Prag (Meyer’s Universum)
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„Prag,“ sagt Göthe, „ist in der Mauerkrone der Erde der kostbarste Stein.“ Es gibt in der That keinen Ort, der in seiner äußern Erscheinung großartiger, ehrfurchtgebietender auftritt, als Böhmens Hauptstadt. In vielen andern alten Hauptstädten malt sich uns ihr Leben nur aus der Vogelperspektive, oder aus der Ferne groß; ihre Herrlichkeit verschwindet bei näherer Betrachtung. In Prag hingegen tritt der Farbenglanz der Erinnerung überall frisch entgegen und die Vergangenheit hat die Fülle der Gegenwart zur Folie. Prag ist wie ein hundertjähriger Greis, aus dessen Gang und Blick rüstiges Mannesalter schimmert.
Mit wenigen Worten Prag zu beschreiben, auf ein paar Seiten den ganzen Cyklus seiner Schönheiten zu entfalten, in einer Viertelstunde zu allen den malerischen Punkten hinzuführen, zu allen den Denkmälern und Werken der Kunst, an welche sich weltgeschichtliche Erinnerungen knüpfen, ist unmöglich. Im großen Umriß muß ich das Bild dem Leser zeigen, und nur da und dort werde ich bei Einzelnem verweilen.
Wenn Wien vorzugsweise den Charakter stattlicher Wohlhabenheit, Berlin ein neues, fürstliches Ansehen hat, in Köln und Nürnberg sich die Zustände alter Zeiten widerspiegeln, in Frankfurts weitem Palastcyklus um den alten Stadtkern sich Krösusreichthum brüstet, die Städte der alten Hansa des Handels rührigen Geist verrathen, so ist Prag die königliche durch Alterthum, Bauart und Natur zugleich. Am meisten rechtfertigt sich diese Charakteristik, und am imposantesten stellt sich Prag aus dem Thorweg des Thurms an der Moldaubrücke dar, wenn man nach der Kleinseite geht. Dort sieht man den Hradschin mit seiner prächtigen Kaiserburg, und die dreispitzige Domkirche mit ihrer Thurmpyramide über die Straßen und Märkte ragen, und der stolze, belebte Strom, die altersgrauen Kirchen und Paläste der nächsten Umgebung, die prächtige Brücke mit ihren colossalen Statuen setzen ein Bild zusammen, wie es in keiner Stadt Deutschlands großartiger zu schauen ist.
Auf unserer raschen Wanderung durch Prag weilen wir zuerst in der Altstadt. Hier fesselt der große Ring unsere Schritt, – ein weiter, viereckiger Platz mit dem Rathhause, der Trinitatiskirche, der hohen Mariensäule, zum Andenken der Befreiung von den Schweden errichtet. Hier ist die Hauptwache, der Fiackerplatz, der Mittelpunkt des städtischen Lebens und Treibens. Das Rathhaus ist ein uraltes, gothisches Gebäude, mit einem viereckigen Thurm, der eine Gallerie mit vier Thürmchen als Dachstuhl [65] trägt. Seine Anbaue und Fenster, die untere Gallerie mit den Arkaden, die große Uhr, die steinernen Standbilder in den Nischen, Alles schaut so wunderlich aus alten Zeiten herüber. – Vom Ring aus winden sich die Straßen der Altstadt mit den altersgrauen Palästen und den soliden Steinmassen drei- und vierstöckiger Wohnhäuser winklicht und festungsartig bis zu den neuern Stadtquartieren fort, wo sie sich luftig, breit, geräumig ausdehnen. So auch in der Kleinseite, der Stadt des Adels, der Beamten, der Offiziere. Sie liegt am Fuße des Hradschin, ist schon eine halbe Bergstadt und enthält eine Menge Paläste, unter andern den Wallenstein’schen, der, ein wahrer Coloß, des gewaltigen Mannes, der ihn erbaute, würdig ist.
Der Weg nach dem Hradschin führt über die Moldaubrücke. Sie ist größer als die Dresdner und die Regensburger, und so breit, daß sich drei Wagen einander ausweichen können, ohne die Fußgänger zu gefährden. Von ihrer Mitte ist die Aussicht bezaubernd. Aufwärts prangt der Hradschin, abwärts schweift der Blick über die stattlich umsäumten Ufer des Stroms und die sich auf seinem Busen wiegenden Inseln. Eine Krümmung entzieht die Moldau dem Blicke, und ein Sattel von bewaldeten und mit Schlössern und Klöstern, oder Landhäusern besetzten Bergen begrenzt die Vista. Im Hintergrunde sieht man die alte Bergstadt Wischerad auf der Nachbarshöhe des Hradschin, mit ihren Thürmen, und den Lorenzberg mit einer Kirche zwischen Gehölz und fruchtbaren Matten. Die Brücke selbst ist die Bewunderung aller Reisenden. Sie hat sechzehn Bogen, und jeder ihrer Pfeiler ist geschmückt mit Statuen der Glaubenshelden und Gruppen von Heiligen. Peter Vischer’s und seiner Söhne kunstberühmten Händen schreibt man die bronzene Statue des heiligen Nepomuk zu, deö Schutzpatrons von Prag und ganz Böhmen. Sie ehrt die Stelle, wo der Märtyrer hinabgestürzt wurde, und den Tod fand. Wer vorbeigeht aus dem Volke, der zieht den Hut ab voller Ehrfurcht; nur der Mann mit dem feinen Rocke wandert ohne Respektsbezeugung vorüber.
Der Hradschin ragt wie ein Diadem über der Kleinseite, aus der man auf einem breiten Treppenpfad zu ihm emporsteigt. Die Palastreihe der kaiserlichen Burg bildet die Vorfronte, und dahinter erhebt sich die Sankt Veits- oder Domkirche, deren Thurm durch zwei hohe durchbrochene Bogen mit dem Schiff verbunden ist. Dieses Bauwerk im altdeutschen Style krönt den höchsten Punkt des Felsens. Keiner scheue die Mühe, den Domthurm zu besteigen, um die reiche Aussicht auf eine lachende Landschaft zu genießen.
Blaue Gebirgszüge umschließen dies Panorama wie der hohe Rand eines Kessels. Ostwärts gewendet sieht man die Moldau sich majestätisch um die Altstadt krümmen und grüne Inseln aus ihren silbernen Wogen tauchen. Südwärts tritt Wischerad hervor, der uralte Sitz der Czechenherzöge, und die grauen Trümmer des Libins, der Burg der schönen Libussa. Dieser gegenüber, auf dem Ufer der Kleinseite, erhebt sich, langgestreckt, [66] der Lorenz- oder Laurenzi-Berg, ein grünender Rücken, auf welchem, wie die Sage lautet, die heidnischen Böhmen das licht- und wärmespendende Feuer göttlich verehrten. Eine im Zickzack herablaufende Mauer gibt der Anlage das Aussehen eines Kastells. Kaiser Karl IV. ließ sie erbauen, um den Armen durch Arbeit Brod zu verschaffen und Hungersnoth abzuwenden.
Auf der entgegengesetzten Seite breitet sich die Gegend weit aus, mit anmuthigen Hügeln und mit Landhäusern der Reichen und den Schlössern des Adels besetzt. Ganz nahe aber steht Tycho Brahe’s berühmtes Observatorium, eine der Wissenschaft heilige Stätte. Der Styl dieses merkwürdigen Gebäudes hat etwas Orientalisches; doch nimmt es sich mit seiner Gallerie und Säulenhalle stattlich aus und ist der Schmuck des Schloßgartens, dessen hohe Baumgruppen der städtischen Umgebung Reiz und Abwechselung verleihen.
Vom Thurme herabgestiegen, betreten wir die Kirche. Der Dom von St. Veit ist eine gemeinsame Stätte für die monumentalen Denkmäler der kirchlichen und weltlichen Macht des Landes. Er ist das Erbbegräbniß der böhmischen Könige und die Gruft der böhmischen Heiligen und Kirchenfürsten, deren Denkmäler Wände, Seitenkapellen und Altäre bedecken und anfüllen. Schade, daß die Stürme des religiösen Fanatismus und des Kriegs nicht immer schonend an diesem Gotteshause vorüber gingen: denn vieles Treffliche an Grabsteinen und Bildwerken ist gewaltsam zerstört oder verdorben.
Der Löwe des Orts und der Magnet, der die Gläubigen in großen Schaaren nach dem Tempel zieht, ist der Sarg des heil. Nepomuk. Von massivem Silber gefertigt, steht er am Hochaltar, umgeben von einer Glorie silberner Engel. – Nicht weniger prachtvoll und merkwürdig ist die Kapelle des heil. Wenzel, der Böhmen erster christlicher Beherrscher. Wenzel ward von seinem eigenen heidnischen Bruder erschlagen, welchen die fanatische Mutter zur Unthat gereizt hatte, um die alten Götter an dem abtrünnigen Erstgebornen zu rächen. Man sieht mit Grauen die vom Blute gefressenen Rostflecken an dem Löwenkopf und dem Messingring, an welchen der arme Wenzel sich flehend festklammerte, als sein Bruder das Kainswerk verübte. Helm, Schwert und der drahtgeflochtene Panzer des Erschlagenen hängen dem verhängnißvollen Ringe zur Seite. Sie gehören zu den Reichsinsignen; denn Böhmens König kann keinen Ritter des Wenzelordens machen, – des einzigen böhmischen Ordens, – er sey denn angethan mit dem Kleide des Geopferten. Mit diesen Dingen des geschichtlichen Grauens macht die rohe Pracht des Orts einen wunderbaren Contrast. Alles strahlt hier von Gold und Silber, man sieht Zierrathen aus großen, viereckigen, plump gefaßten Edelsteinen und ganze Tafeln von Smaragden, Topasen, Chrysolithen, Türkisen etc. sind an den Wänden befestigt.
Ermüdet verlassen wir den Tempel. An der Burg werfen wir im Vorübergehen einen Blick auf das Fenster im böhmischen Ständesaal, durch das einst die kaiserlichen Räthe den welthistorischen Sprung auf den [67] Düngerhaufen machen mußten. Das war ein kühner Wurf! Wer so einen wagt, hat nicht die Polizei zu fürchten, nicht das Schmachten im feuchten Kerker, ohne Licht, ohne Luft, ohne Trost, – nicht den Eid, der dem Gequälten auflegt, nimmer die Geheimnisse der Tyrannei zu verrathen. Indem er den Steg des Rückzugs selbst zerstört, macht er Sieg oder Tod zu seiner Losung. Es ist jedenfalls die kürzeste Weise, um Geschichte zu machen. –
Unsere Zeit will nichts davon wissen. In unsern Tagen, wo man die Worte überzuckert, wäre der Sinn auch noch so bitter; wo der Unmuth anstandsmäßig nur wie ein Wölkchen erscheinen darf, das rosenroth mit Goldsaum schimmert; wo die Wahrheit höchstens so pikant schmecken darf, daß sie dem Gaumen mehr wohl als wehe thut; wo Alles sich in feinen, artigen, zarten und honigsüßen Redensarten dreht, – wäre die Furcht eines Regierungs-Commissarius vor einem solchen Salto mortale aus den Fenstern eines Ständesaals gewiß die allerlächerlichste.
In Prags heiterm Leben spiegelt sich das Wiener wieder, wenigstens den Hauptzügen nach: Klein-Wien ist es darum mit demselben Rechte geheißen, wie Brüssel Klein-Paris. Der Straßen-Verkehr ist nicht minder lebhaft, als in der Kaiserstadt, obschon Prag, das etwa hunderttausend Einwohner zählt, nicht so dicht bevölkert ist, und die Kaufläden, die Kaffeehäuser, die Gasthöfe sind eben so verführerisch und schön ausgestattet. Nicht ganz so froh und behaglich mögen indessen die Prager, der Masse nach, aussehen, als das Wiener Völkchen; auch etwas genirter, etwas unterwürfiger, etwas verschlossener. Die schönen Töchter der Hauptstadt Böhmens mit dem slavischen, schwarzen Haar und dem kräftigen, hohen Wuchs, machen zwar nicht gerade die Regel in der hiesigen Frauenwelt aus, sind jedoch keineswegs Geschöpfe der Fabel. – Ei, wo gerathe ich hin? Kann ich die Prager „wie sie sind“ auf ein schmales Stück Papier hinstellen? Die Ironie bedarf einer Zeile: doch ein Witzwort schildert nicht – und um die prager Welt zu schildern, ist ein Buch nicht zu viel. Ich habe nur ein Blatt; es ist voll. Ein Paar andere Bilder, ein Paar andere Blätter sollen später dies Fragment ergänzen.