Notre-Dame in Paris
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Ich betrachte mit Wohlgefallen das schöne Bild dieses Colosses, um den die Menschen, wie Ameisen, wimmeln, die steinerne Heiligenschaar über seinen Portalen, und lese verwundert die Unterschrift: „Unserer Lieben Frau in Paris.“ Wer war die „Liebe Frau?“ – „„Die Mutter Gottes““ antwortet der Tonsurirte.
Erröthend verhülle ich mein Haupt, mein Auge füllt sich mit Thränen, und die Betrachtungen über den schmachvollen Zustand der menschlichen Dinge verfinstert meine Seele. Unglückliche Wesen, welcher unheilige Trug spielt mit euern heiligsten Gefühlen! Wer darf es wagen, hier, unter dem Dome des Himmels, im Chore der Welten, des Allmächtigen zu spotten!
Tempel! der Tag wird kommen, der dich in Ruinen sieht, die Nacht wird kommen, wo der bleiche Mond sein Bahrtuch über deine Trümmer deckt, und man wird dich einst malen, wie man Geister malt, die über den Gräbern wanken. Der Mensch wird nicht immer dem Lichte, sein Herz wird nicht stets den Eingebungen der Vernunft und der Wahrheit verschlossen bleiben. Der Augenblick kann nicht immer fern bleiben, welcher die Verblendung von ihm nimmt, und der Schutt von Notre-Dame, der Staub dieser Mauern, welche von tausendjährigen Irrthümern zeugen, werden den Beweis erneuern, daß nichts besteht, denn die Wahrheit. – Wahrlich, wäre Gott wie der Gott der Bibel, „rächend an den Kindern bis in’s dritte und vierte Glied,“ Erde und Himmel würde er auffordern, an den Menschen Rache zu üben, die, ihn verkennend und verleugnend, eine Puppe anstatt Seiner zur Anbetung ausstellen.
Klagt nicht die Befangenheit des menschlichen Geistes an, sagt nicht, sie sey die Pflegemutter des religiösen Irrthums! Nein! das Dunkel, worin die Vernunft sich verirrt, ist nicht das Dunkel Gottes. Die Quelle des Aberglaubens entspringt nicht aus dem Himmel; im Menschen selbst ist ihr Ursprung zu suchen, der Boden, aus dem sie hervorbricht, ist sein eignes Herz. Aber so gewiß, als die Sonne in ihrer Bahn bleibt, so gewiß wird die Weisheit über die Thorheit, die Erkenntniß über die religiöse Verblendung den Sieg davon tragen.
Urheber des Weltalls, Vater und Regierer! Großer – Guter – Allmächtiger und Allliebender! Du, den unter verschiedenen Namen die Sterblichen anbeten, ohne Dich zu kennen: – ewiger, unerschaffener Gott, der [80] Du im Himmelsall den Lauf der Welten ordnest und die Abgründe des Raums, der Unermeßlichkeit, mit Sonnen ohne Zahl bevölkerst – sage: was gelten alle diese Religionssysteme der Menschen auf der kleinen Erde, die sich einander in Widerspruch hassen und verachten, in Deinen Augen? Was sind sie, diese Meinungen eines Häufleins Kinder in Deinem unbegrenzten Geisterreiche, für Dich, auf dessen Geheiß die Milchstraßen den Kreislauf ordnungsvoll vollenden? Was sind Dir die Spitzfindigkeiten ihrer Lehren und die Streitfragen ihres Glaubens? Kannst Du Wohlgefallen haben an diesem Kampfe ohne Ende, an dieser Selbstqual der Thorheit? Ach! wenn die Menschen, statt sich in hundert Religionsparteien und Sekten zu spalten, die nichts mit einander gemein haben, als den Haß, die Unduldsamkeit und den Irrthum, und deren Geisteskraft sich abmüht, in unzusammmhängenden Systemen den Faden der Einigung mit den unveränderlichen Gesetzen der Vernunft und der Moral zu finden, – die Offenbarung Gottes in der Natur suchten, – hier, wo Alles Gottes Offenbarung ist,wo die Wahrheit mit voller Ueberzeugung glänzt, – hier, vor dem aufgeschlagenen Codex der ewigen Gerechtigkeit, vor dem offenen Buche der Weisheit eines allgütigen Regierers, der alle seine Wesen mit gleicher Liebe umfaßt, der, um über ein Land regnen zu lassen, nicht fragt, was für einen Propheten es hat, der seine Sonne aufgehen läßt über alle Menschen jeden Glaubens, über den Weißen, wie über den Schwarzen, über den Muselmann, wie über den Heiden, über den katholischen wie über den protestantischen Christen; der die Saat da gedeihen läßt, wo sie sorgsame Hände ausstreueten und sie mit Liebe gepflegt ist ; der jede Nation vermehrt und jede Familie emporhebt, bei welcher Redlichkeit, Fleiß und Ordnung herrschen; der jedes Reich steigen läßt, wo die Gerechtigkeit ausgeübt wird, und da die Menschen beglückt, wo der Mächtige durch Gesetze gebunden, der Arme durch sie beschützt wird; der die Völker stark macht, wo der Schwache in Sicherheit lebt und wo ihm der Mitgenuß der gesellschaftlichen Rechte unverkümmert und ungeschmälert bleibt von dem Starken; – ich sage, wenn sie im grünen Tempel des Herrn des Herrn Stimme hörten, wie sie des Priesters horchen in dem Hause von Stein: dann würden die einfachen und unveränderlichen Grundsätze der wahren Religion nicht eine Hieroglyphe seyn, die von vielen Millionen nur Wenige entziffern. Alle Menschen würden sie verstehen, und auch die im Schutt der priesterlichen Satzungen vergrabene Lehre des größten und besten aller Menschen – auch sie würde dann nicht mehr zum Schemel des Aberglaubens dienen. –
Seht, auf der Stätte dieses Gotteshauses, in das ich euch nachher führen werde, haben vor der „Mutter Gottes“ andere Götter ihre Tempel gehabt; auch ihnen wurde von den lehrenden Priestern eine ewige Dauer verkündigt; auch ihnen glaubten die Völker so fest und so treu, als der Gottheit, welcher man heute hier huldigt. Auf der Stelle, wo der gesalbte Priester das Blut des Gekreuzigten aus goldenen Kelchen schlürft und sein Fleisch an die Gemeinde theilt, – brachten die allen Gallier ihren Göttern Isur und [81] Cornunnus einst Menschenopfer. Als die Römer kamen, stürzten sie die Altare um, und Jupiter zog in das Säulenhaus, das sie an ihre Stelle gebaut; und als mit den Adlern Roms auch dessen Götter flüchteten, da nahm der Christengott und die Schaar seiner Heiligen Besitz von der verlassenen Stätte, und aus dem Säulentempel ist in der Jahrhunderte Lauf diese Kirche erwachsen, welche die Christenheit unter ihre ehrwürdigsten zählt.– Liegt nicht in dieser Wiegengeschichte von Notre-Dame eine große Lehre und der Beweis für eine Wahrheit, die geeignet ist, manche gläubige Seele erschrecken zu machen? Ja, du erschrickst, Irrgläubiger, und dein Inneres wird von Gedanken zerrissen, welche du nicht laut zu offenbaren wagst. Deine Einsicht ergreift ihre Züge; aber eine angelernte Ehrfurcht vor dem Irrthum hält deinen Sinn gefangen. Wisse, nur Unwissenheit und Thorheit glauben ohne Beweis, und einen Glauben mit Gewaltsprüchen unantastbar machen wollen, ihn entziehen wollen der Untersuchung und der Prüfung, ist Sache der Lüge und der Tyrannei und verräth seine Schwäche. Eine Religion, die das Verbot aller Untersuchung in den Vorgrund stellt, welche die Verleugnung des eignen Urtheils heischt, ein Glaube, der schon bei jedem leisen Zweifel das Gewissen des kleinmüthigen Menschen mit blankem Schwerte zur Züchtigung auffordert, ein Glaube, der bei jeder Prüfung, erschrocken, die Autorität himmlischer Mächte zu Hülfe ruft und die Kritik schlechtweg als Blasphemie verdammt, ein solcher hat – umflösse auch siebenfacher Heiligenschein sein Haupt! – nichts Ehrwürdiges, und ein solcher hat keine Gewähr seiner Unvergänglichkeit. Er kann diese nicht haben; denn durch einen solchen Glauben müßte ja der verblendete Mensch seine Fesseln an sich selbst vernieten, er würde auf immer, ohne Vertheidigungskraft, zum Sklaven seiner Unwissenheit, zum Spiel priesterlicher Schlauheit und Truglist gemacht. Und das will Gott nicht; denn nicht Stillstand, nicht Beharren, sondern Bewegung ist das Prinzip für seine Schöpfung. Was der geschaffenen Menschheit angeht, ist diesem Prinzip unterthan, und darum kann auch bei den religiösen Vorstellungen keine Unbeweglichkeit gedacht werden. Die Glaubenslehren – Kinder der Jahrtausende und ihrer Zustände – sie wechseln wie diese; – die Religion schließt, wie alles Menschliche, die Fähigkeit der Läuterung und Fortbildung nicht aus, und gerade darin liegt ja für die Menschheit die Bürgschaft zur Erlangung glückseligerer Zustände in künftigen Zeiten.
Ehe wir die Kathedrale von Paris betreten, werfe ich einen Blick auf ihre Geschichte. Ich will nicht damit ermüden; ein paar Federstriche sollen genügen.
[82] Der erste christliche Bau erstand hier auf Childeberts Befehl um 522. Normannen, die 875 Paris verheerten, zerstörten auch ihn. 1010 wurde der jetzige Tempel begonnen und fortgebaut daran drei volle Jahrhunderte. Von 1300–1331 schmückte man den herrlichen Chor. Unangetastet blieb der Riesentempel, bis Ludwigs XIV. Eitelkeit daran frevelte. Unter dem Vorwande einer Restauration verschwanden eine Menge Schätze der alten Kunst, und an ihre Stelle traten neue, nichtige Skulpturen in Marmor, und Guß- und Gitterwerk von Bronze und mit Vergoldung: – Dinge, die größtentheils in neuern Zeiten andern Zuthaten Platz machen mußten. Auch das Aeußere blieb der barbarischen Verschönerungsmanie deS 17ten und 18ten Jahrhunderts nicht unzugänglich. Man hat bei dem zum Kirchgange der Könige bestimmten Portale eine Art Triumphbogen mit Säulen im dorischen Styl an die Mauer des Doms geklebt, gleichsam als fehlte noch Etwas, um von der Kunstverwilderung Zeugniß zu geben, welche zu einer Zeit in Frankreich herrschte, wo die Welt den französischen Hof als den Sitz des guten Geschmacks bewundert.
An Größe ist Notre-Dame die sechzehnte Kirche der Christenheit. Sie mißt der äußern Länge nach 412 Fuß, in die Breite 156 Fuß; sie deckt fast 60,000 Quadrat-Fuß Flächenraum. Der Kubikinhalt ihres Mauerwerks ist nahe 2 Millionen Fuß.
Die imponirendste Seite des Doms ist die Fronte mit den Thürmen. Letztere sind unvollendet geblieben; ihre gegenwärtige Höhe beträgt 225 Fuß. Von ihren mit Balustraden umgebenen Scheiteln hat man einen Ueberblick der Weltstadt, in deren Mittelpunkt und ältestem Theil, der Cité, die Kathedrale selbst erbaut ist.
Notre-Dame ist nie verschlossen, denn zu jeder Stunde jeden Tags ist ein messelesender Priester hier bereit, der Andacht zu dienen. Wir, die wir nicht herkommen, um zu beten, treten ein in der Stunde, zu welcher diese Stätte noch leerer ist, als gewöhnlich, wann der Tag seine letzten vergoldenden Strahlen durch die bunten, glasbemalten Kirchenfenster wirft, und die herannahende Dämmerung mehr ahnen, als sehen läßt. Unser Eingang ist an der Prachtseite des Doms, durch das mittlere Portal zwischen den Thürmen, und er führt in gerader Richtung auf den Hochaltar, über welchem sich der Chor mit schlanken Säulen zur Kuppel wölbt. Wahrlich, der Anblick ist groß! Die modernen Zuthaten verschwinden völlig in der Herrlichkeit des Ganzen: rein und unentweiht entwickelt sich der colossale, einfache Bau vor dem leiblichen und geistigen Auge. – Die Kirche scheint verlassen, kein Mensch bewegt sich, keine Stimme wird gehört. Durch das majestätische Mittelschiff, zwischen den Reihen der gewaltigen, über hundert Fuß hohen Bündelsäulen sucht der Blick das Ende dieser schönen Perspektive, den Hochaltar, um den ein matter Schein von 4 armdicken Kerzen auf silbernen Leuchtern schimmert. Wir wandern rechts und links und bewundern die Seitenschiffe, weiche zwischen den Säulenreihen hin, wie Durchsichten in einem Tannenwald, fortgehen. Ihre Säulen sind mit spitzförmigen Arkaden verbunden, die auf die großartigen, [83] mit steinernem Schlingwerk dekorirten Fenster auslaufen, aus welchen das farbige, gebrochene Dämmerlicht magischen Schein auf Schnitzwerke, Grabmonumenle, Statuen und Heiligengruppen wirft, welche alle Räume an den Wänden anfüllen und überdecken. Kanzeln starren aus der Höhe auf uns nieder. Eine Menge leerer Stühle stehen, oder liegen umgestürzt umher: – wir fragen, was das sey? und lächelnd zeigt man auf einen Mann, der einen Haufen Zwei-Sousstücke von der Balustrade eines Altars streicht, – die Aerndte, welche der Stuhlherr von der letzten Versammlung der Andächtigen eben gehalten hat. Denn in Paris ist ein Sitz in der Kirche eben so käuflich, als ein Sitz in der komischen Oper: der Kauf gilt da wie dort für die Dauer einer Vorstellung. Auch hier wird nichts umsonst gegeben, nicht das Leben, nicht der Tod, nicht die Freude, nicht der Kummer, nicht die Darstellung von dem Mimiker auf der weltlichen, noch vom Priester auf der geistlichen Bühne: Alles muß mit Sous und Franken bezahlt werden. – Diesem glücklichen Pariser Volke, – gleichviel, ob es auf dem Kothurn oder unter der Schellenkappe, mit rothen Absätzen oder in rother Mütze, im Parlament oder im Tanzsaale, im Gerichtssaal oder auf dem Markte, im Kaffeehause oder im Beichtstuhle stehe, – ist alles Komödie; es schwimmt auf der Oberfläche leicht dahin, allen Grund und alles Gründliche hassend und es zugleich verachtend. Und doch faßt dieses Volk die Zügel der Weltgeschichte und lenkt sie, sobald es mag, nach seinem Wohlgefallen. –
Während wir Notre-Dame’s Glasmalereien bewundern im Feuerglanze des westlichen Himmels, ist der Vollmond von Ost heraufgestiegen und sein bleiches Licht fällt auf die, von wunderlichen Figuren belebten, Säulenknäufe und die rankenden Rippen der Gewölbe. Das buntscheckige Licht der Fenster erblaßt nun, die zitternden, vielfarbigen Reflexe auf den Gegenständen fangen an zu verschwinden. Die Mondhelle bleicht Alles, selbst der nankingfarbige Anstrich des Tempels ist in ein glänzendes Weiß verwandelt. Stumm und feierlich, wird Alles ringsum. Da regt sich’s in der Ferne; wir lauschen: – dort unten ist’s am Hochaltar. Lichter wandeln, Kerzen werden sichtbar, erst zwei, dann vier, sechs, zwanzig – eine lange Schaar. Man hält Umgang. Vor dem Hochaltar bleiben die Lichter stehen und einigen sich zum Kreise. Der Kerzenglanz hat nun den Mondschein verdrängt; nur in den fernsten Theilen und in den Seitenschiffen siegt noch der falbe Schimmer über das Feuerlicht, und graues Dunkel hüllt die Portale des Hintergrundes in ihren Schleier. Vor uns aber strahlt Alles im stattlichen Hellglanze des großen Meßdienstes, – Priester und Ministranten ordnen sich auf den Stufen des Altars; Glöckchen und Rauchfaß setzen sich in Bewegung; Andächtige, sitzend, stehend, oder knieend, gruppiern sich. Wir selbst treten der Scene näher; doch da schwindet das Bild der Andacht und nur die Darstellung bleibt übrig. Seitwärts steht eine Gruppe junger Leute, kosend und kichernd; dort schaukelt sich Einer auf seinem Sessel so [84] ungenirt, als wie im Garten des Palais Royal, und ein Anderer, auf sein Rohr gelehnt, lorgnettirt die weiblichen Gestalten und denkt an andere Dinge, als an’s Beten. Laut schwatzend kommt eine ganze Schaar aus einem der Seitenschiffe daher gegangen, und manches zweideutige Paar schlüpft um die Säulenbündel und verliert sich in des Tempels düsterste Räume. Man wird bald gewahr, daß die meisten der Anwesenden müßige Zuschauer sind, welche Zerstreuung, oder das Vergnügen suchen, und zum Tempel des Herrn gehen, wie sie auf die Boulevards, oder in das Theater gingen. Inzwischen ist die Messe zu Ende, die feierlichen Töne der Orgel schwellen, ermatten, verstummen; die Priester und Chorknaben verschwinden; die Stühle werden leer, das Rauschen der Menge wälzt sich den Pforten zu; ein Licht nach dem andern erlischt, einsames Geflüster und leise Fußtritte werden hörbar, bis auch Beides verstummt. Leer ist die Kirche, leer sind die Stühle, nur das Mondlicht belebt die feierlichen Räume mit seinen stummen Schatten, bis, nach Verlauf weniger Stunden, das nämliche Schauspiel, die nämliche Darstellung sich erneuert.