ADB:Bray-Steinburg, Otto Graf
*): Otto Camillus Hugo Graf von B.-Steinburg (1807–99), der als bairischer Minister 1870 im Kriege gegen Frankreich die Einigung Deutschlands sollte vollenden helfen, entstammte selbst einem französischen, eben erst nach Deutschland verpflanzten Geschlecht. Noch sein Vater, der Diplomat und Schriftsteller Chevalier (später Graf) François Gabriel de Bray (geboren 1765 zu Rouen, † 1832 zu Irlbach) war als jüngerer Sohn einer eingesessenen normännischen Familie in Frankreich geboren und erzogen und trug die sehnsüchtige Erinnerung an die feine höfisch-gesellschaftliche Cultur seines französischen Jahrhunderts durch alle Stellungen und Wandlungen eines vielbewegten Lebens mit sich fort. Zwei Mal, als Mitglied der internationalen Adelsbruderschaft der Malteser, der er mit siebzehn Jahren beigetreten war, wie im diplomatischen Dienst des bourbonischen Königthums, den er seit 1789 am Sitz des alten deutschen Reichstags in Regensburg ausübte, erlebte der Sprößling des ancien régime den Niedergang und Zusammenbruch von Lebenskreisen, in die er sich durch Herkunft und Ueberlieferung gestellt sah. Er ließ sich beim Ausbruch der Revolution auf die Emigrantenliste setzen und suchte sich mit der ganzen Unbefangenheit und vielseitigen Beweglichkeit der Zeit eine neue Wirksamkeit und eine neue Heimath. Als Vertreter des Malteserordens auf dem Rastatter Congreß und bei einer Obedienzdeputation bairischer Ordensritter nach Petersburg kam er in Beziehung zur bairischen Diplomatie, welche bald darauf unter der Leitung seines halben Landsmannes Montgelas die Verwirrung der Zeit benützte, Baiern zu einer selbständigen europäischen Macht emporzuheben. Der begabte, kluge und weltkundige Diplomat, vielseitig, von raschem Auffassungsvermögen und gewandter Feder, war hier am besten Platz und gewann sich auf verantwortungsvollen Posten, in London, Berlin (1801–8) und Petersburg, bei Montgelas rasch das Lob eines seiner thätigsten und eifrigsten Mitarbeiter; noch heute sind die treffenden und geistreichen Charakteristiken seines Petersburger Memoires (1800) wie die scharfen Momentbilder seines Berliner Tagebuches vom Winter 1806 lehrreich und unterhaltend zu lesen. Es ist begreiflich, daß der geborene Franzose, der unbefangen genug war, sich politisch zur neuen Ordnung der Dinge zu bekennen, und alsbald in den Bannkreis Napoleon’s sich gezogen fühlte, ein überzeugter Anhänger des französischen Systems in der bairischen Politik war. Mit ihm fällt auch der Höhepunkt seiner diplomatischen Wirksamkeit zusammen. Er war zwar vielleicht noch, gleich Montgelas, bei der großen Wendung der bairischen Politik 1813 thätig; der großen Erhebung Deutschlands in den Freiheitskriegen aber stand der Emigrirte, ohne ausgeprägtes Staats- oder Nationalgefühl, fremd gegenüber, und in der folgenden Restaurationszeit war die Stellung Baierns in der europäischen Politik zu unbedeutend, als daß sein Amt in Petersburg, Paris (1822–27) und Wien wesentlich mehr als eine höfisch-repräsentative Sinecure sein konnte. Wissenschaftliche Studien und litterarische Thätigkeit, die den regsamen und vielseitigen Mann schon immer begleitet hatten, traten nun lebhafter hervor: Botanik und Pflanzengeographie, Statistik und Geschichte waren seine Lieblingsfächer; er wurde Mitglied der Münchener Akademie der Wissenschaften und Ehrendoctor der Universität Dorpat. Noch einmal, Ende der 20er Jahre, war er als Senior der bairischen Diplomatie in der pfalzbairischen Angelegenheit thätig; immer noch mit der [681] Zeit lernend, faßte er am Abend seines Lebens in einer eingehenden Denkschrift die Vorzüge der föderativen Einordnung Baierns in die deutsche Staatengemeinschaft zusammen. 1832 ist er, eben aus dem Dienst geschieden, auf seinem niederbairischen Schloß Irlbach gestorben.
BraySein Sohn Otto, aus der Ehe mit dem livländischen Fräulein v. Löwenstern am 17. Mai 1807 während des Berliner Aufenthaltes geboren, wuchs in ruhigerer, geregelterer Zeit, ohne die Umwege und Wandlungen des Vaters, in dieselbe Laufbahn hinein; Aber auch sein persönliches Wesen war nicht so vielseitig, enger umgrenzt, weniger geistreich und lebhaft; eine geordnete, zurückhaltende Nüchternheit ist vielleicht der hervorstechendste Zug an ihm. Er war bereits als Baier geboren und verdeutschte seinen Namen durch den einer bairischen Besitzung entlehnten Zusatz; seine Bildung erhielt er in der königlichen Pagerie in München, dann auf den Universitäten von Göttingen und München. Nach der ordnungsmäßigen gerichtlichen und administrativen Vorbereitung trat er, zuerst als Attaché seines Vaters, in den diplomatischen Dienst, der ihn rasch aufsteigend in den 30er Jahren von Wien über Petersburg, Paris, Athen, 1843 wieder nach Petersburg führte, das ihm wie ein Menschenalter zuvor seinem Vater zur zweiten Heimath wurde. In diese Zeit der Restauration und der heiligen Allianz, aber auch der Juli-Revolution und der beginnenden europäischen Umwälzungen fällt die Ausbildung seiner politischen Anschauungen. Sein Herz gehörte zweifellos von Anfang an den alten conservativen Gewalten, dem Adel, dem Königthum, den fest umgrenzten, dauernden Daseinsformen; aber wie sein Vater unterschied auch er unbefangen zwischen persönlicher Neigung und politischer Nothwendigkeit. Der rasche Wechsel von der unbeweglichen Ruhe des russischen Staatslebens unter Nikolaus I. in die leidenschaftlichen Ueberstürzungen der Pariser Entwicklung, der Einblick in die unsicheren Zustände des europäischen Orients und der abermalige Aufenthalt im Zarenreich mochten die Einsicht in die Verschiedenheit der dem Diplomaten gegebenen Bedingungen und damit die Richtung auf eine praktische, nach der Decke sich streckende Politik ebenso begünstigen, wie die angeborene Neigung zu zurückhaltender Vorsicht. Im ganzen ergab sich eine conservative Mittelstellung, nicht ablehnend gegen das Neue, aber doch noch mehr bestrebt, das Alte gegen dessen Zudrang zu erhalten und in die Zukunft hinüberzuretten.
Er war noch nicht 39 Jahre alt, als ihn Ludwig I. im Frühjahr 1846 gegen seinen Wunsch, zuerst zeitweilig, dann (1. Januar 1847) definitiv, an die Spitze des Ministeriums des Aeußeren berief, um durch allmähliche Umgestaltung des bereits erschütterten Ministeriums Abel das clericale Parteiregiment einzuschränken und die im Land entbrannten Gegensätze zu beruhigen. Der traurige Handel ist nur allzu bekannt, der diese Absicht des Königs durchkreuzte: Graf B. war der erste, welcher über Lola Montez stürzte. Sein Verhalten war aber, im Gegensatz zu dem demagogischen Gebahren der übrigen Minister, ebenso loyal wie mannhaft, so daß ihm auch nach der Entlassung, auf welcher er bestand, das Vertrauen und die Gunst Ludwigs I. unvermindert verblieben.
So wurde er, kaum ein Jahr später, im April 1848 von der Dynastie aufs neue in einer schweren Stunde zu Hülfe gerufen. Wie eine unhemmbare Sturmfluth war die europäische Revolutionsbewegung auch über Baiern hereingebrochen: die Abdankung Ludwigs I., das Märzministerium, der Antrag auf Bundesreform, die Einbringung des Wahlgesetzes zum deutschen Parlament und der freiheitlichen Gesetze waren einander im Fluge gefolgt. Es war vielleicht der erste Act der Selbstbesinnung der Dynastie, als sie [682] wenigstens das Ministerium des Aeußeren einem ausgesprochenen Conservativen und Particularisten übertrug, der nur durch seinen Abgang 1847 auch einige volksthümliche Sympathien genoß. Nur schweren Herzens entschloß sich B., in die uferlose und unberechenbare Bewegung einzugreifen, der er völlig fremd und im Herzen ablehnend gegenüberstand. Was war ihm dies Schicksalsjahr der deutschen Geschichte? Der Sohn eines internationalen Diplomaten, hatte auch er den größten Theil seines bisherigen Lebens im Ausland, in der kühlen Atmosphäre der vormärzlichen Diplomatie zugebracht, in der liberale und nationale Ideen nur einen geringen Curs hatten. Er trat auch jetzt der großen deutschen Bewegung als nüchterner Praktiker gegenüber, der Mühe hatte, ihren idealen und theoretischen Gesichtspunkten nur annähernd gerecht zu werden. Er stand durchaus auf Seiten der particularistischen und dynastischen Mächte, und die einzelnen Schritte seiner Politik – ganz im Einverständniß mit der Dynastie – begleiten deutlich das allmähliche Wiedererstarken dieser alten Gewalten gegenüber der abflauenden Revolution: zuerst vorsichtiges Abwarten gegenüber dem deutschen Parlament bei behutsamer Vermeidung jedes grundsätzlichen Widerspruches, zögernde Anerkennung des Reichsverwesers, dann alsbald Versuche einer Verständigung gegen das Parlament, zuerst mit Preußen gegen Oesterreich auf Grund einer Directorialverfassung mit wechselndem Turnus und Staatenhaus, und fast zugleich schon mit Oesterreich gegen Preußen und dessen gefürchtete Hegemonie, Anrufung der Garanten des Wiener Vertrages, bis zum offenen Widerspruch gegen die Frankfurter Reichsverfassung und den engeren Bund. Er überdauerte so die ersten Abbröckelungen des Märzministeriums und trat noch Anfang 1849 dem neugewählten liberalen Landtag gegenüber, dessen radicale Haltung das Schicksal der freiheitlichen Bewegung in Baiern besiegelte. Auch in der Reichsrathskammer lebhaft angegriffen, entschied sich B. zum Rücktritt. Er wollte nicht aus einem Märzminister, so wenig er sich zu einem solchen berufen gefühlt hatte, ein Reactionsminister werden und fühlte sich auch nicht im Besitz der zu einer solchen Rolle nothwendigen Energie. Er kehrte lieber wieder nach Petersburg zurück, in dessen kaum veränderter Stille ihm die ganze Ministerzeit bald nur mehr „wie ein schwerer Traum vorkam, aus dem er jetzt wieder erwachte“.
Hier erlebte er dann den Untergang des großen conservativen Systems Nikolaus’ I., in welchem er, wenn auch nicht ohne Kritik, doch die Hauptstütze des conservativen Europas gesehen hatte. Noch vor dessen Sturz faßte er seine Anschauungen über Hof und Gesellschaft in Rußland in einer größeren Denkschrift zusammen, die den Höhepunkt des Nikolaischen Systems in der Weise der alten Diplomatie mit weitem Blick in großen Zügen charakterisirt und in ihrem klaren und übersichtlichen Aufbau kein unwürdiges Gegenstück zu dem ähnlichen Memoire seines Vaters bildet. Nur ungern vertauschte er 1859 die gewohnte Petersburger Stellung mit dem Berlin der neuen Aera; schon 1860 siedelte er nach Wien über, wo er den größten Theil seines folgenden Lebens zubrachte.
Immer beherrschender trat auf diesem Schauplatz die neuerwachte deutsche Frage, der sich verschärfende Gegensatz der beiden deutschen Großmächte in den Vordergrund. Im Kreis des bairischen Particularismus, auf dem Boden des alten Bundesrechtes aufgewachsen, mit katholischen Sympathien, stand B. nach Tradition und Ueberzeugung auf der Seite Oesterreichs. Die Triaspolitik Maximilians II. war auch die seinige; damit war auch die Parteinahme gegen Preußen im J. 1866 gegeben. Auch bei diesem Wendepunkt unserer Geschichte stellte das Vertrauen der Dynastie B. an eine verantwortungsreiche Stelle: [683] mit dem leitenden Minister von der Pfordten vertrat er Baiern nach dem unglücklichen Feldzug bei den Berliner Friedensverhandlungen. Seine kühl sachlichen Tagebuchaufzeichnungen – auch sie ein denkwürdiges Gegenstück zu denen, die sein Vater sechzig Jahre früher in derselben Stadt niedergeschrieben hatte – geben wohl einen treuen Einblick in den Verlauf der Verhandlungen, nicht in seine eigene Stimmung. Der überraschend günstige Ausgang mochte ihm das schwere Opfer erleichtern, welches die Lösung von 1866 für ihn bedeutete. Auch er, wie v. d. Pfordten, betrachtete den Allianzvertrag vor allem als Zugeständniß an Preußen zur Milderung der übrigen Friedensbedingungen, als eine völkerrechtliche Abmachung unter Gleichen, welche Baierns Unabhängigkeit nicht beschränke und keine weiteren Verpflichtungen zu engerem staatlichem Anschluß an Preußen in sich trage. Es sollte ihm selbst vorbehalten bleiben, diese Consequenzen daraus zu ziehen.
Wie er sich innerlich mit dem folgenden preußenfreundlichen Ministerium des Fürsten Hohenlohe abfand, wissen wir nicht. Als dieser, seiner inneren nicht minder wie seiner äußeren Politik wegen leidenschaftlich angegriffen, Anfang 1870 vor dem vereinten Mißtrauensvotum der beiden Kammern zurücktrat, schlug er selbst dem König den außerhalb dieser Kämpfe stehenden Grafen B. als den geeignetsten Nachfolger vor, um die durch einen erbitterten Wahlkampf erregten Parteigegensätze des Landes wieder zu versöhnen. Nur nach längerem Zögern, auf den dringenden persönlichen Wunsch Ludwigs II. entschloß sich der Dreiundsechzigjährige, zum dritten Mal seinen Gesandtschaftsposten mit dem Ministerium zu vertauschen; er betrachtete es als eine provisorische Aufgabe, den inneren Frieden wiederherzustellen, und trug sich bei den wachsenden Schwierigkeiten des Heeresetats in der Kammer schon in den folgenden Monaten mit Rücktrittsgedanken. Im Aeußeren – erklärte er den Gesandten wie der patriotischen Kammer (30. März) – werde er an dem von ihm selbst unterzeichneten Allianzvertrag ehrlich und redlich festhalten; daß freilich, innerhalb der vertragssmäßigen Grenzen, der österreichfreundliche, dem System von 1866 abgeneigte Wiener Gesandte eine andere Möglichkeit der bairischen Politik repräsentirte als der von je für engen Anschluß an den Norden eintretende Hohenlohe, blieb keiner Seite verborgen. Er suchte zunächst eine freundliche Verständigung mit Württemberg anzubahnen, die anscheinend auf ein engeres Zusammengehen der beiden größten Südstaaten in einigen concreten Fragen gerichtet war.
Da stellte ihn der unerwartet aus der hohenzollernschen Candidatur hervorbrechende Conflict, mit einem Male den tiefen deutsch-französischen Gegensatz und damit die deutsche Frage aufrollend, vor die gewaltigsten Entscheidungen. Es ist kein Zweifel, daß B. persönlich bei der gefährdeten Lage Baierns zwischen Frankreich und Oesterreich die Neutralität für die wünschenswertheste Lösung gehalten hat und noch nach der Emser Depesche dem Wunsche Ausdruck gab, Frankreich möge nicht zum Kriege treiben; er trat am 10. Juli mit Beust in persönlichen Gedankenaustausch und ließ selber noch am 16. über England einen Vermittlungsvorschlag an Preußen gelangen. Er verkannte aber nicht, daß eine isolirte Neutralität Baierns gegen den Wunsch der streitenden Mächte unmöglich war: dann aber war auch für ihn der Kampf an der Seite Preußens gegeben. Den unmittelbar vor dem Krieg an ihn herantretenden Drohungen und Verlockungen Frankreichs gegenüber hat er keinen Zweifel über seine Haltung gelassen. Er hätte gern die letzte Entscheidung noch hinausgezögert und gemeinsam mit Württemberg für die Erfüllung des Allianzvertrages von Preußen eine Garantie der eigenen Souveränität eingetauscht: daß der Bündnißfall im rechten Augenblick bedingungslos [684] und ohne Zaudern anerkannt wurde, war das Verdienst des Königs, der über den zögernden Minister hinweg aus eigenem Willen die Entscheidung traf. Die schwere Aufgabe, von der patriotischen Kammermehrheit die Bewilligung des Kriegsbudgets zu erlangen, versuchte B. zuerst nach seiner Weise mit vorsichtiger Zurückhaltung, dann in der entscheidenden Sitzung des 19. Juli in ehrlicher, mannhaft bewegter Rede, zwar ohne das hohe nationale Pathos der Stunde, aber im ernsten Gefühl der Ehre des Staates und seiner Person die Schande des Vertragsbruches entschieden von sich weisend.
Unvermeidlich wurde Baiern durch den nationalen Krieg in die Lösung der deutschen Frage mit hineingezogen. Es scheint, daß bei B. nach dem Kriegsausbruch, trotz wiederholter Beruhigungsversuche Bismarck’s, zunächst wieder die Besorgniß für die bairische Selbständigkeit die Oberhand gewann; er scheint in der That bei Preußen noch einmal die Stellung von Bedingungen angeregt, sich mit Oesterreich wieder in lebhaftere Verbindung gesetzt und den Gedanken erwogen zu haben, den Süden in eine gemeinsame Neutralität zurückzuziehen. Noch Anfang September suchte er wieder eine englische Vermittlung anzubahnen und erklärte den Erwerb Elsaß-Lothringens für einen großen Fehler. Aber der unerhörte Siegeslauf der deutschen Waffen, die wachsende nationale Begeisterung, die vorsichtig und doch drängend von allen Seiten zusammenwirkenden Anregungen Bismarck’s trieben ihn unaufhaltsam aus dieser negativen Haltung heraus. Er erkannte die Gefahr, später zu ungünstigeren Bedingungen gezwungen zu werden, den Vortheil, welchen der werthvolle Antheil der bairischen Truppen am Kampf ihm jetzt in die Hand gab. Es scheint, daß Bismarck auch jetzt seine alten Lockvögel für Baiern, Aussicht auf Territorialerwerb und privilegirte Stellung in Süddeutschland, wieder aufsteigen ließ. Am 12. September erbat B. auf Grund eines Ministerrathes in einem ausführlich motivirten Antrag die Genehmigung des Königs zur Einleitung von Berathungen mit dem Norddeutschen Bund. Den Eintritt in diesen selbst müsse Baiern nach wie vor ablehnen, dagegen zu einer staatsrechtlichen Verbindung mit dem Nordbund, oder, wenn Preußen diesen fallen lasse, zum Eintritt in einen freieren allgemeinen deutschen Bund in bevorzugter Stellung bereit sein; gemeinsames Parlament und einheitliche Heeresmacht im Kriege müsse man zugestehen, selbständige Vertretung nach außen, Militärhoheit im Frieden, eigene Gesetzgebung, Verwaltung, Finanzen, gesonderte Verkehrsanstalten sich vorbehalten. Auf Grund dieser Ermächtigung fanden vom 22. bis 26. September die Conferenzen des bairischen Staatsministeriums mit dem Präsidenten des Norddeutschen Bundeskanzleramtes Delbrück statt; Württemberg, dessen Beiziehung von Baiern nicht geplant war, nahm schließlich doch durch Mittnacht informatorischen Antheil. Da Delbrück nicht, wie B. wohl gehofft hatte, preußische Vorschläge mitbrachte und auch eine Umgestaltung der bisherigen Bundesverfassung nicht in Aussicht stellte, war die bairische Grundlage von vornherein verschoben, und man sah sich gezwungen, die abgelehnte norddeutsche Verfassung zu Grunde zu legen, um artikelweise seine Einwendungen zu erheben. Man fand sich – Kriegswesen und auswärtige Vertretung blieben einstweilen unerledigt – trotz ernstlicher Schwierigkeiten schließlich auf einer Mittellinie zusammen, so daß Delbrück und Mittnacht mit dem Eindruck schieden, der deutsche Bund sei gesichert, und Baiern werde gegen Bedingungen in den Norddeutschen Bund eintreten. B. dagegen und die bairischen Minister zogen die Folgerung, daß man, da Preußen auf keine Aenderung der Bundesverfassung eingehe, bei dem Project des weiteren Bundes stehen bleiben müsse. Er blieb, vielleicht doch mit Triaserinnerungen, [685] immer noch mit Beust in Verbindung, und da Ludwig II. sich trotz wiederholter dringender Vorstellungen des Ministeriums nicht entschließen konnte, die Einladung Wilhelms I. zu Separatbesprechungen in Fontainebleau anzunehmen, gerieth der Fortschritt der deutschen Frage wieder ins Stocken.
Doch wohl gegen seinen Willen wurde B. dann im October durch das selbständige Vorgehen Württembergs gezwungen, gleich den anderen Südstaaten mit Lutz und Pranckh die Verhandlungen in Versailles fortzusetzen (23. October bis 25. November). Daß Bismarck getrennte Verhandlungen vorschlug, kam ihm vielleicht unerwartet, aber bei seinen bairischen Sonderbestrebungen nicht unerwünscht. Auch hier hielt er zunächst zähe an dem alten Programm des weiteren Bundes, und zwar in der Gestalt einer gleichberechtigten Sonderstellung Baierns neben dem durch die anderen Südstaaten erweiterten Nordbunde, fest, und da er nun auch mit den bisher zurückgestellten speciellen Forderungen vollständiger diplomatischer Gleichberechtigung hervortrat, schienen die Verhandlungen schon nach wenigen Tagen auf einen todten Strang gelaufen. Von Anfang an scheint er dabei das Kaiserproject, dem Baiern schon seit dem September näher getreten war, wie früher den Allianzvertrag, als bestes Tauschobject gegen, wie er meinte, reellere Concessionen verwendet zu haben. Es gelang ihm aber Bismarck’s spielender Ueberlegenheit gegenüber ebensowenig, dies Kaiserangebot mit den Anschlußverhandlungen zu verquicken wie die Territorialvergrößerung Baierns, die er, anscheinend doch dem besonderen Drängen des Königs weichend, zu vertreten hatte, und die nicht zuletzt dazu beitrug, den bairischen Unterhändler im Hauptquartier zu einer mißliebigen und unerfreulichen Figur zu machen. Moritz Busch hat uns, in seiner etwa carikirenden Weise, damals sein Bild am Tische Bismarck’s gezeichnet, groß, hager, mit dünnen Lippen und mageren Händen, das Gesicht nach englischer Weise bis auf einen kurzen Backenbart rasirt und die langen, glatt anliegenden Haare an den Schläfen hinter die Ohren gestrichen, wortkarg, unbehaglich, Kälte um sich verbreitend. Seine eigenen Briefe zeigen ihn doch freundlicher, menschlicher, von dem Treiben des Hauptquartiers nicht so abgeschlossen, wenn auch der Mangel an Enthusiasmus, an innerstem Miterleben der großen Zeit nicht zu verkennen ist. Die schwere Gefahr der Isolirung, welche Baiern durch sein Hinhalten drohte, scheint er nicht genügend eingeschätzt zu haben. Noch am 3. November hielt er an der Ablehnung des Eintrittes in einen engeren Bund fest und glaubte, wenn die erbetenen preußischen Gegenvorschläge nicht ausreichend seien, am besten zu thun, nach München zurückzureisen und dort die Verhandlungen fortzusetzen. Die Friedensverhandlungen mit Thiers, dann die Einladung Ludwigs II. zu dem geplanten Fürstencongreß in Versailles scheinen Bismarck das Mittel gegeben zu haben, ihn zunächst festzuhalten. Dann aber zwangen die wachsende nationale Erregung in Baiern und die Erkenntniß, von Bismarck nicht mehr erreichen zu können, ihn doch zur Nachgiebigkeit. Am 9. November wurden die Verhandlungen auf der Grundlage des engeren Bundes wieder aufgenommen. Eine zu Gunsten Baierns angezettelte württembergische Hofintrigue, welche am 12. November den Abschluß der Verhandlungen mit den übrigen süddeutschen Staaten aufs empfindlichste unterbrach, ist B., dank seiner eigenen Zurückhaltung, überhaupt nicht bekannt geworden, auch in ihrer Einwirkung auf den schließlichen Ausgang der bairischen Verhandlungen doch wohl überschätzt worden. B. selbst sagte, daß die sichere Aussicht auf Verständigung des neuen deutschen Reiches mit Oesterreich ihm den Uebergang zur neuen Lösung sehr erleichtert habe. Am 23. November erfolgte endlich der Abschluß des bairischen Vertrages, im [686] wesentlichen auf der um einige Sonderrechte verminderten sachlichen Grundlage, auf welcher man sich bei den Münchener Besprechungen geeinigt hatte. Baiern nahm in der Hauptsache die norddeutsche Bundesverfassung an, mit bevorzugter Sonderstellung vor allem in der Heimath- und Niederlassungsgesetzgebung und in den Verkehrsanstalten. Von der Forderung der diplomatischen Nebenstellung Baierns war außer den souveränen Ehrenrechten das Vertretungsrecht der bairischen Gesandten und der diplomatische Bundesrathsausschuß geblieben. Gegen die Verpflichtung zur Initiative in der Kaiserfrage hatte Baiern die vollständige Militärhoheit im Frieden behalten. „Die deutsche Einheit ist gemacht und der Kaiser auch“, faßte Bismarck am Abend dieses Tages das Ergebniß zusammen. „Dies ist der Anfang des neuen Deutschlands“, schrieb B., „und wenn unsere Entwürfe genehmigt werden, das Ende Altbaierns.“ Seine Neigung zum Hinhalten hätte vielleicht noch einmal in der Heimath Bedenklichkeiten und Hindernisse entstehen lassen; durch die persönliche Verbindung mit Ludwig II. und die Fahrt des Grafen Holnstein hat Bismarck sein Werk über ihn hinweg vollendet.
In den noch folgenden Stadien des Anschlusses Baierns ans Reich trat B. nicht mehr an erster Stelle hervor. Die Vertheidigung der Verträge in der bairischen Kammer, deren Patrioten noch nicht mit der neuen Ordnung der Dinge versöhnt waren, überließ er in erster Linie dem redegewandteren, in Rechtsfragen besser bewanderten Minister Lutz, von dem bereits die Schlußredaction der Versailler Verträge stammte und der nun mehr und mehr der leitende Mann des Ministeriums wurde. Daß B. selbst gewünscht und sogar dahin gewirkt habe, daß die Verträge von der Kammer verworfen würden, ist nicht anzunehmen. Seine eigenen Reden sind wie seine früheren sachlich, nüchtern, nur selten einmal von einem wärmeren nationalen Ton belebt. Die Ratification mußte des Widerstandes in der Kammer wegen verschoben werden, erst am 1. Februar 1871 trat Baiern wirklich in den neuen deutschen Staat ein. Ende dieses Monats wohnte B. als bairischer Friedensbevollmächtigter dem letzten großartigen Ringen Bismarck’s mit dem niedergeschlagenen Gegner bei, am 27. Februar setzte er seinen Namen unter den Präliminarfrieden. Noch einmal traten in diesen Tagen die immer noch verfolgten bairischen Territorialwünsche wieder hervor, eine nicht eben glückliche Preßagitation wurde eingeleitet, aber beim voraussichtlichen Widerspruch des Reichstages verlief auch dieser letzte Versuch zur schmerzlichen Enttäuschung Bray’s im Sande.
Wohl möglich, daß dieser Ausgang eines Lieblingswunsches bei Ludwig II. die bereits seit dem December erschütterte Stellung Bray’s noch mehr untergrub. Da er sich auch bei den Parteien ohne Rückhalt fühlte, regte sich die Sehnsucht nach seinem eigentlichen diplomatischen Berufe. Die abweichende Haltung, welche er in der nun in den Vordergrund tretenden kirchlichen Frage einnahm, gab den Ausschlag. Er hielt – und hier hat die Zukunft dem vorsichtigen Diplomaten wohl Recht gegeben – eine behutsame Defensivstellung des Staates gegen etwaige Uebergriffe der Kirche für räthlicher als die aggressive Politik, welche Lutz vorschlug. Da König und Collegen auf dessen Seite standen, bat B. am 4. Juni 1871 um seine Entlassung und Rückversetzung auf den vorbehaltenen Wiener Posten.
Noch 26 Jahre war es ihm vergönnt, in voller körperlicher und geistiger Rüstigkeit dort seinem Berufe zu leben; eine neue Wendung hat sein Leben nicht mehr genommen. Während sein Sohn, die dritte Generation des eingewanderten französischen Geschlechtes, in den diplomatischen Dienst des neuen Deutschen Reiches trat, blieb der Vater in dem Kreise stehen, in welchem er [687] geboren und aufgewachsen war. Aehnlich dem seines eigenen Vaters ging auch sein Leben zu Ende. 1897 erst ist er ins Privatleben zurückgetreten, am 9. Januar 1899 ist er im 92. Jahr in München gestorben.
An die wichtigste Thätigkeit seines Lebens, seine Theilnahme an der Reichsgründung, ist Lob und beinahe noch mehr Tadel in reichem Maße geknüpft worden, beides nicht ohne Berechtigung. In der großen Zeit unserer nationalen Einigung erscheint er doch als ein fremder, an ihrem innersten Leben nicht theilhabender Mitwirkender. An den bairischen Forderungen, die er vertrat, ist manches Ueberlebte, manches kleinlich Particularistische, mehr bestimmt zur Erhaltung einzelner Institutionen und Gesetzgebungstheile für die specifisch bairische Regierungsthätigkeit als zur wirksamen Theilnahme Baierns an der Verwaltung der gemeinsamen Angelegenheiten. Das bleibt sachlich immer zu bedauern. Persönlich aber trifft B. dieser Vorwurf nicht. Mit Recht ist gesagt worden, daß der neue Deutsche, der er war, nicht deutscher sein konnte als die Landsleute, unter die er hineinwuchs. Er repräsentirt eine frühere Stufe unserer deutschen Entwicklung, welche die große nationale Bewegung noch nicht ergriffen hatte – und gerade deshalb vielleicht wurde er immer wieder, meist gegen seinen Wunsch, in gefahrvoller Lage von der Dynastie zur Hülfe gerufen, welche ihre alten Rechte in eine neue Zeit herüberretten wollte. Seine Lösung bezeichnete auch 1870 die Grenze, bis zu welcher der bairische Particularismus, auch der Bevölkerung, geneigt war, der Einheit entgegenzukommen; sie war weit genug, diese nicht zu hindern. Wenn B. glaubte, für Baiern die günstigsten Bedingungen gewonnen zu haben, welche unter den damaligen Verhältnissen zu erlangen waren, so haben diese doch das Reich niemals gefährdet. Sie entsprachen im wesentlichen den Machtverhältnissen und dem historischen landschaftlichen Sondergefühl, und Baiern schuldet den ehrlichen treubesorgten Diensten seines Unterhändlers hohen Dank. Sein Wesen war ohne große Begeisterungsfähigkeit und lebhaften Reiz, aber auch ohne falsche Sentimentalität und Phrasenhaftigkeit, einfach, gesund, tüchtig. Die schlichte Anspruchslosigkeit seiner Pflichterfüllung hat etwas wahrhaft vornehmes. Seinem bairischen Heimathland war er herzlich zugethan; fünf bairischen Königen hat er in Treue gedient.
- Chevalier de Bray: Aus dem Leben eines Diplomaten alter Schule. Aufzeichnungen und Denkwürdigkeiten des Grafen F. G. de Bray. Leipzig 1901. (Ausführlichere Theilveröffentlichungen in: Revue de Paris 1901 und Deutsche Revue XXVII, 2); Montgelas; Nekrologe von J. P. Harl (Erlangen 1834) und C. F. Ph. v. Martius (Akademische Denkrede, Regensburg 1835); Quérard, La France littéraire. – Graf Otto Bray: Denkwürdigkeiten aus seinem Leben, Leipzig 1901 (dazu H. Oncken, Deutsche Literaturzeitung 1902, Nr. 9); Bayern und der Culturkampf, Aus den hinterlassenen Papieren des Min.-Präs. Grf. v. B.-St., in: Deutsche Revue XXVIII, 2. Für 1870 neben den Landtagsverhandlungen besonders die Denkwürdigkeiten und Aufzeichnungen von L. v. Kobell, Hohenlohe, Mohl, Mittnacht (Rückblicke 1909), Suckow, Jolly, Freydorf (Deutsche Revue VIII, 4), R. v. Delbrück, M. Busch Tagebuchbl., Kaiser Friedrichs Tagebücher, Lassker (Deutsche Revue XVII, 2. 3); die Darstellungen von Sorel, O. Lorenz, Doeberl, G. Meyer, Jacob, Jakobi, W. Busch, v. Ruville (Bayern und die Wiederaufrichtung des deutschen Reiches, Berlin 1909; dazu Augsburger Abendzeitung vom 7. Juli 1909).
[680] *) Zu Bd. XLVII, S. 214.