Hermann Gunkel (Übersetzer): Das vierte Buch Esra | |
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merk auf mein Wort, so will ich weiter[1] zu dir sprechen.
33 Ich sprach: Rede, Herr! Er sprach zu mir: Die Sinne vergehen dir[2] über Israels Geschick? Hast du es denn mehr lieb als sein Schöpfer[3]?
34 Ich sprach: Nein, Herr; aber vor Schmerzen habe ich reden müssen; denn jede Stunde aufs Neue blutet mir das Herz, wenn ich die Wege des Höchsten erfassen möchte und seines Gerichtes ’Spruch‘[4] erspähen! 35 Er sprach zu mir: Das kannst du nicht. Ich sprach: Warum, Herr? Weshalb ward ich dann geboren? Warum ist meiner Mutter Schoß nicht mein Grab geworden,
und die Not des Geschlechtes Israel[5]? —
36 Er sprach zu mir:
sammle mir zerstreute Tropfen [des Regens] wieder ein,
mach vertrocknete Blumen wieder grün,
37 öffne mir die verschlossenen Kammern
und laß die Winde[7], die sie enthalten, heraus,
’sage mir, wie Gesichter aussehen, die du nie gesehen hast‘[8],
so will ich dir das Rätsel[10] lösen, das du zu schauen begehrst. 38 Ich sprach: Herr, mein Gebieter, wer könnte sich auf dergleichen verstehen[11], außer denen, die nicht unter Menschen wohnen[12]? 39 Ich aber habe nicht Wissen ’noch Macht‘[13]; wie könnte ich solche Fragen beantworten? 40 Er sprach zu mir: So wenig du von alledem, was ich nannte, auch nur Eines zu thun vermagst, so wenig vermagst du mein[14] Gericht zu erfassen[15] oder das Ziel der Liebe, die ich meinem Volke zugesagt[16].
- ↑ Lat adiciam = προσθήσω = אוֹסׅיף.
- ↑ ἔκστασις διανοίας = תׅמְהוֹן לֵבָב Dt 28,28.
- ↑ Nicht: als seinen Schöpfer; vgl. 8,47. — Die Worte sind dem Herzen des Verfassers ein herrlicher Trost: bei all seiner flammenden Liebe zu seinem Volke vermag er Gottes Liebe zu Israel nicht zu erreichen.
- ↑ Lat (Ar¹ Arm) partem iudicii eius = גֶזֶר דּׅינוֹ vgl. Syr (im Späthebräischen eine gewöhnliche Redensart); Ar² richtig: iudicium et decretum eius.
- ↑ Citiert von Clemens Alex. Strom. III, 16 S. 556: διὰ τί γὰρ οὐκ ἐγένετο ἡ μήτρα τῆς μητρός μου τάφος, ἵνα μὴ ἴδω τὸν μόχθον τοῦ Ἰακὼβ καὶ τὸν κόπον τοῦ γένους Ἰσραήλ; Ἔσδρας ὁ προφήτης λέγει. - Vgl. Jer. 15,10. 20,14.17f.
- ↑ Der Passus ist nachgeahmt in Apoc. Sedrach 8, Apoc. Esdrae (ed. Tischendorf) S. 27. 28.
- ↑ Hiob 37,9; nicht „Seelen“ (gegen Wellhausen). Ar² tribus = φυλάς, führt auf φύσας.
- ↑ Syr (Aeth Ar¹) et demonstra mihi imaginem facierum, quas nondum vidisti.
- ↑ Die Antike ist überzeugt, daß auch der Schall, wie alles Existierende, Gestalt habe und gesehen werden könne; nur daß freilich die blöden Organe der Menschen vielerlei Existierendes nicht zu schauen vermögen, was dem Auge Gottes sichtbar ist. Ebenso urteilt die Antike über Gott und das Göttliche: alles dies ist nicht an sich, sondern nur für gewöhnliche Menschen unsichtbar.
- ↑ Lat laborem = κόπον = עָמָל Ps. 73,16 = mühselige Arbeit, Problem.
- ↑ Vgl. Apoc. Sedrach 8: μόνος σὺ ἐπίστασαι ταῦτα πάντα.
- ↑ D. h. den Engeln oder Gott, Dan. 2,11.
- ↑ Syr (Aeth Ar¹.²) insipiens et miser.
- ↑ Hier vergißt der Verfasser, daß nicht Gott, sondern nur ein Engel spricht; er hat nur die Hauptsache im Auge, wonach diese Worte letztlich von Gott kommen.
- ↑ מָצָא vom Lösen des Rätsels.
- ↑ D. h. die herrliche Verklärung Israels, die das letzte Ziel der Liebe Gottes ist.
Hermann Gunkel (Übersetzer): Das vierte Buch Esra. Mohr Siebeck, Tübingen 1900, Seite 362. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasVierteBuchEsraGermanGunkelKautzsch2.djvu/32&oldid=- (Version vom 30.6.2018)