Form zu gestalten, sehen wir doch zu Zeiten seinen philologischen Eifer erkalten und [724] sein Ringen nach Formvollendung matt werden, und neben Stellen, die wir als classische Wiedergabe des Shakespeare’schen Textes empfinden, treten uns nur zu häufig andere entgegen, die nicht genügend durchdacht, leichthin, gleichsam im Negligé aufs Papier geworfen und kaum noch als Verse anzusprechen sind. Charakteristisch für seine Uebersetzung ist einerseits die Unfähigkeit, der markigen Kraft und gewaltigen Leidenschaft des Dichters gerecht zu werden, andererseits die Willkür in der Auslassung ganzer Sätze und der Verkürzung längerer Passagen“. Die Bühnenausgabe des „Geizigen“ ist völlig verfehlt. Auch das Goethe gewidmete Buch, eine „Fausttrilogie“ (Berlin 1876) halte ich für verkehrt. Den ersten Theil der Dichtung auf zwei Abende zu vertheilen, den zweiten einem einzigen zuzuweisen, ist Unrecht gegen den letzteren. Der erste Abend sollte die Prologe und das sogenannte Monodrama, der zweite den ersten Theil, vom Osterspaziergange bis zum Ende der Gretchentragödie, enthalten. Die einzelnen Vorschläge zeigen den praktischen Bühnenmann, sind aber zum Theil sehr bedenklich. Aus dem Studirzimmer soll Faust und Mephisto auf einem Flugwerk hinausfliegen und währenddessen das ganze Zimmer abbrennen und einstürzen; in Auerbach’s Keller sollte jeder Student einen anderen Dialekt reden. Geradezu antigoethisch ist der Vorschlag, daß in der Hexenküche nicht ein Bild erscheinen, sondern eine wirkliche Schönheit dargestellt werden sollte, die zuerst schläft, dann die Arme ausstreckt und aus dem Bilde herauszuwachsen scheint, oder gar die Anweisung, Gretchen solle, nachdem sie sich ausgezogen, aus dem Vorhang herausblinzeln nach der Stelle, wo Faust und Mephisto stünden. Brauchbar ist nur die Anwendung der Wandeldecoration für die Walpurgisnachtscene und einzelne andere. Die Willkürlichkeiten im zweiten Theil sind ungeheuer; im zweiten Act bleibt nach Dingelstedt’s Angabe kein Stein auf dem anderen. Gestrichen sind die Homunculus-, Wagner-, Baccalaureus-, Euphorion-Scenen. Von der classischen Walpurgisnacht bleibt nur ein kurzes Spiel, das hinter einem durchsichtigen Gazevorhang dargestellt wird. Auf diese Weise werden die fünf Acte der gewaltigen Tragödie in vier zusammengezogen. Der Lust des Decorateurs und Musikers wird Genüge gethan. Als Hauptbestreben des Bearbeiters erscheint der Wunsch, Faust in den Vordergrund zu rücken und ihn nicht durch die Masse der Nebenscenen zurückdrängen zu lassen.
In seinen Aufzeichnungen über D., die den rein biographischen Mittheilungen dieser Arbeit, aber auch nur diesen, zu Grunde gelegt sind, braucht Rodenberg einmal das richtige Wort: „Der Dingelstedt, welcher leben wird, sei es auch nur in unseren Schulbüchern und Anthologien, ist der, welcher das Gedicht von der Weser, den Jordansgesang, die Nachtwächterlieder, den Roman, die drei Stücklein aus dem Todtentanz, die poetische Chronik seines Hauses geschrieben hat“. Vieles von diesen lyrischen Meisterwerken ist bereits oben behandelt und genügend gewürdigt. Wesergesang, Roman und Todtentanz verdienen hier noch ein Wort. Das Weserlied ist ein herrlicher Gesang, Natur und Geschichte mit warmen poetischen Worten preisend, in der älteren Fassung romantischer und nicht so historisch-patriotisch zugespitzt als in der zweiten. Der Roman, ein Intermezzo in 20 kurzen Gedichten, ist von gewaltiger Kraft und großer Wirkung: die erotische Schilderung einer den ganzen Menschen packenden Liebe. Die drei Stücklein aus dem Todtentanz (München 1849) stellen ungemein ergreifende Todesbilder aus der Münchener Cholerazeit dar: eines Schneiders, der im Würfelspiel die niedrigste Nummer gezogen, eines Hofschauspielers, der mit seinem Mütterlein nach München gepilgert, einer Amme aus einem Grafenhause. Man muß den farbenprächtigen Roman und diese düsteren Todtentanzbilder nacheinander lesen, um die große Kraft, die hinreißende [725] Gewalt dieses Lyrikers zu erkennen. Nicht minder verschiedenartige Töne weiß er in seinen Familien- und Gelegenheitsdichtungen zu finden. Treue, unentwegte, im Alter nicht erkaltende Liebe zu der Gattin, innige Zärtlichkeit zu den Kindern, herzliche Anhänglichkeit an die Freunde, graziöse Huldigungen für die Schönheit, ehrfurchtsvolles Beugen vor den großen Geistern, das alles findet man in tadellosen Versen, reinen, niemals gekünstelten Reimen ausgedrückt. Dazu kommen aus allen Perioden, denen des Lehrers, Flüchtlings, des Intendanten und des Barons ein treues Festhalten am Deutschthum, die Hoffnung auf eine gesegnete Entwicklung und Einheit des Vaterlandes. Der Poet, der 1866 trotz seiner österreichischen Sympathien dem König von Preußen in warmen Worten die Idee des Kaiserthums ans Herz legte, der Dichter, der seine in Triest lebenden Enkel beschwor deutsch zu bleiben in Gesinnung und Sprache, durfte mit Recht von sich sagen, daß er „ein deutscher Dichter“ war.
- Julius Rodenberg, Heimathserinnerungen an Franz Dingelstedt und Friedrich Oetker. Berlin 1882; – Ders., Franz Dingelstedt. Blätter aus seinem Nachlaß. Mit Randbemerkungen. 2 Bde. Berlin 1891 (Hauptwerk, mit vielen ungedruckten Briefen und Gedichten). – Einzelnes: Briefe an Gustav Kolb, N. Fr. Pr. 1. u. 5. März 1882; an Halm: Grillparzer-Jahrb. Bd. 8; Briefe an Döbler: Deutsche Dichtung, 1897 (August); an Liszt: Briefe, hsg. von La Mara, 2 Bde., Lpz. 1893 f. Einzelne Briefe (Hs.) in der Kgl. Bibl. Berlin; andere im Nachlaß Ad. Stahr’s. – Notizen in: Adelheid v. Schorn, Zwei Menschenalter. Erinnerungen und Briefe. Berlin 1901. – Die Schriften sind oben einzeln genannt. Das Hauptsächlichste ist zusammengestellt in: Franz Dingelstedt’s Sämmtliche Werke. Erste Gesammtausgabe in 12 Bänden. Berlin, Paetel 1879. 1. Abtheilung: Erzählende Dichtungen 6 Bde.; 2. Abth.: Lyrische Dichtungen 2 Bde.; 3. Abth.: Theater 4 Bde.
[Zusätze und Berichtigungen]
- ↑ Dingelstedt, Franz XLVII 716 Z. 14 v. u. l.: (1867 von Ludwig II. v. Baiern geadelt, wurde er 1876 von Kaiser Franz Joseph in den Freiherrnstand erhoben). [Bd. 56, S. 395]
- ↑ Z. 1 v. u. l.: 1877 (statt 1876). [Bd. 56, S. 395]