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Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band |
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Der erste christliche Bau erstand hier auf Childeberts Befehl um 522. Normannen, die 875 Paris verheerten, zerstörten auch ihn. 1010 wurde der jetzige Tempel begonnen und fortgebaut daran drei volle Jahrhunderte. Von 1300–1331 schmückte man den herrlichen Chor. Unangetastet blieb der Riesentempel, bis Ludwigs XIV. Eitelkeit daran frevelte. Unter dem Vorwande einer Restauration verschwanden eine Menge Schätze der alten Kunst, und an ihre Stelle traten neue, nichtige Skulpturen in Marmor, und Guß- und Gitterwerk von Bronze und mit Vergoldung: – Dinge, die größtentheils in neuern Zeiten andern Zuthaten Platz machen mußten. Auch das Aeußere blieb der barbarischen Verschönerungsmanie deS 17ten und 18ten Jahrhunderts nicht unzugänglich. Man hat bei dem zum Kirchgange der Könige bestimmten Portale eine Art Triumphbogen mit Säulen im dorischen Styl an die Mauer des Doms geklebt, gleichsam als fehlte noch Etwas, um von der Kunstverwilderung Zeugniß zu geben, welche zu einer Zeit in Frankreich herrschte, wo die Welt den französischen Hof als den Sitz des guten Geschmacks bewundert.
An Größe ist Notre-Dame die sechzehnte Kirche der Christenheit. Sie mißt der äußern Länge nach 412 Fuß, in die Breite 156 Fuß; sie deckt fast 60,000 Quadrat-Fuß Flächenraum. Der Kubikinhalt ihres Mauerwerks ist nahe 2 Millionen Fuß.
Die imponirendste Seite des Doms ist die Fronte mit den Thürmen. Letztere sind unvollendet geblieben; ihre gegenwärtige Höhe beträgt 225 Fuß. Von ihren mit Balustraden umgebenen Scheiteln hat man einen Ueberblick der Weltstadt, in deren Mittelpunkt und ältestem Theil, der Cité, die Kathedrale selbst erbaut ist.
Notre-Dame ist nie verschlossen, denn zu jeder Stunde jeden Tags ist ein messelesender Priester hier bereit, der Andacht zu dienen. Wir, die wir nicht herkommen, um zu beten, treten ein in der Stunde, zu welcher diese Stätte noch leerer ist, als gewöhnlich, wann der Tag seine letzten vergoldenden Strahlen durch die bunten, glasbemalten Kirchenfenster wirft, und die herannahende Dämmerung mehr ahnen, als sehen läßt. Unser Eingang ist an der Prachtseite des Doms, durch das mittlere Portal zwischen den Thürmen, und er führt in gerader Richtung auf den Hochaltar, über welchem sich der Chor mit schlanken Säulen zur Kuppel wölbt. Wahrlich, der Anblick ist groß! Die modernen Zuthaten verschwinden völlig in der Herrlichkeit des Ganzen: rein und unentweiht entwickelt sich der colossale, einfache Bau vor dem leiblichen und geistigen Auge. – Die Kirche scheint verlassen, kein Mensch bewegt sich, keine Stimme wird gehört. Durch das majestätische Mittelschiff, zwischen den Reihen der gewaltigen, über hundert Fuß hohen Bündelsäulen sucht der Blick das Ende dieser schönen Perspektive, den Hochaltar, um den ein matter Schein von 4 armdicken Kerzen auf silbernen Leuchtern schimmert. Wir wandern rechts und links und bewundern die Seitenschiffe, weiche zwischen den Säulenreihen hin, wie Durchsichten in einem Tannenwald, fortgehen. Ihre Säulen sind mit spitzförmigen Arkaden verbunden, die auf die großartigen,
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1843, Seite 134. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_10._Band_1843.djvu/144&oldid=- (Version vom 10.2.2025)