Hermann Gunkel (Übersetzer): Das vierte Buch Esra | |
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20 So fastete ich sieben Tage unter vielen Klagen und Thränen, wie mir der Engel Uriel geboten hatte. 21 Als aber die sieben Tage um waren, begannen die Gedanken meines Herzens mich mächtig zu bedrängen. 22 Da bekam meine Seele den Geist der Einsicht[1], und ich begann nochmals vor dem Höchsten Worte zu sprechen:
23 Ich sprach[2]: Ach Herr Gott, aus allem Walde der Erde und all[3] seinen Bäumen hast du ’dir‘[4] den einen Weinstock[5] ’erwählt‘,[6] 24 aus allen Ländern der Welt die eine Pflanzgrube[7] ’ausgesucht‘ [6], aus allen Blumen des Erdkreises die eine Lilie ’erkoren‘,[6] 25 vor allen Tiefen des Meeres hast du Wachstum[8] gegeben dem einen Bach, aus allen Städten, die je gebaut sind, nur Zion dir selber geheiligt, 26 aus allen Vögeln, die du geschaffen, die eine Taube dir berufen[9], aus allen Tieren, die du gebildet, das eine Schaf ersehen[10], 27 aus allen Völkern, deren so viel ist, das eine Volk dir erworben[11] und das Gesetz, das du ’unter‘[12] allen[13] ausgesucht[14], hast du dem Volke, das du begehrt hast, verliehen. — 28 Jetzt aber, Herr, weshalb hast du das Eine den Vielen preisgegeben, hast den einen Sproß[15] vor den anderen ’in Schmach gebracht‘[16] und dein einziges Eigentum[17] unter die Vielen zerstreut? 29 Weshalb haben, die deinen Verheißungen widersprochen haben, die niedertreten dürfen, die deinen Bündnissen geglaubt haben? 30 Ja, wenn du deinem Volk auch gram geworden wärest, so ’hättest du es doch züchtigen müssen‘[18] mit eigener Hand[19]!
31 Als ich diese Worte gesprochen hatte, ward[20] der Engel zu mir gesandt, der schon in verflossener Nacht zu mir gekommen war. 32 Er sprach zu mir:
- ↑ Der „Geist der Einsicht“ ist ursprünglich ein Dämon oder eine göttliche Kraft, die besondere übermenschliche Einsicht wirken: in späterer Zeit und so hier können solche Ausdrücke in ganz abgeschwächtem Sinne gebraucht werden; vgl. 1 Kor. 4, 21 „Geist der Sanftmut“; doch scheint hier an einen anderen Bewußtseinszustand, in dem der Mensch Übernatürliches erlebt, gedacht zu sein. Gebete, die „im Geist“ gesprochen werden, sind auch im N. T. häufig.
- ↑ Dies Einleitungsgebet ist ebenso wie das der ersten Vision mit besonderer Kunst ausgeführt; den folgenden Passus ahmt nach Apoc. Sedrach 8.
- ↑ Griechische Konstruktion.
- ↑ Syr Aeth Ar¹.² Arm.
- ↑ Im Folgenden lauter Bilder Israels und Kanaans: Weinstock Jes. 5,7. Ps. 80,9; Lilie wohl nach H. L. 2,2. Hos. 14,6; Bach wohl nach Jes. 8,6. H. L. 4,15; Taube Ps. 74,19. H. L. 2,14; Schaf wohl nach Jes. 53,7; vgl. Ps. 79,13. 80,2; Wurzel Henoch 93,8. — Aus diesen Bildern geht hervor, daß das Hohe Lied damals schon allegorisch (auf Jahwes Verhältnis zu Israel) gedeutet worden ist.
- ↑ a b c Ar¹ hat drei verschiedene Ausdrücke.
- ↑ Lat fovea = βόθυνος, d. h. eine Pflanzgrube (für den einen Weinstock); Syr Aeth ungenau regio v. Wilamowitz.
- ↑ Lat Aeth replesti, genauer Syr magnificasti = ἐπηύξησας v. Wilamowitz; zum Gedanken vgl. Zusätze zu Esther 1,10. Ap. Bar. 36,3ff.: et desub ea egrediebatur fons in tranquillitate; pervenit autem ille fons usque ad silvam, et factus est in fluctus magnos — et valde praevaluit fons ille.
- ↑ ἐκάλεσας = קָרָאתָ.
- ↑ providisti = προεῖδες = רָאׅיתָ.
- ↑ adquisisti = ἐκτήσω = קָנׅיתָ.
- ↑ Aeth Syr et ex omnibus probavisti legem.
- ↑ Ergänze: „Gesetzen“.
- ↑ Zum Gedanken vgl. Dt. 4,8. Jedes Volk hat sein „Gesetz“; „Gesetze“ giebt es also so viel als Völker; Israel aber, Gottes geliebtestes Volk, hat unter allen Gesetzen das beste und weiseste bekommen.
- ↑ radix = ῥίζα = שׁׂרֶשׁ „junge Pflanze“ Jes. 53,2.
- ↑ Lat praeparasti = ἡτοίμασας, Syr Aeth Ar¹.² repudiasti = ἠτίμασας (Volkmar).
- ↑ Hierbei ist unicum als neutrum genommen; Wellhausen hält es für einen Hebraismus für יָחׅיד „einziges Kind“.
- ↑ Lat debet = δεῖ, Syr ( Ar¹ Arm) debebat = ἔδει (Volkmar).
- ↑ Vgl. Ps. Sal. 7,3f. Der Verfasser meint: durch Hungersnot, Pest. Erdbeben u. s. w., aber nicht durch Feindeshand.
- ↑ Zur Konstr. vgl. zu 3,12.
Hermann Gunkel (Übersetzer): Das vierte Buch Esra. Mohr Siebeck, Tübingen 1900, Seite 361. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasVierteBuchEsraGermanGunkelKautzsch2.djvu/31&oldid=- (Version vom 30.6.2018)