Die Aussicht vom Lilienstein in der sächsischen Schweiz
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in der sächsischen Schweiz.
Gedenke ich des einst genossenen Rundblicks von des Liliensteins Felsenscheitel, und schaue dies Detailbildchen an, auf dem die Kunst sich abmüht, das Engros-Gemälde ganzer Landschaften in einen Rahmen, handbreit, zu bringen, so ist es mir, als versündige sich die Kunst an der großen Erhabenheit der Natur eben so sehr, wie der Narr, welcher auf einen Berg steigt, um mit einem Fernrohr eine Baum- oder Thurmspitze zu betrachten, welche er in der Nähe ohne Mühe und mit waffenlosem Auge deutlicher sehen kann. Wenn ich die Höhen der Erde besteige, so will ich die Pracht der Schöpfung bewundern und dem Herrn huldigen, der die Berge kleidet und die Thäler mit Blumen stickt; schwelgen soll mein Auge in der weiten Natur, nicht sich einkerkern in die dunkle Röhre, die mir durch die vergrößernde Glaslinse einen Pfennig des aufgethanen Schatzes näher rückt. Der Künstler, der aus einem Berg-Rundgemälde ein Segment herausschneidet und mit dem Storchschnabel seiner Phantasie auf ein Stückchen Papier fixiren muß, ist sehr zu bedauern. Er martert sich ab, das Große klein zu machen, und seine Mühe bringt ihm so wenig Dank, als Freude.
Weg mit dem Bildchen! – Ich erzähle von meiner Bergfahrt.
Dreißig Jahre sind’s her, als ich, das Ränzchen auf dem Rücken, im Dresdner Elbthale wanderte. Damals kamen noch nicht allsommerlich Reisende zu Tausenden hin, und das Wetter des Kriegs, das in jener Gegend heraufzog, hatte im Sommer 1813 die sächsische Schweiz von Besuchern fast verödet. Nur einzelne Wandergenossen traf ich, meist junges Blut ohne Furcht, wie ich selber.
Wir waren Mittag zu Dritt von Pirna weggegangen, mit dem Vorsatze, den Lilienstein zu besteigen und dort den Sonnenuntergang abzuwarten, der an dem Abende prächtig zu werden versprach: denn nur leichte, schmale Nebelstreifen spielten im Himmelsblau und der Westen war wolkenlos. Am Fuße des ungeheuern Felskegels rieselt aus überhängendem Gestein eine Quelle. Da rasteten wir und stärkten die müden Glieder, und [69] – denn wir hatten schon einen starken Marsch gemacht! – mit einem Labetrunk. Sodann begann die Auffahrt. Der Lilienstein ist ein fast senkrechter und wohl 1000 Fuß hoher Fels. Seine Form ist der eines Zuckerhuts zu vergleichen, dem die Spitze abgeschlagen ist. Um seinen Fuß hat sich der Schutt von Bergtrümmern angehäuft. Anfangs windet sich der Weg mit sanfter Steigung hinan; bald aber wird er steil, felsig und sehr beschwerlich. Wir mußten auf eingehauenen Stufen über mehre Abhänge klettern, und kamen durch eine Felsspalte zu einem, über eine tiefe Kluft führenden Steg. Hinter demselben wurde der Weg gefährlich. Der Tages zuvor gefallene, wolkenbruch-ähnliche Gewitterregen hatte streckenweise den Pfad ganz zerstört; um weiter zu kommen, mußten wir mehrmals auf Händen und Füßen rutschen. Endlich erreichten wir glücklich die letzte Felstreppe, und ein dreifaches Hurrah! grüßte den Obelisk, der auf dem Scheitel des Colosses steht, und der uns, aus der Tiefe gesehen, wie eine Nadelspitze vorgekommen war.
Die Sonne stand noch ziemlich hoch über dem Horizont; die Luft war rein. Erschöpft von der argen Strapatze setzten sich meine Begleiter auf die Steinbank; ich, als wäre mir der Standpunkt noch nicht hoch genug, kletterte den größten der umherliegenden Felsblöcke hinan, von dem die Umsicht nach allen Seiten frei war. Mein Blick wollte das große Panorama mit einem Zuge umreißen; er wollte messen, wollte die Entfernungen bestimmen: doch der überraschte, verwirrte Sinn war dem Vorsatz nicht gewachsen. Schwindelnd that ich ein paar Schritte vorwärts: da stand ich am Rande und sah hinab auf den tiefen Abgrund. Erschrocken setzte ich mich nieder, suchte mich zu sammeln und dann das unermeßliche Bild zu zerstückeln und in einzelne Rahmen zu fassen. Jede Parthie gestaltete sich zu einem großen, ruhigen Ganzen. Weile, tiefe Thäler, ein majestätischer Strom, bewaldete Berggipfel, dunkle Wiesengründe und weite, in allen Schattirungen von Grün gemusterte Fluren, die Städte, die Flecken, Dörfer und Meierhöfe, die blauen fernen Gebirge, – Alles hatte von diesem Standpunkte aus den Charakter hoher, prunkloser Einfachheit und ruhiger, stiller Abgeschiedenheit. Die Schatten der einzelnen Wolken jagten über die Szene, wie Kummer und Sorge, von denen ich damals noch nichts wußte, über das Menschenleben.
Ich war bemüht, mit Hülfe meiner unterwegs einstudirten, nicht ganz probefesten Topographie der sächsischen Schweiz die hervorragendsten Punkte zu erkennen, oder interessante aufzusuchen, als mich der frohe Zuruf meiner Genossen einlud, hinabzukommen. Hinter einem Feleblock hervor sah ich die prasselnde Flamme lodern, und ein ambrosianischer Hauch stachelte den mächtigsten aller Sinne unwiderstehlich auf. Einer der Gefährten hatte nämlich den klugen Einfall gehabt, in Pirna ein halbes Dutzend Bratwürste in sein Tornister zu packen, und auf dem von grünem Astholz improvisirten Roste dampften ihre Balsamdüfte zum Himmel. Ueber dem Opferherde bog ein wilder Rosenbusch seine blüthenvollen Zweige zur Flamme nieder – neben und über derselben welkten und dörrten [70] Blätter und Blumen: ich machte nicht einmal den Versuch, die hinschmachtenden Kinder des Frühlings zu retten, und setzte mich mit wässerndem Munde in der lachenden Gesellen Kreis. Es wäre wohl Andern auch so ergangen; denn in wem spricht der reine, himmlische Ton des Gefühls, den der Schöpfer ursprünglich in jedes Menschenherz gelegt hat, am wenigsten an? Gewiß in dem Hungrigen.
Scherz und Lust würzten unser einfaches Mahl und eine halbe Flasche Meißner, die zur rechten Stunde aus dem Schnappsack des Klugen hervorkroch, reichte hin, um alle Lieben in der Heimath hoch leben zu lassen. Der letzte Becher galt dem Vaterlande, über welches damals die Hoffnungssonne so blutroth glühete, als die Abendsonne, die eben am Firmament hinunter stieg. Von der Heerstraße herauf glitzerten französische Gewehre; – Herr, gib der Befreiung Flügel! rief ich, und Amen! riefen die Andern.
Und nun ging’s mit erhobenem Herzen und heiterm Muth auf den höchsten Felsvorsprung nach West, um eine Scene zu schauen, voll unvergeßlicher Hoheit und Pracht. – Wir sahen die Sonne von dem Vaterlande Abschied nehmen. Wie herrlich war die Bühne, von der wir den Auftritt betrachteten! Der Strom zu unsern Füßen schien der scheidenden Königin des Tags nachzuziehn, welche seine stolzen, mit Berg und Fels und Wald geschmückten, Ufer und seine Wogen mit Rosen und Purpur bestreute und mit ihren Strahlen übergoldete. Noch stand sie über dem Firmamente: über ihr zitterte ein leichter Wolkenvorhang, weißschimmernd, von dem sich dann und wann Flocken lösten und von ihm wegzogen, wie eine Heerde Lämmer. Sie färbten sich, während sie entflohen. Alle Masten und Segel auf dem Flusse, alle Fruchtfelder, alle Bäume und Berg- und Thurmspitzen schimmerten geröthet und gehoben. Wir standen und genossen, bis die wohlthätige Tagesgöttin in die Fluthen hinab sank und die Herrlichkeit der Entschlummernden des Auge blendete: – dann wendeten wir uns auf die entgegengesetzte Seite nach Ost, wo schon dunkle Schatten heraufzogen. Auch der Anblick war schön. Man übersah das Elbethal bis hinan an die Marken Böhmens. Links, (alle nachgenannten Punkte sind auf unserm Bildchen kenntlich), dicht am Strome, kauerten die Ortschaften Prossen und Windischfähre, ein Nebelstreifen bezeichnete den Eingang in den tiefen Grund, rechts lag Krippen mit seinem Fährhaus; dann weiter hinab, links, auf einer Landzunge, das Städtchen Schandau so traulich; dahinter der Eingang in den romantischen Kirnitschgrund; noch weiter hinab die Steinbrüche von Schmilka und Hirnitschkretschen; gegenüber Porschdorf mit seinen hohen Felsenmauern. Der Falkenberg prangte hellerleuchtet; rechts von demselben der Falkenstein, die Schrammsteine, die Winterberge; in noch größerer Ferne reckten die Lausche und die Schneekoppe ihre Häupter empor, und das Gebirge von Töplitz machte den Hintergrund des Gemäldes.
Schnell brach die Dämmerung herein; doch währte es nicht lange, so trat der Vollmond hinter dem großen Winterberge hervor und warf ein neues, silbernes Licht auf die Gegend. Wir Alle standen staunend und in den [71] Anblick versunken. Alles war so ernst und still und heilig um uns, Jeder folgte willig seinen Gefühlen; meiner Phantasie waren die Flügel gelöst, und während ich so hinunter blickte auf die hohen Mauern und Zinnen des Elbthals, dachte ich sie mir als die Trümmer von Palästen und Tempeln und Triumphbögen längst vergangener Gigantengeschlechter, die einzeln stehenden Felskegel als die Pfeiler der Bögen, die einst über dem Thale sich wölbten, andere als Hochaltäre, wo die Riesenkinder der Erde dem Herrn opferten, wieder andere als Mausoleen für Heroen. Ich verglich dann mit dieser Felsarchitektur die stolzen Bauwerke, die ich den Tag vorher in Dresden gesehen, und sie kamen mir vor wie Maulwurfshügel neben Bergen. Da weckte mich der Ruf der zur Rückkehr mahnenden Wandergefährten aus dem Traume, ich wischte das phantastische Nebelbild aus meinen Augen und schied vom Prachtschauspiel der Natur mit beklommenem Herzen.
Drei Jahrzehnte voller Lebensstürme und Ungewitter sind seit diesem Abende über mich hingezogen, die Regengüsse der Sorge haben meine Stirn gefurcht und meine Haare fangen an zu bleichen. Dreißig Jahre! es ist eine kurze Spanne Zeit und doch wie viel Thränen rollten seitdem auf des Schicksals ernstem Altar! Gottlob! sie sind vertrocknet; sie haben sich nicht zur schmerzenden, eiternden Wunde eingefressen. Auch waren die geschwundenen Tage an Freuden nicht arm; manchen reinen, glänzenden Strich ließen sie auf ihrer Gedächtnißtafel zurück; – die reinsten kamen von euch, ihr Wandertage meiner Jugend!