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ADB:Brückner, Alexander

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Artikel „Brückner, Alexander“ von Richard Hausmann in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 55 (1910), S. 688–691, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Br%C3%BCckner,_Alexander&oldid=- (Version vom 25. Dezember 2024, 07:00 Uhr UTC)
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Band 55 (1910), S. 688–691 (Quelle).
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Brückner *): Alexander B., Professor der russischen Geschichte an der Universität Dorpat, wurde als Sohn einer finländischen Familie am 5. August 1834 in Petersburg geboren. Er besuchte die deutsche Kirchenschule zu St. Peter und wandte sich, durch häusliche Verhältnisse bewogen, dem kaufmännischen Berufe zu. Bald aber bezog er im J. 1857 deutsche Universitäten, studirte in Heidelberg, Jena und Berlin unter Häusser, Droysen, Ranke, Raumer und Anderen und erwarb 1860 auf Grund seiner Dissertation „Zur Geschichte des Reichstages zu Worms 1521“ in Heidelberg den Grad eines Doctors. In den folgenden Jahren war er in Petersburg pädagogisch und journalistisch thätig, wurde hier 1864 Magister der Geschichte und habilitirte sich an der Universität. Im J. 1867 wurde er in Dorpat zum Doctor der Geschichte promovirt und von der Regierung zum Professor der allgemeinen Geschichte an der jungen Universität in Odessa ernannt. Von dort siedelte er 1871 als Professor der russischen Geschichte nach Dorpat über, mit der Verpflichtung, seine Vorlesungen über dieses Fach in russischer Sprache zu halten. Im J. 1878 wurde er Decan, 1888 Prorector (Universitätsrichter). Trotz seines Wunsches, noch länger in Dorpat thätig zu sein, wurde er bei der Russificirung der Universität 1891 von der Regierung seines Amtes in Dorpat enthoben, jedoch um das Recht auf eine bessere Pension zu erwerben, zum Professor in Kasan ernannt. Doch hat er dieses Amt nicht angetreten, sondern zog nach Jena, das er und seine Frau Lucie geb. Schiele, die dort herangewachsen war, stets gern gehabt hatten. In Jena ist B. am 15. November 1896 gestorben.

Außer historischen hatte er vielfach nationalökonomische Studien getrieben, kannte mehrere moderne Sprachen, schrieb mit gleicher Fertigkeit deutsch und russisch. Zahlreiche seiner Arbeiten hat er in beiden Sprachen verfaßt. Er war sehr fleißig, schrieb rasch und viel. Neben umfangreichen selbständigen Werken sind in russischen und deutschen Zeitschriften Aufsätze in großer Menge von ihm erschienen.

Gern erörterte er, der Schüler Droysen’s, Fragen der Theorie der Geschichte: über historische Seminare und Uebungen, über Lehrmittel bei historischen Studien, über Theorie und Geschichte der Geschichte. In einer 1886 gehaltenen Festrede meinte er, der Geschichtsforschung neue Wege weisen zu können: man habe bisher mehr gesammelt als verarbeitet, sich zu viel mit dem Besonderen, zu wenig mit dem Allgemeinen beschäftigt; die als Hauptaufgabe der Geschichte hingestellte Forderung, zu sagen, wie es eigentlich gewesen, gebe allenfalls das Gerippe der Begebenheiten, nicht aber die Geschichte selbst; erst durch die Emancipation von dem Besonderen wird die Geschichte zur Wissenschaft; lernt sie nicht mit Thatsachenreihen, Massenbeobachtungen operiren, so bleibt sie ein bloßes Wissen. Dem gewöhnlichen chronologischen Querschnitt des Stoffes zog B. den Längsschnitt vor (Geschichte Rußlands, Vorrede). Auf Thatsachenreihen legt er allen Nachdruck, indem er auch in seinen umfassenderen Werken, die große Zeiträume umspannen, die verwandten Erscheinungen des Staatslebens durch die ganze Zeit zusammenhängend in gesonderten Abschnitten monographisch behandelte und an deren Schluß das Ergebniß als Thatsachenreihe zusammenstellte.

B. ist vor allem Culturhistoriker. Der Entwicklung und Aenderung der Ideen, Vorstellungen und Sitten wendet er viel mehr Aufmerksamkeit zu als den politischen Ereignissen. Daneben nehmen bei ihm die Fragen des wirthschaftlichen Lebens einen großen Raum ein, er hat solche in zahlreichen Aufsätzen [689] monographisch behandelt, so über den Domostroí; ein Hausbuch des 16. Jahrhunderts, über des Patriarchen Nikon Ausgabebuch vom Jahre 1652; hierher gehören finanzgeschichtliche Studien über Kupfergeldkrisen in Rußland 1656–1663 und Schweden 1716–1719, hieher die Arbeit über Russische Geldfürsten des 18. Jahrhunderts, hieher eine Reihe Untersuchungen über Iwan Possoschków († 1726), der über Armuth und Reichthum sowie über Ideen und Zustände in Rußland zur Zeit Peter’s d. Gr. handelte.

Der Geschichte Peter’s des Großen hat B. viel Arbeit zugewandt: er wies auf die Bedeutung der petrinischen Reformen für Staat und Gesellschaft hin, daß Ausländer vielfach die Gehülfen des Zaren gewesen, er schrieb den Berichten dieser Fremden, Gordon, Vockerodt, Pleyer, Weber, so große Bedeutung zu, daß er sie zu überschätzen schien. Eine Biographie des unglücklichen Kronprinzen Alexei (1690–1718) verfaßte er 1880. Der Geschichte des Kaisers selbst ist ein Band gewidmet in Oncken’s Allgemeiner Geschichte: „Peter der Große“, 1879, mit Porträts; eine ausführlichere russische Bearbeitung mit noch mehr Bildern erschien 1882. (Eine ausführliche Kritik von Schirren in den Götting. gel. Anzeigen 1880; eine Antwort von B. in Sybel’s Histor. Zeitschrift 1881.) Weitere Arbeiten über Biron, die Familie Braunschweig, die Grafen Rasumówski behandeln die Zeit nach dem Tode Peter’s. Ihr wandte sich B. besonders in seinen letzten Lebensjahren zu, forschte für sie in verschiedenen Archiven, lieferte nach österreichischen, dänischen und englischen Materialien Beiträge zur Geschichte der Regierungen Katharina’s, Peter’s und Anna’s (1725–1740).

Neben Peter dem Großen hat B. sich viel mit Katharina II. (1762 bis 1796) beschäftigt. Eine große Zahl Aufsätze handeln über diese Zeit: so über Pugatschéw, über Potémkin, über den Briefwechsel der Kaiserin mit Grimm und Zimmermann, über ihre Reisen, namentlich die große nach Süd-Rußland 1787, ihre Beziehungen zu Josef II., die große Gesetzgebungscommission von 1767, die Pest in Moskau 1771, über die russische Politik gegenüber Polen, der Türkei und besonders Schweden und Gustav IV. Zusammenfassend wurde dann auch die lange Regierung dieser Herrscherin in einem Bande in Oncken’s Allgemeiner Geschichte dargestellt: „Katharina die Zweite“, 1883, 642 Seiten, und russisch 1885, 801 Seiten mit zahlreichen Abbildungen. (Kritik von Bilbássow, Katharina II., Bd. 12) Auch auf Kaiser Paul (1796–1801) beziehen sich mehrere Arbeiten Brückner’s: ein besonderes Werk schilderte das Ende dieses Kaisers; weit über diese Zeit hinaus griff die große Materialiensammlung in 7 Bänden: „Zur Lebensbeschreibung des Grafen N. P. Panin“, der 1797–1799 russischer Diplomat in Berlin, 1799–1801 russischer Vicekanzler war und 1837 starb.

Ganz besonders beschäftigte B. stets die Frage der Europäisirung Rußlands, wie dieses bei Europa in die Schule gegangen sei, gehöre doch der Eintritt Rußlands in die europäische Welt zu den wichtigsten Ereignissen der letzten Jahrhunderte. Hierüber, besonders über die Ausländer in Rußland im 17. und 18. Jahrhundert, schrieb er fort und fort: Die Ausländer in Rußland und die Russen im Auslande im 17. Jahrhundert; Russische Touristen als Diplomaten in Italien im 17. Jahrhundert; Die Aerzte in Rußland bis zum Jahre 1800; Der sächsische Arzt Laurentius Rinhuber; Der gelehrte freisinnige Kroate, der Panslawist Krischánitsch, der nach Sibirien verbannt wurde. Eine Reihe dieser Aufsätze ist zusammengefaßt in den Büchern: „Culturhistorische Studien“, 1878, und „Bilder aus Rußlands Vergangenheit“, 1887. Vor allem aber handelt B. hierüber in seiner „Europäisirung [690] Rußlands“, 1888, und diese Frage gilt als die wichtigste in seinem letzten, nicht vollendeten Werke: „Geschichte Rußlands bis zum Ende des 18. Jahrhunderts“, Bd. I 1896. Dieses bietet trotz seines Titels nicht eine Darstellung der politischen Ereignisse, sondern auch hier werden, vor allem nach den Berichten von Reisenden, in parallel laufenden Capiteln ausführlich die culturellen Strömungen geschildert, die Rußland Europa genähert haben. Auch im zweiten nicht vollendeten Bande sollten in von einander geschiedenen Abschnitten neben den inneren Verhältnissen besonders die Berührungen nach außen dargestellt werden, die orientalische, asiatische, polnische, baltische Frage, die Beziehungen zu Schweden, Preußen, Oesterreich u. s. w. Denn der Fortschritt in der Geschichte Rußlands liege in dessen Verwandlung aus einem asiatischen Staat in einen europäischen. – Und doch kennt Rußland durch Jahrhunderte eine solche Wandlung nicht, sperrt sich bis zum 17. Jahrhundert schroff gegen den Westen ab. Die Frage nach der Entstehung des Staates, welches Volk ihn gegründet hat, die viel erörterte Warjager-Frage, stellt der Verfasser nicht in den Anfang seiner Darstellung, sondern behandelt sie in der Mitte des Werkes (I, 226) bei der Beurtheilung der Bevölkerungsverhältnisse, referirt über die zahlreichen hierüber aufgestellten Hypothesen, enthält sich aber des Urtheils in dieser schwierigen Controverse.

Die ältere Geschichte Rußlands lag B. überhaupt fern. Ihr fehlt ein festes urkundliches Gerüst; erst für das 15. Jahrhundert bewahren russische Archive vereinzelte Urkunden, nur in den baltischen Gebieten haben sich russisch-livländische Verträge früherer Zeit erhalten. Die ältere Geschichte Rußlands muß den freilich oft sehr werthvollen aber ungenügend herausgegebenen Jahrbüchern entnommen werden. Dieser Zeit wandte sich B. nicht zu, es erschien ihm vergebliche Mühe, etwa den Kampf gegen die Mongolen im einzelnen zu verfolgen, oder auf die Theorie über die Theilfürstenthümer einzugehen (Geschichte Rußlands S. 464, 474). Er bearbeitete die Geschichte erst seit dem 17. Jahrhundert, wo besonders in den Berichten der Ausländer ein reiches Material vorliegt, dem sich im 18. officielle Documente und zahlreiche private Aufzeichnungen anschließen, Briefe, Tagebücher, Denkwürdigkeiten u. ä. Die vielen umfassenden Publicationen, die dieses Material veröffentlichen, kennt B. trefflich. Seine große Belesenheit, seine Kenntniß der Hülfsmittel und Litteratur tritt überall hervor. Mit dieser umfangreichen russischen Litteratur den Westen bekannt gemacht zu haben, ist ein Verdienst Brückner’s. Neues Material hat er nur wenig heranziehen können, er arbeitete fast nur nach gedrucktem. Auch bei diesem berichtet er mehr, als er forscht. Er dringt nicht tief ein, seine Längsschnitte stellen die verwandten Ereignisse durch lange Perioden als Thatsachenreihen zusammen, es liegt ein statistisches Moment in dieser Form historischer Forschung. Auch die Darstellung ist durch dieses Aneinanderreihen stark beeinflußt, man vermißt Gesammtbilder der einzelnen Zeiträume in Thatsachen und Schilderung.

Aus fleißiger Arbeit hat der Tod im Jahre 1896 B. abberufen. Von seiner Geschichte Rußlands hat er, wie bemerkt, den zweiten Band nicht vollenden können. Sein litterarischer Nachlaß soll, da er gesammeltes Material rasch aufgearbeitet habe, nicht groß sein, befindet sich z. Th. in Riga, z. Th. in Händen seiner Familie in Tübingen.

Neben seiner großen schriftstellerischen Thätigkeit war B. auch eifriger Lehrer. Er war nach Dorpat gekommen zur Zeit schöner Blüthe der noch deutschen Universität; die Zahl der speciell Geschichte Studirenden stieg auf über fünfzig. Es war eine Lust zu lehren. Wiederholt hielt B. in Dorpat Vorlesungen über die Theorie der Geschichte; vor allem lehrte er die neuere [691] Geschichte Rußlands seit dem 16. Jahrhundert; dazu traten Vorträge über Geographie, Ethnographie und Statistik, speciell Bevölkerungsstatistik Rußlands. Die Vorlesungen wurden von historischen Uebungen begleitet, in denen die Berichte der Ausländer einen hervorragenden Platz hatten.

Neigung und Beruf näherten B. der russischen Gesellschaft. Er hatte rege Verbindung mit der historischen Forschung und ihren Vertretern im Innern des russischen Reichs, mit den russischen historischen Zeitschriften und Tagesblättern, in denen vielfach Arbeiten von ihm erschienen. Er besuchte gern und oft die russischen archäologischen und historischen Congresse. Sein vielseitiges Wissen und seine Sprachkenntniß, sein lebhaftes Temperament und seine anregende Unterhaltung, sein großes Wohlwollen und seine stete Hülfsbereitschaft, namentlich seinen Schülern gegenüber, ließen Viele seinen Verkehr suchen, führten Viele in sein gastliches Haus. Sproß einer finländischen Familie, in Petersburg geboren und erzogen, in Deutschland gebildet, in Odessa und Dorpat im Beruf, stand B. auf einem international-kosmopolitischen Standpunkt, getragen von einer optimistischen Weltanschauung. Erst in den letzten Jahren seines Dorpater Aufenthaltes übte der starke politische Druck, der ihn schließlich wider seinen Willen aus dem Lehramt drängte, Einfluß auch auf seine politische Auffassung.

Sofort nach seinem Tode brachte die Neue Dörptsche Zeitung (1896, 5./17. Nov.) einen warmen Nachruf, und bald darauf erschien ein weiterer von seinem Nachfolger auf dem Dorpater Lehrstuhl, Schmurlo, in der russischen Nówoje Wrémja. Im folgenden Jahre hat Lavière in Paris einen Nekrolog drucken lassen. In der Petrischule in Petersburg, in der Brückner gebildet war, hielt ihm 1897 sein Schüler Bogdánow eine Gedächtnißrede. Eine kurze Biographie lieferte Guglia im Deutschen Nekrolog von Bettelheim I (1897), 36. Biographische Nachrichten und ein umfangreiches Verzeichniß der Schriften mit bibliographischen Nachweisen gab Schmurlo im (russischen) Biographischen Lexikon der Professoren der Universität Dorpat II (1903), 546–558.

[688] *) Zu Bd. XLVII, S. 276.