MKL1888:Handelsrecht
[96] Handelsrecht, der Inbegriff der besondern für Handelssachen geltenden Rechtssätze. Diejenigen Normen desselben, welche die auf Sonderinteressen beruhenden Beziehungen der Personen zu einander und zu den Sachen ordnen, bilden das Privathandelsrecht. Das Staatshandelsrecht, ein Teil des Verwaltungsrechts, regelt die Beziehungen der Staatsgewalt zum Handel nach der polizeilichen, finanziellen und strafrechtlichen Seite. Das Völkerhandelsrecht, auch allgemeines H. genannt, bezieht sich auf die Bedingungen des Handelsbetriebs zwischen verschiedenen Staaten und den Angehörigen derselben. Als Zweige des Privathandelsrechts sind zu betrachten: das Wechsel-, das See- und das Versicherungsrecht. Dem öffentlichen und dem Privathandelsrecht gehören ein eigentümliches Handelsprozeßrecht und Fallitenrecht an. – Obgleich das römische Recht nur wenige ausschließlich den Handel betreffende Normen enthält, so wurde es doch in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters die Grundlage des europäischen Handelsrechts, indem die kaufmännische Gewohnheit (consuetudo, stylus mercatorum, usancia) nicht mehr genügte. Seit Mitte des 16. Jahrh. beginnt in einzelnen Staaten die Gesetzgebung sich mit Handelssachen zu befassen. So entstanden in Deutschland Gesetze gegen wucherliche Kontrakte verschiedener Art: Augsburger Reichsabschied 1550, Tit. 32; Reichspolizeiordnung von 1530, Tit. 26, 27; von 1548 und 1577, Tit. 17, 20; Regensburger Reichsabschied von 1532, Tit. 8; Speierer Reichsabschied von 1570, § 83; Beschränkung der Moratorien: Reichspolizeiordnung von 1548, Tit. 22; von 1577, Tit. 23; Reichsgerichtsordnung vom 1. Aug. (21. Juli) 1668 und vom 22. (12.) Juni 1669; Bankrottstrafen und -Verfahren: Reichspolizeiordnung von 1548, Tit. 22; von 1577, Tit. 23. Für den Wechselprozeß waren von Bedeutung: der jüngste Reichsabschied von 1654, § 107; die Reichsgerichtsordnung vom 31. (21.) Juli 1668; das kaiserliche Kommissionsdekret vom 10. Okt. (30. Sept.) 1668 und die Reichsabschiedsordnung von 1671. – Für Frankreich bildete das Edikt Karls IX. von 1563 die Grundlage der französischen Handelsgerichtsbarkeit; für das Handels- und Seerecht wurden von Bedeutung die Ordonnanzen Ludwigs XIV. vom März 1673, sogen. Ordonnance du commerce, und von 1681, sogen. Ordonnance de la marine. Eigentliche Kodifikationen des Handelsrechts beginnen seit Ende des 18. Jahrh. und zwar zunächst in Preußen: erneuerte Wechselordnung vom 30. Jan. 1751, das Seerecht vom 11. Dez. 1727 und die Assekuranz- und Havarieordnung vom 18. Febr. 1766; das allgemeine Landrecht vom 5. Febr. 1794, Teil 2, Tit. 8, § 713–2464; sodann in Frankreich der Code de commerce vom 1. Jan. 1808. Letzterer wurde in verschiedenen deutschen und auch in andern Staaten eingeführt.
Nach Auflösung des frühern Deutschen Reichs wurden Handels- und Wechselrecht zum großen Nachteil für den Verkehr durch die partikuläre Gesetzgebung weiter entwickelt. Anträge auf gemeinsame Gesetzgebung, welche auf den Generalkonferenzen der Zollvereinsstaaten von 1836 u. 1838 Württemberg stellte, blieben erfolglos; erst der weitere württembergische Antrag in der achten Konferenz von 1846 hatte zur Folge, daß 1847 die Beratungen über ein gemeinsames Wechselrecht begannen; die so in Nürnberg zu stande gekommene Wechselordnung wurde zwar 26. Nov. 1848 für das ganze Reich verkündet, erlangte aber dadurch doch nicht den Charakter eines eigentlichen Reichsgesetzes. Ergänzt und teilweise geändert wurde sie durch die sogen. Nürnberger Novellen. Im J. 1848 wurde eine Kommission zur Ausarbeitung eines allgemeinen deutschen Handelsgesetzbuchs niedergesetzt, welche im März 1849 die fünf ersten Titel ihres Entwurfs beendigt hatte; allein mit dem Sturz der damaligem Reichsregierung blieb diese Arbeit auf sich beruhen. Am 21. Febr. 1856 brachte Bayern bei der Bundesversammlung den Antrag ein, eine Kommission zur Entwerfung eines allgemeinen Handelsgesetzbuchs für Deutschland niederzusetzen; 15. Jan. 1857 wurden die Konferenzen dieser Kommission zu Nürnberg eröffnet. Nachdem in zwei Lesungen der Entwurf eines Handelsgesetzbuchs festgestellt war, begannen 26. April 1858 zu Hamburg die Beratungen des Seerechts. Am 11. März 1861 waren sämtliche Beratungen geschlossen. Mit besondern, vielfach voneinander abweichenden Einführungsgesetzen wurde seit 1861 das Handelsgesetzbuch in den einzelnen deutschen Staaten sowie in Österreich, und zwar nicht nur in Deutsch-Österreich, sondern auch in verschiedenen nichtdeutschen Ländern der Monarchie, eingeführt. Seit 1871 gelten das Handelsgesetz und die Wechselordnung als Reichsgesetze, nachdem sie bereits durch das Gesetz vom 5. Juni 1869 für Gesetze des Norddeutschen Bundes erklärt worden waren. Die Einführung in Elsaß-Lothringen erfolgte durch Gesetz vom 19. Juni 1872. In erster Reihe ist in Handelssachen das Handelsgesetzbuch in Anwendung zu bringen; soweit es keine Bestimmungen enthält, sind die Handelsgebräuche (s. Handelsbrauch) maßgebend und in deren Ermangelung das allgemeine bürgerliche Recht. Da Reichsgesetz dem Landesgesetz vorgeht, so sind mit Einführung des Handelsgesetzbuchs als Reichsrecht alle landesrechtlichen Bestimmungen abgeschafft, welche neben dem Handelsgesetzbuch nicht bestehen können. Das Handelsgesetzbuch regelt zunächst die eigenartigen Verhältnisse des Handelsstandes, indem es im ersten Buch 1) von den Kaufleuten, 2) von dem Handelsregister, 3) von den Handelsfirmen, 4) von den [97] Handelsbüchern, 5) von den Prokuristen u. Handlungsbevollmächtigten, 6) von den Handlungsgehilfen und 7) von den Handelsmaklern handelt. Der Gegenstand des zweiten Buches sind die Handelsgesellschaften (offene Handelsgesellschaft, Kommanditgesellschaft, Aktiengesellschaft), während sich das dritte Buch mit der stillen Gesellschaft und der Vereinigung zu einzelnen Handelsgeschäften für gemeinschaftliche Rechnung beschäftigt. Gegenstand des vierten Buches sind die einzelnen Handelsgeschäfte (Kauf, Kommissions-, Speditions- und Frachtgeschäft) sowie die allgemeinen Grundsätze über die Handelsgeschäfte. Das fünfte Buch betrifft den Seehandel. Umgestaltet wurde derjenige Teil des Handelsgesetzbuchs, welcher von der Aktiengesellschaft und der Kommanditgesellschaft auf Aktien handelt, durch die Reichsgesetze vom 11. Juni 1870 und 18. Juli 1884. Außerdem sind noch verschiedene Reichsgesetze handelsrechtlichen Inhalts ergangen, namentlich die Gesetze über das Urheberrecht, die Postgesetzgebung, die Seemannsordnung, das Reichsgesetz über den Markenschutz, das Bankgesetz und das Patentgesetz. Das bevorstehende deutsche Zivilgesetzbuch wird auch auf dem Gebiet des Handelsrechts manche Umgestaltung bringen.
Übrigens haben jetzt nahezu alle zivilisierten Staaten ihre Handelsgesetzbücher, und zwar ist in Frankreich für das H. noch der Code de commerce in Geltung, welcher jedoch durch eine Reihe nachfolgender Gesetze teils abgeändert, teils ergänzt worden ist. In der Schweiz ist das gesamte Obligationenrecht vom 1. Jan. 1883 an durch Bundesgesetz in einheitlicher Weise normiert. In Belgien gilt der Code de commerce, durch spätere Gesetze modifiziert; in den Niederlanden ist derselbe seit 1838 durch ein neues Gesetzbuch (Wetboek van koophandel) ersetzt. Spanien besitzt seit 30. Mai 1829 ein Handelsgesetzbuch (Codigo de comercio), welches zwar den Code de commerce zum Vorbild hat, jedoch sorgfältiger gearbeitet und vollständiger ist als jener. Auch das Handelsgesetzbuch der Türkei ist im wesentlichen dem Code de commerce nachgebildet. Portugal hat seit 30. Sept. 1833 ein allenthalben als vortrefflich anerkanntes Handelsgesetzbuch. (Codigo comercial). In Italien wurde durch Gesetz vom 8. Juni 1865 ein Handelsgesetzbuch für das Königreich publiziert, welches wesentlich auf dem sardinischen Handelsgesetzbuch (30. Dez. 1842) beruht, jedoch durch neuere sardinische und französische Gesetze und durch das neapolitanische Handelsgesetzbuch modifiziert wurde, bis 31. Okt. 1882 ein neues Handelsgesetzbuch (Codice di commercio) in Kraft trat. Das H. für Rußland bildet in 2883 Artikeln einen Teil des russischen Gesetzkodex, welcher mit 1. Jan. 1835 in Kraft getreten ist; im ehemaligen Königreich Polen gilt noch das französische Recht. Das H. der Engländer beruht noch gegenwärtig vorzugsweise auf dem Handelsgebrauch der zivilisierten Welt; nach freier Prüfung hat der englische Richter den anzuwendenden Rechtssatz aus einheimischen Vorgängen, aus ältern und neuern auswärtigen Gesetzen, aus den Zeugnissen angesehener Schriftsteller zu schöpfen, und nur für einzelne Materien, z. B. Bankrottsachen, galten früher schon besondere Gesetze. Die neueste Gesetzgebung befaßt sich besonders mit dem Gesellschafts- und Genossenschaftswesen. In Nordamerika hat Louisiana seit 1824 ein eignes Handelsgesetzbuch, während in den meisten andern Staaten und Territorien nach dem englischen Common law verfahren wird. Die südamerikanischen Staaten schlossen sich im wesentlichen an die Handelsgesetzbücher von Spanien und Portugal an. Im Kaiserreich Brasilien gilt seit 25. Juni 1850 ein auf Grundlage des französischen, spanischen, holländischen und namentlich des portugiesischen verfaßtes Gesetzbuch.
[Litteratur.] Eine besondere Litteratur des Handelsrechts existiert erst, seitdem man das H. als eine besondere Rechtsdisziplin wissenschaftlich behandelte und die Rechtsprechung und die Gesetzgebung sich mit dieser Materie mehr und mehr befaßten, welche bis dahin mehr auf Handelsbräuchen als auf Rechtssatzungen beruht hatte. Von besonderer Wichtigkeit waren für Deutschland die Rechtsprechung des gemeinschaftlichen Oberappellationsgerichts der Hansestädte in Lübeck und in neuerer Zeit diejenige des Bundes- (Reichs-) Oberhandelsgerichts in Leipzig, welche auf die Einheitlichkeit der Judikatur in Handelssachen den größten Einfluß ausübten. Die Entscheidungen des Reichsoberhandelsgerichts sind von den Räten desselben in 25 Bänden und 4 Registerbänden herausgegeben (Leipz. 1870–79). Wissenschaftliche Bearbeitungen des deutschen Handelsrechts finden sich in den Hand- und Lehrbüchern des deutschen Privatrechts. Dazu kommen aber nicht wenige selbständige Darstellungen des Handelsrechts und zahlreiche Monographien über einzelne Gegenstände desselben. Epochemachend war insbesondere Heinrich Thöls „Handelsrecht“ (Götting. 1841 ff.; Bd. 1, 6. Aufl., Leipz. 1879; Bd. 2: Wechselrecht, 4. Aufl. 1878; Bd. 3: Transportgewerbe und Frachtgeschäft, das. 1880). Zahlreiche Ausgaben und Kommentare des deutschen Handelsgesetzbuchs sind vorhanden, so in größern Werken von Makower (9. Aufl., Berl. 1884), Puchelt (3. Aufl., Leipz. 1882–85, 2 Bde.); in kleinern Ausgaben von Litthauer (5. Aufl., Berl. 1885), Schröder (6. Aufl., Bonn 1884) u. a. Vgl. Endemann, Das deutsche H. (3. Aufl., Heidelb. 1876); Derselbe, Handbuch des deutschen Handels-, See- und Wechselrechts (Leipz. 1881–85, 4 Bde.); Gareis, Das deutsche H. (2. Aufl., Berl. 1884); Goldschmidt, Handbuch des Handelsrechts (2. Aufl., Stuttg. 1874 ff.); Behrend, Lehrbuch des Handelsrechts (Berl. 1880 ff., 2 Bde.); Fischer, Katechismus des deutschen Handelsrechts (3. Aufl., Leipz. 1885); Löbner, Lexikon des Handels- und Gewerberechts für den Kaufmann (das. 1882); Grimm, Wörterbuch des deutschen Handels-, Wechsel- und Konkursrechts (Berl. 1885, 2 Bde.). Zeitschriften: „Archiv für Theorie und Praxis des allgemeinen deutschen Handels- u. Wechselrechts“ (hrsg. von Busch, Leipz. 1863 ff., jetzt Berl.); „Die Entscheidungen des Reichsgerichts“ (das. 1873 ff.); „Zeitschrift für das gesamte H.“ (hrsg. von Goldschmidt, Stuttg. 1858 ff.).
Über ausländisches H. vgl. Borchardt, Die geltenden Handelsgesetze des Erdballes (Berl. 1884–86, Bd. 1–4); Alauzet, Commentaire du code de commerce (3. Aufl., Par. 1879, 8 Bde.); Massé, Le droit commercial (3. Aufl., das. 1873, 4 Bde.); Rivière, Répétitions sur le code de commerce (8. Aufl., das. 1882); Hafner, Schweizerisches Obligationenrecht (Zürich 1883); Jacottet, Droit fédéral des obligations (Neuchâtel 1885); van Meenen, Code de commerce etc. en Belgique (3. Aufl., Brüssel 1884); Asser, Nederlandsch handelsrecht (4. Aufl., Haarl. 1885); Pancorbo, Lecciones de derecho mercantil (3. Aufl., Madr. 1884); de Rossi, Codice di commercio illustrato (Livorno 1883); Blaschke, Erläuterungen des österreichischen Handelsgesetzbuchs (3. Aufl., Wien 1879); Schnierer, Kommentar zum ungarischen Handelsgesetzbuch (Budapest 1877).