Goethe (Die Gartenlaube 1873)
„Räthin, er lebt!“
Dieses Zurufswort sprach in froherregtem Großmutterton eine „schöne, hagere, immer weißgekleidete“ Greisin zu ihrer achtzehnjährigen Schwiegertochter, welche bleich und erschöpft in ihren Kissen ruhte, jetzt aber die dunkelbraunen Augen mutterfreudig aufschlug und ihrem neununddreißigjährigen Eheherrn, der gefaßt und „geradlinig“ wie ein richtiger Reichsstadtbürger, aber nicht theilnahmlos an ihrem Bette stand, die Hand drückte.
Das geschah am 28. August 1749 in der altfränkisch getäfelten Schlafstube eines alterthümlichen Bürgerhauses „im Hirschgraben“ zu Frankfurt am Main. Der Nachhall vom Mittagsstundenschlag der Domuhr zitterte noch in der Luft. Die Gestirne blickten günstig: die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau, und Jupiter und Venus sahen freundlich auf sie.
Drei Tage und Nächte hatte die junge schöne Mutter in harten Wehen gerungen. Es galt aber auch einen Löwen zur Welt zu bringen, einen rechten Mannlöwen: den Johann Wolfgang Goethe. Als der Junge endlich erschien, gab er kein Lebenszeichen und war „ganz schwarz, wie aus Zorn, daß ihn die Noth aus dem eingeborenen Wohnort getrieben“. Da legte man den armen Wurm, aus welchem der größte Mann seiner Nation werden sollte, in einen sogenannten „Fleischnarden“ und [30] bähete ihm die Herzgrube mit warmem Wein. Das bekam ihm gut und ermunterte seine Lunge zum Athmen. Das Kind that die Augen auf – große, dunkelbraune, strahlende wie die mütterlichen – und wimmerte das Licht an wie der allergewöhnlichste neugeborene Sterbliche. Denn
„Wenn wir geboren werden, weinen wir,
Daß wir die große Narrenbühne Welt
Beschreiten müssen“ –
steht ja geschrieben beim menschengeschickekundigsten Seher. Aber die einundachtzigjährige Großmutter Cornelia trat an das Lager der Wöchnerin mit der frohen Botschaft: „Räthin, er lebt!“ und die Eltern freuten sich, jedes in seiner Art: der Vater, Johann Kaspar, würdevoll und stillvergnügt, wie es einem kaiserlichen Titular-Rath geziemte, und die Mutter Katharina Elisabeth hellauf in Begeisterung. Das ist ja das größte Wunder in dieser unserer wunderlichen Welt, daß Väter und Mütter immerfort und immerfort in Freude einander die Hände drücken, wenn ihnen gesagt wird: „der Junge lebt!“ oder „das Mädchen athmet!“ nicht bedenkend, daß dieses „lebt“ oder „athmet“ nur ein dunkles Räthsel ist, welches die Gegenwart der Zukunft aufgiebt und dessen Auflösung selten Glück, zumeist aber Leid, Schmerz, Enttäuschung, Ergebung oder Verzweiflung heißt.
Doch ob der Mittagsstunde jenes Augusttages standen, wie gesagt, glückverheißende Sterne. Es war, als wäre am Himmel Freude über das, was in dem alten Hause „im Hirschgraben“ in der alten Mainstadt vor sich ging. Auf Erden merkte man weiter nichts davon. Kein Zinkenist blies es vom Thurme, keine Glocke läutete es, keine Kanone donnerte es in das Land, daß ein Prinz, so recht ein kaiserlicher Kronprinz aus dem Reiche der Geister in’s irdische Dasein herabgeboren sei. Nur das innerhalb der Wände des niedrigen Zimmers verklingende großmütterliche Jubelwort: „Er lebt!“ weissagte unbewußt, daß Einer gekommen, der nie sterben würde, so lange es Menschenlippen gäbe, seinen Namen voll Ehrfurcht und Liebe zu nennen.
Der Genius wird nicht in Purpur geboren. Ein makedonischer Alexander und ein preußischer Fritz sind Ausnahmen, welche nur die Regel bestätigen. Einer der sinnvollsten Züge der christlichen Mythologie ist der, daß dem auf Golgatha gekreuzigten Propheten eine Stallkrippe zur Wiege gedient habe. Alles wahrhaft Große, Zukunftbereitende, am Räthselbau der Menschheit wirksam Schaffende hat seinen Ursprung im Volke. Von da unten steigen die eigentlichen Heldenrollenspieler auf die Bühne des ungeheuren Passionsspiels „Weltgeschichte“. Da unten mischen sich geheimnißvoll die Urstoffe und arbeiten die ewigen Kräfte, welche den Weltzusammenhang, von welchem kein Wissender etwas Rechtes weiß, bedingen und bestimmen. Aber freilich, Volk und Pöbel sind zweierlei, obwohl die Wahnpropheten unserer Tage beide mitsammen vermengen oder vielmehr jenes zu diesem verderben, herabwürdigen und vergemeinern möchten. Aus dem Pöbel ist noch nie und nirgends ein wirklich großer Mann hervorgegangen, aus dem Volke sind die größten alle gekommen. Der Pöbel ist die sociale Krankheit, das Volk die nationale Gesundheit. In irgend einem Bauernhause oder in irgend einer Werkstatt zeugt der elementare, gesunde, ewig frische Volksgeist einen embryonischen Genius, welcher Generationen hindurch in der Verborgenheit gezeitigt wird, bis er dann plötzlich hervortritt in vollendet schöner Erscheinungsform, um der Stolz seiner eigenen Zeit und die Freude und der Trost aller Zeiten zu sein, ein Halbgott, welchen sein irdischer Urahn, so er ihn sehen könnte, nur mit scheuem Staunen betrachten würde und nicht zu fassen, nicht zu begreifen vermöchte.
Wie hätte der Hans Christian Goethe, der so um 1655 herum zu Artern im Thüringerlande unter den Schlägen seines Hufschmiedhammers den Amboß dröhnen machte, wie hätte er es sich träumen lassen sollen, daß dermaleinst sein dunkler Name, von seinem Urenkel getragen, den Erdball umfliegen werde, daß vor diesem Namen alle gesitteten Völker vom Aufgang bis zum Niedergang huldigend sich neigen würden? Auch des thüringischen Hufschmieds Sohn Friedrich Georg konnte, als er um das Jahr 1684 mit Scheere und Bügeleisen im Felleisen durch das Bockenheimer Thor bescheidentlich in Frankfurt einging und die wegmüden Wanderburschenfüße über den Roßplatz schleppte, nicht ahnen, daß gerade da dereinst seinem Enkel ein Denkmal von Stein und Erz aufgerichtet werden würde. Ein fixer, gewitzter Schneidergesell übrigens, dieser Fritz Görge Goethe! Ein Mann von Welt so zu sagen. Hatte sie wenigstens gesehen, die „Welt“, und zwar mit offenen Augen und Ohren. War das dazumalen schon bedenklich wurmstichig gewordene heilige römische Reich deutscher Nation auf- und abgewandert, war auch „im Frankreich drein gewes’t“, jahrelang sogar. Aber als sein Bestes brachte er jedoch von seiner Wanderschaft die Gabe, die große Gabe mit, Mädchen- und Frauenaugen ein Wohlgefallen zu sein. Bringt das bekanntlich einen Mann vorwärts. Zunächst in der Gunst der muthmaßlich hübschen – die Frankfurterinnen, wie die Mainzerinnen sind so ziemlich alle hübsch, wenigstens hübsch: denn viele sind schön – Tochter seines Meisters Lutz, der ehr- und tugendsamen Jungfrau Anna Elisabeth, welche im Frühjahr von 1687 seine Ehefrau wurde und ihrem Gatten, welcher von der Stadt das Bürgerrecht und von der löblichen Schneiderzunft die Meisterschaft erlangt hatte, das „Geschäft“ ihres Vaters mit in den Haushalt brachte. Im Verlaufe der Zeit brachte sie ihm auch fünf Söhne, die uns aber weiter nichts angehen. Im Jahre 1700 starb sie und der Wittwer betrauerte sie nahezu fünf Jahre lang. Hätte er sie bis zu seinem eigenen Lebensende betrauert, so würde er seine Mission, der Großvater des größten deutschen Dichters zu werden, verfehlt haben, aus welcher Thatsache die Moral zu ziehen, daß es mitunter gut und rathsam, der Wittwertrauer Schranken zu setzen.
Der Meister von der Scheere und Nadel muß als ein nahezu Fünfziger noch immer ein liebenswürdiger Mann gewesen sein, und das fand die reiche, hübsche Wittwe Cornelia Schellhorn, Besitzerin des Gasthauses „zum Weidenhof“, auch heraus. Er hinwiederum, Friedrich Georg Goethe, nahm, nicht faul, das Heirathsglück zum zweiten Mal resolut beim Stirnhaar und hatte es nicht zu bereuen. Fünfundzwanzig Jahre hindurch lebte der vom Schneider zum Gastwirth Gewordene mit Frau Cornelia in glücklicher Ehe und hochbejahrt ist er 1730 gestorben. Seine Gattin hatte ihm drei Kinder geboren, von denen aber die beiden älteren noch vor dem Vater zu Grabe gegangen. Das dritte war der im Jahre 1710 zur Welt gekommene Johann Kaspar Goethe, der Erbe des mütterlichen Vermögens, wie er später beim Tode seines Halbbruders Hermann Jakob Goethe auch die Lutz’sche Hinterlassenschaft einheimsete.
Selber ein strebsamer Mann, hielt der Vater Friedrich Georg darauf, daß auch sein Sohn ein Strebender würde. Allein erst im Enkel sollte der Keim Goethe’scher Strebsamkeit vollschön aufgehen. Der gute Johann Kaspar – es ist erwähnenswerth, daß auch Schiller’s Vater gerade so geheißen hat – stand zwar, nachdem er ausgewachsen, sechs Fuß hoch in seinen Schnallenschuhen, reichte jedoch an Geist, Gaben und Charakter über das liebe Durchschnittsmittelmaß nicht hinweg. Er brachte es demzufolge allerdings nicht weiter als bis zum Bildungsphilister, wie er sein soll, war aber im Uebrigen ein vortrefflicher Mann und Familienvater. Er sollte ein „Studirter“ werden, empfing auf dem Gymnasium zu Coburg eine tüchtige humanistische Vorbildung, lag hierauf zu Leipzig dem Studium der Jurisprudenz ob, holte sich in Gießen den Doctortitel und that dann beim Reichskammergericht in Wetzlar Freiwilligendienst, um sich in die juristische Praxis einzuschießen. Er ließ diese jedoch links liegen, bildete mittelst Reisen in Holland, Frankreich und Italien seinen Kunstsinn aus, erwarb sich, um doch etwas zu heißen, den Titel eines kaiserlichen Raths, lebte fortan der Mehrung und Ordnung seiner Sammlungen von Kunstwerken und Raritäten, sowie allerhand gravitätisch-dilettantisch betriebenen Studien und wagte am 20. August 1748 den gescheitesten und glücklichsten Wurf seines Lebens, indem er am genannten Tage die siebenzehn und ein halbes Jahr junge Katharina Elisabeth Textor, des Schultheißen Johann Wolfgang Textor Töchterlein, als seine Räthin heimführte.
Durch diese Heirath war der Hufschmiedsenkel und Schneiderssohn in die ersten Kreise reichsstädtischen Bürgerthums eingeführt und er blieb sich all’ sein Lebenlang dieser seiner Stellung wohlbewußt. Ein stattlicher, steilaufgerichteter, rauchfleischtrockener, steifleinener Herr, aber eigentlich grundgut und durch und durch ehrenhaft. Von nicht gemeinem Wissen und voll Hochachtung vor Kunst und Kenntniß, liebte er in allen Sachen die Ordnung um ihrer selbst willen und behandelte Alles und Jedes mit jener zähen und, so zu sagen, sohlledernen Ernsthaftigkeit, welche, weil sie das Kleinste wie das Größte mit demselben Maßstabe mißt, leicht zur [31] Pedanterei wird. Seine Vorsorge für das Wohl seiner Kinder – es blieb ihm von drei Söhnen nur der erstgeborene und die 1750 zur Welt gekommene Tochter Cornelia – nahm er so ernst und gewissenhaft wie alles andere. Er hat ihren frühesten Unterricht selber besorgt, den späteren geleitet. Augenscheinlich war auch ihm jener pädagogische Tik angeflogen, welcher in der Zeit, wo die Rousseau, Basedow, Salzmann und Campe pädagogisirten und phantasierten, so vielen Zeitgenossen eigen gewesen ist. Er hatte aber zum Erzieher nicht das Zeug, obzwar es irrthümlich und unrecht ist, ihm vorzuwerfen, er sei zu streng oder gar zu hart gegen seine Kinder gewesen. Seines Sohnes Jugendgeschichte, wie dieser selbst sie erzählt hat, beweist ja schlagend das Gegentheil. Der Dichter gestand auch zu, daß er vom Vater nicht nur „die Statur“, sondern auch „des Lebens ernstes Führen“ habe; aber im Uebrigen hat er demselben keineswegs volle Gerechtigkeit, geschweige Billigkeit widerfahren lassen. Die Natur will und heischt, daß die Söhne mehr den Müttern anhangen. Die Väter sind bekanntlich für die Herren Söhne zumeist nur da, um das Geld zu beschaffen zum Studiren oder auch zum Nichtstudiren, zum Schulden bezahlen, zum Heirathen etc. Glücklich der Vater, dem die Liebe einer Tochter Trost bietet für das Leid, welches Söhne ihm anthun. Goethe’s Freunde haben dessen Vater höchst ungerecht beurtheilt, wie denn, nachdem der wackere Herr im Mai von 1782 gestorben, der Herzog Karl August in seinem burschikosen Kraftstil an Merck schrieb: „Der Alte ist ja nun abgestrichen und Goethe’s Mutter kann endlich Luft schöpfen.“
Die Mutter Goethe’s hat sich fürwahr das „Luftschöpfen“ auch bei Lebzeiten des „Alten“ keineswegs verleiden oder gar nehmen lassen. Aber das ist richtig, die Katharina Elisabeth, die Frau „Aja“, wie sie im Freundeskreise ihres Sohnes hieß – (nach der Schwester Karl’s des Großen, der Mutter der Haimonskinder; aja, provençalisch aya, gleichbedeutend mit dem althochdeutschen eiga, das ist Besitzerin?) – ja, die Frau Aja war eben so sehr Poesie wie ihr Eheherr Prosa. Diese, die Prosa, ist in einem Haushalt nicht nur auch nöthig, sondern sie ist unumgänglich. Sie ist das Fundament, auf welchem Hauswesen und Familie, als das sehr Wirkliche, Ernstliche und Sorgenschwere, was sie sind, sich ausbauen müssen. Aber Heil dem Manne, in dessen Haus und Heim die Poesie in Gestalt einer Frau, wie Goethe’s Mutter eine gewesen, heitere Anmuth und anmuthige Heiterkeit bringt! Das ist ein Sonnenstrahl, welcher häusliches Gewölle, das ja nirgends ausbleibt, siegreich zertheilt und verscheucht. Unzählige Ehen werden rein nur darum zu unglücklichen, weil den Augen und Lippen der Frau jenes Lächeln abgeht, das die Unmuthsfalten, welche das „feindliche Leben“ auf des Mannes Stirne ansammelt, wegzuwischen vermag. Frauen, welche die köstliche Gabe besitzen, frohes Behagen um sich zu verbreiten und das bischen Leben schön und lieb zu gestalten, mögen dieselbe sorgsamst pflegen; denn das ist mehr als ein Talent, es ist geradezu eine Tugend.
Die Frau Aja hat unzweifelhaft etwas Geniales an und in sich. Der wesentlich idealistische Hang und Drang des achtzehnten Jahrhunderts ist in ihr mächtig gewesen. Es war Lyrik, Goethe’sche Lyrik in ihr. Ein kräftiger Hauch auch von Humor umwittert ihre ganze Erscheinung. Sie besaß jene „Frohnatur“, welche mitsammt der „Lust zu fabuliren“ von ihr überkommen zu haben der Sohn dankbar bekannte. Aus einem Kinde fast übergangslos zur Mutter geworden, wurde sie mit ihrem Wolfgang wieder zum Kinde, zur Spielgenossin, zur Camerädin ihres Jungen. – („Ich und mein Wolfgang,“ hat sie später einmal geäußert, „haben halt immer verträglich zusammengehalten; das machte, weil wir beide jung und nicht gar soweit wie der Wolfgang und sein Vater auseinander gewesen sind“). Die junge Frau mit dem liebebedürftigen Herzen hatte jetzt etwas, was sie lieben konnte, und sie hat den Sohn grenzenlos geliebt von seinem ersten bis zu ihrem letzten Athemzug, geliebt mit einer selbstlosen, großsinnigen Liebe, welche den Neid und die Eifersucht nicht kannte, sondern dem Sohne den reichen Schatz von Liebe, welchen Mädchen und Frauen ihm entgegengetragen, von ganzem Herzen gönnte. Deutschland und die Welt haben vollauf Ursache, der Mutter Goethe’s ehrfurchtsvollen Dank zu zollen. Was sie dem Sohne gewesen und gegeben, ist unberechenbar. Ueberall in seinen besten Vollbringungen stößt man auf die Spur von seiner Mutter und von ihrer Liebe zu ihm.
Bei allem Phantasiereichthum war sie nichts weniger als eine Phantastin. Sie wußte das Leben geschickt zu fassen und praktisch zu führen. Eine kluge, wissende, thätige Hausfrau, wie man sie nur wünschen mag, und dabei doch offenen Sinnes für alles Höhere und Höchste, voll genialer Anschauung und mutterwitzigen Verständnisses, immer wohlaufgelegt, allzeit hülfebereit mit Rath und That. „Ich thu’ alles gleich frisch von der Hand weg“ – schrieb sie einmal – „das Unangenehme immer zuerst, und verschlucke den Teufel (nach dem weisen Rathe des Gevatters Wieland), ohne ihn erst lange zu begucken. Liegt dann alles wieder in den alten Falten, ist alles Unebene wieder glatt, dann biete ich dem Trotz, der mich in gutem Humor übertreffen wollte.“ Und ein andermal: „Fröhlichkeit ist die Mutter aller Tugenden. Wenn man zufrieden und froh ist, so wünscht man alle Menschen vergnügt und heiter zu sehen und trägt alles in seinem Wirkungskreise dazu bei.“ Wie sie sich hier ausließ, so zeigte sich auch ihre Leiblichkeit: die schlank aufgebaute Gestalt, voll Beweglichkeit und doch würdevoll im Auftreten, die schöngewölbte freie Stirne, die großen Braunaugen mit dem offenen Blick, das schalkhafte Mienenspiel um die Mundwinkel, der wohlwollend heitere Ausdruck des ganzen guten und lieben Gesichts. Ihr seelisches Portrait hat sie in einem Briefe vom Jahre 1785 also gezeichnet: „Ich habe die Gnade von Gott, daß noch keine Menschenseele mißvergnügt von mir weggegangen ist, weß Standes, Alters und Geschlechtes sie auch gewesen. Ich habe die Menschen sehr lieb und das fühlt Alt und Jung, gehe ohne Prätension durch die Welt und das behagt allen Erdensöhnen und -Töchtern, bemoralisire Niemanden, suche immer die gute Seite auszuspähen, überlasse die schlimmen dem, der die Menschen schuf und der es am besten versteht, die Ecken abzuschleifen, und bei dieser Methode befinde ich mich wohl, glücklich und vergnügt.“ Und so blieb sie, die Gebresten des Alters tapfer niederkämpfend, bis zuletzt, bis zu ihrem Todestag, dem 13. September von 1808. Nachdem der Arzt auf das bestimmte Verlangen der Kranken ihr die Scheidestunde zum voraus angezeigt hatte, ordnete sie für Bestattung alles mit größter Pünktlichkeit, bestimmte die Weinsorten, welche zum „Leichenschmause“ aufgestellt werden sollten, und schärfte der Köchin ein, ja nicht zu wenig Rosinen in die Kuchen zu thun. Sie habe das all ihr Lebtrag nicht leiden können und würde sich noch im Grabe darüber ärgern. Einer nicht unglaubhaften Legende zufolge hat ihr treuer Lebensbegleiter, Tröster Humor, sie auch im Sterben nicht verlassen. Am Morgen ihres Todestages lief von einer befreundeten Familie, welche die Krankheit der Frau Rath für unbedenklich und rasch vorübergehend halten mochte, eine Einladung ein, worauf die Sterbende als letzte Offenbarung ihrer „Frohnatur“ zurücksagen ließ: „die Frau Rath kann nit kommen, sie hat alleweile zu sterben“ …
So war Goethe’s Herkunft, so waren seine Eltern, so wurde er geboren. In glücklichen Verhältnissen, nicht zu hoch und nicht zu niedrig, als der Sohn eines ehrenfesten und hablichen Hauses, in dessen Räumen die hagere Noth und die bleiche Sorge nicht umschlich, als das Kind eines sorgsamen Vaters und einer herzlichen Mutter, jeglichen Bildungsmittels gewiß, von frühauf der Erfüllung aller billigen Wünsche sicher. Wolfgang’s, des Einzigen, Jugend, Bildungsgang und Eintritt in die thätige Welt waren so von den Umständen begünstigt, daß man unschwer vermuthen könnte, sein großer Bruder im Geiste, Schiller, habe die Strophe:
„Wie leicht ward er dahingetragen
Was war dem Glücklichen zu schwer?
Wie tanzte um des Lebens Wagen
Die lustige Begleitung her!“
im unwillkürlich vergleichenden Hinblick auf den Contrast zwischen Goethe’s leichtem Emporfliegen und seinem eigenen mühseligen Emporklimmen gedacht und geschrieben. Ja, der Sohn der Frau Aja war ein glücklicher Mensch, war es bis zuletzt. Freilich hat er in einer trüben Stunde seiner alten Tage gesagt: „So ich alles von wirklichem und reinem Glück in meinem Leben zusammenrechne, kommen höchstens vier Wochen heraus.“ Aber vier Wochen wirklichen und reinen Glückes in einem Menschenleben sind viel, sehr viel! Es giebt wahrlich der Menschen genug, mehr als genug, welche, wenn sie Alles zusammenzählen, keine vier Tage, keine vier Stunden herausbringen.
Laßt uns nun zunächst zusehen, wie unser glückliches Augustkind von 1749 zum Knaben und Jüngling aufwuchs und wie der Genius in ihm zuerst leise die Fittige zu rühren anhob.
[80]Als, auf des Daseins Gipfel angelangt, der sechzigjährige Goethe seine Erinnerungen niederzuschreiben unternahm, da gestaltete sich das Buch derselben „Aus meinem Leben“ unter seiner schaffenden Hand zu einem Kunstwerke, welchem er feinfühlig den Titel „Dichtung und Wahrheit“ vorsetzte. Er wollte damit andeuten, daß diese Geschichte seiner Jugend – denn das Buch reicht bekanntlich nur bis zur Uebersiedelung des Dichters nach Weimar – blos im dichterischen Sinne eine wahrhafte sei. Damit traf er das Richtige. Ueber diese Denkwürdigkeiten ist
„Aus Morgenduft gewebt und Sonnenklarheit,
der Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit“
hingebreitet. Dem sechzigjährigen Dichterkönig erschien beim Rückblick auf seine Jugend dieselbe da in verschönerndem Lichte, dort in verhäßlichendem Schatten. Personen, Ereignisse und Zeitbestimmungen verschoben sich in seinem Gedächtnisse oder wurden auch wohl ganz willkürlich zurechtgerückt und Thatsachen den Bedürfnissen und Forderungen der künstlerischen Auffassung und Darstellung anbequemt. So verdampfte nicht selten das Wirkliche auf dem Herde der Phantasie, wandelte sich blos Gewünschtes und Gewolltes zum deutlich geschauten Fata-Morgana-Bild und steigerten sich Lust und Leid aus dem ursprünglich Naiven zum reflectirt Pathetischen. Damit will nicht gesagt sein, daß einzelnes, manches, vieles sogar in „Dichtung und Wahrheit“ der Verläßlichkeit entbehrte oder daß am Ende gar nichts für buchstäblich wahr zu halten wäre; nein, sondern vielmehr nur, daß die Selbstbiographie im Ganzen und Großen uns zwar die jugendliche Entwicklungsgeschichte des Dichters, nicht aber die Lebensgeschichte des Knaben und Jünglings Goethe authentisch erzähle. Fehlgehen würde demnach, wer alles das, was der Verfasser symbolisch gemeint hat, substantiell nehmen und als Thatsächliches verwenden wollte. Als Material zu Goethe’s wirklicher Jugendgeschichte angesehen, verlangt das Buch „Aus meinem Leben“ eine unablässige und genaue Controle mittels der Acten, und ich möchte sagen, der Inhalt von diesen verhalte sich zu des Dichters selbstbiographischer Darstellung etwa so, wie sich die Thatsache, daß der kleine Wolfgang zur Weihnacht von 1753 von seiner Großmutter Cornelia mit einem Puppenspiel beschenkt wurde, zu alledem verhält, was im ersten Buch vom „Wilhelm Meister“ dieser der Marianne von den Puppenspiel-Freuden und Leiden seiner Knabenjahre zu erzählen weiß. Im Uebrigen muß man das Buch nehmen, wie es Goethe gegeben, und muß es genießen und bewundern. Den Inhalt nacherzählen zu wollen, wäre nicht nur unnütz, sondern auch lächerlich-anmaßlich. Ich werde mich daher begnügen, bündig-thatsächlich zu skizziren, wie unser junger Titan vom Knaben zum Jüngling aufgewachsen ist.
Der Boden seines Wachsthums war eine der bevorzugtesten Stellen im damaligen Deutschland. Die Bürgerschaft von Städten wie Hamburg, Leipzig und Frankfurt durften geradezu als der Kern der Nation, als die Bewahrer und Förderer alles Tüchtigen, Guten und Besten vom deutschen Wesen angesehen werden. Residenzen wie Wien, Berlin, München etc. übten auf die nationale Cultur nicht nur keinen wohlthätigen, sondern vielmehr einen geradezu schädlichen Einfluß. Die deutsche Aristokratie, ihre Spitzen, die Fürsten, inbegriffen, war vollständig entnationalisirt, verfranzos’t bis in die Knochen. Am Rhein, Main, in Baiern, in Oesterreich ein stupides Pfaffenregiment in höchster Instanz alles entscheidend. Im protestantischen Deutschland der aufgeklärte Despotismus, wo er nach dem Vorgange Preußens platzgegriffen, sclavisch die französische Schablone nachpinselnd. Der Zusammenhang des Bewußtsteins unseres Volkes mit seiner historischen Vergangenheit zerstört und die Erinnerung an die Errungenschaften früherer Bildungsepochen der Nation vergessen und verschollen. An allen Höfen, in allen vornehmen Kreisen das Heimische hintenangesetzt, das Vaterländische verachtet. In Berlin, wohin sich aus der hülf- und trostlosen Reichsverwaltung heraus die Blicke der Patrioten allenfalls wenden konnten und mochten, ein erleuchteter Despot genial-energisch sein Stockscepter handhabend und unter ungeheuren Schwierigkeiten das Fundament der deutschen Zukunft legend, aber daneben ein „Fremdling im Heimischen“, wahrhaft äffisch für die Franzoserei eingenommen, allem Deutschen absichtlich aus dem Wege gehend und verschmähend, von dem Reformator der nationalen Literatur, von Lessing, auch nur Notiz zu nehmen, selbst dann noch diesen großen Culturheros schnöde übersehend, als das Erscheinen der „Minna von Barnhelm“ das Anbrechen eines neuen Geisterfrühlings schon ganz zweifellos signalisirt hatte.
Nicht von oben herab also kam die Erlösung unseres Volkes von fremden Geistesfesseln und ausländischen Bildungsformen. Auch nicht ganz von unten herauf, sondern aus der Mitte, d. h. aus dem deutschen Bürgerthume, welches ja überhaupt seit dem Aufblühen der Städte der eigentliche Träger aller gesunden und nachhaltigen Culturarbeit gewesen war. Mit in der ersten Reihe der deutschen Städte aber stand Frankfurt am Main, althergebrachten Ansehens und Wohlstandes froh, von regsamer Gewerkigkeit, blühend durch weitreichende Handelsthätigkeit, belebt durch reichen Fremdenverkehr, als kaiserliche Wahl- und Krönungsstadt der Schauplatz von mancherlei Haupt- und Staatsactionen mit ihrem mittelalterlich-romantischen Apparat und Pomp, geistigen Interessen mit Theilnahme zugewandt, in Förderung von Wissenschaft und Kunst nach Maßgabe der Zeit und der Kräfte nicht karg, bewohnt von echten Main- und Rheingaumenschen, welche, dem auch hier nicht fehlenden äußerlich französischen Zuschnitt des geselligen Thuns und Treibens zum Trotz eine kernhaft deutsche Fühl- und Denkweise besaßen und mit bürgerlicher Tüchtigkeit, Rührigkeit und Ehrenhaftigkeit eine bewegliche, frohsinnige und leichtlebige Führung des Daseins verbanden. Zu alledem kam noch, daß in Frankfurt die Gegensätze des Jahrhunderts so merkbar zu Trage traten wie irgendwo und gerade auch im elterlichen Hause unseres Dichters häufig genug sich kreuzten. Auch in religiöser Beziehung; denn wenn Herr Johann Kaspar in seiner trockenen Verständigkeit für einen richtigen Rationalisten gelten konnte, so war Frau Katharina Elisabeth ihrerseits zu Zeiten nicht abgeneigt, die gemüthlichere Auffassung des Christenthums, wie sie in den frommen Kreisen der Stadt heimisch, auf das eigene reiche Gemüthsleben wirken zu lassen. Hatte sich doch hier in Frankfurt, wo der Gründer oder wenigstens der Organisator des Pietismus, Philipp Jakob Spener, zuerst (im Jahre 1670) seine „Collegia pietatis“ aufgethan, die pietistische Ueberlieferung [81] stets lebendig erhalten, und von einem solchen frommen Kreise, dessen Seele das Fräulein Susanna Katharina von Klettenberg gewesen ist, gingen religiöse Einwirkungen auf den Knaben und den werdenden Jüngling Goethe aus, welche, wie nicht allein die „Bekenntnisse einer schönen Seele“ im Wilhelm Meister beweisen, ebenso tief wie nachhaltig sich erwiesen haben. Das mag Solchen verwunderlich erscheinen, welche das gedankenlose Pfaffengeträtsche vom „großen Heiden“ Goethe gedankenlos nachschwatzen, nicht aber Wissenden und Urtheilsfähigen, die zu erwägen vermögen, daß im alten und echten Pietismus ein pantheistischer Hauch wehte, welcher den genialen Knaben, der zum Dichter des Pantheismus werden sollte, wohl sympathisch ansprechen konnte und mußte.
Die Eindrücke einer Heimath nun, wie Frankfurt eine war, verbunden mit der sorgsamen Behütung und Führung von Seiten der Eltern, konnten zunächst durchaus nur förderlich auf den jungen Wolfgang wirken. Die Frage freilich, ob sich in ihm nicht Manches vortheilhafter entwickelt hätte, so Herrn Johann Kaspar’s Erziehungsmethode eine weniger exclusiv häusliche, eine auf die Fernhaltung und Abschließung seines Sohnes von Altersgenossen weniger pedantisch bedachte gewesen wäre, bleibt eine offene. Die Goethe-Legende, wie sie insbesondere von der allerdings dreist in’s Blaue hineinfabulirenden Bettina von Arnim ausgebildet worden ist, weiß an dem Knaben Wolfgang Züge von Steifigkeit, Grandezza und Altklugheit aufzuzeigen, welche ihn nicht gerade anmuthig erscheinen lassen, obzwar sein Körper ein würdig schönes Gefäß seines Geistes von Kindheit auf gewesen und, wie bekannt, bis in’s höchste Alter geblieben ist.
Eines Tages – so will die Legende – habe die Mutter den Wolfgang getadelt, weil er, mit anderen Knaben über die Straße gehend, durch steifaufrechte Haltung und gravitätischen Schritt sich auszuzeichnen suchte. Darauf habe der Getadelte die Antwort gegeben: „Damit mach’ ich den Anfang; später werde ich mich noch durch Allerlei auszeichnen.“ Eine andere legendenhafte Ueberlieferung deutet an, daß schon in dem siebenjährigen Knaben das Gefühl, ein Berufener, ein Auserwählter zu sein, instinctmäßig sich geregt habe. Der Kleine nämlich liebte es, am gestirnten Himmel die Sterne herauszufinden, von welchen ihm die Mutter gesagt, daß sie über der Stunde seiner Geburt geleuchtet hätten, und eines Abends bemerkte er ernsthaft und sorgenvoll:
„Die Sterne werden mich doch nicht vergessen und werden halten, was sie versprachen?“
„Was willst Du nur mit dem Beistand der Sterne?“ erwiderte die Mutter. „Wir Anderen müssen ja auch ohne sie fertig werden.“
„Mit dem, was anderen Leuten genügt, kann ich nicht fertig werden,“ entgegnete der Wolfgang.
Die Mutter und Spielgenossin hat von früh auf ganz wesentlich dazu beigetragen, den freien, offenen Blick in Natur und Menschheit, sowie das frische, muthige Erfassen der Wirklichkeit – beides Hauptmerkmale von Goethe’s Dichtergröße – in dem geliebten Sohne zu entwickeln. Selber an quillender Einbildungskraft reich, wie sie war, umgab ihre begeisterungsvolle Zärtlichkeit den heranwachsenden Sohn so zu sagen mit einer Atmosphäre von Poesie. Sie nährte, hegte und pflegte in ihm das „Schoßkind Jovis“, die Phantasie, und wußte stetsfort den allfälligen Verschüchterungen, welche das „zarte Seelchen“ von seiten der „alten Schwiegermutter Weisheit“, d. h. von seiten der Schulmeisterlaunen des gestrengen Eheherrn zu befahren hatte, mit Erfolg entgegenzutreten. Sie war es, welche durch ihre Unermüdlichkeit im Erzählen von Märchen und Geschichten die Pforten der idealen Welt zuerst dem begierig aufhorchenden Knaben erschloß und ihm diese Welt mit den Gestalten unserer alten Volksbücherpoesie bevölkerte. Diese hat dann, verbunden mit den Einwirkungen der mancherlei vaterstädtischen Alterthümer und Alterthümlichkeiten, die erwachende Dichtung Goethe’s, wie Jedermann weiß, bedeutsam beeinflußt und hat mit der erwachten so unlöslich sich verbunden, daß er eine nationale, germanische Natur und Art typisch darstellende Sagengestalt zum Helden der Hauptschöpfung seines Lebens und der modernen Literatur machte …. Frau Katharina Elisabeth trug in ihrem mütterlich-stolzen Herzen die helle Hoffnung, daß ihr Wolfgang „was Extraordinäres“ werden würde, und diese Hoffnung verlieh ihr Schick und Tact, ihren Sohn das Allerkostbarste zu lehren: – Lebensfreudigkeit. Ihre gleichmäßig gute Laune, ihr spielendes Bewältigen der großen Aerger wie der kleinen Verdrießlichkeiten des Lebens, ihre Art und Weise, das Rechte und Schickliche zu thun, ohne viel Aufhebens davon zu machen, ja, diese mütterlichen Eigenschaften der Frau Aja haben dem Dichterknaben die Grazien beigesellt, welche ihn bis zu seinem Lebensende nicht mehr verließen. Und wie geschickt und sanft wußten die mütterlichen Hände die wilden Ranken, welche Wolfgang’s Jugend trieb, zu wenden, zu biegen und zu beschneiden, ohne die Triebkraft selbst zum Stocken zu bringen! Es darf ohne Widerrede angenommen werden, daß alle bedeutenden, alle großen Männer ihr Bestes zumeist von ihren Müttern haben. Aber das Auszeichnende an der Mutter Goethe’s ist, daß sie den Genius in ihrem Knaben nicht nur frühzeitig erkannte, sondern auch den himmlischen Gast mit der Ambrosia verständnißvollster Mutterliebe zu speisen verstand.
Auch der sorgliche Vater wurde frühzeitig gewahr, daß, wie er sich später ausdrückte, sein Sohn ein „singulärer Mensch“ sei, und er hat es sich redlich angelegen sein lassen, den großen Gaben desselben zur Entfaltung zu verhelfen. Dabei ist ihm nachzurühmen, daß er keineswegs Pedant genug war, die Wichtigkeit auch der körperlichen Ausbildung des Knaben zu übersehen. Die leiblichen Anlagen Wolfgang’s wurden demnach von früh an entwickelt und geübt, so daß er in Jünglingsjahren ein rüstiger Fußgänger, Schlittschuhläufer und Reiter, sowie ein tüchtiger Fechter und Tänzer war. Was die geistige Pflege betrifft, welche Herr Johann Kaspar dem Sohne angedeihen ließ, so wurde die Aufmerksamkeit, Fassungsgabe und Lernbegierde desselben von ihm zeitig auf die Gebiete des Alterthums und der bildenden Kunst in ihren verschiedenen Erscheinungsformen hingelenkt. Selber ziemlich fest in den alten Sprachen und der italienischen vollkommen mächtig, unterwies der Rath seinen Sohn mit gutem Erfolg im Lateinischen, Griechischen und Italienischen und wußte nicht weniger erfolgreich in seinem Zögling den Kunstsinn zu wecken, welcher ja zudem im Goethe’schen Hause so zu sagen von jeder Wand herab gepredigt wurde, maßen der Hausherr auf die Mehrung und wirksame Ordnung seiner Sammlungen fortwährend Bedacht nahm. Für den Unterricht in der französischen und englischen Sprache, sowie in den Realien war durch Annahme möglichst guter Privatlehrer gesorgt. Der Vater sah es dem Sohne nach, daß dieser das mit Ach und Krach angefangene Clavierspiel bald wieder aufgab, weil er merkte, daß es mit seinem musikalischen Talent gar nicht weit her sei. Dagegen hielt der väterliche Pädagogarch nachdrücklich darauf, daß der Wolfgang fleißig im Zeichnen sich übte. Er erlangte hierin auch eine hübsche, durch später fortgesetzte Uebung gesteigerte Fertigkeit und diese ist ohne Frage, wie sein Kunstverständniß, auch seinem Dichten nicht wenig zu Gute gekommen. Die Benutzung seiner stattlichen Bibliothek gestattete der Vater dem heranwachsenden Sohn in liberalster Weise, und so machte dieser frühzeitig Bekanntschaft mit ausländischen und heimischen Poeten. Von letzteren fanden sich namentlich Haller, Drollinger, Hagedorn, Kramer, Kanitz und Gellert in der väterlichen Bücherei. Weiter aber wollte der Herr Rath von keinen deutschen Dichtern wissen, insbesondere nichts von Klopstock, dessen „Messias“ damals alle jungen Herzen in Deutschland so gewaltsam ergriff. Herrn Johann Kaspar waren die reimlosen Verse Klopstock’s und namentlich die Hexameter ein Gräuel. Er ließ sich nicht träumen, daß sein Wolfgang gerade in diesem Versmaß eine Dichtung schreiben werde, welche von der dankbaren Nachwelt als „der Stolz Deutschlands und die Perle der Kunst“ anerkannt sein würde. Lieb Mütterlein sorgte derweil schon dafür, daß der „Messias“, von dessen elektrisirender Wirkung auf die Menschen von damals wir uns heutzutage kaum noch eine ausreichende Vorstellung zu machen vermögen, auch in dem Hause im Hirschgraben seinen triumphirenden Einzug halten konnte. Und wie sie selbst von dem Gedichte lebhaft ergriffen wurde, hatte sie auch ihre Freude an dem Entzücken, womit ihr Wolfgang und ihre Cornelia dasselbe in sich aufnahmen. Bruder und Schwester liebten sich innig, waren unzertrennlich, theilten redlich Freude und Leid und bildeten natürlich nebenbei gemeinsam mit der Mutter eine permanente Verschwörung gegen den Vater, welche nicht gerade immer so harmlos gewesen ist wie jetzt, wo sie verpönte Messiaslesung hieß und in drastische Komik auslief. Saßen nämlich eines Sonnabends, während der Herr Rath vorn in [82] der Stube sich rasiren ließ, der Wolfgang und das Cornelchen hinter dem Ofen und recitirten, wie gewohnt, um die Wette Stellen aus dem „Messias“. Diesmal mit vertheilten Rollen das wilde Gespräch zwischen Satan und Adramelech, erst leise, dann, fortgerissen und alles Andere vergessend, immer lauter und leidenschaftlicher, bis endlich das junge Mädchen den Vers: „Oh, ich bin wie zermalmt“ – mit voller Kraft der Stimme herausschrie. Adramelech’s Verzweiflungsschrei wirkte so gewaltig auf den Barbier, daß er, im Begriffe, den Hausherrn einzuseifen, den ganzen Inhalt des Seifebeckens dem Herrn Johann Kaspar in den Brustlatz goß. Daraufhin großer Aufstand, geflügelte Untersuchung, Eingeständniß des verbotenen Klopstockapfelgenusses von Seiten der Delinquenten, summarische Procedur und schließlich der Wahrspruch: Fort aus dem Hause mit dem Hexameterzeug! Selbstverständlich war dieses väterliche Verdict gerade so nachhaltig wirksam, wie ähnliche väterliche Verdicte eben zu allen Zeiten zu sein pflegten und pflegen. …
Große und dauernde Wirkung übte auf den jungen Wolfgang die Bekanntschaft mit der Bibel, und vor allem sprach das Naive, Naturzuständliche der Patriarchengeschichten ein verwandtes Gefühl in dem Knaben ergreifend und fesselnd an. Die Bibel, Homer und Shakespeare sind die drei Jungbrunnen der Poesie gewesen, aus welchen unser Dichter die bedeutungsvollsten Inspirationen getrunken hat. Biblische, homerische und shakespearesche Elemente lassen sich in Goethe’s Dichtung deutlich nachweisen, aber nicht als etwas Entlehntes, Fremdartiges, Nachgeahmtes, sondern als in Fleisch und Blut Verwandeltes, zu goetheschem Ichor (Götterblut) Potenzirtes. Was seine biblischen Jugendstudien angeht, so hat er selber angedeutet, daß ihn die Dürre des trocken-moralischen Religionsunterrichts, den er in Knabenjahren ausstehen mußte, dazu getrieben habe. Das seellose, verknöcherte, officielle Lutherthum jener Zeit war auch ganz dazu angethan, gefühlvolle Gemüther für die Poesie des alten Testaments wie für pietistische Einflüsse empfänglich zu machen.
Der geregelte Verlauf von Wolfgang’s Erziehung und Unterricht hatte indessen eine unliebsame, dauernd nachtheilige Unterbrechung erfahren durch die Ereignisse, welche in Folge des siebenjährigen Krieges über die Reichsstadt Frankfurt hereingebrochen waren. Es ist bekannt, daß alles, was gesund und wissend in der deutschen Nation, für Friedrich von Preußen Partei nahm. So war auch Herr Johann Kaspar ein entschiedener Friedrichist und that alles, um den Wolfgang ebenfalls zu einem solchen zu machen. Wie schwer also mußte es dem Manne fallen, als die Franzosen, rechts- und vertragswidrig vorgehend, im Jahre 1759 die Reichsstadt Frankfurt überfielen und besetzten, ihm selber die Widerwärtigkeit bleibender Einquartierung aufhalsend! Es besserte in seinen Augen die Sache wenig, daß die Einquartierung aus einem höheren, feingebildeten Officier bestand, dem sogenannten „Königslieutenant“, Grafen Thorane, welcher seine Anwesenheit so wenig unangenehm als möglich zu machen suchte. Die Stimmung des Hausherrn war so gedrückt und zerfahren, daß er für eine geraume Weile sogar seine pädagogische Mühewaltung nur obenhin fortsetzte oder auch wohl ganz ruhen ließ. Der fortwährend handgreiflich sich aufdrängende Gedanke, die Feinde seines hochverehrten großen Fritz in seinem Hause beherbergen und bewirthen zu müssen, scheint den sonst so besonnenen Herrn völlig aus seiner gewohnten Fassung und Haltung gebracht zu haben. Als der Angriff, welchen Prinz Ferdinand von Braunschweig bei Bergen unweit Frankfurt auf die französischen Stellungen an der Mainlinie machte, mißlungen war, brach Goethe’s Vater dem Königslieutenant in’s Angesicht in die Worte aus: „Ich wollte, sie hätten Euch zum Teufel gejagt, und wenn ich hätte mitfahren müssen!“ und brachte dadurch den Franzosen so in Wuth, daß nur mit Mühe eine Katastrophe abgewendet wurde. Viel leichter und lieber als der Vater schickte sich der Sohn in die Franzoserei, welche etliche Jahre in Frankfurt obenauf war. Wolfgang hatte das Nachlassen der Zügel väterlicher Pädagogik kaum verspürt, als er von der neuen Freiheit ausgiebigen Gebrauch zu machen begann. Er verkehrte viel mit den Franzosen, besuchte das Theater, welches sie sofort in Frankfurt eingerichtet hatten, gerieth auch hinter die Coulissen und erlebte allerhand kleine Abenteuer, welche er nachmals in seinen Denkwürdigkeiten behaglich-dichterisch ausgemalt hat. Das Thatsächliche davon klar zu stellen, dürfte unmöglich sein. Sicher jedoch ist, daß in dem allgemeinen Trubel jener Frankfurter Franzosenzeit der Junge sich als angehendes Herrchen zu fühlen und zu gehaben begann. Er selbst hat uns in seinem Märchen „Der neue Paris“ beschrieben, wie das angehende Herrchen äußerlich sich darstellte: in Schuhen von sauberem Leder mit großen silbernen Schnallen, feinen baumwollenen Strümpfen, schwarzen Beinkleidern von Sarsche, einer aus des Vaters Bräutigamsweste geschnittenen Weste aus Goldstoff und einem Rock von grünem Berkan mit goldenen Balletten, das Haar gepudert und an den Schläfen in weitabstehende Lockenflügelchen frisirt, im Nacken ein Haarbeutelchen, unter dem Arme ein Dreimasterchen, an der Seite ein Degelchen, dessen Bügel mit einer großen Seidenschleife geschmückt war.
So angethan, im vollen Glanz und Wichs des Rococo, ging unser halbwüchsiger Stutzer auf Eroberungen aus. Ja, auf Eroberungen. Denn wie vordem Boccaccio, so konnte auch Goethe von sich sagen, er habe von Kindesbeinen auf in der Knechtschaft Amors („in servigio d’Amore“) gestanden. Es war nun schon so, und wir müssen die Sache nehmen, wie sie war. Ein Dichter, und vollends ein großer, ein größter Dichter will, was sein Verhalten zum schöneren und besseren Geschlechte betrifft, ganz entschieden anders angesehen und beurtheilt sein, als irgend ein beliebiger Prosaicus Ordinarius Lederherz. Der Ueberschwang von Phantasie und Gefühl, welcher den Dichter macht, zwingt ihn, zu lieben, ohne Aufhören zu lieben, so daß fürwahr das Wort des Paulus an die Corinther: „Die Liebe höret nimmer auf“ wie eigens für dichterisch angelegte Naturen gesprochen erscheint. Dieselbe Macht der Liebe, welche schon in dem Knaben Goethe gebieterisch sich regte, hat sich auch in dem Greise Goethe nicht minder gebieterisch geregt. Und es mußte so sein; denn Wolfgang der Große hat ja bis zuletzt gedichtet, und so lange ein Mensch dichten muß, muß er auch lieben. Mit der Liebe lebt im jungen Dichter die Poesie auf, mit der Liebe stirbt sie im alten. Liebe und Poesie sind ja nur zwei geschwisterliche Flammenstrahlen, welche aus einer und derselben Gluth emporsteigen, aus jenem Feuerfluidum der Seele, aus welchem alles kommt, was himmlisch ist in dem armen Erdenkloß Mensch.
Wie hieß nun aber, wer war das weibliche Wesen, welches das frühwache Herz unseres Dichters zuerst knabenhaft leidenschaftlich pulsiren machte? Es läßt sich nicht mit auch nur einiger Bestimmtheit sagen. War es eine blos mit dem Anfangsbuchstaben W. angedeutete Unbekannte? War es die schöne Charitas Meixner aus Worms? War es das „unglaublich schöne“ Gretchen in der „Rose“ zu Offenbach? Aber dieses Offenbacher Gretchen muß jetzt entschieden für eine Mythe gelten, obzwar Bettina hoch und heilig versichert, von der Frau Aja „wohl zwanzig Mal“ gehört zu haben, dieses Gretchen „sei die Erste gewesen, welche der Wolfgang lieb hatte“. In Frankfurt geht die bestimmte Sage, das wirkliche, das echte Gretchen, welches schwesterlich besorgt den heftig in sie verliebten Knaben vor den Machenschaften der lockeren Gesellen warnte, in deren Gesellschaft er zu dieser Zeit gerathen war, sei Kellnerin in der Wirthschaft „Zum Puppenschänkelchen“ in der Weißadlergasse gewesen. Wer und was jedoch immer Gretchen war, das Mädchen kann kein bloßes Phantom, es muß Wirklichkeit gewesen sein. Allerdings war es unter den Poeten der Klopstock’schen Schule Mode, für „die unbekannte Geliebte“ zu schwärmen; aber vor solcher Abstraction und Verhimmelei war Goethe schon in jungen Jahren durch den kräftig realistischen Zug seines Genius gesichert. Es muß ein Gretchen wirklich gegeben haben; denn kein Phantom vermag einen so tiefen und dauernden Eindruck hervorzubringen, wie unser Dichter ihn von seiner Gretchenliebe empfing. Das Gretchen freilich, welches Goethe in seinen alten Tagen im fünften Buche von „Dichtung und Wahrheit“ zum Mittelpunkte eines reizenden episodischen Gemäldes aus seiner Jugend gemacht hat, ist wohl nur für eine dichterische Caprice anzusehen. Aber die Züge des echten und wirklichen Gretchens hat er aus frisch lebendiger Erinnerung heraufgeholt und für die Ewigkeit nachgeschaffen in der Gestalt des Faust-Gretchens. Tifteler meinen zwar, Goethe habe in dieser einzig schönen Figur das Ideal deutscher Mädchenhaftigkeit a priori construiren wollen und wirklich construirt; allein das ist nur eine jener sogenannten ästhetischen Flausen, deren die Herren Goethe-Commentatoren nicht wenige aufgebracht haben. Das Gretchen im Faust ist vom [83] Scheitel bis zur Sohle, ist in jeder Ader und Fiber dichterischer Realismus, und auf diese unvergleichliche Schöpfung darf, wie übrigens auf die Goethe’schen Frauen- und Mädchengestalten überhaupt, mit vollem Recht angewandt werden, was der Dichter seinen Tasso mit weit geringerer Berechtigung von dessen Gebilden sagen ließ:
„Es sind nicht Schatten, die der Wahn erzeugte;
Ich weiß es, sie sind ewig, denn sie sind.“
[128] Der knabenhafte Irrgang, welcher unseren Wolfgang in einen zweideutigen Kreis geführt hatte, hinterließ einen nicht minder mächtigen Eindruck als sein erstes Verlieben. In jenem Kreise, aus welchem er nur mit einem stark angeblauten Auge wieder herauskam, war ihm das Gemeine, das Pöbelhafte so nahe getreten, daß er die leidige Erfahrung machen mußte, man könne mit rußigen Töpfen nicht handiren, ohne sich die Hände zu beschwärzen. Diese Erfahrung – mochten ihre Consequenzen bewußt oder instinctiv gezogen sein – hat wohl der aristokratischen Anlage von Goethe’s Wesen starken Vorschub geleistet, und weil der echte Aristokratismus eben nichts Anderes ist als der diametrale Gegensatz vom Gemeinen, nichts Anderes als der unversöhnliche Haß alles Pöbelhaften, so wollen wir den jungen Wolfgang glücklich preisen, daß ihm in seinen jungen Jahren die rußigen Töpfe einen so heilsamen und nachdrücklichen Schrecken eingejagt haben. Aber eine gerechtfertigte Klage ist dabei freilich, daß er später in seinem Leben die scharf markirte und leicht erkennbare Grenzlinie zwischen Volk und Pöbel mitunter absichtlich übersehen hat.
Wie die in dem werdenden Jünglinge erwachende Poesie zu seinen inneren und äußeren Bedrängnissen sich verhielt? Wir wissen es nicht actenmäßig genau. Wir wissen nur, daß Wolfgang schon frühzeitig ein eifriger „Reimer“ gewesen ist. Denn in diesem lag der „Dichter“ noch verpuppt, so verpuppt, daß kein Mensch hätte zu weissagen gewagt, aus solch einer Puppe würde binnen wenigen Jahren solch ein Prachtschmetterling schlüpfen. Goethe begann, wie Jedermann weiß, erst in seinen Leipziger und Straßburger Liebesliedern, im „Götz“, im „Werther“ und in den ersten Anläufen zum „Faust“ in Goethe’scher Weise zu dichten. Etwas Goethe’sches jedoch weisen schon die ersten Versuche des jungen Reimers auf, dieses nämlich, daß sie „Gelegenheitsgedichte“ waren, was zu sein er bekanntlich in alten Tagen seinen sämmtlichen Gedichten nachgesagt hat. Am 18. September 1823 äußerte er sich so gegen den guten Eckermann und fügte hinzu: „Alle meine Gedichte sind durch die Wirklichkeit angeregt.“
Selbstverständlich nahm diese „Anregung“ im Laufe der Zeit mannigfach veränderte Formen an. Frühestens war sie zumeist wohl nur eine ganz äußerliche, das heißt Freunde und Freundinnen erbaten sich bei dem fixen jungen Reimschmied ein „Gelegenheitsgedicht“ über dies und das. Dann auch ließ er sich durch die Lesung von Büchern, welche stark auf ihn wirkten, zur poetischen Wiedergabe der erhaltenen Eindrücke bestimmen. So durch die Patriarchengeschichte der Bibel zu einem epischen Versuche: „Joseph und seine Brüder“.
Derartige Stilübungen seines Sohnes nahm der Herr Rath nicht ohne Wohlgefallen auf, vorausgesetzt, daß sie gereimt waren, sintemalen, wie wir ja wissen, reimlose Verse in seinen Augen gar keine waren. Unser liebenswürdiger Schlingel von Wolfgang gefiel sich aber auch in „anakreontischen“ Verschen, wie ja dazumal die Gleim und Consorten sie ebenso massenhaft als wässerig zwar nicht aus dem kastalischen Quell, aber doch aus der Holzemme, Saale, Pleiße und anderen seichten Flüssen schöpften. Zu solchen Versuchen hatte ihn die Wirklichkeit in Gestalt einer Charitas, eines Gretchens etc. „angeregt“, aber diese seine Versethaten dem Vater zu zeigen, hütete er sich wohl, natürlich nur, „weil sie reimlos waren“. Die in Rede stehenden [129] Anakreontika sind uns verloren. Dagegen ist uns eine geistliche Ode erhalten, welche zu Anfang des Jahres 1766 in dem Frankfurter Blatte „Der Sichtbare“ gedruckt erschien unter dem Titel „Poetische Gedanken über die Höllenfahrt Jesu Christi, auf Verlangen entworfen von J. W. G.“ Das „Verlangen“ – so hat Goethe gemeint, als ihm sechszig Jahre später das vergessene Blatt wieder vor Augen gebracht wurde – sei von dem Fräulein von Klettenberg ausgegangen, und wir dürfen annehmen, daß die fromme Dame an diesen Höllenfahrtsgedanken höchlich sich erbaut habe. Uns dagegen, die wir „dem Teufel und seinen Werken“ vollständig entsagt haben, muthet es ganz eigen an, daß der liebe „große Heide“ seine Laufbahn mit der Paraphrase eines Lehrsatzes des christlich-kirchlichen Glaubensbekenntnisses begonnen hat, wenigstens schwarz auf weiß, öffentlich, letternmäßig documentirt begonnen hat. Diese Paraphrase dürfte schon um 1762 oder 1763 verfaßt, vor dem Drucke aber noch einmal überarbeitet worden sein. Eigenartiges ist gar nichts darin, nicht der leiseste Goethe’sche Ton. Die Ode geht in dem orthodoxen Pompschritt einher, welchen die geistliche Odendichterei der Klopstock’schen Schule schon zum conventionellen gemacht hatte. Der Inhalt ist Katechismuswaare. Dagegen fällt die Geschmeidigkeit und Energie des sprachlichen Ausdrucks, sowie die sichere und zwanglose Handhabung von Versmaß und Reim recht angenehm in das Ohr. Im Uebrigen müssen wir, wenn wir mit diesen jugendlich- und judentlich-christlich-orthodoxen Empfindungen des Dichters seine spätere Anschauungs-, Gefühls- und Denkweise zusammenhalten, unwillkürlich an seine Auslassung im „Prometheus“ denken:
„Als ich ein Kind war,
Nicht wußte, wo aus noch ein.
Kehrt’ ich mein verirrtes Auge
Zur Sonne, als wenn drüber wär’
Ein Ohr, zu hören meine Klage,
Ein Herz wie mein’s,
Sich des Bedrängten zu erbarmen.“
Derweil war auch die Berufsfrage an unseren Wolfgang herangetreten, die große Frage: „Was soll aus dir werden?“ auf welche das Schicksal in den meisten Fällen die Antwort giebt: „Nicht viel.“ Freunde des Goethe’schen Hauses, welche in dem Sohne desselben die großen Gaben unschwer erkannten und den schönen und liebenswürdigen Jungen liebgewonnen hatten, schlugen allerhand vor. Der Eine wollte ihn zum Staats- und Hofmanne, der Andere speciell zum Diplomaten, der Dritte zum Juristen erzogen wissen. Diese dritte Meinung ward energisch vertreten durch den alten Hofrath Huisgen, der in seinem pessimistischen Humor zum Wolfgang sagte:
„Werde ein firmer Jurist, Bursch, damit du dich und das Deinige dermaleinst gegen das Lumpenpack von Menschen regelrecht vertheidigen, item dann und wann einem Unterdrückten beistehen und allenfalls auch einem Schuft was am Zeuge flicken kannst.“
Möglich, daß zeitweise dem Wolfgang so eine Bestimmung nicht ganz uneben vorkam. Doch hat er im Stillen die lebhafte Absicht gehegt, sich für ein akademisches Lehramt tüchtig zu machen, zu welchem Zwecke ihm die damals gerade im gedeihlichsten Aufschwunge begriffene Universität Göttingen die richtige Bildungsstätte zu sein schien. Allein der Vater seinerseits bestand darauf, daß Wolfgang die Jurisprudenz zu seinem Berufsstudium wählte, in welches den Sohn einzuleiten er ja schon seit längerer Zeit nach Kräften sich bemüht hatte. Unser Reimer der Höllenfahrt Jesu Christi wußte hinlänglich viel von dem Ach und Krach zu erzählen, womit er sich durch die jurisprudenzlichen Katechismen und Compendien, die ihm der Vater vorlegte, durchgewunden. Aber er hatte sich durchgewunden und derohalben hielt Herr Johann Kaspar seinen Wolfgang, als selbiger sechszehnjährig geworden, für flügge genug, als Student auszufliegen. Von Göttingen jedoch wollte er nichts wissen, sondern bestand darauf, daß der Flug nach Leipzig gerichtet würde, allwo er ja selber ein zum kaiserlichen Rath qualificirter Rechtsmann geworden. Der Junge mochte denken, wie in gleicher Lage schon Tausende, Hunderttausende von gescheidten (oder auch dummen) Jungen gedacht haben und künftig noch denken werden: Bin ich nur erst Student, so wird sich das mir anstehende Studium (oder auch Nichtstudium) von selber finden.
In den ersten Octobertagen 1765 hob sich der sechszehnjährige Fuchs von dannen gen Leipzig, welche Stadt er gerade in einer ihrer Glanzperioden betrat, das heißt zur Meßzeit, deren buntes Getriebe und Gewühle ihm baß gefiel. Er nahm Wohnung im Hause „Zur großen Feuerkugel“, wo vor anderthalb Dutzend Jahren auch Lessing gewohnt hatte, wurde am 19. October immatriculirt und, weil die Leipziger Studentenschaft noch auf gut oder schlecht mittelalterlich in vier „Nationen“ eingetheilt war, in die bairische „Nation“ eingeschrieben.
Der akademische Flug hatte also begonnen und es ist zu sagen, daß sich derselbe keineswegs blos in den wohlanständigen und regelrichtig abgezirkelten Regionen bewegte, von welchen uns Se. Excellenz der Herr Geheimrath und Minister von Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ in gemessener Sprache zu berichten weiß. Im Gegentheil, sehr im Gegentheil! Die jetzt vorliegenden Briefe des Leipziger Studenten Goethe an verschiedene Freunde thun klärlich dar, daß unser in die feine Welt der Pleißestadt wie ein rechter rhein- und mainländischer Naturbursch hineingeplatztes angehendes Kraftgenie seiner neuen Freiheit und seiner auskömmlichen Geldmittel „in dulci jubilo“ sich erfreut habe. Wie, zeigt ungefähr ein Brief, welchen er schon einen Tag nach seiner Immatrikulation an einen Freund heimwärts schrieb und worin es unter Anderem also tönte: – „Ich mach’ hier große Figur und brauche Kunst, um fleißig zu sein. In Gesellschaften, Concert, Komödie, bei Gastereien, Abendessen, Spazierfahrten, so viel es um diese Zeit angeht. Ha, das geht köstlich! Aber auch kostspielig! Zum Henker, das fühlt mein Beutel. Halt! rettet! haltet auf! Siehst du sie nicht mehr fliegen? Da marschirten zwei Louisd’or. Helft! da ging abermals einer. Himmel! schon wieder ein paar Groschen sind hier wie Kreuzer bei euch draußen im Reiche. Aber dennoch kann Einer hier sehr wohlfeil leben und so hoffe ich des Jahrs mit dreihundert Reichsthalern auszukommen; notabene das nicht gerechnet, was schon zum Henker ist …“ Immerhin ist anzumerken, daß das Leipziger Studentenleben bei aller Ungebundenheit doch zahm und gesittet heißen konnte, verglichen mit dem wilden und wüsten Gebaren, welches der akademischen Bürgerschaft zu Halle, Jena, Gießen und anderwärts damals eigen war und von welchem unlange zuvor Zachariä’s „Renommist“ ein weit mehr abschreckendes als komisches Bild entworfen hatte. In Wahrheit, das „Klein-Paris“ Leipzig „bildete seine Leute“, wenn auch nicht gerade in seinen Hörsälen. Die reiche Handelsstadt mit ihrem großartigen Weltverkehr galt damals nicht ohne Grund für die Heimath der feinsten und vielseitigsten Bildung in Deutschland und das Studententhum mußte sich dem herrschenden Ton ebenfalls mehr oder weniger anbequemen. So auch unser Fuchs Goethe, obzwar er den Rappen so tüchtig laufen ließ, wie eben Füchse, denen der akademische Himmel noch voll Geigen hängt, zu thun pflegen.
Die Hörsäle der Hochschulen haben bekanntlich mit der Hölle das gemein, daß die Wege zu beiden mit guten Vorsätzen gepflastert sind. Unser sechszehnjähriger Springinsfeld war mit dem guten Vorsatz nach Leipzig gekommen, recht fleißig Sprachenkunde und Alterthumswissenschaft zu hören und zu treiben, um sich zur akademischen Docentenschaft zu befähigen. Statt aber ein fleißiger Student zu werden, wurde er binnen Kurzem ein „Phantast“, ein „Stutzer“, ein „Galan“, wie ihn einer seiner Frankfurter Freunde betitelte, welcher ihn im Sommer von 1766 in der Pleißenstadt sah. Es ist freilich wahr, daß der Geist oder Ungeist, welcher damals von den Leipziger und noch vielen andern deutschen Universitätskathedern herunter sogar die ordinärste Zuhörerschaft langweilte, unsern genialischen jungen Feuerkopf unmöglich anziehen, fesseln und anregen konnte. War doch die akademische Lehrthätigkeit zumeist nur Compendienableirerei. Bald war Goethe ein unregelmäßiger, dann ein unfleißiger, zuletzt wohl gar kein Collegienbesucher mehr. Denn nicht allein die juristischen, sondern auch die philologischen und archäologischen Vorlesungen gewährten ihm wenig oder gar keine Befriedigung. Ebenso Gellert’s Vorträge „über den Geschmack“, von welchen sich unser Student so viel versprochen hatte.
Dagegen gewährte ein Besuch, welchen Goethe gemeinsam mit seinem neugewonnenen Freunde und nachmaligen Schwager J. G. Schlosser bei dem alten Gottsched abstattete, wenigstens Erheiterung. Der gallomanische Pedant, welcher aber als Reiniger und Drillmeister unserer ganz verwildert, verwüstet und [130] verschlammt aus dem siebenzehnten in das achtzehnte Jahrhundert herübergekommenen Sprache große Achtung verdient, stellte sich den beiden jungen Leuten in der ganzen Schlagfertigkeit und Grandezza seiner literarischen Dictatur dar, wie im siebenten Buche von „Dichtung und Wahrheit“ ergötzlich zu lesen ist …. Wenn nun aber der Wolfgang kein correcter Student nach der Schablone von damals war, ein Studirender in seiner Art ist er doch trotz alledem gewesen. Sein Umgang mit Medicinern hat die schon in seinen Knabenjahren erwachte Theilnahme an den Naturwissenschaften in ihm gekräftigt, und diese Theilnahme hat sich dann später, wie bekannt, bis zu selbstständiger Forscherthätigkeit emporgehoben. In seinem Tischgenossen Ernst Wolfgang Behrisch gewann er einen Freund, welchem er nach ihrer Trennung drei Oden im echten Kraftgeniestil nachsang und der uns wie eine Antecipation von Goethe’s späterem Mentor Merck vorkommt. Mit dem vielfach klärenden und fördernden Einflusse von Behrisch verbanden sich die guten Wirkungen des fleißigen Verkehrs mit dem Director der Malerakademie, Oeser, welcher unsern Poeten zur Wiederaufnahme und Weiterführung seiner Uebungen im Zeichnen aufmunterte. Und diese Uebungen gediehen dann auch so weit, daß der Zeichner sogar in der Kupferstecherei sich versuchen konnte. Mit warmer Dankbarkeit hat Goethe später anerkannt, daß ihn Oeser gelehrt habe, „das Ideal der Schönheit sei Einfalt und Stille“.
In der Bildergalerie zu Dresden, wohin unser Student wallfuhr, gingen ihm über das Wesen der Schönheit und Kunst ganz neue Lichter auf. Der empfangene Eindruck war ein ebenso mächtiger als dauernder, und von da ab ist das Verhältniß Goethe’s zu den bildenden Künsten ein unlösliches, ein seine Poesie wesentlich mitbedingendes und mitbestimmendes geworden und geblieben, so daß man mit vollem Rechte sagen konnte, die bildenden Künste seien für ihn genau das gewesen, was für Shakespeare die Musik war und für Schiller die Philosophie. Ein kaum minder befruchtendes Motiv für die Entwickelung und Ausbildung unseres Studenten wurde sein geselliger Verkehr mit gescheidten und gebildeten Frauen, und er hat auch, was er solchen schuldete, später dankbar anerkannt mittelst der allbekannten schönen Huldigungsstelle im Tasso.
In Leipzig hat sich namentlich die Frau des Professors Böhme um den jungen Mann verdient gemacht, indem sie ihm nicht nur die Formen und den Ton der guten Lebensart beibrachte, sondern auch seine literarischen Anschauungen und Vorstellungen erweiterte und aufhellte. Frau Böhme hat ihn darauf geführt, Shakespeare’sche Dichtungen in der Originalsprache zu lesen. Ebenso regte sie ihn zu Betrachtungen über den Zustand der deutschen Literatur an und leitete ihn so recht in das Studium der kritischen Arbeiten Lessing’s ein, der die deutsche Aesthetik geschaffen hat und dessen kunstphilosophische Schriften, verbunden mit den kunsthistorischen Winckelmann’s, auf Goethe ganz unberechenbar nachhaltig, klärend und wegzeigend wirkten. Lessing’s epochemachender „Laokoon“, diese Magna Charta unserer Kunstphilosophie, war gerade damals erschienen und man muß sich der Begeisterung erinnern, wie Goethe noch in seinen Greisenjahren von dem Entzücken redete, womit ihn als Jüngling die Lesung dieses Buches erfüllt habe, um so recht verstehen zu können, was er empfand, als ihm „wie mit einem Zauberschlage das Dunkel erhellt wurde, in welchem bis dahin die ästhetische Theorie umhergetappt war“.
Das strenge, aber wohlbegründete Urtheil der Frau Professorin zeigte dem darüber nicht wenig bestürzten Poeten auch, daß alles, was er bislang in Versen und Prosa geschrieben, doch eigentlich nur Quark sei, und darauf hin faßte der also Kritisirte nach überwundener Verblüffung den ungeheuer heldischen Entschluß, seinen ganzen handschriftlichen Vorrath von „Quark“ in’s Ofenfeuer zu schieben. Jedoch das Versemachen ging bald von neuem los und mußte von neuem wieder losgehen, weil unser Wolfgang wiederum bis über die Ohren verliebt war, und männiglich und weibiglich weiß ja, daß ein Poet auseinanderplatzen müßte, so er dem bis zum Bersten geheizten Dampfkessel seines Herzens nicht das Sicherheitsventil der Versemacherei aufthäte. Goethe ist in seinem ganzen Leben niemals ausschweifend gewesen. Dafür zeugt schon seine bis ins hohe Alter bewahrte körperliche Stattlichkeit und Rüstigkeit. Dafür zeugt auch und noch sprechender seine bis an’s Ende ausdauernde Geistesfrische, Arbeitskraft und Arbeitslust. Aber er trug ein feurig und zärtlich Dichterherz in der Brust und während seiner jungen Jahre hieß es allerdings bei ihm: Ein ander Städtchen, ein ander Mädchen; da ein Gretchen und dort ein Käthchen, jetzt ein Linchen und dann ein Minchen, heut ein Annchen und morgen ein Hannchen.
In Leipzig handelte es sich um ein Aennchen-Käthchen, denn Wolfgang’s Flamme hieß Anna Katharina und war die Tochter des Weinhändlers Schönkopf, in dessen Haus eine auserlesene Gesellschaft von Studenten den Mittagstisch hatte. Goethe’s Neigung wurde erwidert, doch wohl mehr nur scherz- als ernsthaft. Er hat uns erzählt, daß er nun in krankhafter Laune darauf verfallen sei, sich eifersüchtig zu stellen und das arme hübsche Mädchen, welches übrigens etliche Jahre älter war als er, mit den thörichtesten Grillen zu quälen. Man hat das hinterher damit erklären wollen, daß der junge Poet gerade damals so zu sagen in einer geistigen Mauser begriffen gewesen sei, indem ihn die Einsicht in das Unzulängliche und Nichtige seiner bisherigen dichterischen Versuche, sowie die Unsicherheit seiner ästhetischen Anschauungen rathlos, verstimmt und zerfahren gemacht habe. Mag dem so sein; gewiß ist, daß Aennchen-Käthchen das Gebaren des „heißen Knaben“ in die Länge unerträglich fand und ihr Herz, soweit er es überhaupt besessen, von ihm wandte. Die Versuche, die er anstellte, dieses Herz wieder zu gewinnen, ließen ihn allerhand Thorheiten und Tollheiten begehen. Natürlich umsonst, und nun wurde der arme Junge, wie er meldet, vor Leidenschaftlichkeit halb verrückt, stürmte mit Trinken und Spielen auf seine Gesundheit los und zerrüttete diese auch wirklich für mehrere Jahre. Er wäre, hat er später gemeint, an dem Schmerz über Aennchens Verlust zu Grunde gegangen, wäre ihm nicht damals, wie nachmals noch so oft in seinem Leben, die Poesie eine heilkundige Aerztin geworden. Unser unglücklicher Liebhaber legte sich, so zu sagen, eine poetische Buße auf, indem er eine Komödie zu schreiben begann, in welcher er eine dichterische Abspiegelung seines Verhaltens zu Aennchen gab: – „Die Laune des Verliebten.“ Gleichzeitig mit diesem nicht ganz zu Ende geführten Lustspielsentwurf beschäftigte ihn noch ein zweiter, welcher unter dem Titel „Die Mitschuldigen“ Gestalt gewann und Erinnerungen aus der Gretchen-Zeit zur Grundlage hatte.
Beide Stücke wollen nicht viel bedeuten. Sie sind in Alexandrinern geschrieben und noch ganz im französischen Rococostil gehalten. Da und dort ein hübscher Einfall darin, ein geistreicher Zug; allein den künftigen Dichter des Prometheus und des Faust, des Werther und des Egmont, der Iphigenie, der Dora und der Dorothea ließen diese Versuche nicht entfernt ahnen. Goethe’s Anlage zum Komöden, zum Lustspieldichter ist überhaupt eine geringe oder wenigstens keine nachhaltige gewesen. Seine komische Kraft entlud sich in einzelnen Genieblitzen, sonst aber war sein Genius nicht auf das Komische, sondern auf das Seelische, das Ernste, Leidenschaftliche und Erhabene gestellt: Bei alledem verlangen die beiden Jugendkomödien unsere Aufmerksamkeit, insofern sie doch eine wesentliche Eigenheit goethe’scher Poesie schon deutlich signalisiren: die Eigenheit nämlich, daß der Urquell von allem seinem Dichten seine eigene Seele war. Er sang und sagte uns in seinen Werken, was er geschaut und gefühlt und weil und wie er selbst es geschaut und gefühlt, nicht weil und wie Andere vor ihm es gesungen und gesagt. Was er erlebt und erstrebt, gewonnen und verloren, genossen und gelitten, davon legte er in seinen Dichtungen Zeugniß und Rechenschaft ab und deshalb hat man der goetheschen Poesie mit Fug nachgerühmt, sie ströme zum Herzen, weil sie aus dem Herzen hervorgeströmt, und sie sei „ewig wie die Leidenschaft selbst“. Uebrigens hat, um das gleich noch hier zu sagen, unser Dichter ja ausdrücklich geäußert, daß alle seine Werke nur Bruchstücke einer großen Confession, einer „Generalbeichte“ seien. Mit jener großartigen, ich möchte sagen olympischen Offenheit, welche eine der glänzendsten Tugenden Goethe’s gewesen ist, hat er uns den Blick in die Werkstatt seines Schaffens aufgethan, indem er die Worte sprach: „Meine Art ist von jeher gewesen, dasjenige, was mich erfreute oder quälte oder überhaupt beschäftigte, in ein Bild, in ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzuschließen, um sowohl meine Begriffe von den äußeren Dingen zu berichtigen, als mich selbst im Inneren darüber zu beruhigen.“ Da haben wir das eigentliche Geheimniß von Goethe’s Art zu dichten, wie sie von Anfang bis zu Ende sich manifestirte. Aber es mußte [131] dazu noch „ein warmschlagendes, von einer Empfindung ganz volles Herz“ kommen; denn dieses, hat er in seinem Götz gesagt, machte den Dichter, und im Vorspiel zum Faust führte er den Gedanken dann weiter aus in den herrlichen Versen:
„Wodurch bewegt der Dichter alle Herzen?
Wodurch besiegt er jedes Element?
Ist es der Einklang nicht, der aus dem Busen dringt
Und in sein Herz die Welt zurückeschlingt?
Wenn die Natur des Fadens ew’ge Länge
Gleichgültig drehend auf die Spindel zwingt,
Wenn aller Wesen unharmon’sche Menge
Verdrüßlich durcheinander klingt:
Wer theilt die fließend immer gleiche Reihe
Belebend ab, daß sie sich rhythmisch regt?
Wer ruft das Einzelne zur allgemeinen Weihe,
Wo es in herrlichen Accorden schlägt?
Wer läßt den Sturm zu Leidenschaften wüthen?
Das Abendroth im ernsten Sinne glüh’n?
Wer schüttet alle schönen Frühlingsblüthen
Auf der Geliebten Pfade hin?
Wer sticht die unbedeutend grünen Blätter
Zum Ehrenkranz Verdiensten jeder Art?
Wer sichert den Olymp, vereinet Götter?
Des Menschen Kraft, im Dichter offenbart.“
Die Summe des Gesagten ist, daß „Die Laune des Verliebten“ und „Die Mitschuldigen“ ihres Mangels an Ursprüngkeit ungeachtet doch den Anfang von Goethe’s dichterischer Laufbahn markiren, insofern er darin Erlebtes poetisch zu gestalten unternahm. Die beiden Stücke kündigen seinen dichterischen Realismus an. Das auszeichnende Merkmal seines Schaffens ist ja gewesen, daß bei ihm die bewegliche Phantasie allzeit durch ein beherrschendes Gefühl für die Wirklichkeit und ihre Erscheinungen gezügelt wurde. Deshalb vermochte er wirkliche Menschengestalten, unvergänglich-realpoetische Figuren hinzustellen. Für die schönste Frucht von Goethe’s Aufenthalt in Leipzig müssen wir übrigens das „Liederbüchlein“ ansehen, welches daselbst 1770 ohne Nennung seines Namens gedruckt wurde. In diesen zwanzig Liedern und Liederchen hören wir zwar noch nicht den Vollton goethe’scher Lyrik, doch klingt in denselben, wenn auch erst schüchtern und unsicher, schon der Brustton dieser Lyrik an.
Die Leipziger Studentenzeit endigte jedoch für den jungen Dichter in unerquicklichster Weise. Eine bis zur Lockerheit gehende Unregelmäßigkeit der Lebensführung, insonderheit das viele Trinken von schwerem Merseburger Bier, sodann auch übermüthig-thörichte Versuche, die gerade in die Mode gekommene Rousseau’sche Lehre von einer Rückkehr in den Naturzustand kraftgenialisch zu prakticiren, – das alles hatte seine sonst so kernhafte Gesundheit ernsthaft angegriffen. Eines Nachts im Sommer von 1768 bekam er einen heftigen Blutsturz, und nur mit Mühe wurde der Kranke gerettet. Seine Heilung ging aber langsam vorwärts und noch lange peinigte ihn namentlich eine hartnäckige Geschwulst am Halse. Noch sehr leidend und mit tiefverstimmtem Gemüthe verließ er am 28. August 1768, an seinem neunzehnten Geburtstage also, Leipzig, um in das elterliche Haus heimzukehren.
[192]Unseres jungen Adlers erster Ausflug in die Welt war demnach mißlungen: nicht zwar mit gebrochenen, aber doch mit halbgeknickten Schwingen ist er in’s elterliche Nest zurückgekehrt. Der Vater vermochte beim Willkomm eine beträchtliche Verlängerung seines Gesichtes, die Mutter den Ausdruck der Angst und Bekümmerniß nicht zu verhalten. Freude über das Wiedersehen des Bruders unter solchen Umständen zeigte nur die Schwester Cornelia; zunächst, weil sie, seit Wolfgang’s Entfernung der alleinige Gegenstand von Herrn Johann Kaspar’s Pädagogarchie, hoffen mochte, daß ihr daher rührender Schmerz jetzt wieder nur noch ein halber, weil getheilter, sein würde. Das Mädchen ist ein seltsames, zweifelsohne krankhaft, seelisch-krankhaft angelegtes Wesen gewesen: liebebedürftig, glücksuchend, aber nicht dazu angethan, weder glücklich zu machen noch glücklich zu sein. Dermalen voll Verbitterung gegen den Vater, den sie höchst ungerecht beurtheilte, und ohne innige Beziehung zur Mutter, wandte sie sich mit fast leidenschaftlicher Zärtlichkeit dem kranken Bruder zu, welcher, dieser Theilnahme froh, natürlich auch nichts that, um der Schwester ihre Grillenhaftigkeit abzugewöhnen.
Die Genesung des Leidenden zog sich lange hinaus, die mancherlei Rückfälle eingerechnet, bis in den Frühling 1770. Es war eine trübe Zeit für Wolfgang; nur dann und wann brach ein Lichtstrahl der Anregung, der Hoffnung, der Genugthuung durch das Gewölke körperlicher Leiden und geistigen Unbehagens. Die ernste Miene des Vaters war dem Sohne ein Vorwurf, die Sorge der Mutter ein Leid, das heftig bewegte Wesen der Schwester doch auch keine rechte Erquickung. Die Erinnerungen an die mannigfache geistige Reg- und Strebsamkeit Leipzigs machten den jungen Mann ungerecht gegen seine Vaterstadt, welcher er Bildungsmangel und deren Frauenwelt insbesondere er Anmuthslosigkeit vorwarf. Letzteres wohl nur, weil ihm die Anmuth des Leipziger Aennchen-Kätchens noch immer in der Seele umging. Auch dann noch und nur um so mehr, nachdem sich das geliebte Mädchen mit einem Andern verlobt hatte. In einem seiner Briefe an die also ihm Verlorene brach er in die Worte aus:
„Es ist eine gräßliche Empfindung, seine Liebe sterben zu sehen. Ein unerhörter Liebhaber ist lange nicht so unglücklich als ein verlassener; der erstere hat noch Hoffnung und fürchtet wenigstens keinen Haß, der Andere, ja der Andere – wer einmal gefühlt hat, was es ist, aus einem Herzen verstoßen zu werden, das sein war, der mag nicht gern daran denken, geschweige davon reden.“
Noch zu Ende des Jahres 1769 hatte er den Verlust nicht verschmerzt. Käthchen beantwortete im Freundschaftstone seine Briefe. Aber im December schrieb er:
„Ich mag Ihre Handschrift nicht mehr sehen, so wenig als ich Ihre Stimme hören möchte; es ist mir leid genug, daß meine Träume so geschäftig sind.“
Es bedurfte einer neuen, mächtigeren Liebe, um die Erinnerung an das reizende Käthchen aus seinem Wachen und Träumen wegzuwischen. Dermalen, in der seinem zweiten Ausfluge in die Welt vorhergehenden Zwischenzeit, war er auch als Wachender gar viel in träumerischer Stimmung. Das kam insonderheit daher, daß er, dem sanften Zwange von seiten seiner altjungferlich schönseligen Freundin Susanna Katharina Klettenberg nachgebend, angelegentlich mit religiösen Fragen sich zu schaffen machte, im Labyrinth der Theosophie und Mystik, der Kabbalistik und Alchymie herumdämmerte und, ohne es selbst zu wissen, gar nicht unbedeutende Vorstudien zum „Faust“ trieb. Glückskindern muß eben Alles förderlich sein, während Unglücklichen Alles zum Mißgeschicke sich wendet.
Sein Unbehagen am Vaterhause und an der Vaterstadt suchte unser langsam Genesender in der Beschäftigung mit physikalischen und chemischen Experimenten zu vergessen. Die dichterische Hervorbringung war wenig ausgiebig: an der Handschrift der beiden aus Leipzig mit heimgebrachten Lustspiele wurde herumgefeilt, dann und wann ein weltlich Lied – etwa ein Hochzeitlied für Käthchen – entworfen oder auch im Sinne der Freundin Susanna Katharina ein geistliches gedichtet. So eins ist uns erhalten und zeigt uns, wie der junge Poet die ihm überkommenen christlich-frommen Anschüttungen pantheistisch zu durchgeistigen und die Sehnsucht und den Schmerz der Creatur schon mit echt Goethe’scher Gefühlsinnigkeit auszusprechen wußte:
„O, laß doch immer hier und dort
Mich ewig Liebe fühlen!
und möcht’ der Schmerz nicht also fort
Durch Nerv und Adern wühlen.
Könnt’ ich doch ausgefüllt einmal
Von Dir, o Ew’ger, werden –
Ach, diese lange tiefe Qual
Wie dauert sie auf Erden!“
Wie ein heller und warmer Sonnenblick fiel in diese Frankfurter Wolkenzeit die Begegnung Wolfgang’s mit einem großen Manne. Pasquale Paoli, der Held und Ordner der corsischen Republik, kam, nachdem er seine geliebte Heimathinsel der Uebermacht französischer Eroberungsgier hatte erliegen sehen müssen, auf seinem Wege in’s Exil 1769 durch Frankfurt. Hier sah ihn Goethe im Bethmann’schen Hause und konnte den Eindruck gewinnen, daß groß sein unglücklich sein heißt. Nahezu vierzig Jahre später sollte er vor einen corsischen Heros von ganz anderem Schlage hintreten und einen nicht minder bedeutenden Eindruck machen, als empfangen. Denn von jenem 2. October von 1808 an, wo Napoleon, der corsische Schlachtenkaiser, zu Erfurt mit dem deutschen Dichterkaiser so scharfsinnig über dessen Werther verhandelte, beugte sich Goethe ehrfurchtsvoll vor dem Genie des großen Despoten, wie sich dieser vor dem Genie des Dichters gebeugt hatte, indem er auf den in Erfurt von ihm Weggehenden wies mit dem echt napoleonischen Wort an seine Marschälle und Minister. „Voilà un homme!“
An ihrem bekanntlich grundverschiedenen Urtheil über Napoleon kann man, beiläufig bemerkt, auch wieder den Unterschied zwischen Goethe und Schiller messen, welcher letztere dem Eroberer von Anfang an abgewandt war und abgewandt blieb, weil er in demselben die „reinmenschlichen Züge“ vermißte. Er faßte die Erscheinung Napoleon’s subjectiv und ethisch. Goethe dagegen objectiv und ästhetisch. Was Goethes Urtheil vornehmlich bestach, war zweifelsohne der kosmopolitische Schein, welchen sich der Kaiserkomödiant zu geben verstand. Der Kosmopolitik fühlte sich ja unseres Dichters eigenste Natur allzeit wahlverwandt; denn obzwar er beim wirklichen Beginne seiner Laufbahn einen nationalen Anlauf nahm – „Götz von Berlichingen“ – so ist doch bald die Weltbürgerei seine Politik geworden und bis zu seinem Ende geblieben, gerade wie in vollständiger Parallele der Pantheismus seine Religion ward und blieb. Schillers Weg ging in umgekehrter Richtung: er hob mit leidenschaftlicher Weltbürgerlichkeit an und endigte als glühender Patriot. Dem Auge des Sehers, welcher all seiner Subjectivität zum Trotze den geschichtlichen Gestalten und Ereignissen doch tiefer auf den Grund sah als Goethe, entging es nicht, daß der napoleonische Kosmopolitismus nur die einer grenzenlosen, weltverschlingungsgierigen Selbst- und Herrschsucht vorgesteckte Maske war, und je deutlicher Schiller das erkannte, um so stärker fühlte er sich getrieben, auf den Gedanken des Vaterlandes sich zu stellen, als auf den festen Boden, auf welchem allein die theuersten Güter der Nation gegen eine wie ein tolles Feuer um sich fressende Fremd- und Zwingherrschaft vertheidigt werden könnten. Das ist der Sinn jenes schönsten Testaments, welches jemals ein Prophet seinem Volke hinterlassen hat, der Sinn von Schillers „Tell“ …
Derweil hatte Herr Johann Kaspar immer deutlicher zu merken gegeben, daß ihm des Sohnes dichterische, künstlerische, theosophische und naturwissenschaftliche Anwandlungen, Neigungen und Strebungen schon recht seien, daß es aber denn doch an der Zeit wäre, auch für die Praxis des Lebens etwas Ernstlicheres zu thun und demzufolge die unterbrochene Juristerei wieder aufzunehmen. Der Wolfgang war, wenn auch [193] nicht gerade mit der Juristerei, so doch mit dem Gedanken einverstanden, seine Studien anderswo als im Vaterhause fortzusetzen, allwo es ihm gegen das Frühjahr von 1770 hin gar zu eng und immer, immer enger wurde. Sonderlich nach dem famosen Treppenstreit, welchen er mit dem Vater hatte, der über des Sohnes Rath, die Haustreppe nach Leipziger Manier aufzubauen, „in einen unglaublichen Zorn gerieth, der um so heftiger war, als ich kurz vorher einige schnörkelhafte Spiegelrahmen getadelt und gewisse chinesische Tapeten verworfen hatte“. Unter solchen Umständen kam der Sohn dem väterlichen Wunsche und Willen, nach Straßburg zu gehen, um an dortiger Universität die Jurisprudenz zu absolviren, unweigerlich nach. Die aus Leipzig eingetroffene Nachricht von Käthchens Hochzeit mag ihm das Bedürfniß nach einer physischen und moralischen Luftveränderung noch fühlbarer gemacht haben. Es trieb ihn fort. Am 2. (oder 4.) April langte er in Straßburg an, stieg im Gasthause „Zum Geist“ ab und eilte sofort zur Plattform des Münsters hinauf, um auf den gothischen Koloß, die herrliche Schöpfung Erwin von Steinbach’s, wie auf das schöne, zwischen die Vogesen und den Schwarzwald eingebettete allemannische Stück Erde einen ersten erstaunten und entzückten Blick zu werfen.
Es ist bekannt, daß der Straßburger Münster in unserem jungen Dichter jene heißauflodernde Begeisterung für altdeutsche Art und Kunst wachrief, die sich während seines Aufenthalts im Elsaß mündlich und schriftlich im Kraftgeniestil ausließ, aber nicht lange währte, sondern später geradezu in Abneigung umschlug, je mehr das Hellenische in Goethe’s Wesen zur Reife gedieh. Doch hat er noch in alten Tagen mit jugendlicher Wärme der Wirkung von Erwin’s „Wunderwerk“ gedacht, welches er „als ein Ungeheures gewahrte“, das ihn „hätte erschrecken müssen“, wenn es ihm „nicht zugleich als ein Geregeltes faßlich und als ein Ausgearbeitetes sogar angenehm vorgekommen wäre“.
Nachdem er ein „kleines, aber wohlgelegenes und anmuthiges“ Quartier an der Sommerseite des Fischmarktes – in dem Hause, welches heute die Nummer 80 führt – bezogen hatte, gab er seine Empfehlungsbriefe ab, deren Adressen, wie es scheint, vorzugsweise an „Fromme“ gerichtet waren. Unser junger Stürmer und Dränger – denn ein solcher wurde der Wolfgang in Straßburg so recht – hatte aber den Verkehr mit dieser Menschensorte bald satt, denn, schrieb er an die gute Klettenberg daheim, „sie sind so von Herzen langweilig, daß es meine Lebhaftigkeit nicht aushalten konnte“. Mit all der schön-seeligen Conventikelei war es jetzt überhaupt aus und vorbei für immer.
Straßburg ist zu jener Zeit noch eine im Grunde ganz deutsche Stadt gewesen. Der officielle französische Firniß haftete eben nur an der Oberfläche, während das Wesen der Bewohnerschaft in Sprache und Sitte als deutsch sich kundgab. Die Straßburger Bürgertöchter trugen auch zumeist noch die deutsch-elsässische Landestracht, welche draußen auf dem Lande noch ganz obenauf war. Die große Apostasie, welche die Straßburger nachmals an ihrer Nationalität begangen haben, hob erst mit der französischen Revolution an; ja, die systematisch und consequent betriebene Verwelschung der Elsässer begann sogar erst mit dem zweiten Empire schandbaren Andenkens. Wer damals, im Jahre 1770, hätte ahnen können, geschweige sagen wollen, daß gerade nach hundert Jahren die deutsche Fahne wieder von der Spitze, von Erwin’s wie versteinerte Himmelssehnsucht in die Lüfte steigendem Riesenthurme flattern würde!
Aber heute muthet es uns doch wie ein glückliches Vorzeichen an, daß von der Stadt aus, wo im Mittelalter Gottfried gedichtet und Erwin gebaut hatte, von der Stadt aus, welche dann mittelst schnödester französischer Tücke, mittelst ruchlosesten Verraths – bei welchem natürlich ein deutscher Bischof, Seine Hochwürden Gnaden der Herr Egon von Fürstenberg, ein Hauptmitspieler war – dem deutschen Reiche entrissen wurde, der deutscheste Dichter seinen Siegesgang in die Unsterblichkeit angetreten hat, und unschwer erhebt sich unsere Phantasie zu der Vorstellung, daß es ein Protest gegen die Verfranzosung gewesen, wenn Goethe seinen Namen auf der Plattform des Münsters in den Stein meißelte, und daß der Geist des Riesenbau’s die Berührung durch einen ebenbürtigen Genius gespürt habe, wie beim Uhland geschrieben steht:
„Einst klomm die luft’gen Schnecken
Ein Musensohn hinan,
Sah aus nach allen Ecken,
Hub dann zu meißeln an.
Von seinem Schlage knittern
Die hellen Funken auf,
Den Thurm durchfährt ein Zittern
Vom Grundstein bin zum Knauf.“
Also von Straßburg aus hätte unser Olympier seinen Siegesgang in die Unsterblichkeit angetreten? Ja, so that er. Nicht allein darum, weil der Aufenthalt in dieser Stadt den Abschluß der eigentlichen Lehrjahre Goethe’s brachte und er hier Anregungen empfing, welche sein jetzt anhebendes eigenartiges, Goethe’sches Schaffen bedeutsamst beeinflußten, sondern auch und mehr noch deßhalb, weil er draußen in Sesenheim jene Glückstage, wohl überhaupt die sonnigsten Fest- und Feiertage seines Daseins erlebte, welche ihn zum Dichter machten. Denn was macht den Dichter? Ein „warmschlagendes, von einer Empfindung ganz erfülltes Herz“, giebt er uns selber zur Antwort und, fürwahr, nie hat sein Herz wärmer geschlagen, nie ist es voller gewesen von einer Empfindung als damals, wo es für Friederike Brion schlug und voll war von dieser schönsten Liebe seines Lebens.
Für das geistige Wachsthum Wolfgang’s sind die anderthalb Straßburger Jahre von höchster Wichtigkeit gewesen. Namentlich in Folge der Einwirkung Herder’s, welcher im September 1770 nach Straßburg kam, zu längerem Aufenthalt, maßen er, an einer Thränenfistel leidend, sich dort einer Operation unterziehen wollte und wirklich unterzog. Das Verhältniß der Beiden ist vom Anfang bis zum Schluß ein seltsames gewesen: sie zogen sich gegenseitig kräftig an und stießen sich auch wieder heftig ab. Herder, der schon ursprünglich ein gut Theil theologischen Unfehlbarkeitbewußtseins in sich trug, hat es später nicht verwinden können, daß Goethe so hoch über ihn hinausgewachsen war. In Straßburg jedoch behandelte Herder den jungen Freund, der sich ihm vertrauensvoll-enthusiastisch genähert hatte, sehr von oben herab und stellte sich zu demselben durchweg als der Meister zum Schüler. Dies mit Grund. Denn Herder’s Wissen war viel reicher und reifer, und er hatte bereits einen geachteten Stand und Namen in der Literatur. Er war der Fortsetzer der großartigen kritischen Thätigkeit Lessing’s, aber der Herder’sche Kriticismus ging im Sturmschritt gegen die Schanzen und Burgen der deutschen Verzopfung an, um eine derselben nach der andern siegreich niederzuwerfen. So mächtig und wirkungsreich war Herder’s Kritik, weil sie das Feingefühl eines universalen Verständnisses und den Herzschlag der Poesie besaß, obzwar der Mann als Poet weit, weit unter seinem großen Vorgänger Lessing stand. Aber die Herder’sche Kritik verstand in Folge ihrer angedeuteten Eigenart nicht nur das Zerstören, das Niederreißen und Aufräumen, sondern sie wußte auch anzugeben, wie man schaffen und bauen müßte und könnte.
Herder ist recht eigentlich einer der wirksamsten Initiatoren jener Epoche unserer Nationalliteratur gewesen, welche man nach dem Titel von Friedrich Maximilian Klinger’s kraftgenialischem Schauspiel „Sturm und Drang“ ganz passend die Sturm- und Drangzeit benannt hat. Die Grundstimmung dieser Zeit, das heißt also der siebziger und achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, war durchweg revolutionär und rebellisch. Das jüngere Geschlecht war von einer grenzenlosen, von einer verzehrenden Unruhe ergriffen, der Bruch mit allem Verlebten und Veralteten die allgemeine Losung. Das Vorgefühl ungeheurer Umwälzungen hing in der Luft, ja die Reihe derselben hatte mit den ersten demokratisch-freiheitlichen Regungen und Strebungen in den englischen Colonien von Nordamerika bereits thatsächlich angehoben; Voltaire hatte den skeptischen Witz zu einer culturhistorischen Macht potenzirt, wie die Welt sie noch nie gesehen, und hatte, ein „trefflicher Minirer“, das ganze Fundament des Kirchenglaubens unterhöhlt. Die dadurch in den Gemüthern entstandene Leere füllte dann Rousseau aus mit den blendenden Illusionen seiner glühend beredsamen Natur- und Freiheitspredigt. Wie diese frohe, aber in innerster Seele hohle Botschaft zündete, ist allbekannt. Sie zündete so, daß in Frankreich schon alle die einzelnen Feuer aufloderten, welche so bald zu dem allgemeinen Brande einer politischen Revolution zusammenflammten, während dagegen in Deutschland, wo die gegebenen Verhältnisse einen [194] solchen gewaltsamen politischen Vorsprung rein unmöglich machten, eine geistige und moralische, eine literarische Revolution sich vollzog, welche, vollständig dem deutschen Nationalcharakter angemessen, auf die Erringung der Freiheit des Fühlens und Denkens abzielte, auf die Erlösung des Individuums aus den Fesseln des hergebrachten Wahns und der dogmatischen Satzung und demnach auf die Emancipation des Menschen ausging, an die Stelle des Theologismus den Humanismus, an die Stelle der literarischen Abhängigkeit, Convenienz und Nachahmung das Selbstgefühl, die geniale Kraft und die originale Hervorbringung setzte und die Deutschen über den Jammer ihrer staatlichen Zerrissenheit und Nullität in das idealische Wolkenkukuksheim des Weltbürgerthums emporhob, wo sie sich damit trösteten, daß
„Wer die Sache der Menschheit als seine eigne betrachtet,
Hat an der Götter Geschäft, hat am Verhängnisse Theil.“
Herder nun war wie eigens dazu geschaffen, zwischen dem kritischen Erkennen und dem originalen Hervorbringen den begeisterten und energischen Vermittler abzugeben. Hätte er auch weiter nichts gethan als so aufhellend und wegzeigend auf den jungen Goethe eingewirkt, wie er auf denselben in Straßburg einwirkte, schon das wäre ein unvergängliches Verdienst. Unser Springinsfeld von flottem Studenten merkte gar bald, wie befruchtend und fördernd für ihn dieser Umgang sei, und ließ sich deshalb die hypochondrischen Schroffheiten Herder’s, welcher gerade zu jener Zeit das gramschwere Wort sprach, sein Leben sei nur „eine wildverworrene Schattenfabel“, mit ziemlich guter Miene gefallen. Der herbe Lehrmeister brachte ihm das Gefühl bei, daß eigentlich doch Alles, was er bislang dichterisch versucht hatte, nur Quark und Trödel sei. Herder lehrte ihn mittelbar in die eigene Brust schauen, indem er ihn überall auf das Ursprüngliche, Eigenwüchsige, Naturfrische und Volksmäßige hinwies. Er that für Goethe im Besonderen, was er für die deutsche Literatur im Allgemeinen gethan hat, das heißt, er vollendete die Befreiung des jungen Dichters von der französischen Kunstregel. Er schloß ihm die Poesie der Bibel, die Welt Homer’s, Shakespeare’s und Ossian’s auf. Zwar der Geist der homerischen Gesänge ist erst später, in Italien, dem Vater der Dorothea so recht aufgegangen; aber Shakespeare ergriff ihn schon jetzt mit der Vollgewalt seines souveränen Zaubers.
Auch Ossian, dessen Sang von Selma er prächtig übersetzte und dessen epische Elegik eines der einflußreichsten poetischen Motive jener Zeit wurde, die nicht wußte, daß die angeblichen ossian’schen Gesänge von dem Herausgeber Macpherson selber gedichtet waren. Das gewaltige Ergriffensein Goethe’s von Shakespeare und von Ossian zeigen die beiden Manifeste, womit er sein Auftreten als Nationaldichter ankündigte, der Götz und der Werther. Zugleich mit der Wertherstimmung war dann auch der Ossian für ihn abgethan. Nicht so mit der Götz’schen Kraftgenielaune zugleich der Shakespeare. Zu diesem hat er, wie er bescheiden bekannte, sein Lebenlang emporgeblickt „wie zu einem Wesen höherer Art“, obzwar dem Schöpfer des Lear der Schöpfer des Faust vollberechtigt als Ebenbürtiger sich zur Seite stellen durfte.
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Es war eine sonderlich gemischte Studenten- und sonstige Junggesellensippschaft, welche an dem Mittagskosttische der beiden ehrenwerthen alten Jungfern Lauth in der Krämergasse Nr. 13 sich zusammenfand und willig den wackeren Actuarius Salzmann als ihren Präses anerkannte. In Wahrheit, der gute und verständige Mann hat bei diesen frugalen Symposien die Rolle des Sokrates innegehabt. An ihn reihten sich die Studenten Lerse, Weyland, Engelbach, Meyer von Lindau, Melzer, Waldberg und der sanftmüthige, fromme Jung-Stilling, der nach Straßburg gegangen war, um sich in der Augenheilkunde zu vervollkommnen. Auch der kraftgeniemäßig sich räuspernde und spuckende Poetaster Heinrich Leopold Wagner gehörte diesem Kreise an, sowie demselben zu Anfang des Jahres 1771 der aus Lievland gekommene Reinhold Lenz beitrat, der geniale Irrwisch, der es leider im Leben und im Dichten nur bis zum Irrlichteliren gebracht hat. Alle diese Tischgenossen waren mehr oder minder von dem in die Zeit gefahrenen Sturm und Drang angefaßt und zollten, jeder in seiner Art, dieser Zeitstimmung ihren Tribut. Gemeinsam war ihnen die Begeisterung für die deutsche Sprache und ein weiteres Bindband wurde für die meisten der Enthusiasmus für
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Shakspeare, dessen Geltung unter ihnen „bis zur Anbetung“ ging. Glückliche Menschen von damals, die ihr noch verehren, anbeten, lieben konntet! Uns Nachgeborenen ist nur die Verneinung, die Kritik und der Haß geblieben.
Ein echthuman liebevoller Zug ging durch die Kraftgenialität unseres Straßburger Studenten Goethe. War da der gute Jung-Stilling mit seinem Mitankömmling und Freunde Trost zum erstenmale zur Tafelrunde bei den ehrsamen Jungfern Lauth erschienen. „Wir waren zuerst da,“ erzählt er uns, „und man wies uns unsern Ort an. Es speisten ungefähr zwanzig Personen an diesem Tisch und wir sahen einen nach dem anderen hereintreten. Besonders kam einer mit großen hellen Augen, prachtvoller Stirn und schönen Wuchses muthig in’s Zimmer. Wir wurden gewahr, daß man diesen ausgezeichneten Menschen Herr Goethe nannte, glaubten aber, daß wir viel Verdruß mit ihm haben würden, da ich ihn für einen wilden Kameraden ansah. Herr Trost sagte leise zu mir: ‚Hier ist’s am besten, daß man vierzehn Tage schweigt.‘ Wir schwiegen also; es kehrte sich auch niemand sonderlich an uns, außer daß Goethe zuweilen seine Augen herüberwälzte. Er saß mir gegenüber und er hatte die Regierung am Tische, ohne daß er sie suchte.“
Er war aber ein guter Tischregent, wie Stilling sofort erfuhr. Unser der Augenheilkunde beflissener Neuling hatte statt einer modischen „Beutelperücke“ eine runde auf. An dieser stieß sich der spottlustige Mediciner Waldberg, welcher vielleicht in dem „Fuchs“ mit der runden Perücke noch dazu einen der „Stillen im Lande“ erkennen mochte. Fragte daher plötzlich über den Tisch herüber: „Was meint Ihr, hat wohl Adam im Paradiese auch eine runde Perücke getragen?“
Darauf wurde der Stille sofort laut, denn das hieß ja nicht nur seiner, sondern auch der Heiligen Schrift spotten. „Schämen Sie sich,“ sagte er muthig aus seiner runden Perücke heraus, „ein solcher Einfall ist nicht werth, daß er belacht werde.“
Das fanden freilich die anderen nicht, denn alle lachten herzlich bis auf Salzmann und Goethe. Der „wilde Kamerad“ nahm sich sogar des Verspotteten offen und tapfer an, indem er dem Spötter die geflügelten Worte zurief: „Probire doch erst einen Menschen, ob er des Spottes werth sei. Es ist teufelsmäßig, einen rechtschaffenen Mann, der Keinen beleidigt hat, zum besten zu haben!“
Wie das dem Stilling wohlthat! Von Stund’ an hat er sich mit der ganzen Anschmiegsamkeit seines Wesens seinem Beschützer angeschmiegt.
Diese Kosttischscene zeigt uns deutlich genug, daß unseres Wolfgangs Auftreten schon damals überall ein siegreiches gewesen ist. Er war ein prächtiger Junge. Es ist uns bezeugt, daß, wenn er zu Straßburg in eine Gaststube trat, die Gäste Messer und Gabeln ruhen ließen und die erhobenen Gläser niedersetzten, um des Jünglings apollonische Schönheit anzustaunen; diese schlanke, mannhafte, breitbrüstige Wohlgestalt, diesen edelgeformten, auf kräftigem Nacken leicht sich wiegenden Kopf, diese hohe, breite, freie Stirn mit den langen schön geschwungenen Brauen, unter denen die mächtig großen braunen Augen ihr olympisches Feuer hervorstrahlten, die kühn vorspringende, aber fein modellirte Nase, das energische Kinn, die frischen, vollen, rothen Lippen, deren wohlwollendem, schalkhaftem oder zärtlichem Lächeln zu widerstreben die Frauen so schwer, wenn nicht unmöglich fanden. Ach ja, die Frauen und, selbstverständlich, auch die Mädchen, die „Maidle“, wie Goethe in seinen Straßburger Briefen sie mitunter auf gut elsässisch nannte. So hat auch jene junge Französin Lucinde, von deren Vater unser Student in die höhere Tanzkunst sich einweihen ließ, die Unwiderstehlichkeit des Goethe’schen Lächelns schmerzlich erfahren. Es muß ein wild-dramatischer Auftritt gewesen sein, als die auf ihre jüngere Schwester Emilie Eifersüchtige den leidenschaftlich geliebten jungen Mann „ganz eigentlich beim Kopfe faßte“ und – Goethe spricht – „mir mit beiden Händen in die Locken fuhr, mein Gesicht an das ihrige drückte, mich zu wiederholten malen auf den Mund küßte und ausrief: ‚Unglück über Unglück auf Diejenige, die zum erstenmal nach mir diese Lippen küßt! Wage es nun, Schwester, wieder mit ihm anzubinden! Und Sie, mein Herr, eilen Sie, was Sie können!‘“
Wir glauben dem also Fortumarmten und Weggeküßten gern, daß er die Treppe „hinunterflog mit dem festen Vorsatze, das Haus nicht wieder zu betreten“.
Nicht ganz unstatthaft dürfte die Vermuthung sein, daß dieses Muster von französischer Liebe mit dazu beigetragen haben könnte, den Wolfgang in seinen damaligen starkdeutschen Neigungen zu kräftigen. Jedenfalls fiel seine ganz entschiedene Abwendung von der französischen Literatur in diese Straßburger Zeit voll Sprossens, Tastens und Suchens. Er kehrte seine Blicke theilnahmevoll der Vergangenheit seines Volkes zu und hier blieben sie an der derbknochigen Rittergestalt des „Götz von Berlichingen“ haften, welcher in alten Tagen auf seiner Burg Hornberg am Neckar die Denkwürdigkeiten seiner so ziemlich raubritterlichen Laufbahn aufgezeichnet hatte. Es darf wohl ohne Widerrede angenommen werden, daß die Anfänge des Goethe’schen „Götz“ in Straßburg entstanden sind. Dagegen lassen sich schlechterdings keine Beweise beibringen für die Meinung, unser Dichter habe während seiner Straßburger Zeit so oder so auch schon mit den großen Problemen, welche in den nächsten Jahren gestaltungheischend an ihn herantraten, mit den Problemen „Faust“, „Prometheus“, „Ahasver“, „Mohammed“ sich getragen und beschäftigt. Die Juristerei wurde zwar auch hier, wie in Leipzig, nur so nebenbei getrieben; doch wurde sie getrieben im Hinblick auf den Wunsch und Willen des Herrn Vaters daheim, der da nicht leiden konnte, daß man seine Haustreppe umgebaut haben wollte und daß man seine Spiegelrahmen „schnörkelhaft“ und seine Tapeten zu „chinesisch“ fand. Jedenfalls aber hörte unser Student medicinische Vorlesungen mit mehr Antheil als seine berufswissenschaftlichen. Die Jurisprudenz hat ihn ja seinem Eingeständniß zufolge überhaupt nur soweit beschäftigt, als es galt, „die Promotion mit einigen Ehren zu absolviren“.
Zuvörderst galt es aber, einen ganz anderen Cursus zu absolviren, den Friederike-Cursus, welchen er im zehnten und elften Buche von „Dichtung und Wahrheit“ so reizend geschildert hat. Ja, als der alte Goethe diese Schilderung dictirte, da ist ihm das Herz jung geworden in der Brust und aufgegangen wie eine Blume im Frühlingssonnenlicht. Sein damaliger Geheimschreiber Kräuter hat bezeugt, daß der alte Herr, statt wie sonst beim Dictiren gleichmäßig im Zimmer hin und her zu gehen, zu jenen Stunden, wo ein Hauch der Erinnerung aus den Feldern und Wäldern von Sesenheim ihn umspielte, tiefergriffen stillgestanden sei und sein Dictat durch lange Pausen unterbrochen habe. Dann habe er sich die belastete Seele mittelst tiefen Aufseufzens erleichtert, um gedämpften Tones fortzufahren. Warum auch sollte er nicht tief ergriffen, warum nicht schmerzlich bewegt sein? Er mußte ja auch dann noch, in seinen alten Tagen noch fühlen, daß die Trennung von Friederike, die ihm so mit ganzer Seele zu eigen gewesen, wie es keine andere mehr ward, der große Unsegen seines Lebens geworden …
Wie unser zu schalkhaften Streichen stets geneigter Straßburger Student eines schönen Octobertages von 1770 im An- und Aufzug eines armen Teufels von Candidaten der Theologie mit seinem Kameraden Weyland nach Drusenheim hinüberritt, um von dort in’s Pfarrhaus des nahe gelegenen Sesenheim zu wandern und die bekannte Gastfreiheit des wackeren Pfarrers Johann Jakob Brion anzusprechen; item, wie den angeblichen Candidaten die Sesenheimer Pfarre sammt ihren Insassen – Vater, Mutter, drei Töchtern und einem Jungen – anmuthete wie Goldsmiths in die Wirklichkeit übersetztes Idyll vom „Vicar of Wakefield“ – ist allbekannt. Die noch nicht ganz sechszehnjährige Friederike Brion (geboren 1754) kam den Gästen etwas später vor Augen als die übrigen Mitglieder der Familie. Die Erinnerung, wie das herzige „Maidle“ zuerst seinen Augen sich darstellte, lebte unauslöschlich frisch und farbenhell in Goethe’s Seele fort. „Endlich trat sie in die Thür und da ging fürwahr an diesem ländlichen Himmel ein allerliebster Stern auf. Die Mädchen trugen sich noch deutsch, wie man es zu nennen pflegte, und diese Nationaltracht kleidete Friederiken besonders gut. Ein kurzes weißes rundes Röckchen mit einer Falbel, nicht länger, als daß die nettesten Füßchen bis an die Knöchel sichtbar blieben; ein knappes weißes Mieder und eine schwarze Taffetschürze: so stand sie auf der Grenze zwischen Bäuerin und Städterin. Schlank und leicht, als wenn sie nichts an sich zu tragen hätte, schritt sie einher und beinahe schien für die gewaltigen blonden Zöpfe des niedlichen Köpfchens der Hals zu [245] zart. Aus heiteren blauen Augen blickte sie sehr deutlich umher, und das artige Stumpfnäschen forschte so frei in die Luft, als wenn es in der Welt keine Sorge geben könnte. Der Strohhut hing ihr am Arm und so hatte ich das Vergnügen, sie beim ersten Blick auf einmal in ihrer ganzen Anmuth und Lieblichkeit zu sehen und zu erkennen.“
Was weiter sagen? Es hob an diesem Tage schon zwischen den Beiden das ewigalte und ewigjunge Spiel an von Augen, die sich suchen, von Herzen, die sich finden, von Händen, die einander zu fassen sich sehnen. Friederike’s Blauaugen ließen sich durch die ärmliche Candidatenmaske nicht irremachen: mit jenem scharfen Mädcheninstinct, welcher mitunter alle Erfahrungen einer Frau an Treffsicherheit übertrifft, mochte sie in dem schönen Fremdling den Götterliebling, den Auserwählten erkennen und hinwiederum muß ihre „Lieblichkeit“ in der That eine überwältigende gewesen sein. Denn unser Wolfgang brachte schon von diesem ersten Besuch in Sesenheim ein lichterloh brennendes Herz mit nach Straßburg zurück, von wo er am 15. October an Friederike schrieb: „Mein Aug’ fand im ersten Blick die Hoffnung zur Freundschaft in Ihrem und für unsere Herzen wollt’ ich schwören; Sie zärtlich und gut, wie ich Sie kenne, sollten Sie mir, da ich Sie so liebhabe, nicht wieder ein bißchen günstig sein?“ Ach ja, das arme Kind war ihm gut und günstig, nicht „ein bißchen“, aber sehr. Auch das Töchterlein des guten Pfarrers, dessen lange Predigten der Wolfgang mit himmlischer Geduld anhörte, weil im Kirchenstuhl neben der Geliebten sitzend, hatte Feuer gefangen, aber in der Liebenden ist diese Flamme erst im Tode erloschen. Charakteristisch und unserem lichterloh brennenden Dichter sehr zur Ehre gereichend war es, daß er, der von seiten der heißen Lucinde auf seine Lippen gelegten Verwünschung eingedenk, Bedenken trug, die Lippen des geliebten Mädchens mit den seinen zu berühren. Freilich währte dieser Scrupel nicht länger, als eben solche Scrupel zu währen pflegen. Mit dem Frühlingsanbruch von 1771 sproßte ein ganzer Friederike-Liederstrauß aus Wolfgangs Herz hervor, ein Strauß von Liedern, wie sie eben nur ein „von einer Empfindung ganz volles“ Dichterherz zu offenbaren vermochte. Manche dieser Friederikelieder gehören zu dem Innigsten, Zartesten und Feurigsten, was Goethe gedichtet hat. Wie hätte er auch anders dichten können in jenen sechs Frühlingswochen, welche er in Sesenheim verbrachte? War er doch, wie er vierzig Jahre später bekannte, „grenzenlos glücklich an der Seite Friederike’s, als deren Verlobter er stillschweigend anerkannt gewesen zu sein scheint. Es war da nahe bei der Pfarre ein Gehölz, welches das „Nachtigallwäldel“ hieß, weil die Nachtigallen, meinten die Sesenheimer Bauern, so darin „plärrten“, daß man Nachts nicht schlafen konnte. Hierher sind Wolfgang und Friederike gewandelt, um, wie er angiebt, „durch die herzlichste Umarmung und die treulichste Versicherung einander zu sagen, daß sie sich von Grund aus liebten“. Sehr begreiflich und verzeihlich unter solchen Umständen, scheint mir, daß „alle hypochondrischen und abergläubischen Grillen“, Lucinde und ihre Verwünschung dem Liebenden entschwanden und er seine „so zärtlich Geliebte recht herzlich zu küssen nicht versäumte, auch die Wiederholung dieser Freude sich nicht versagte.“
Aber nicht nur „unter Palmen“, sondern auch unter den Buchen des Nachtigallwäldels von Sesenheim wandelt man nicht ungestraft. Dem Menschen, wie er nun einmal ist, wird ein volles, reines, ungestörtes Glück gar nicht beschieden. Es muß so sein; denn wäre es nicht so, würde der Mensch vor Uebermuth toll werden. Das schwarze Verhängniß, welches allezeit selbst über den augenblicklich Glücklichsten drohend hängt, ist für das Gleichgewicht der Menschenseele ebenso nothwendig wie für das Gleichgewicht des Menschenleibes der Druck der Atmosphäre. Ein Gefühl, daß die Blüthen des Sesenheimer Liebesfrühlings welken müßten, macht sich mitunter schon in den Briefen hörbar, welche der glückliche Wolfgang aus Sesenheim nach Straßburg an Salzmann schreibt:
„Ich fühl’ es, lieber Freund, daß man um kein Haar glücklicher ist, wenn man erlangt, was man wünscht. Die Zugabe! die Zugabe! die uns das Schicksal zu jeder Glückseligkeit dreinwiegt! Es gehört viel Muth dazu, in der Welt nicht mißmuthig zu werden!“ …
Die Zugabe, die Zugabe, ja wohl! Goethe’s Biographen und Beurtheiler haben sich viele Mühe gegeben, den Sinn dieses Wortes herauszubringen. Einer (Viehoff) will darunter verstanden wissen „das tiefe Gefühl des Dichters, daß es ein Treubruch an sich selbst wäre, wenn er seine Seele so frühe und für immer in diese idyllisch begrenzte Sphäre einschränkte“. Ein zweiter (Schäfer) findet in der „Zugabe“ die „Erkenntniß, daß diese Liebe nicht der Lebensinhalt für seinen hochstrebenden Genius sein könne“. Ein dritter (Düntzer) glaubt, die „Zugabe“ sei die „Einsicht gewesen, daß er nicht bestimmt sei, das wahre Glück der Liebe in ruhigem Besitze zu genießen“. Ein vierter endlich (Leyser) erklärt: „Es war das tiefe Gefühl des Abstandes zwischen Idee und Wirklichkeit, das ihn ergriff, die Klage, die so schmerzlich zu uns spricht aus den Gebilden unserer Dichter und Künstler, daß wir emporstreben nach unseren Idealen wie Adler nach der Sonne, wie Adler mit gebrochenen Fittigen.“ Zweifelsohne enthält jede dieser Ansichten ein Korn Wahrheit, aber nicht die ganze Wahrheit. Mir selbst hat der kalte Windstoß der Reflexion, wie er in des Dichters Aeußerung gegen Salzmann plötzlich die Blüthendolden des Sesenheimer Liebesfrühlings schüttelte, eine Stelle aus Goethe’s „Ewigem Juden“ im Gedächtniß wachgerufen, die Stelle, wo von Christus bei seinem zweiten Herabsteigen zur Erde gesagt ist:
„Er fühlt im vollen Himmelsflug
Der irdischen Atmosphäre Zug,
Fühlt, wie das reinste Glück der Welt
Schon eine Ahnung von Weh enthält.“
Das war es! Aber es war noch nicht Alles, und auch das Uebrige muß gesagt werden: – das Organ der Treue war in Goethe’s Seele wenig entwickelt und es widersprach der Wahrhaftigkeit seines Wesens, den von ihm geliebten Mädchen und Frauen auch dann noch Treue zu heucheln, wenn er die Nutzlosigkeit oder gar die Verderblichkeit seiner Leidenschaft eingesehen hatte. In seinem Verhältnisse zu Friederike war von Anfang an ein obzwar zuerst gar nicht beachtetes, aber doch thatsächlich störendes Moment gewesen: der Umstand, daß das liebe Kind „auf der Grenze zwischen Bäuerin und Städterin stand“. Die Convenienz ist nun einmal in der Welt, mit allen ihren Formen und Normen, und selbst der genialste Stürmer und Dränger, das titanenhafteste Kraftgenie kann sich an dieser „brutalen Thatsache“, so es gewaltsam gegen sie anstürmt, nur den Schädel einrennen. Das fühlte Goethe, welcher bei all’ seiner Phantasiefülle und all’ seinem Empfindungsüberschwang doch gar wohl wußte, daß es nur dummes Zeug absetzt, wenn man das Poetische in die Prosa der Wirklichkeit willkürlich übertragen will. Es ist vielleicht grausam zu sagen, aber wahr: es ist zweierlei, sehr zweierlei, ein holdes „Maidle“, wie die arme Friederike war, unter den Buchen des Sesenheimer Nachtigallwäldels zu küssen oder aber selbiges Maidle in seiner elsässischen Landestracht in das reichsstädtisch-patrizisch-ehrensteife Vaterhaus heimzuführen, allwo ein kaiserlicher Rath Johann Kaspar sehr viel auf Schnörkelrahmen und chinesische Tapeten hält. Aber die Frau Aja würde sich doch wohl leicht in die schöne und seelengute ländliche Schwiegertochter gefunden und geschickt haben? Vielleicht – vielleicht aber auch nicht. Frauen sind unberechenbar, und vollends Schwiegermütter! Das ganze Mißverhältniß zwischen seiner Leidenschaft und seiner Zukunft, zwischen seiner und der Geliebten socialen Stellung mußte unserem Dichter aufgehen, als im Sommer Friederike mit ihrer Mutter und Schwester zum Besuche bei Verwandten nach Straßburg hereinkam. Der Farbenschmelz des Sesenheimer Idylls mußte innerhalb der Stadtmauern erblassen; es konnte gar nicht anders sein. Die Harmonie von Friederike’s Erscheinung und Gebaren mit ihrer ländlichen Umgebung mußte in der städtischen zur Dissonanz werden; man kann das gar nicht bezweifeln. Goethe hat es allerdings nicht ausdrücklich anerkannt, daß ihn dieser Besuch zur Trennung von der Geliebten bestimmt habe; aber seine Aeußerung: „Endlich sah ich sie abfahren und es fiel mir wie ein Stein vom Herzen!“ spricht gewiß deutlich genug. Freilich, der Kampf zwischen Leidenschaft und Entsagung war damit keineswegs schon zu Ende gekämpft. Im Gegentheil, derselbe hob jetzt erst recht an.
Es steht fest, daß der Dichter niemals das entscheidende Fragewort an die Geliebte gerichtet und daß demnach auch niemals [246] ein förmliches Verlöbniß zwischen ihm und Friderike stattgefunden hat. Aber darum heuchelte er sich doch keineswegs vor, er hätte das geliebte Kind nicht zu den süßesten Hoffnungen ermuthigt. Friederike mußte des festen Glaubens und Vertrauens sein, der Heißgeliebte würde sie als seine Frau heimführen. Das wußte Goethe und dieses Wissen wurde ihm später zur bittersten Reuequal. Lange Jahre nachher hat er als sein Selbstankläger und Selbstanschuldiger gesagt: „Eine solche jugendliche auf Gerathewohl gehegte Neigung ist der nächtlich geworfenen Bombe zu verglichen, die in einer sanften glänzenden Linie aufsteigt, sich unter die Sterne mischt, ja einen Augenblick unter ihnen zu verweilen scheint, alsdann aber abwärts wieder dieselbe Bahn, nur umgekehrt, bezeichnet und zuletzt da, wo sie ihren Lauf geendet, Verderben hinbringt. Allein wie soll eine schmeichelnde Leidenschaft uns voraussehen lassen, wohin sie uns führen kann?“
Die Frage war und ist vollberechtigt. Die Leidenschaft schmeichelt dir erst den kleinen Finger, dann alle zehn Finger, dann den Arm ab, und bevor du es merkst, hat sie dich ganz. Sie ist der Fluch, aber sie ist auch der Segen des Menschendaseins. Was wäre dieses ohne sie für eine salzlose Posse! Die Leidenschaft schafft Leiden, gewiß; aber indem sie das thut, erhebt sie das weltgeschichtliche Satyrspiel zur Tragödie und macht den Kampf zwischen ihr und dem Schicksal zu einem „Schauspiel für Götter“.
Mitten in einem solchen Kampfe stehend, hat unser Student natürlich weder Muße noch Stimmung zu ausdauernder Arbeit gefunden. Auf fortgesetzte Vorstudien zum „Faust“ deutet die Lesung magischer und mystischer Scharteken hin. Wie weit etwa der erste Wurf des Götz noch in Straßburg getrieben worden sein mag, ist unnachweisbar, jedenfalls ist der Gedankengehalt des Aufsatzes „Von deutscher Baukunst“, welchen Goethe vor Jahresschluß 1771 zu Ehren Erwin’s von Steinbach im rauschenden Kataraktstil der Kraftgenialität niederschrieb, Straßburger Gewächs ganz und gar. Eine Notiz in dem kunterbunten Tagebuche, welches der Wolfgang zu Straßburg führte, kann uns glauben machen, er habe sich damals auch mit dem Gedanken beschäftigt, ein Cäsar-Drama zu dichten. Daneben wurde doch, um den leidigen Casus der Promotion endlich abzuthun, eine Dissertation in anständigem Latein zuwegegeschneidert über das Thema „Der Gesetzgeber ist nicht allein berechtigt, sondern auch verpflichtet, einen bestimmten Cultus festzusetzen, von welchem weder die Geistlichen noch die Laien sich lossagen dürfen.“ Diese hochconservativ-kirchenrechtliche Anschauung von Seiten des eigentlichen Löwen der Sturm- und Drangperiode hat etwas Verblüffendes, welches sich aber, ohne daß man von Goethe’s „aristokratischer Natur“ zu reden brauchte, leicht dahin erklären dürfte, daß es den jungen Löwen gejuckt habe, paradox zu brüllen. Dem Herrn Vater daheim, welchem das juristische Opusculum in sauberer Abschrift übermittelt wurde, gefiel dasselbe nicht übel; dagegen schüttelte ein wohlweiser Decan der Facultät den Kopf dazu und rieth unserm Candidaten, die Dissertation doch lieber zurückzuziehen und über anderweite Theses zu disputiren, um den Grad eines Licentiaten zu erlangen; denn um diesen, nicht um den Doctorgrad handelte es sich.
Goethe ist nur par courtoisie Doctor geworden, d. h. man nannte den Licentiaten so, und er ließ es sich gefallen, weil in seinen Augen der eine Titel gerade so viel werth war wie der andere, das heißt nichts. Unser Candidat stellte sechsundfünfzig „Positiones juris“ zusammen, die er in öffentlicher Disputation vertheidigen wollte. Die merkwürdigste dieser Thesen war wohl die dreiundfünfzigste („poenae capitales non abrogandae“, die Todesstrafen sind beizubehalten), weil sie ein Thema berührte, welches in der jurisprudenzlichen Welt auch heute noch heftig hin- und hergezerrt wird. Uebrigens war eine derartige Disputation dazumalen in Straßburg und anderwärts nur eine Formalität mit abgekarteter Rollenvertheilung, im Grunde der helle Jux. Die Goethe’sche ging am 6. August von 1771 im Thomanum, dem alten Universitätsgebäude, vor sich „wie geschmiert“, einer Ueberlieferung zufolge nicht ohne einen komischen Zwischenfall. Lerse nämlich habe zum Spaß als Respondent dem Disputanten so warm gemacht, daß dieser aus seiner Rolle und aus seinem Latein fiel und dem Bedränger deutsch zurief: „Ich glaube, Bruder, Du willst an mir zum Hektor werden!“
Zu Ende August’s verließ der neugebackene Herr Licentiat das Elsaß. Er ritt zuvor noch nach Sesenheim hinaus, zum bittersten Abschiede, den er wohl jemals genommen, zum Abschiede von der Geliebten, zu welcher er in der letzten Strophe eines seiner Friederiken-Lieder gesagt hatte:
„Fühle, was mein Herz empfindet,
Reiche frei mir Deine Hand!
Und das Band, das uns umwindet,
Sei kein schwaches Rosenband“ –
und die er nun zu verlassen kam. Kein Tadel, kein Vorwurf fiel von den Lippen Friederike’s. Dieses einfache Landmädchen scheint instinctiv gefühlt zu haben, daß es sich ziemte, das Glück und Unglück, von einem zur Unsterblichkeit Berufenen geliebt worden zu sein, mit stiller Würde zu tragen.
„Es waren peinliche Tage,“ erzählt der alte Goethe. „Als ich ihr die Hand vom Pferde reichte, standen ihr die Thränen in den Augen und mir war sehr übel zu Muthe.“ Sehr glaubhaft, fürwahr, daß ihm das Herz schwer in der Brust lag auf seinem Ritte gen Straßburg. Aber wer vermöchte zu sagen, wie schwer ihr das Herz in der Brust gelegen haben mag, als der heißgeliebte, treulose Reiter hinter den Bäumen von Sesenheim verschwand. Sie hat dieses schwere Herz bis zum 3. April von 1813 mit sich herumgetragen: da ist es ihr endlich leicht geworden im Tode. Und sie starb unvermählt, obzwar es ihr an Freiern keineswegs gefehlt hatte. Aber keiner hatte ihr Jawort gewonnen; denn, soll sie gesagt haben, „wer von Goethe geliebt worden, kann keinen Andern lieben!“ und dabei war sie verblieben.
Unser Herr Doctor Goethe, wie wir mit seinen Mitbürgern und Mitbürgerinnen den Licentiaten höflicher Weise betiteln wollen, kehrte von seinem zweiten Ausflug in die Welt kaum weniger flügellahm in das heimatliche Nest zurück, als er von seinem ersten zurückgekehrt war. Leiblich zwar ist er bei seiner Heimkehr von Straßburg wohlauf gewesen, nicht aber seelisch. Denn eine allzu begründete Reue nagte ihm an der Seele und als echter Dichter mußte er jetzo das Weh Friederike in ebenso gesteigertem Maße bitter empfinden, als er vordem die Wonne Friederike selig genossen hatte. Kaum im Vaterlande angelangt, schrieb er an die Verlassene und – meldet er – „die Antwort Friederike’s zerriß mir das Herz. Es war dieselbe Hand, derselbe Sinn, dasselbe Gefühl, die sich zu mir, die sich an mir herangebildet hatten. Ich fühlte nun erst den Verlust, den sie erlitt, und sah keine Möglichkeit, ihn zu ersetzen, ja nur ihn zu lindern. Sie war mir ganz gegenwärtig; stets empfand ich, daß sie mir fehlte, und was das Schlimmste war, ich konnte mir mein eigenes Unglück nicht verzeihen. Gretchen hatte man mir genommen, Aennchen mich verlassen, hier war ich zum erstenmal schuldig. Ich hatte das schönste Herz in seinem Tiefsten verwundet und so war die Epoche einer düsteren Reue bei dem Mangel einer gewohnten erquicklichen Liebe höchst peinlich, ja unerträglich. Aber der Mensch will leben –“
Ach ja, der Mensch will leben! Und er muß leben wollen, falls der geheimnißvolle, dem Dummsten gerade so wie dem Weisesten erkennbare, daß heißt unverkennbare Plan der ungeheuren Menschheittragödie zu fernerweit tragikomischer Ausführung gelangen soll. Das sinnliche Bedürfen und Begehren, das Thier im Menschen, welches, aus dem Thatsächlichen ins Philosophische übersetzt, beim Fichte das „Ich“ und beim Buddha-Schopenhauer der „Wille zum Leben“ heißt, rastet und ruht nicht. Ein recht gemeines Ding, genau angesehen, dieses Ich, dieser Wille, ganz ordinär; aber immerhin mächtig genug, die kolossale Tragikomödie des Erdendaseins im Gange und die ewigen Grundmotive derselben, Hunger und Liebe, in unendlicher Wiederholung wirksam zu erhalten.
So wollte denn auch der Doctor Goethe leben und zwar unbedingt besser, als ihm seine durch die angehobene so nebenbei und obenhin betriebene Advocatur beschafften eigenen Mittel erlaubt haben würden. Die wirklich erforderlichen zu beschaffen, war der Vater natürlich wiederum gut genug; ebenso, die eigentlichen Advocatengeschäfte für den „singulären“ Menschen zu verrichten. Dieser stellte, wie er uns bekannt hat, sein Absehen vorerst darauf, in seiner Weise hinsichtlich des Idylls von Sesenheim poetisch Reu’ und Leid zu machen und das Friederikenweh künstlerisch loszuwerden. Wir wissen ja, daß um jene Zeit (November 1771) der „Götz von Berlichingen“ im ersten Wurf entstanden ist und daß unser Dichter mittels Schaffung der beiden Figuren Maria und Weislingen eine dichterische Beichte und Büßung beabsichtigte. In der erstgenannten Gestalt sollte die verlassene Geliebte schön verklärt, in der zweiten er selbst, der Treulose, mit aller Strenge bestraft werden. Auch in die gleichzeitig oder wenig später fragmentarisch-hastig auf das Papier geschleuderten Anfänge der Faust-Dichtung spielten zweifelsohne die Erinnerungen an sein Verhältniß zur Friederike Brion herein. Viel that an dem sich Härmenden auch jetzt wieder der liebevoll-verständige Zuspruch der Mutter. Alte Freunde nahmen sich seiner an und suchten mittels geselliger Zerstreuungen ihn vergessen zu machen, was er jüngst verloren. Trösterin Natur war auch nicht lässig; dem Berg und Thal, Feld und Wald durchstreifenden und seines Herzens Pein in kraftgenialischen Liedern („Wanderers Sturmlied“) ungestüm ausströmenden Dichter gab sie den Trost, den sie jedem zu ihr flüchtenden Kummerträger giebt: Sieh’ mich an! Auch ich leide und dulde unter der Schwere des Gesetzes ewiger Nothwendigkeit … So lös’te sich denn mälig das Gefühl der Herbigkeit seines Verlustes und seiner Reue in jene Weichheit der Erinnerung auf, welche das Herz umschmiegt „sanft wie geliebter Todten Angedenken“, und so mochte im Rückblick auf Friederike ihm zu Muthe sein, als er die Schlußstrophe von „Jägers Abendlied“ (in des Gedichtes ältester Gestalt) vor sich hinsang:
„Mir ist es, denk’ ich nur an Dich,
Als säh’ den Mond ich an;
Ein süßer Friede kommt auf mich,
Weiß nicht, wie mir gethan.“
Für die literarische Thätigkeit des in dieser Weise von seiner Herzenswunde Genesenen war es nicht bedeutungslos, daß sein nachmaliger Schwager Schlosser die Redaction der „Frankfurter Gelehrten Anzeigen“ übernahm (1772). Denn Goethe wurde einer der eifrigsten Mitarbeiter an dieser Zeitschrift, welche sich so recht als der Moniteur der Sturm- und Drangperiode unserer Literatur aufthat. Von noch größerer Bedeutung aber war es für unseren Dichter, daß er durch Schlosser’s Vermittelung mit dem Kriegszahlmeister Johann Heinrich Merck in Darmstadt bekannt und bald auch befreundet wurde. Diesem führenden Freunde seiner Jugend hat er später in „Dichtung und Wahrheit“ noch weniger Gerechtigkeit widerfahren lassen als dem Vater, indem er Merck’s nur als seines, jugendlichen Goethe-Faust’s, Mephisto sich erinnern wollte. Und doch war der darmhessische Kriegszahlmeister keineswegs „der Geist, der stets verneinte“. Im Gegentheil er war der erste entschiedene Bejaher des Goethe’schen Genius, er war es, welcher den Schöpfer des Götz und des Werther zur Veröffentlichung dieser Sturm- und Dranggenialitäten drängte und trieb – („Bei Zeit auf die Zäun’, so trocknen die Windeln!“). Auch die Stiftung der Frankfurter gelehrten Anzeigen ging vorzugsweise von ihm aus. Merck ist demnach nichts weniger als ein Philister gewesen. Eine erkleckliche Dosis vom Sturm und Drang der Zeit webte und waltete auch in ihm und er bethätigte sich lebhaft an den Strebungen der jüngeren Generation, welchen Strebungen, vorweg den national literarischen, es vielfach und nachhaltig zum Vortheil gereichte, daß dieses Mentors und Kritikers Verstand scharf, sein Geschmack gesund und fein, sein Urtheil unbestechlich war. Summa: so ein Mann, der fähig und bereit ist, das Gute und Tüchtige zu erkennen, anzuerkennen und zu fördern; aber ebenso, jedes „dumme Zeug“ und allen „Quark“ frank und frei mit dem richtigen Namen zu nennen. Unser Dichter war dem Freund und Berather zu großem Danke verpflichtet und demnach ist es nur gerecht, daß die deutsche Literaturgeschichte des Kriegszahlmeisters Merck dankbar eingedenk sei und bleibe.
Der Merck’sche Freundeskreis in Darmstadt nahm den jungen Frankfurter Doctor mit großer Freundlichkeit auf und Wolfgang [291] verkehrte viel mit den neuen Freunden und Freundinnen in Darmstadt, Gießen und Homburg. Es war ja die Zeit der Freundschaftlerei, der Schwarm- und Starkgeisterei, der Mondscheingefühle, der Ossian’schen Seufzerlaute und der Lorenzodosen. Unter den Freundinnen, mit welchen Goethe an den erwähnten Orten mehr oder weniger schwärmte, befanden sich Karoline Flachsland, Herder’s Braut, und zwei aus Empfindsamkeit und Migräne zusammengepappte Homburger Hofdamen, welche unter ihren Freunden Lila und Uranie hießen und von denen die erstere ein weißes Lämmchen am himmelblauen Bande als Wahrzeichen mit sich herumzuführen pflegte. Die Goethe’schen Lieder „Felsweihe“, „An Psyche“, „An Lila“, „An Uranie“, „Elysium“ sind durch diesen Verkehr, zu welchem der gute Merck mitunter allerdings sarkastisch-mephistophelisch gesehen haben mag, angeregt worden. Karoline Flachsland schrieb an ihren Verlobten, Goethe habe den Freunden in Darmstadt Scenen aus seinem Götz von Berlichingen vorgelesen und „stecke voller Lieder“, worauf Herder gnädigst erwiderte, der Goethe sei ein „wirklich guter Mensch“, aber doch „äußerst leicht und viel zu spatzenmäßig“. Was der Griesgram Herder, der es sein Lebenlang nie vermochte, unserem Dichter, welcher doch als ein rechter Freund an ihm gehandelt hat, volle Anerkennung zu zollen, unter Spatzenmäßigkeit eigentlich verstanden habe, wird uns nicht gesagt.
Im April 1772 lernte Goethe in Darmstadt auch die damals gefeiertste deutsche Autorin kennen, Frau Sophie von La Roche, die Jugendgeliebte Wieland’s, Verfasserin des Romans „Das Fräulein von Sternberg“, welcher zu jener Zeit so berühmt gewesen, wie nur irgend ein Roman von heutzutage sein mag, aber seine Bestimmung, d. h. sein Verschwinden im Maculaturkorb der Literarhistorie, welches ja den berühmten Romanen von heutzutage auch bevorsteht, bereits glücklich erfüllt hat. Sophie, auch ein Stück Sturm und Drang, und zwar ein schönschwarzäugiges, sehr liebebedürftiges, hatte ihre Tochter Maximiliane mitgebracht, welche etwas später einen bedeutenden Eindruck auf Goethe machte und vom Schicksal ausersehen war, einem Frankfurter Urphilister einen der größten Phantasten und eine der größten Phantastinnen, welche die Welt je gesehen, zu gebären: den Clemens und die Bettina Brentano. Endlich schwarmgeisterte und freundschaftelte in dem Darmstädter Kreise auch jener Michel Leuchsenring mit seiner ewigen Briefmappe herum, welchen Goethe unlange darauf als „Pater Brei“ in seinem also benamseten Fastnachtsspiel nicht gerade schmeichelhaft, aber desto naturwahrer abconterfeit hat, als womit er einen recht ergötzlichen Beitrag zur moralischen Krankheitsgeschichte jener Tage lieferte.
Der gute Herr Johann Kaspar hatte derweil wieder mehr als einmal Ursache gehabt, über den Herrn Sohn bedenklich den Kopf zu schütteln und zu meinen, die Juristerei müßte demselben doch von Rechtswegen die Hauptsache sein und dürfe nicht so, wie leider augenscheinlich geschah, von den Allotriis, als da seien Vagiren und Poetisiren, in den Hintergrund gedrängt werden. Der sorgsame Vater that also wieder einmal einen pädagogischen Ruck und erinnerte unsern Sausewind von Wolfgang daran, daß es Brauch für junge Juristen, eine Weile beim Reichskammergericht zu Wetzlar (bandwurmigen Andenkens!) zu prakticiren, um sich in den „Reichsproceß“ einzuschießen, was schlechterdings rathsam und nothwendig, so man sich für eine höhere juristische oder auch diplomatische Laufbahn qualificiren wollte. Dem Wolfgang lag an dieser Qualification sicherlich blutwenig oder gar nichts, aber warum sollte er dem Vater nicht den Gefallen thun? Eine Luftveränderung konnte jedenfalls nichts schaden, und er durfte ja mit Bestimmtheit erwarten, in Wetzlar einen Kreis von Altersgenossen zu treffen, welche gerade so wie er beflissen sein würden, sich in den salva venia vermaledeiten Reichsproceß einzuschießen und zu Rechtslichtern oder Diplomatiephänomenen zu qualificiren. Demzufolge finden wir den Dichter im Mai von 1772 als „Praktikanten“ in Wetzlar, wohin er seinen Götz (in der ersten Gestalt) fertig mitgebracht hatte. Es war dies so zu sagen die Einführungskarte, welche den Wolfgang in dem Kreise von richtig in Wetzlar vorgefundenen Mitpraktikanten sofort in die Mitte und um verschiedene „Fuß“ höher stellte.
Goethe’s Götz von Berlichingen ist eine jener dichterischen Kraftgeburten, welche den Aufgang neuer Epochen in der Literatur eines Volkes markiren. Das eigenste Wesen einer Nation athmet, der volle Herzschlag einer Zeit pulsirt in solchen Hervorbringungen. Es ist elementare Poesie darin, darum wirken sie mit der Macht von Naturgewalten auf die Gemüther der Zeitgenossen. Alle irgendwie Empfänglichen spüren den unwiderstehlichen Anhauch von Ursprünglichem, Eigenwüchsigem, Nochnichtdagewesenem. Alle Fühlenden finden sich erfrischt, alle Wissenden erkennen, daß der Genius ihres Landes wieder einmal wohlthätig sich geoffenbart habe. So wirkte der Götz erst auf engere und weitere Kreise, welchen der Dichter aus der Handschrift vorlas; dann, nach Veröffentlichung des Werkes, auf weiteste, auf die Nation und bald auch auf die Fremde. Erinnern wir uns zum Beispiel nur, daß einer der gesundesten und wirkungsreichsten Dichter unseres Jahrhunderts, Walter Scott, sein bewunderungswerthes Talent zuerst mit dem Goethe’schen Götz genährt hat. Es ist fernerweit eine Eigenheit derartiger Meteore der Poesie, daß vom Standpunkt strenger Kunstform manches, vieles, vielleicht sogar alles an ihnen ausgesetzt werden kann. Und das paßt nun auch auf den Götz. Denn er gibt sich für ein Drama, ist aber keins, obzwar die einzelnen Scenen von dramatischem Leben schwellen und die Charaktere mit plastisch-dramatischer Bestimmtheit sich zu und gegen einander stellen. Nein, als Drama ist das Gedicht nicht haltbar. Es fehlt der Hauptfigur an dramatischer Entwickelung: der gute Götz ist in der ersten Scene genau das, was er in der letzten ist, und umgekehrt.
Es fehlt auch die dramatische Knotenschürzung und Knotenlösung, denn die Verwickelung zwischen Weislingen, Maria und Adelheid läuft eigentlich nur episodisch nebenher und ist mit der Haupthandlung in keinen recht organischen Zusammenhang zu bringen. Aber der Götz bekommt, so zu sagen, ein ganz anderes Gesicht, wenn wir ihn als dramatisirte oder vielmehr dialogisirte historische Novelle nehmen, was ja die „Historien“ Shakspeare’s großentheils auch sind. Da haben wir denn ein ebenso ursprüngliches als echtdeutsches Werk vor uns. Echtdeutsch in seinem innersten Kern, weil der Hauptaccent auf die Freiheit der Persönlichkeit gelegt ist. Das ist die Bedeutung der Gestalt des Götz, welcher daran zu Grunde geht, daß er die Berechtigung des altgermanischen Individualismus und Particularismus den Forderungen des im Aufgange begriffenen modernen Staates gegenüber aufrecht halten will. Zugleich veranschaulicht die Götz-Figur deutlich, mit was für einer souveränen Macht unser Dichter schon im Beginne seiner Schöpferthätigkeit dem Realen den Stempel des Idealen aufzudrücken vermochte. Denn der gute Götz war in der historischen Wirklichkeit doch eigentlich nur ein ordinärer Junker, ja nicht viel besser als der nächste beste Raubritter. Sowie aber ein Strahl des Goethe’schen Genius auf ihn fiel, erschien er im Nimbus eines nationalen Helden. So ein Verklärungswunder zu thun ist das Recht des Genies. Ganz Aehnliches that z. B. Byron an seinem Sardanapal, indem er dem verrufenen Weichlinge der assyrischen Legende unsere innigste menschliche Theilnahme zu gewinnen wußte. Besonders hervorzuheben ist noch die Meisterschaft, womit im Götz die Volksscenen greifbar realpoetisch behandelt sind. Wie diese Bauern, Wirthe, Soldaten und Zigeuner vor unseren Augen leben und weben! Unser Dichter hat so etwas nur noch im „Egmont“ und in „Hermann und Dorothea“ wieder erreicht. Auch Stimmung und Ton der Sturm- und Drangzeit, wie sie zu Anfang des sechszehnten Jahrhunderts waren, sind prächtig getroffen, und was den Stil angeht, so hat derselbe die Sprache der Kraftgenieperiode des achtzehnten Jahrhunderts zu classischer Unvergänglichkeit ausgeprägt. Aus alledem erhellt, daß und wie elektrisch der Götz bei seinem Erscheinen in die Gemüther der Zeitgenossen einschlagen mußte. Hier war, was mehr oder weniger alle Gebildeten der Nation bewegte, bedrängte, bestürmte, durch einen Auserwählten mit hinreißender Kraft und Gewalt ausgesprochen. Hier war der allgemeine Freiheitstrieb, welcher in der Gesellschaft von damals gohr, mit der nationalliterarischen Emancipationstendenz genialisch verbunden. Von jeder Seite der Goethe’schen Dichtung rief es den Deutschen zu: „Ihr seid etwas, Ihr könnt etwas! Habt nur den Muth, etwas zu wollen!“ Lessing’s „Minna von Barnhelm“ war der Morgenstern, Lessing’s „Emilia Galotti“ das Morgenroth unserer großen Literaturperiode; mit dem Erscheinen von Goethe’s „Götz“ aber hob sich die Sonne unserer Classik am Horizont empor.
[354]Der 9. Juni von 1772 ist ein für die Geschichte der deutschen Sturm- und Drangzeit wichtiges Datum: – das war ja der Tag, an welchem es in unserer Literatur zu lotten und zu werthern begann. Denn an diesem Tage hat unser Dichter die Lotte der Lotten, die Ur-Lotte so zu sagen, zum erstenmal gesehen und kennen, item natürlich auch lieben gelernt: die neunzehnjährige, schöne, schlanke, blondhaarige, kornblumaugige und, ach, dem hannover’schen Gesandtschaftssekretär Kestner verlobte Lotte Buff, zweitälteste Tochter des Amtmanns Buff, welcher die um Wetzlar gelegenen Güter des argverotteten Deutschen Ordens verwaltete und in kleiner Entfernung von der Stadt im „Deutschen Hause“ mit seinen sieben Kindern wohnte, denen die Mutter weggestorben war. Von diesem Junitag an hat es dann in der deutschen Dichtung lange fortgelottet, von der Kraftgenialität bis in die Klassik hinein, und ist für unsere beiden Erzklassiker Goethe und Schiller der Name geradezu schicksalsvoll geworden: – Lotte Buff, Lotte Stein, Lotte Kalb, Lotte Lengefeld. Die zweite dieser Lotten werden wir später als die große, größte Flamme unseres Dichters kennen lernen; die vierte war das still und stät und segensreich brennende Licht im Dasein Schiller’s; von der dritten, der „Titanide“, wußte nicht nur der Schöpfer des Don Carlos, sondern auch der des Titan zu erzählen. Der letztere Jean-Paulisches: – „Durch den Nachsommer meines Lebens wehen jetzt die Leidenschaften“ – „Jene Frau, mit der ich einmal eine Scene hatte, wo ich im Pulvermagazin Tabak rauchte“ – „Das auflösende Leben mit genialischen Weibern hab’ ich nun auch kennen gelernt.“ Es trieb ihn aber doch, dieses Leben noch weiter kennen zu lernen, bis er klug genug geworden, aus der Flugregion der Titaniden auf den soliden Boden einer Hausfrauschaft sich zurückzuziehen, welche, obzwar aus Berlin stammend, dafür zu sorgen verstand, daß dem großen Humoristen seine bairischen Knödeln richtig bereitet wurden, item demselben in katarrhalischen Zeiten sein Warmbier in der gehörigen Temperatur präparirte und endlich auch gar nichts die Frauenwürde Entwürdigendes darin fand, dem Eheherrn die Strümpfe zu stopfen, so diese bei seinen vielen Schlendergängen durch Mondscheinlandschaften und Blumenstaubwolken brüchig geworden. Eine Hausmutter darf ja so was thun, wie selbst unsere von den höchsten Stelzen der Frauenemanzipationstheorie herabschwadronirenden Phantasmistinnen neuester Sorte nicht ganz werden in Abrede stellen wollen. Dagegen eine „Titanide“ als Beherrscherin der Knödelnbereitung, als Warmbierbrauerin, als Strümpfestopferin sich denken – oh, all’ ihr himmlischen und höllischen Mächte, schon die bloße Vorstellung erregt eine Empfindung, welche mit dem Zahnweh große Aehnlichkeit hat.
Freilich, es gibt Umstände, unter welchen auch die alltägliche Hausmutterschaft gar reizend-poetisch sich darzustellen vermag. Namentlich, wenn eine so schöne Blondine wie die neunzehnjährige Lotte Buff das Hausmütterchen macht. Das that sie, wie gewohnt, auch an dem vorhin erwähnten 9. Juni von 1772, und im „Werther“ (Brief vom 16. Junius) ist es gar hübsch beschrieben: – „Ich ging durch den Hof nach dem wohlgebauten Hause, und da ich die vorliegende Treppe hinaufgestiegen war und in die Thüre trat, fiel mir das reizendste Schauspiel in die Augen, das ich je gesehen habe. In dem Vorsaale wimmelten sechs Kinder von elf zu zwei Jahren um ein Mädchen von schöner Gestalt, mittlerer Größe, die ein simples weißes Kleid mit blaßrothen Schleifen an Arm und Brust anhatte. Sie hielt ein schwarzes Brot und schnitt ihren Kleinen ringsherum jedem sein Stück nach Proportion des Alters und Appetits ab und gab’s jedem mit solcher Freundlichkeit“ – nun, ihr kennt ja die prächtige Gruppe. Hat sie euch doch Kaulbach dem goethe’schen Entwurfe nachgezeichnet. Selten dürfte ein schönes junges Mädchen in einer alles reinmenschlich Gute im Menschen elektrischer berührenden Situation einem jungen Manne zuerst erschienen sein. Der Eindruck, welchen die frohsinnige Anmuth, womit Lottchen ihre jüngeren Geschwister bemutterte, auf unseren Wolfgang hervorbrachte, war ein mächtiger, schon beim ersten Anblick. Sie fuhren dann mitsammen zu einem ländlichen Balle und beim Schlusse desselben konnte sich der Dichter sagen: „Es hat mich mal wieder!“
Ja, es hatte ihn mal wieder, jenes geheimnißvolle „Es“ oder X, an welchem alle Physiologen oder Psychologen der Welt noch lange herumtasten können, ohne doch die „unbekannte Größe“ wirklich zu finden. Wenn man jedoch die mit unbegreiflich engherziger Scheu allzu lange unter Verschluß gehaltenen Akten der Goethe-Lotte-Kestner-Geschichte oder, literarhistorisch zu reden, der Wertherei, wie sie jetzt gedruckt vorliegen („Goethe und Werther“, Briefe Goethe’s u. s. w., herausgegeben von A. Kestner, 1854), unbefangen prüft, so gewinnt man als Resultat die Empfindung, des Dichters Gefallen an Lotte sei doch mehr nur Phantasiefeuer als Herzensflamme gewesen. Von jener echten, tiefinnigen Glut der Leidenschaft, welche aus dem Verhältnisse zu Friederike Brion loderte, ist da doch eigentlich nur dann und wann ein Funke zu spüren. Viel, sehr viel mag zu dieser Einhegung und Kühlhaltung von Goethe’s Neigung die Art und Weise mitgewirkt haben, wie Lotte selbst und ihr Verlobter die Sache nahmen und führten. Beide gewannen den Dichter aufrichtig lieb und erwiesen ihm großes Vertrauen. Daß durch den Freund eine Störung ihrer Beziehungen als Bräutigam und Braut eintreten könnte, ist ihnen gar nicht eingefallen. Lotte insbesondere hat den künftigen Wertherschöpfer hierüber von Anfang an taktvoll vor jeder Ungewißheit bewahrt. Sogar angenommen, unser junger Apoll von Wolfgang habe mit seiner genial-siegreichen Erscheinung den guten Kestner in ihren Augen verdunkelt, so war sie doch gescheid und fassungsfest genug, es nicht merken zu lassen. Junge Mädchen sind ohne alle Frage in Heiratsachen viel verständiger und berechnender als junge und alte Männer, wie denn überhaupt das Weib, solange es unverdorben ist, die „Dinge dieser Welt“, die thatsächlichen Verhältnisse sehr klug und praktisch anzusehen und, wenn nöthig, auch anzufassen vermag. Sehr natürlich ist auch, daß die Frau die Heiratfrage mit mehr Berechnung behandelt [355] als der Mann; denn diese Frage ist für sie die einzige Lebensfrage, der einzige große Wurf, durch dessen Gelingen oder Mißlingen ihr Schicksal entschieden wird und zwar zumeist für immer. Das Schicksal des Mannes dagegen können noch andere Probleme, der Staat, die Kirche, die Wissenschaft, die Berufspflicht, bedingen und bestimmen; denn er ist seinerseits von der Natur nicht darauf angewiesen, in der Familie aufzugehen. Was Lotte betrifft, so war sie keine hochgestimmte Seele, keine ungewöhnlich, sondern nur eine gesund und tüchtig angelegte Mädchennatur. In ihren hellen Augen stand deutlich zu lesen, daß sie recht gut wüßte, ein Spatz in der Hand sei besser als eine Taube auf dem Dache oder gar als ein Paradiesvogel auf einer fernen Palme. Es wäre auch gar nicht unmöglich, daß ein Gerücht von der Flatterhaftigkeit des schönen Sohnes der Frau Aja in die schläfrige Reichskammergerichtsstadt an der Lahn gedrungen und daß dadurch Schön-Lottchen in der Ansicht bestärkt worden, so ein Paradiesvogel sei zwar ein prächtig Ding zum Ansehen, aber beileibe nicht zum Verlieben; zumal nicht für Eine, welcher eine anständige Versorgung an der Seite eines gar nicht unebenen Mannes allbereits gesichert ist. So hatte sie denn Kestner’s „interessanten“ Freund gerne, wie eben lebensfrohe, aber sittsame und kluge Mädchen die Freunde ihrer Hochzeiter gern zu haben pflegen – Punctum. Kestner wußte das und ließ daher die Beiden ruhig und unbefangen gewähren; auch dann, wann, wie doch mitunter geschah, der goethe’sche Sturm und Drang die von allen drei Betheiligten stillschweigend anerkannten Schranken freundschaftlicher Convenienz zu überspringen drohte. Man lebte bis in den Herbst gut und harmonisch mitsammen und trennte sich dann freundlich und friedsam, auf seiten des Dichters wie der beiden Verlobten überzeugt, eine für das Leben aushaltende Freundschaft geschlossen zu haben. Für Goethe scheint es freilich eine Nothwendigkeit geworden zu sein, von dem Umgange mit dem reizenden Mädchen sich loszureißen, um nicht tiefer verstrickt zu werden. Anfänglich hatte er nur eine zeitweilige Entfernung von Wetzlar im Auge, eine mit Merck im August verabredete Rheinfahrt; aber einmal fortgegangen, kehrte er nicht mehr zurück und er that wohl daran. Den Abend des 10. Septembers verbrachte Goethe noch im „Deutschen Hause“. Das Gespräch zwischen ihm, Kestner und Lotte wandte sich auf eines jener Probleme, über welche um so mehr geredet zu werden pflegt, je weniger man davon wissen kann, nämlich auf das „Jenseits“, und die Drei versprachen einander, was befreundete Menschen schon millionenmal einander versprochen haben und was noch nie gehalten worden ist, nämlich daß, wer von ihnen zuerst sterben würde, wiederkommen sollte, um den Ueberlebenden zu berichten, ob denn eigentlich etwas und was an dem Jenseits sei. Am folgenden Morgen verließ der Dichter Wetzlar für immer, ohne ausdrücklichen Abschied von Lotte genommen zu haben. Er mochte seiner Selbstbeherrschung nicht trauen.
Eine mehrtägige Wanderung führte den Flüchtling, wie wir ihn ja wohl nennen dürfen, über Braunfels, Weilburg und Ems nach Ehrenbreitstein, wo er mit Freund Merck zusammentreffen wollte, und im gastlichen Hause der La Roche daselbst konnte ihm einer der vielen bunten und grellen Contraste der Zeit handgreiflich klarwerden. Denn er traf ja da in der Person der Hausfrau die verkörperte Empfindsamkeit, das Sturmlied der Kraftgeniesucht zum Aeolsharfengesäusel gedämpft, und in der Person des Hausherrn die glatte, kalte, sarkastisch-scherzende Weltmännischkeit französischen Salonstils, deren Einwirkungen vordem Wieland in dem Kreise des Grafen Stadion, welchem Herr La Roche ebenfalls angehört, nachhaltig zu verspüren gehabt hatte. Er stieß im Hause auch wieder auf den unvermeidlichen Leuchsenring, den Anschmiegling und Thränendrüsendrücker, und konnte demselben etliche weitere Züge zu seinem Pater Brei abgewinnen. Was jedoch unserem Wanderer zweifelsohne erfreulicher, war die Wiederbegegnung mit der ältesten Tochter des Hauses, der Max, wie sie kurzweg hieß, mit ihren „schwärzesten Augen und einer Gesichtsfarbe, die nicht reiner und blühender gedacht werden konnte“. Diese max’schen Schwarzaugen verfehlten dann auch ihrer Wirkung auf unsern höchst empfänglichen Flatterer nicht. Viele Jahre später hat er die behagliche Erinnerung daran in die Worte gefaßt: „Es ist eine sehr angenehme Empfindung, wenn sich eine neue Leidenschaft in uns zu regen anfängt, ehe die alte verklungen ist. So sieht man bei untergehender Sonne gern auf der entgegengesetzten Seite den Mond aufgehen und erfreut sich an dem Doppelglanze der beiden Himmelslichter.“ Beizufügen ist aber, daß meines Erachtens die Frauen an solcher Vielseitigkeit eines Mannesherzens, an einer solchen gleichzeitigen Doppelfreude über eine absteigende Sonne und einen aufsteigenden Mond nicht eben sehr sich erbauen werden. Oder doch? Sollte es wahr sein, daß ein nicht gar zu schreiender Ruf der Don-Juanschaft kein Hinderniß, sondern eher ein Förderniß für Männer wäre, Frauengunst zu erlangen? Sollte die Sage, daß die Frauen darauf erpicht seien, Flatterherzen nachzujagen, mehr als Sage sein? Weiberkenner behaupten es. Ich sage aber wohlbedacht „Weiberkenner“, nicht „Frauenkenner“.
Merck, dem der süße Leuchsenring mit seiner ewigen Briefevorleserei höchlich zuwider sein mußte, trieb zum Aufbruch und in seiner und seiner Frau Gesellschaft fuhr der Dichter den Rhein aufwärts, die Schönheit der in vollster Herbstpracht prangenden Ufergelände in die durstige Seele trinkend. Und das war ein mächtiger und langnachwirkender Trunk. Denn ist nicht Rheinisches in Goethe’s Dichtung? Gemahnt sie uns nicht häufig an den Rhein, wie er von Mainz bis Bonn in ruhiger Majestät dahinströmt zwischen seinen schöngehügelten, rebengesegneten Ufern, malerische Felsbildungen, dunkelnde Waldkuppen, „Burgen mit hohen Mauern und Zinnen“, behäbige Dörfer und blühende Städte auf seinen Wassern spiegelnd?
Nach Frankfurt heimgekehrt, wurde unser Wolfgang erst recht gewahr, daß ihm Lotte doch viel gewesen war. Ein Gemüthszustand stellte sich ein, welcher mit dem nach der Rückkehr von Straßburg quälend eingetretenen große Aehnlichkeit hatte. In den Briefen, welche er damals an Kestner und dessen Braut schrieb, wurde der Ton um so leidenschaftlicher, je mehr der Hochzeitstag der Beiden sich näherte. Einmal brach die Leidenschaftlichkeit des Dichters im vollen Bibelstilpathos hervor: – „Ich wandle in der Wüste, da kein Wasser ist; mein Haar ist mein Schatten und mein Blut mein Brunnen“. Eine zu Anfang Novembers aus Wetzlar herübergekommene Botschaft steigerte den Sturm in der Brust des jungen Mannes. Dort hatte sich nämlich am 29. Oktober einer der wetzlarer Genossen Goethe’s, Karl Wilhelm Jerusalem aus Braunschweig, aus Verzweiflung, von der Frau eines Freundes, in die er verliebt war, schroff zurückgewiesen worden zu sein, erschossen, mit einem von dem Gatten seiner Geliebten entlehnten Pistol. „Auf einmal“ – erzählt uns der Dichter in seiner Selbstbiographie – „erfahre ich die Nachricht von Jerusalem’s Tode und in diesem Augenblicke war der Plan zum ‚Werther‘ gefunden. Das Ganze schoß von allen Seiten zusammen und ward eine solide Masse, wie das Wasser im Gefäß, das eben auf dem Punkte des Gefrierens steht, durch die geringste Erschütterung sogleich in festes Eis verwandelt wird.“ In Wahrheit, der Plan zu dem berühmten Roman mochte so gefunden sein, mit der Ausführung hatte es aber noch Weile. Die Unruhe Wolfgang’s mußte erst noch zunehmen, bis er sich raschweg entschloß, von all der Pein dichtend sich zu befreien. Beim Jahreswechsel von 1773 verheirathete sich die Max La Roche mit dem Handelsherrn Brentano in Frankfurt, und wenn der Dichter dieses Ereigniß zuerst jubelnd begrüßt hatte, wenn er dann sich bemühte, sein Verhältniß zu der schönen jungen Frau als ein geschwisterliches anzusehen, so mußte er doch bald erkennen, daß man sich so etwas zwar leicht einbilden kann, daß es aber schwer, die Einbildung in die Länge festzuhalten und durchzuführen. Ganz eigenthümlich schmerzlich mußte ihm auch der Auftrag, für Kestner’s und Lotte’s Vermählung, welche am 4. April stattfand, in Frankfurt die Trauringe einzukaufen, an das Herz greifen. Persönliche Motive zu der Stimmung, aus welcher heraus der Werther geschaffen wurde, waren demnach hinlänglich viele vorhanden und insofern hatte Goethe ganz recht, am 2. Januar von 1824 zu Eckermann zu sagen: „Ich hätte kaum nöthig gehabt, meinen eigenen jugendlichen Trübsinn aus allgemeinen Einflüssen meiner Zeit herzuleiten. Es waren vielmehr individuelle, naheliegende Verhältnisse, die mir auf die Nägel brannten, mir zu schaffen machten und mich in jenen Gemüthszustand brachten, aus dem der Werther hervorging. Ich hatte gelebt, geliebt und sehr viel gelitten! Das war es.“ Gewiß, und Menschenleben und [356] Menschenleid sind auch im Wesen zu allen Zeiten dieselben. Aber die Formen, in welchen die herbsten Bedrängnisse und tiefsten Schmerzen der Menschenkinder zur Erscheinung, zur dichterischen Ausprägung kommen, sind doch je nach den Zeiten sehr verschieden. Der Werther trägt daher ebensosehr das Gepräge der goethe’schen Individualität, wie diese damals war, als die Signatur jener Epoche, welche ich, um all’ ihre Aufgespanntheit, Gefühlsschwelgerei, Rührsäligkeit, Mondsüchtelei und Thränenverschwendung in ein Wort zusammenzufassen, kurzweg die ossianische nennen möchte. Nach dem Erscheinen von Goethe’s Roman konnte, mußte sie für uns Deutsche allerdings mit Fug und Recht die Wertherzeit heißen.
In unserem Dichter wertherte es das ganze Jahr 1773 hindurch so heftig, daß seinem eigenen Geständniß zufolge der Selbstmordsgedanke in ihm aufsprang und er zu wiederholtenmalen die Schneide eines in seinem Besitze befindlichen kostbaren Dolches nachdenklich mit der Hand prüfte. Glücklicherweise legte er das Selbstmordsinstrument – es war doch wohl nicht schneidig genug – beiseite, ergriff statt desselben die Feder und schrieb, nachdem er sich von allem Umgang abgeschlossen, nach „langen und vielen geheimen Vorbereitungen“ binnen vier Wochen (im Februar und März von 1774) „Werther’s Leiden“, welcher Hervorbringung, sagt er, „ich alle die Glut einhauchte, die keine Unterscheidung zwischen dem Dichterischen und dem Wirklichen zuläßt.“ Im September war der Roman gedruckt im Publikum und der Werthersturm entfesselt. Denn einen wahren Sturm wühlte das wundersame Büchlein in der deutschen, in der europäischen Lesewelt auf, wie, was die Einzelnheiten angeht, in dem Buche „Werther und seine Zeit“ von J. W. Appel (1855) nachgelesen werden mag.
„Werther’s Leiden“ sind und bleiben eine jener epochemachenden Dichtungen, welche als von der Zeit unverrückbare und unzerstörbare Marksteine die Vorschrittstadien der Weltcultur bezeichnen. Sie sind eins jener Bücher, deren Inhalt so sehr ein Bildungsgemeingut geworden, daß ihre bloße Nennung ausreicht, jedem wirklich gebildeten Menschen den Culturcharakter ihrer Entstehungszeit in’s Gedächtniß zu rufen. Die Genesis derartiger Werke, welche man wohl auch Generalbeichten der Gesellschaft nennen könnte, ist diese: – Eine bestimmte Periode treibt die Summe ihres Schauens und Fühlens auf die Spitze. Dann geht der überlegene Genius, welcher in einem ihrer Söhne waltet, her, faßt mit souveräner Hand die chaotisch wogenden Zeitgedanken zusammen und formt aus solchem Zeitlichen ein ewiges Kunstwerk. Kaum ist dann so ein unvergänglich Monument vor die staunenden Augen der Zeitgenossen hingestellt, so eilen die „minderen Geister“, es nachzupfuschen. Wie ist nicht auch der Werther nachgepfuscht worden! Am breitesten durch den guten Miller in seinem „Siegwart“, welcher 1776 erschien und zu jenem sich verhält, wie etwa zu einer vollendet schönen Trauerweide eine vom Zuckerbäcker in Marzipan nachgeknetete … Goethe’s Roman ist die künstlerische Combination der wetzlarer Herzenserlebnisse seines Verfassers mit der Katastrophe des jungen Jerusalem. Gewiß ließ der Dichter es sich nicht träumen, daß er, mittels Schaffung seines Werkes von einem moralischen Krankheitstoff sich befreiend, ein europäisches Wertherfieber entzünden würde, welches die seltsamsten Phantasiestücke und Extravaganzen mit sich brachte. Mitunter auch ein hübsches Stück Komik, wie dieses, daß im Dorfe Garbenheim (Wahlheim im Werther) der Wirth in seinem Garten unter Eichen und Buchen einen Hügel aufschichtete und denselben reisenden Engländern und sonstigen Raritätenjägern als Werther’s Grab zeigte. Die Chinesen haben bekanntlich Werther und Lotte auf ihre Theetassen gemalt und Napoleon sagte Anno 1808 in Erfurt dem Dichter, er habe den Roman siebenmal gelesen, knüpfte auch an diese Mittheilung die bekannte scharfsinnige Kritik, die schwache Seite der Dichtung sei die Mischung der Motive des gekränkten Ehrgeizes mit denen der Liebesleidenschaft. Napoleon’s wiederholte und einläßliche Beschäftigung mit dem Werther ist ohne Frage ein culturgeschichtlich sehr schwerwiegendes Zeugniß für die gewaltige Wirkung des Gedichts. Sie brauchte nicht eine durchweg beifällige zu sein und war es auch nicht. Lessing schüttelte bei aller Anerkennung der Schönheiten des Romans doch bedenklich den Kopf zur Motivirung der Katastrophe, wie zu dieser selbst, und der gute, rüstige, vielverdiente Aufklärer Nikolai in Berlin, der für Poesie eigentlich gar kein Organ hatte, fand sich bemüssigt, den goethe’schen „Leiden des jungen Werther“, welche doch, abgesehen von ihrem hohen Kunstwerth, das große Verdienst hatten, die schleichende Sentimentalitätsepidemie einer akuten Krisis entgegengetrieben zu haben, seine platten und faden „Freuden des jungen Werther“ entgegenzusetzen, worin der Held sich nicht entleibt, sondern nur ein wenig besudelt, da ihm ein statt mit einer Kugel mit Hühnerblut geladenes Pistol in die Hände gespielt wird, und schließlich der ganze Jammer in Wohlgefallen sich auflös’t, indem Werther und Lotte in aller Form kopulirt werden. Leopold Wagner hat dann den Wertherfreudenverfasser sehr derb abgeführt mittels der Posse „Prometheus, Deukalion und seine Recensenten“, und so that auch Goethe selber epigrammatisch-bündig in seinen Knittelversen „Nikolai auf Werther’s Grab“, wo in der Manier niederländisch-naturwahrer Malerei unser Erzprosaiker von Aufklärer in einer unbeschreiblichen Stellung abkonterfeit wurde. Im übrigen erinnert die ganze um den goethe’schen Roman her wuchernde Literatur an das bekannte schiller’sche Wort: „Wenn die Könige bau’n, haben die Kärrner zu thun.“ … Daß der Werther, ästhetisch angesehen, ein Kunstwerk ersten Ranges, bedarf heutzutage keines Nachweises mehr. Unser Dichter offenbart sich darin von der ersten bis letzten Zeile als ein Darstellungskünstler höchster Mächtigkeit. In diesem geistvoll angelegten und mit echtester Inspiration, mit wundersam frisch erhaltener Stimmung durchgeführten Seelengemälde stört uns nicht ein schiefer Strich, nicht ein falscher Farbenton. Die Charakterzeichnung ist meisterlich und gibt sich namentlich kund in dem deutlichen Auseinanderhalten und scharfen Gegenüberstellen der drei Hauptfiguren Werther, Albert und Lotte. Die Handlung wird so psychologisch folgerichtig fortgeleitet, sie verläuft so naturgemäß, daß man sich am Schlusse sagen muß: Es mußte alles so kommen, wie es kam. Da ist überall elementare Poesie, scheinbar in unwillkürlichem Ergusse dahin schäumend, in Wahrheit aber durch die ordnende Künstlerhand gelenkt und geleitet. Von der Anschaulichkeit der Lokalzeichnung, von der Durchgeistigung des Naturlebens, von der Beseelung der Landschaftsschilderung sprechen, hieße nur sagen, was jedermann fühlt, wer den Werther lies’t. Auch die bezaubernde Stilfrische, die süße Musik und leidenschaftliche Macht der Sprache des Romans zu preisen, ist überflüssig. Es genügt, zu sagen, daß nur selten, sehr selten das Idiom einer Nation einen solchen Triumph erlangte, wie ihn das der deutschen im Werther feierte und zu feiern fortfährt.
Zwei Menschen jedoch gab es, welche durch das Erscheinen der goethe’schen Dichtung, durch das beispiellose Aufsehen, welches dieselbe erregte, und durch alle die mannigfaltigen, theilweise höchst wunderlichen Erörterungen, welche daran sich knüpften, peinlich, sehr peinlich berührt werden mußten: Kestner und seine Frau. Ob freilich die letztere durch die ihr gewordene Verherrlichung in der Tiefe ihrer Seele nicht weit mehr beseligt als verletzt sein mochte, wollen wir dahingestellt sein lassen. Jedenfalls glaubte Kestner Ursache zu haben, über die ihm zugetheilte Albertsrolle ein deutliches Gebrumme vernehmen zu lassen. Der Beschwichtigungsbrief, welchen der Dichter hierauf an das junge Ehepaar richtete, ist ganz herrlich, ist den glühendsten Ausströmungen im Werther gleichzustellen. „Oh, ihr theuren Menschen“ – in diesen Ausruf faßte Goethe zusammen, was er den Freunden inbetreff ihrer Bedenken über den Werther und dessen Schöpfer sagen wollte – „ahnt ihr denn so gar nicht, wie der Mensch euch lieben muß, dessen Leiden euch schon in dem bloßen Abbilde schaudern macht?“ Eine solche Beschwörung verfehlte ihres Eindruckes nicht: das Verständniß zwischen dem Dichter und dem jungen Paare stellte sich völlig wieder her und der freundschaftliche Briefwechsel ging fort. Vom Jahre 1776 an wurde er spärlicher, nach Kestner’s im Mai von 1800 erfolgtem Tode hörte er ganz auf. Es war jetzt über die Wertherei hinlänglich viel Gras gewachsen. Vierundvierzig Jahre nach ihrem Auseinandergehen in Wetzlar haben sich dann Goethe-Werther und Lotte noch einmal gesehen. Im Oktober von 1816 trat in Weimar, wohin sie eine verheirathete Schwester zu besuchen gekommen war, die nahezu vierundsechzigjährige Frau Hofräthin Kestner zu dem siebenundsiebzigjährigen Dichterkaiser ins Zimmer. Er empfing die Jugendgeliebte etwas umständlich [357] und gravitätisch, wie das die Art seines Alters war, aber doch, mit herzlicher Freundlichkeit. Lotte hatte sich gut erhalten: ihre Gestalt, ihre Augen, ihre Wangen waren sogar noch immer schön; aber – sie wackelte mit dem Kopfe. Als sie gegangen, mochte der alte Olympier, wie stark zu vermuthen steht, in seiner damals schon häufig weit ins Chinesische sich hineinschnörkelnden Ausdrucksweise sich sagen: „Noch immer etwas, manches sogar von der Lotte von ehedem; aber der Wackelkopf! Und um sie bin ich verzweifelnd in der Werthertracht herumgelaufen? Hm, hm – wunderlichst, unbegreiflichst, incommensurabelst!“ Und doch ist die Wertherstimmung ihm später noch einmal nahegetreten. Zur Zeit nämlich, als die junge Ulrike von Lewezow in Marienbad das Herz des vierundsiebzigjährigen Dichtergreises mit Jugendglut erfüllt hatte. Der Buchhändler Weygand in Leipzig, der ursprüngliche Verleger des Werther, wollte zum Herbste von 1824, wo gerade fünfzig Jahre seit dem Erscheinen des Romans verflossen waren, eine Jubelausgabe desselben veranstalten und bat den Verfasser um ein einleitendes Gedicht. Goethe entsprach dem Wunsche und schrieb die wertherisch-schmerzliche Betrachtung nieder, welche er später als erstes Stück der „Trilogie der Leidenschaft“ in seine Werke aufnahm und die mit den tiefgefühlten Zeilen anhebt:
„Noch einmal wagst du, vielbeweinter Schatten,
Hervor dich an das Tageslicht.
Begegnest mir auf neubeblümten Matten
Und meinen Anblick scheust du nicht.
Es ist, als ob du lebtest in der Frühe,
Wo uns der Thau auf einem Feld erquickt
Und nach des Tages unwillkommner Mühe
Der Scheidesonne letzter Stral entzückt:
Zum Weilen ich, zum Scheiden du erkoren,
Gingst du voran und – hast nicht viel verloren!“
Der Prophet war in Wetzlar nicht zu dem Berge gekommen, das heißt nicht zu dem hochaufgebauten Berge der Reichskammergerichtsakten: Lotte war ja davor gestanden, und da auch der Berg seinerseits sich nicht zu dem Propheten bemüht hatte, so kam der Wolfgang aus der Lahnstadt als derselbe Nichtjurist zurück, als welcher er vordem aus der Pleißestadt und der Rheinstadt zurückgekehrt war. Wie soll das Corpus Juris unter einer Gehirndecke Platz haben, wo ein Werther zum „Stern der dämmernden Nacht“ hinaufklagt und daneben verschiedene Unbände von Kraft- und Saftgeniestreichen herumrumoren? Etliche davon mußten auch heraus, wollten nicht länger innerhalb der dichterlichen Schädelwände eingesperrt bleiben, da half nichts, und die Kobolde haben, freigegeben, in ihrem jugendlichem Uebermuth mit Pritsche und Knittel (reim) nach rechts und links wacker dreingeschlagen. Das geschah in den Puppenspielen und Possen, welche Goethe, theils durch persönliche und lokale, theils durch literarische Bezüge angeregt, in der Zeit ausgehen ließ, welche zwischen seiner Heimkunft aus Wetzlar und seinem Abgang nach Weimar verstrich: – also in den Fastnachtsspielen „Pater Brei“ (gegen Leuchsenring, das heißt gegen die warmbrüderliche Anschmiegerei und Ränkelei gerichtet) und „Satyros oder der vergötterte Waldteufel“ (gegen Basedow, den kynischen Philanthropen und Pädagogen, oder gegen Heinse, den lüsternen Schwarmgeist, das heißt gegen die nebenbei nach Pöbelgunst lechzende Affektation des von Rousseau erphantasirten sogenannten Naturzustandes), ebenso in dem „moralisch-politischen“ Puppenspiel „Das Jahrmarktsfest zu Plundersweiler“ (auf allerhand Kameelhöcker der übergestiegenen Aufklärerei wie der süßen Lammfrömmelei losschlagend) und in der Farce „Götter, Helden und Wieland“ (gegen den Dichter der Musarion, das heißt gegen die Verhunzung des Griechenthums durch Beimischung moderner Sentimentalität und gegen die wohlfeile Plattheit abstrakter Tugendlichkeit). Die derbste und tollste dieser Possen, „Hannswursts Hochzeit“ (mit Ursel Blondine), ein sehr bengelhafter Nachschößling der deutschen Fastnachtsspiele des fünfzehnten Jahrhunderts, wagte sich kluger Weise über den engeren Freundeskreis des Dichters nicht hinaus und fand auch später keine Aufnahme in die Gesammtwerke. Alle diese Feuerspeiteufel erregten natürlich ebenso viel Aergerniß als Ergötzen. Die Getroffenen und Gebrannten geiferten, schimpften und zeterten nach Noten, den feinen Wieland ausgenommen, welcher bei dieser Gelegenheit erwies, daß er doch trotz alledem der „Dichter der Grazien“ sei, indem er in seinem Deutschen Merkur das gegen ihn gerichtete goethe’sche Pasquill „allen Liebhabern der pasquinischen Manier als ein Meisterstück von Persiflage und sophistischem Witz“ zu empfehlen sich beeilte …
Also mit des Wolfgangs Rechtsanwaltschaft war und blieb es so, daß er Advocat hieß und Herr Johann Kaspar die Processe führte. Bei sothaner Arbeitstheilung der juristischen Praxis hatte der Herr Advocat ausreichende Zeit zum leben, lieben und lustigsein. Ließ es auch nicht daran fehlen, bewahre! und ließ sich sogar die Trennung von seiner ihm doch immerhin sehr lieben Schwester Kornelia, welche im Spätherbste von 1773 ihrem Gatten Schlosser nach Emmendingen folgte, um schon nach vierthalbjähriger nichtglücklicher Ehe zu sterben, nicht allzusehr anfechten. Hatte anderes zu thun, stand eben wieder einmal in Flammen, der gute Junge. Die „Max“ war ja jetzt in Frankfurt, vom ehrenwerthen Handelsherrn Peter Brentano im Januar von 1774 als Ehefrau in sein etwas dunkles und winkeliges Haus heimgeführt. „Die Max ist noch immer der Engel“ – schrieb Goethe – „der mit den simpelsten und werthesten Eigenschaften alle Herzen anzieht, und das Gefühl, das ich für sie habe, worin ihr Mann eine Ursache zur Eifersucht finden wird, macht nun das Glück meines Lebens.“ Frau Brentano war aber verständig, Herr Brentano war auch verständig, Herr Goethe war, nachdem er sich des Lotte- und Max-Feuerstoffes durch das Niederschreiben von Werthers Leiden entladen hatte, ebenfalls verständig und aus dieser dreifältigen Verständigkeit ergab sich das allgemeine Wohlgefallen einer dauerhaften Freundschaft. Unser Wolfgang hatte auch hierin Glück, wie noch in so vielem anderen. Denn der Weg von der Liebe zur Freundschaft ist unendlich viel schwieriger zurückzulegen als der umgekehrte. Es hat auf jenem schon mancher und manche nicht gerade den Hals, aber doch das Herz gebrochen.
Solche Fatalitäten überließ unser frisch und fröhlich wachsender und gedeihender Olympier den armen Sterblichen, welche kein Flügelroß Bellerophons aus dem Dunkel und Düster ihrer Herzensbedrängnisse in die heiteren Gestirnregionen künstlerischen Schaffens emporträgt. Und zudem erging es dem Wolfgang dazumal auch herunten auf der „nährenden Muttererde“ ganz erträglich. Ein Kreis von lieben Freunden und lieberen Freundinnen umgab ihn. Der originelle Rath Krespel war in diesem Kreise der Spiritus humoristicus, der Jugendkamerad Horn (seiner possirlich kleinen Figur halber „das Hörnchen“ genannt) hatte die Rolle der an Scherzen unerschöpflichen „lustigen Person“. Auch ein katholischer Prälat, Se. Hochwürden Damian Dumeitz, Dechant zu St. Leonhard, that unbefangen mit. Damals gab es nämlich noch vernünftige, helldenkende und liebenswürdige katholische Priester in deutschen Landen, Priester, welche zu leben und leben zu lassen verstanden. Die guten, gescheiden, fried- und duldsamen „Dicken“! Man wird ordentlich gerührt, so man jetzo ihrer gedenkt, vollends angesichts ihrer Nachfolger, der „Dünnen“ unserer Tage, und unwillkürlich wird in uns der Wunsch wach:
„Oh, ihr Dicken, steigt doch wieder lebend aus der Todesurne!
Doch mit altem, guten Magen! Werdet christliche Saturne
Und verschlingt den magern Nachwuchs! Oh, dann sind wir beider los;
Denn nicht lange mehr kann leben, wer solch’ gift’ge Kost genoß.“
Im Winter von 1773–74 war unserem Dichter das Dasein, wie er sich in einem Briefe an seine düsseldorfer Freundin Betti Jakobi ausdrückte, „recht raritätenkastenmäßig aufgeputzt“. Zu den vergnüglichsten „Raritäten“ gehörte auch das durch Klopstock in die Mode gebrachte und vom Wolfgang leidenschaftlich betriebene Schlittschuhlaufen. Einer seiner Läufe gab Veranlassung zu jener allerliebsten Scene, welche er im 16. Buche seiner Selbstbiographie beschrieb. Bettina hat im 2. Bande ihres angeblichen „Briefwechsels Goethe’s mit einem Kinde“ diese Scene in ihrer Art „aufgeputzt“, aber, wie man gestehen muß, recht hübsch. Sie behauptet, die Frau Aja habe ihr also erzählt: – „An einem hellen Wintermorgen, als ich Gäste hatte, schlug mir der Wolfgang vor, mit den Fremden an den Main zu fahren, indem er sagte: ‚Mutter, Sie hat mich ja noch nicht Schlittschuh fahren gesehen und das Wetter ist heut so schön!‘ – Ich zog meinen karmosinrothen Pelz an, der einen langen Schlepp hatte und vorn herunter mit goldenen Spangen zugemacht war, und so fahren wir hinaus. Da schleift mein Sohn herum, wie ein Pfeil zwischen den andern durch. Die Luft hatte ihm die Backen roth gemacht und der Puder war aus seinen braunen Haaren geflogen. Wie er nun den karmosinrothen Pelz sieht, kommt er herbei an die Kutsche und lacht mich ganz freundlich an. ‚Nun, was willst Du?‘ sagt’ ich. – ‚Ei, Mutter, Sie hat ja doch nicht kalt im Wagen; geb’ Sie mir Ihren Sammetrock!‘– ‚Du wirst ihn doch nicht gar anziehen wollen?‘ – ‚Freilich will ich ihn anziehen.‘ – Ich zieh’ halt meinen prächtig warmen Rock aus, er zieht ihn an, schlägt die Schleppe über den Arm und da fährt er hin wie ein Göttersohn auf dem Eise. Bettine, wenn Du ihn gesehen hättest! So was Schönes gibt’s nicht mehr! Ich klatschte in die Hände vor Lust. Mein Lebtag seh’ ich noch, wie er den einen Brückenbogen hinaus und den andern wieder herein lief und wie da der Wind ihm den Schlepp lang hintennach trug. Damals war Deine Mutter (die ‚Max‘) mit auf dem Eise; der wollt’ er gefallen.“ Sieht man da nicht die Frau Rath leibhaft vor sich, wie sie mit von Stolz und Zärtlichkeit leuchtendem Antlitz sich aus dem Kutschenschlage beugt und mit den Händen klatscht, um zu dem Jubellied ihres Mutterherzens über den „Göttersohn“ den Takt zu schlagen?
[421] An Gästen hat es von jetzt an im goethe’schen Hause nicht gefehlt. Die aufsteigende Ruhmessonne des Sohnes lockte von nah und fern seine Jugendgenossen an, ebenso wildfremde Wallfahrer zum Born des Genius, mitunter auch schmarotzendes Geziefer, das sich ja der Sonne ebenfalls freuen will. Von Jugendgenossen schwirrten zu und ab Leopold Wagner, ein Kraftgenie, das bald ausgekraftgeniet hatte, und Maximilian Klinger, dessen der ganzen Epoche ihren Namen gebendes Schauspiel „Sturm und Drang“ 1775 erschien. Die harte Lehrerin Noth hat ihn nachmals in ihre herbe Schule genommen und ihn zu einem Manne gemacht, der ohne Frage zu den bedeutendsten Charakteren seiner Zeit gehörte; schon darum, weil er unter der Uniform eines russischen Generals eine Menschenwürde und einen Stoicismus bewahrte, welche eines Republikaners der besten Zeit Roms würdig waren. Humorist Krespel hatte derweil ein neues Spiel angegeben, das Mariagespiel, allwobei je ein Männlein mit je einem Weiblein der Goethe-Gesellschaft auf Zeit zusammengegeben wurde, – in aller Unschuld und in allem Anstand, versteht sich. Diese Scherz-Ehen förderten die Munterkeit und den Zusammenhalt des Kreises nicht wenig. Zweimal war in dieser Ehestandslotterie das große Loos dem Wolfgang zugefallen, nämlich die hübsche, aufgeweckte, sechszehnjährige Anna Sibylla Münch, eines angesehenen Kaufmanns Tochter und in jedem Betracht eine „gute Partie“, so daß Herr Johann Kaspar und Frau Katharina Elisabeth es gar nicht ungern gesehen hätten, wenn der Herr Sohn aus dem Scherz einen Ernst gemacht haben würde. Aber der Herr Sohn, in welchem es dazumalen sehr heftig wertherte, ja, und auch faustete – wir werden bald mehr davon hören – hatte zum heiraten entschieden kein Talent. Seiner hübschen Scheinfrau Anna Sibylla that er indessen manches zu Liebe, unter anderem auch das Trauerspiel „Clavigo“, welches er, falls kein Gedächtnißfehler mitunterläuft, seiner eigenen Versicherung zufolge ihr zu gefallen binnen acht Tagen verfaßte. Es ist eine artige Geschichte. Caron de Beaumarchais, welcher zehn Jahre später (April 1784) seine vorweg losgelassene, mit Höllenfeuerkomik geladene Revolutionsbombe „Le mariage de Figaro“ auf die Bühne des Theatre Français schleuderte, war im Februar von 1774 das Opfer jener schnöden Rechtsbeugung geworden, welche die in Feuer getauchte Feder des Opfers aus einer Privatsache zur „cause de la nation“, ja zu einer europäischen Angelegenheit zu machen wußte. In allen gebildeten Kreisen sprach man von Beaumarchais und er verdiente diese Aufmerksamkeit als eine der abenteuerlichsten Charakterfiguren, welche über die Vorspielsbühne der französischen Revolutionstragödie gegangen sind.
Eines Tages hatte unser Wolfgang den Freunden und Freundinnen das vierte „Mémoire“ des quecksilbernen Parisers vorgelesen, worin dessen Reise nach Madrid und seine dortigen Verwickelungen mit dem Don Clavijo y Flaxardo erzählt sind. Nachdem man darüber hin- und hergesprochen, sagte Anna Sibylla zu ihrem angeloosten Ehegemahl:
„Wäre ich Deine Gebieterin und nicht blos Deine Frau, so würde ich Dich beauftragen, dieses Mémoire zu einem Schauspiele zu verarbeiten, wozu es mir ganz geeignet erscheint.“
Unser galanter Dichter alsogleich:
„Damit Du, meine Liebe, siehst, daß Gebieterin und Frau auch in einer Person vereinigt sein können, so verspreche ich Dir, heute über acht Tage das gewünschte Stück unserer Gesellschaft vorzulesen.“
Ob dieses Versprechen wörtlich erfüllt worden, wissen wir nicht; wohl aber, daß im Mai 1774 das Trauerspiel „Clavigo“ – denn Goethe hatte es angezeigt gefunden, der dramatischen Verwickelung eine tragische Wendung zu geben – in raschem Zuge niedergeschrieben wurde, so daß am 1. Juni der Dichter die Beendigung seiner Arbeit brieflich einem Freunde melden konnte. Ein anderes in Prosa geschriebenes Trauerspiel, „Stella“, dürfte wenigstens in seinen Anfängen ebenfalls in diese Zeit zu setzen sein, welche aller Herzensunruhen, Zerstreuungen und Wanderungen unseres Wolfgang’s ungeachtet eine Zeit vielseitigsten Empfangens und regsten Schaffens gewesen ist. Er schrieb damals das heitere Singspiel „Erwin und Elmire“ voll leichthinfließender Melodie, er versuchte sich im Balladentone („Der König von Thule“ – „Der untreue Knabe“), er stiftete mit tiefempfundener Pietät und den guten alten Knittelreim schön wiederum zu dichterischen Ehren bringend und literaturfähig machend dem trefflichen Meistersänger von Nürnberg ein unvergänglich Denkmal („Hanns Sachsens poetische Sendung“). Wenn Freund Merck den „Clavigo“ und die „Stella“ wirklich als „Quark“ bezeichnet hat, wie ihm Goethe nachsagt, so that er hinsichtlich des erstgenannten Drama’s entschieden unrecht. Der Clavigo ist sicherlich eines der bühnengerechtesten und wirksamsten deutschen Stücke und die Figur des Carlos einer der lebenswahrsten, in sich geschlossensten Charaktere, die jemals von einem deutschen Dramatiker geschaffen wurden. Zugleich mag man in diesem Charakter eine psychologisch-biographische Merkwürdigkeit erblicken, insofern derselbe deutlich darthut, daß in seinem Schöpfer doch schon zu dieser Zeit, inmitten von all dem Sturm und Drang, jener Weltverstand sich zu entwickeln begonnen hatte, welcher aus den Werken Goethe’s jeden Kenner und jede Kennerin von Welt und Menschen so sympathisch anspricht. Im Uebrigen hat der Dichter den Clavigo für eine Ergänzung der im Götz abgelegten Beichte seiner an Friederike Brion begangenen Sünde erklärt. Die „Stella“ geben wir preis. Es zucken darin wohl einzelne blendend prächtige Blitze der Leidenschaft auf, deren Naturwahrheit beweist, daß wir es auch hier mit einem Stücke goethe’scher Confession zu thun haben; aber das Ganze ist doch nur ein künstlich überwürztes Residuum der Wertherei und hat einen – einen – wie soll ich sagen? nun ja, einen mormonischen Beigeschmack.
Die schöpferische Hauptsorge unseres wachsenden Titans war jedoch zu dieser Zeit viel großartigeren Problemen zugekehrt, während er untergeordnetere so zu sagen spielend bewältigte und abthat. Den tragischen Stoff „Cäsar“, welcher, wie wir sahen, zu Straßburg ihm nahegetreten, ließ er fallen und hat auch denselben nie wieder aufgenommen; auch dann nicht, als ihm am 2. October 1808 Napoleon zu Erfurt sagte:
„Sie, Monsieur Goethe, sollten den Tod Cäsars auf eine vollwürdige Weise und großartiger als Voltaire schreiben. Das könnte die schönste Aufgabe Ihres Lebens werden. Die Tragödie müßte die Schule der Könige und der Völker sein; das ist das Höchste, was der Dichter erreichen kann.“
Goethe hatte aber schon um 1773–1774 zwar nicht klar erkannt, aber doch mit genialem Instinct herausgefühlt, was die „schönste Aufgabe“ seines Lebens sei – die Faust-Dichtung. Freilich hatte dieses Unternehmen dazumal noch für eine Weile die Concurrenz anderweitiger hochbedeutsamer Entwürfe zu bestehen. Denn es drängten sich gestaltungheischend zugleich auch der „Mohammed“, der „Prometheus“ und der „Ewige Jude“ an unseren Dichter heran – auch drei gewaltige Kerle, fürwahr.
Mit dem großen arabischen Propheten hat sich der Wolfgang am meisten eingelassen. Nur eine einzige Probe seiner dichterischen Beschäftigung mit diesem Stoffe gelangte zur Aufnahme in seine Werke: – „Mohammeds Gesang“ (unter die „Hymnen“ eingereiht), in welchem Monolog, wie mir scheint, der Stifter des Islam das Werden und Wachsen seines weltgeschichtlichen Werkes natursymbolisch weissagt. Weiter gediehen ist der goethe’sche „Prometheus“, auch in seiner fragmentarischen Gestalt verständlich genug als das weitaus kühnste Manifest, welches der Titanismus deutscher Sturm- und Drangzeit, das sich selbst erfassende menschliche Bewußtsein in seinem souveränsten Trotze rebellisch gen Himmel geschleudert hat. Der Protest gegen die Ueberlieferung spitzt sich zu ihrer schneidigsten Schärfe zu in dem Schlußmonolog des Gott-Titan, wie ihn Sophokles nennt, des „Feuerbringers“ Prometheus, und nicht allein an die Adresse des hellenischen Zeus ist das Trotzwort gerichtet:
„Ich Dich ehren? Wofür?
Hast Du die Schmerzen gelindert
Je des Beladenen?
Hast Du die Thränen gestillet
Je des Geängsteten?
Hat nicht mich zum Manne geschmiedet
Die allmächtige Zeit
Und das ewige Schicksal,
Meine Herren – und deine?
Hier sitz’ ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei.
Zu leiden, zu weinen.
Zu genießen und zu freuen sich
Und Dein nicht zu achten
Wie ich!“
[422] Wenn das goethe’sche Prometheusgedicht für ein culturgeschichtliches Document der in den siebenziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Deutschland eingetretenen Gährungsepoche anzusehen ist, so muß die gleichzeitig von unserem Dichter unternommene und ebenfalls nur fragmentarisch ausgeführte Ahasverdichtung als ein höchst wichtiges Actenstück zu seiner eigenen religiösen Entwickelungsgeschichte betrachtet werden. Schon in seinen Knabenjahren hatte er sich mittels fleißiger Volksbücherlesung die christliche Legende vom ewigen Juden fest eingeprägt. Jetzt ergriff er dieselbe, um sie zum poetischen Vehikel einer ebenso sehr pathetischen als auch polemischen Auseinandersetzung mit der kirchlichen Tradition zu machen. Er wollte die Figur des ewig wandernden Juden benutzen, um mittels der Ahasverabenteuer die wichtigsten Erscheinungen des religions- und kirchenhistorischen Processes dichterisch zu veranschaulichen, und er hoffte wohl auch, als Resultat seiner Bemühung „ein Christenthum zu seinem Privatgebrauche“ zu gewinnen. Der Ahasverustorso ist, wunderlich zu sagen, eine von Goethe’s im großen Publicum am wenigsten bekannten Dichtungen, und doch muß dieser Torso als eine seiner genialsten, ursprünglichsten, so recht als ein Nummer-Eins-Ding anerkannt werden. Der Eingang:
„Um Mitternacht wohl fang’ ich an,
Spring’ aus dem Bette wie ein Toller;
Nie war mein Busen seelenvoller,
Zu singen den gereisten Mann. …“
ist reines Kraftgenie, nicht minder die allerdings nicht gerade schmeichelhafte, jedoch naturgetreue Conterfeiung des Priesterthums: –
„Die Priester vor so vielen Jahren
Waren, als wie sie immer waren
Und wie ein jeder wird zuletzt,
Wenn man ihn hat in ein Amt gesetzt.
War er vorher wie ein’ Ameis’ krabblig
Und wie ein Schlänglein schnell und zapplig,
Wird er hernach in Mantel und Kragen
In seinem Sessel sich wohlbehagen.
Und ich schwöre bei meinem Leben,
Hätte man Sanct Paulen ein Bisthum geben,
Poltrer wär’ worden ein fauler Bauch
Wie caeteri confratres auch.“
Ebenso klingt der kraftgeniale Ton vor in der Charakteristik des jerusalemischen Schusters, der „halb Essener, halb Methodist, Herrnhuter, mehr Separatist“, und dann in der Scene zwischen Gottvater und Gottsohn: –
„Der Vater saß auf seinem Thron,
Da rief er seinen lieben Sohn,
Mußt’ zwei- bis dreimal schreien.
Da kam der Sohn ganz überquer
Gestolpert über Sterne her
Und fragt, was zu befehlen?“
Der Vater hat zu befehlen, daß der Sohn zum zweitenmale zur Erde niedersteigen sollte, weil es da drunten wieder einmal ganz elend herginge und alles aus Rand und Band wäre. Du aber –
„Du hast ein menschenfreundlich Blut
Und hilfst Bedrängten gerne“ –
auf welche in ironischem Tone vorgebrachte Bemerkung der Sohn entgegnet:
„Du fühlst nicht, wie es mir durch Mark und Seele geht,
Wenn ein geängstet Herz bei mir um Rettung fleht,
Wenn ich den Sünder seh’ mit glühenden Thränen. …“
und damit wendet sich der Ton in’s Pathetische hinüber, zu einer herrlichen Schilderung des zweiten Herabkommens Christi. Auf der Spitze des Berges, auf welchem er vormals vom Satan versucht worden, hält er an und: –
„‚Wo,‘ rief der Heiland, ‚ist das Licht,
Das soll von meinem Wort entbronnen?
Weh’! und ich seh’ den Faden nicht,
Den ich so rein vom Himmel ’rab gesponnen.
Wo haben sich die Zeugen hingewandt.
Die treu aus meinem Blut entsprungen?
Und, ach, wohin der Geist, den ich gesandt?
Sein Weh’n, ich fühl’s, ist all verklungen!‘“
Von meisterlicher Kaustik ist dann wieder das letzte Bruchstück, wo Christus, nachdem er „der Länder satt, wo man so viele Kreuze hat“, in protestantische Gebiete und zu dem lutherischen Oberpfarrer kommt. Die Reformation kriegt da auch was ab: –
„Sie nahm den Pfaffen Hof und Haus,
Um wieder Pfaffen ’nein zu pflanzen,
Die nur in allem Grund der Sachen
Mehr schwätzen, weniger Grimassen machen.“
Mohammed, Prometheus und Ahasver mußten jedoch zurücktreten vor der einheimischen Sagengestalt des Doctor Faust. Diese war unserem Dichter ebenfalls schon von seinen Knabenjahren her bekannt und lieb aus dem Volksbuch, welches ja in seiner Vaterstadt Frankfurt im Jahre 1587 in ältester und echter Gestalt zum erstenmal gedruckt worden. An demselben Orte also, wo der ganze Sagenkreis, welcher sich im Verlaufe des sechszehnten Jahrhunderts um die abenteuerliche Figur des Wunderarztes aus Knittlingen in Schwaben hergelegt hatte, zuerst in literarischer Form in die Oeffentlichkeit gelangt war, dort stand der Dichter auf, welchem gegeben war, diesen deutschen Stoff zu einem universalen Kunstwerk, zu einem Weltgedichte zu gestalten, und zwar – ein Wort Gödeke’s zu entlehnen – mittelst der „Herausbildung des Einfachst-Menschlichen aus einem Wust mittelalterlicher Abenteuerlichkeit.“ Ich sagte mit Bedacht, zu einem „Weltgedicht“ habe Goethe die Faustsage gestaltet; denn es ist meine volle Ueberzeugung, daß dem goethe’schen Faust für das moderne Weltalter dieselbe Bedeutung zukommt, welche für das antike den homerischen Gesängen und für das mittelalterliche der göttlichen Komödie des Dante zukam.
Das Faust-Thema hat für einen richtigen Deutschen so viel Anziehendes, daß es nicht leicht, dasselbe nur im Vorübergehen zu berühren und nicht dabei zu verweilen. Wir aber dürfen uns trotzdem hier noch nicht dabei aufhalten, sondern müssen dies bis dann versparen, wann vom Abschluß und dem Erscheinen des ersten Theils der Faust-Dichtung zu handeln sein wird. Der faustischen Arbeit Goethe’s werden wir inzwischen freilich noch mehrmals zu gedenken haben. Zur Stunde jedoch ist es nur angezeigt, auf die Anfänge des eigentlichen Lebenswerkes unseres Dichters aufmerksam zu machen, eines Werkes, welches auch das Einzig-Eigenthümliche hat, daß es im stürmischen Saus und Braus der Jugend angehoben und im stillen Dämmerungsfrieden des höchsten Greisenalters beschlossen worden ist. … Die Einwirkung seiner frommen Freundin Klettenberg hatte, wie wir gesehen, den jungen Streber von Wolfgang zur Lesung von allerhand mystischen, alchymistischen und kabbalistischen Scharteken geführt und er war schon zu seiner straßburger Zeit im „Geisterreich“, das heißt in der vom antiken und mittelalterlichen Zauberglauben aufgebauten, eingerichteten und bevölkerten Phantasiewelt wohlbewandert. Ob ihn die Faustsage, wie einige wollen, in Gestalt des alten Puppenspiels schon in seinen Kinderjahren mit nachhaltiger Gewalt ergriffen habe, steht dahin. Aus der frankfurter Messe von 1773 sah er dies alte Marionettenstück wieder einmal tragiren und da scheint ihn allerdings das Thema so recht gepackt zu haben. Wir sind aber zu der Annahme berechtigt, daß er schon während seines Verweilens in Wetzlar nicht nur häufig faustisch gestimmt gewesen sei, sondern auch Faustdichtungsabsichten gehabt habe. Einer seiner wetzlarer Freunde nämlich war F. W. Gotter, welcher im Jahre 1770 gemeinsam mit Boie den ersten „Musenalmanach“, das Organ des göttinger „Hainbundes“, herausgegeben hatte. Diesem Freunde, der ihn mit den Hainbündlern und Musenalmanächlern in Beziehung brachte, mag der Dichter seinen Faustgedanken vertraut haben. Denn nachdem er zu Ostern 1773 ein Exemplar seines Götz mit einer, wie zu vermuthen steht, kraftgeniemäßig stilisirten Scherzepistel in Versen an Gotter geschickt hatte, antwortete dieser im gleichen Tone, theilte mit, daß seine „Epistel über Starkgeisterei“ in Wieland’s „Deutschem Merkur“ erscheinen werde, und schloß also:
„Du nächstens im Mercurius
Wirst finden was von meiner Mus’,
Und freut mich recht von Herzensgrund,
Wenn dir der Dreck gefallen kunnt’.
Schick’ mir dafür den Doctor Faust,
Sobald dein Kopf ihn ausgebraus’t.“
Mit dem „Ausbrausen“ ging es aber nicht so rasch, wie der gute Gotter wünschen mochte. Zunächst verlangte der Werther „ausgebraus’t“ zu werden. Doch fällt die Schaffung der Anfänge von Faust – also der das Gedicht eröffnende große Monolog des Helden und das daran sich knüpfende Gespräch mit dem [423] Famulus Wagner – gerade in die Wertherzeit. Im Sommer von 1774 sodann muß der Dichter fortgefaustet haben. Denn als im September Klopstock als Gast im goethe’schen Hause weilte, las ihm der Wolfgang, wie er uns selbst erzählt, die „neuesten“ Scenen des Faust vor. Von da ab ist die Arbeit an dem großen Werke bis zum Abgange des Dichters nach Weimar wohl nie wieder ganz ausgesetzt worden. Denn wir dürfen zuversichtlich glauben, daß der labyrinthische Lebenswirrwar und das peinvolle Herzenswirrsal, worein Goethe gerade jetzt durch seine Beziehungen zu Lavater, zu Basedow, zu Jakobi, zu den Stolbergen und zu dem Erbprinzen von Weimar, sowie durch seine Leidenschaft für Lili geworfen wurde, die Fauststimmung mächtig in ihm genährt und ihn zu zeitweiligen vulkanischen Ergüssen derselben getrieben haben.
[468]
Der Erfolg ist ein kräftiger Magnet, der Ruhm leuchtet wie ein lockendes Licht, und das Glück hat viele Freunde. Unser auf der Weltbühne mehr und mehr Figur machender Wolfgang erfuhr das auch und zwar, wie es zu geschehen pflegt, eben so sehr zu seinem Vortheil wie zu seinem Schaden. Denn wie es wahr ist, daß ein Menschenkind nur in dem „Geräusch der Welt“ zu einem „Charakter“ sich „bildet“, so ist es nicht minder wahr, daß von diesem Weltgeräusche die inneren Stimmen, welche dem Menschen doch das Beste sagen, oft, zu oft überlärmt werden. Gar viel von unserm Eigensten, Ursprünglichsten bleibt an dem Dorngestrüppe hängen, durch welches der Weg zur Charakterbildung sich hinwindet. Erfahrung ist ein recht hübscher Besitz, gewiß; aber es fragt sich am Ende doch sehr, ob dieser Besitz sich der Mühe lohne, so viele Zeit auf den harten Bänken der Schule „Enttäuschung“ versessen zu haben. In späterer Zeit, als Fünfundsiebenzigjähriger, war Goethe sehr geneigt, diese Frage verneinend zu beantworten; denn am 27. Januar 1824 hat er zu seinem Famulus Eckermann gesagt: „Mein Leben ist im Grunde nichts als Mühe und Arbeit gewesen. Es war das ewige Wälzen eines Steins, der immer von neuem gehoben sein wollte. Der Ansprüche an meine Thätigkeit, sowohl von außen als von innen, waren zu viele. Mein eigentliches Glück war mein poetisches Sinnen und Schaffen. Allein wie sehr war dieses durch meine äußere Stellung gestört, beschränkt und gehindert! Hätte ich mich mehr vom öffentlichen und geschäftlichen Wirken und Treiben zurückgehalten und mehr in der Einsamkeit leben können, ich wäre glücklicher gewesen und würde als Dichter weit mehr gemacht haben.“ Glücklicher? Das ist möglich. Als Dichter productiver? Nein. Die goethe’sche Poesie ist nicht vom Genius mit der Einsamkeit gezeugt worden. Sie hat von jungauf nicht das Zeug zur Einsiedlerin gehabt. Sie war und ist ein Weltkind, natürlich im schönsten und besten Sinne des Wortes. Sie mußte in und mit der Welt leben; wie hätte sie sonst so lebenswahr, so weltverständig, so realistisch sein können?
Selbstverständlich waren die enttäuschungsmüden und erfahrungsschweren Stimmungen des Goethe von 1824 nicht die des glaubenden, liebenden und hoffenden Goethe von 1774 bis 1775. Da trieb er es laut und lustig oder auch trüb und traurig, wie es eben kam, mit im Getriebe der Welt, schob und ließ sich schieben und hatte gar nichts dagegen, wenn der Kreis seiner Bekanntschaften von Tag zu Tag sich erweiterte und ihm von allen Seiten her Freunde zuströmten. Im Gegentheil, er ging auch wohl selbst welche suchen. So Klopstock, dessen Einfluß und Ansehen dazumal im Zenith standen; so Lavater, den Propheten der Physiognomik. Auch eine eigenthümliche Gestalt der Sturm- und Drangzeit, dieser Sanct Lavatus, der von Christlichkeit, Menschenbrüderlichkeit und Eitelkeit – denn eitel war er wie ein Franzose – aufgespannte Helfer beim Sanct Peter in Zürich. Insofern er die biblisch-christliche Orthodoxie als ein [469] Gährungsmittel in dem Gefühls- und Gedankenchaos von damals zu verwenden und zu verwerthen trachtete, hatte er Aehnlichkeit mit Hamann; aber er war in jedem Betracht reinlicher und wohlduftender als dieser aufgeschwemmte Schmarotzer, welchen seine Verehrer den „Magus im Norden“ nannten, der aber, weil er so zu sagen die Bibel mit dem Contrat social Rousseau’s verkuppelte, eigentlich der Oberconfusionsrath Germaniens heißen sollte. Im Uebrigen ist Lavater bei all seiner rahmtortesüßen Fühlsamkeit und kraftgeniemäßigen Ueberschwänglichkeit ein praktischer Schweizer gewesen, welcher seine Apostelgänge und Physiognomikerwanderungen zugleich zu Geschäftsreisen zu machen verstand. Es ist doch ein deutliches Zeichen, wie unser junger Titan in dem allgemeinen Nebel der siebenziger Jahre redlich mitnebelte, daß er im Sanct Lavatus einen congenialen Bruder zu erkennen glaubte.
Gar zu lange hielt diese Illusion freilich nicht vor. Aber im Sommer von 1774 war sie stark. Da, zu Ende Juni, kam der Prophet von Zürich nach Frankfurt und trat beim Wolfgang ein.
„Bist’s?“
„Bin’s!“
So die Begrüßung, ganz im Kraftstil der Wild, La Feu und Blasius in Klinger’s Drama. Der Wolfgang machte den also im Sturme gewonnenen Freund mit der „schönen Seele“ Klettenberg und anderen Frömmlichkeiten bekannt, und der Züricher Apostel schwamm eine Woche lang mit Behagen in dieser Atmosphäre parfümirter Christlichkeit. Dann hub er sich von dannen gen Ems. Sein ganzes Auftreten muß aber immerhin einen bedeutenden Eindruck gemacht und hinterlassen haben. Sogar unser darmhessischer Kriegszahlmeister Merck mephistophelisirte zwar die frommen Frankfurter Weiblein, welche in ihrem süßen Enthusiasmus dem Herrn Helfer wohl gern gethan, wie Maria Magdalena vor Zeiten Jesu that, d. h. ihm gern liebsam das Haupt gesalbt und ihn mit ihren Haaren abgetrocknet hätten; aber doch konnte auch der Schalk nicht umhin, im August über Lavater an Nikolai zu schreiben: „Wenige Menschen habe ich gesehen, die auf mich einen so erbaulichen Eindruck gemacht hätten wie dieser außerordentlich gute Mensch.“
Ob Lavater schon damals mit seinem orthodoxen Entweder – Oder: „Entweder Christ oder Atheist!“ gegen unsern Dichter herausrückte, möchte zu bezweifeln sein; denn der Wolfgang wäre doch wohl darob schon jetzt kopfscheu und widerlavaterisch geworden, wie er es später wurde, als ihm die Seelenfischerei Sancti Lavati weniger harmlos erschien, als sie trotz alledem war.
Im Juli bewerkstelligte ein anderes Original jener an Originalen so reichen Zeit seine Epiphanie im goethe’schen Hause, der pädagogische Kraftstoffel Basedow, ein Stark- und Schwarmgeist aus dem ff, Reformer des Erziehungswesens nach Rousseau’-schen Grundsätzen, item unermüdlicher Tabakraucher und unerbittlicher Weinvertilger. In letzterer Eigenschaft inspirirte er, d. h. die Erinnerung an ihn, unsern Dichter lange Jahre nachher zu seinem lustigen Trinklied „Ergo bibamus!“ Basedow, in seiner Art nicht minder, sondern sogar noch mehr als Lavater ein Geschäftsreisender, begab sich zu dem Herrn Helfer nach Ems, um diesen zu vermögen, daß er ihm für sein Dessauer Philanthropinum Zöglinge „weible“, wie die Schweizer sagen. Der Wolfgang reiste bald den beiden sonderbaren Schwärmern nach, traf am 15. Juli zu Ems ein und trieb es da mit Maskiren, Tanzen, Zechen verschiedene Tage und Nächte lang kraftgenialisch genug. Zwischenhinein hat er auf einer Lahnfahrt seine schönen ernsten Strophen „Geistesgruß“ gedichtet. Sonst war die Knittelreimlaune obenauf und wie! Zeugniß hierfür das vom Wolfgang aufgenommene Protokoll über den Verlauf des Mittagessens, so unsere drei Reisenden auf ihrer Fahrt rheinabwärts im Gasthause „Zu den drei Reichskronen“ zu Koblenz eingenommen haben: –
„Zwischen Lavater und Basedow
Saß ich bei Tisch, des Lebens froh.
Herr Helfer, der war gar nicht faul,
Setzt’ sich auf einen schwarzen Gaul,
Nahm einen Pfarrer hinter sich
Und auf die ‚Offenbarung‘ strich,
Die uns Johannes der Prophet
Mit Räthseln wohl versiegeln thät;
Eröffnet die Siegel kurz und gut,
Wie man Theriaksbüchsen öffnen thut.
Und maß mit einem heiligen Rohr
Die Kubusstadt und das Perlenthor
Dem hocherstaunten Jünger vor.
Ich war indeß nicht weit gereist,
Hatt’ ein Stück Salmen aufgespeist.
Vater Basedow unter dieser Zeit
Packt einen Tanzmeister an seiner Seit’
Und zeigt ihm, was die Taufe klar
Bei Christ und seinen Jüngern war,
Und daß sich’s gar nicht ziemet jetzt,
Daß man den Kindern die Köpfe netzt.
Drob ärgert sich der Andre sehr
Und wollte gar nichts hören mehr
Und sagt, es wüßt’ ein jedes Kind,
Daß es in der Bibel anders stünd’.
Und ich behaglich unterdessen
Hatt’ einen Hahnen aufgefressen.“
Die Rheinreise wurde gemeinsam bis Köln fortgesetzt, „Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind in der Mitten.“ Dann suchte das „Weltkind“ seinen Straßburger Mitstudenten und Tischgenossen Jung-Stilling in Elberfeld auf, wo er außerdem mit Fritz Jakobi und Heinse zusammentraf. Auch Sanct Lavatus langte von Köln her mit einem Schweife von mehr oder weniger Erweckten an. Der gute Jung gibt eine wider Willen ergötzliche Schilderung von einer im Hause eines Elberfelder Frommen abgehaltenen Conventikelsitzung, wobei sich die drei durch Jakobi, Heinse und Goethe dargestellten Schattirungen von Kraftgenies sonderbarlich genug ausgenommen haben mögen. Jung hatte aber doch selber seine Freude daran, wenn der Götz- und Wertherdichter die versammelten Mucker, so der eine oder andere ihn „mit starren und gleichsam bemitleidenden Augen ansah“, mit „großem hellem Blick darniederschoß“.
Mit dem ganzen Freundschaftsüberschwang jener Zeit schloß sich Jakobi unserm Groß- und Hellblicker an, welcher den neugewonnenen Freund nach Düsseldorf begleitete, von wo sie Ausflüge nach Köln und Schloß Bensberg machten. Achtunddreißig Jahre später hat Jakobi den großen Freund daran erinnert, daß derselbe in einer Laube des Schloßgartens damals begeisterungsvoll über Spinoza sich ausgelassen habe, woraus zu schließen, daß Goethe diesem erlauchten Denker, der ihn seine erhabene Resignation lehrte, zu jener Zeit schon recht nahegetreten sein mußte.
Am 13. August war der Dichter wieder daheim in Frankfurt, wo er dann im October durch den schon früher gelegentlich erwähnten Besuch Klopstock’s geehrt wurde. Der Messiassänger kam von Göttingen und ging nach Karlsruhe, wohin der Markgraf Karl Friedrich ihn eingeladen hatte. Am erstern Orte war ihm von Seiten der Hainbündler, die ihn vergötterten, ein Weihrauchopfer gebracht worden und der Duft desselben lag ihm noch in der Nase, als er in Frankfurt unsern jungen Titan für den Hainbund werben wollte. Aber der Wolfgang mochte sich erinnern, daß Freund Merck wohl im Hinblick auf die Hainbündelei einmal gesagt hatte: „Die Anderen wollen das Poetische, das Imaginäre verwirklichen und das gibt nur dummes Zeug; deine Bestimmung ist, dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben“ – und ließ sich nicht weiter auf die wohlgemeinte Phantasterei ein. Seinem Gaste, der sich, wie Goethe meldet, als „Stellvertreter höherer Wesen, der Religion, Sittlichkeit und Freiheit“ betrachtete und gab, las er Faust-Fragmente vor, welche gnädig aufgenommen wurden. Aber ein dauerndes gutes Verhältniß hat sich zwischen den Beiden nicht hergestellt, und der offene Bruch erfolgte bekanntlich unlange nach Wolfgang’s Uebersiedelung nach Weimar.
Klopstock war nicht der Mann, mit guter Miene oder gar mit herzlicher Freude sich darein zu finden, daß Goethe über ihn hinauswuchs, wie wir das den guten Papa Wieland thun sehen werden, und der über den Priester der Muse von Zion Hinausgewachsene seinerseits hatte auch bald kein Hehl, daß der von Klopstock „auf Golgatha’s Hügel geführte überepische Kreuzzug“ eigentlich nur in’s theologische Nebelheim geführt habe und im Grunde herzlich langweilig sei. Der Patriarch der deutschen Literatur rächte sich in einer Weise, wie sie weder seiner Christlichkeit noch seiner mit Recht verehrten Ehrwürdigkeit anstand, indem er handschriftlich-epigrammatische Nadelstiche auf Goethe versuchte, [470] die allesammt sehr stumpf ausfielen.[1] Die Sache ist, Klopstock und Goethe waren grundverschiedene Naturen und konnten auf die Länge unmöglich zusammengehen. Die Götter, an die sie glaubten, litten es nicht. Klopstock glaubte an den jüdisch-christlich-außerweltlichen Bibelgott, Goethe, zum pantheistischen Heiden angelegt und durch Spinoza erzogen, glaubte an den innerweltlichen Allumfasser, Allbeweger, Allerhalter, von dem er im Gegensatze zum Klopstock’schen gesagt hat:
„Was wär’ ein Gott, der nur von außen stieße,
Im Kreis das All am Finger laufen ließe!
Ihm ziemt’s, die Welt im Innern zu bewegen,
Natur in sich, sich in Natur zu hegen,
So daß, was in ihm lebt und webt und ist,
Nie seine Kraft, nie seinen Geist vermißt.“
Zwei bedeutsame Erlebnisse waren dem Wolfgang bis zum Jahresschlusse aufgespart. Das eine war die erste Anknüpfung mit dem Weimarischen Hofe, das andere die Bekanntschaft mit Lili (Anna Elisabeth Schönemann), von welcher Schönen, so wir der mehr als billig flunkernden Bettina („Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde“, I, 130) trauen dürften, die Frau Rath gesagt hätte, daß dieselbe „die erste Heißgeliebte“ ihres Sohnes gewesen sei. Das ist aber sicherlich nur eine Bettina’sche Schrulle und Schnurre.
In der Abenddämmerung des 11. December trat ein Fremder in unseres Dichters Stube und gab sich ihm als Hauptmann Karl Ludwig von Knebel zu erkennen, welcher gekommen, dem Verfasser des „Götz“ und „Werther“ seine Achtung zu bezeigen. Knebel war der Erzieher des Prinzen Konstantin von Sachsen-Weimar, jüngeren Bruders des Erbprinzen Karl August, und waren die Prinzlichkeiten mit Gefolge auf einer Reise nach Karlsruhe begriffen. Der Wolfgang und der Hauptmann fanden rasch großes Gefallen aneinander und jener ging daher um so lieber auf das Ansinnen ein, sich den beiden Prinzen vorzustellen, welche begierig waren, seine persönliche Bekanntschaft zu machen.
Diese erste Zusammenkunft mit dem nachmaligen Herzoge Karl August, welcher damals auf seiner Brautschaureise zu der Prinzessin Luise von Hessen-Darmstadt begriffen war, wurde für unseres Dichters äußere Stellung im Leben entscheidend und somit ohne Frage auch für den Gang und Wandel seines Genius. Der jugendliche Karl August ist durch Goethe’s Persönlichkeit so sehr ergriffen und gefesselt worden, daß rasch in ihm der Gedanke aufstieg und bald bestimmtere Gestalt gewann, den „lieben Menschen“ in seine Nähe zu ziehen. Dem Dichter seinerseits gefiel der junge, muntere, burschikose, von der Kraftgenialität ebenfalls sehr merkbar angefaßte Fürst auch ganz gut und er ging daher auf das schnell sich entwickelnde Freundschaftsverhältniß zu demselben bereitwillig ein. Viel bereitwilliger, als es dem ehrensteifen Herrn Johann Kaspar gefiel, welcher zu der sich bildenden Kameradschaft zwischen Fürst und Bürger bedenklich den alten Kopf schüttelte und nachdrucksam sein reichsstädtisch-abmahnendes „Weit vom Jupiter, weit vom Blitz; lang’ bei Hof, lang’ bei Höll’!“ vorbrachte. Allein im Verlaufe des nächsten Jahres wurde das Pflaster seiner Vaterstadt dem Wolfgang allmälig so brennend heiß – wir werden sehen, warum –, daß er allen väterlichen Bedenken zum Trotz die Einladung seines fürstlichen Freundes Karl August, welcher im September 1775 aus einem Erbprinzen ein Herzog wurde und vier Wochen später seine Braut Luise von Hessen heimführte, ja die bestimmt ausgesprochene und dringlich wiederholte Einladung, nach Weimar zu kommen, annahm und seinen Vorsatz, derselben nachzuleben, verschiedener Weiterungen und Hindernisse ungeachtet zur Ausführung brachte. Einmal in Weimar, kam er dann nicht wieder los.
Doch soweit sind wir noch nicht, sondern vorerst noch bei der nicht sehr erquicklichen Lili-Geschichte.
[517]
Die Liebebedürftigkeit des „Göttersohns“ der Frau Aja angesehen, war er jetzt, da das Jahr zu Ende ging, eine gute Weile ohne Flamme gewesen. Flämmchen zählen nicht … Auf dem großen Kornmarkt in Frankfurt zeichnete sich damals vor den übrigen Gebäuden das schöne große Eckhaus neben der reformirten Kirche aus. Im Erdgeschosse dieses Hauses wurde ein großes Bankgeschäft betrieben, welchem die Söhne der verwittweten Besitzerin, Frau Susanne Elisabeth Schönemann, vorstanden. In den glänzend eingerichteten Zimmern, welche neben und über den Kontorräumen lagen, empfing Frau Schönemann allabendlich Gesellschaft, zu deren Unterhaltung die Musik das meiste thun mußte. In dieses Haus wurde unser Dichter an einem der letzten Abende des Jahres 1774 eingeführt und war nur eben in den Musiksaal eingetreten, als sich die Tochter des Hauses, die sechszehnjährige Anna Elisabeth, vertraulich und zärtlich Lili geheißen, an den Flügel setzte und mit Fertigkeit, Verständniß und Anmuth eine Sonate spielte. Nachher stellte sich Goethe dem jungen Mädchen vor und die Bekanntschaft war gemacht. „Wir blickten einander an“ – erzählt er in seiner Selbstbiographie – „und ich will nicht leugnen, daß ich eine Anziehungskraft der sanftesten Art zu empfinden glaubte.“ Als er wegging, hieß die Mutter ihn wiederkommen, in welche Aufforderung die Tochter „mit einiger Freundlichkeit einstimmte.“ Er kam wieder und kam immer wieder und hatte bald zwingende Veranlassung, sein Lied „Neue Liebe, neues Leben“ zu dichten, welches mit der Frage:
„Herz, mein Herz, was soll das geben?
Was bedränget dich so sehr?“
anhob. Nun, ihn bedrängte eben wieder einmal das liebe Drangsal, welches nie ausgesagt und nie ausgesungen sein wird, so lange Mann und Weib auf Erden. Aber war die Lili-Liebe wirklich eine so große Leidenschaft, wie uns der Dichter glauben machen will? Doch kaum! Die Darstellung des Verhältnisses in „Dichtung und Wahrheit“ trägt entschieden die Signatur der ersteren: es ist augenscheinlich idealisirt und mittels der Zeitferne in verschönernde Beleuchtung gerückt. Kein Zweifel allerdings, der Wolfgang brannte und Lili glimmte und Beide hatten es, nachdem sie einmal durch die Dazwischenkunft einer resoluten Freundin (Fräulein Delf) soweit gekommen, sich mit einander zu verloben, zeitweilig auf eine Heirat abgesehen. Aber man halte doch einmal die goethe’sche Lili-Lyrik mit seiner Friederike-Lyrik zu unbefangener Prüfung zusammen, und man wird leicht herausfühlen, in welcher das echte Himmelsfeuer lodert. Außerdem scheint mir zur Werthung der angeblichen Leidenschaft Goethe’s für Fräulein Schönemann ein nicht unwichtiges Kriterium der Umstand darzubieten, daß zu gleicher Zeit unser Dichter mittelst Briefwechsels zu der jungen Augusta von Stolberg, einer Schwester der beiden hainbündlerischen Grafen, in ein so leidenschaftliches Freundschaftsverhältniß gerieth, daß zu dessen Bezeichnung, wie er im Januar von 1775 an die neue Freundin schrieb, „die Namen Freundin, Schwester, Geliebte, Braut, Gattin“ nicht ausreichten – ein starkes Stück von Wertherei übrigens, besonders wenn man bedenkt, daß Goethe das also angehimmelte „Gustchen“ nie mit leiblichen Augen gesehen. Was Lili angeht, so hatte sie schon bei einer der ersten Zusammenkünfte mit dem Dichter diesem das bedenkliche Geständniß gemacht, sie habe an sich „eine gewisse Gabe, anzuziehen, bemerken müssen, womit zugleich eine gewisse Eigenschaft, die Angezogenen fahren zu lassen, verbunden sei.“ Wohl, sie zog ihn an und ließ ihn fahren, und wir haben das schöne, in der Fülle des Reichthums und Behagens erzogene, verzogene, launische Kind, welches nicht wußte, weder woher das Brot komme, noch was Leid sei, stark im Verdacht, daß ihm die Laune gekommen, es müßte doch hübsch sein, von einem berühmten und noch dazu schönen Manne geliebt zu werden – eine ganz begreifliche und verzeihliche Eitelkeit bei einem jungen Mädchen, aber doch eben nur eine Eitelkeit. Eitelkeiten pflegen gegen Widerwärtigkeiten nicht standzuhalten und an Widerwärtigkeiten fehlte es nicht; die beiden Familien Goethe und Schönemann waren ja von Anfang an der Verbindung des jungen Paares entgegen und blieben es, auch nachdem sie die improvisirte Verlobung widerwillig anerkannt hatten. Herr Johann Kaspar und Frau Katharina Elisabeth hatten das ganz richtige Gefühl, eine solche „Putz- und Staatsdame“ von Schwiegertochter würde in den solid-bürgerlichen Rahmen ihres Haushalts nicht passen. Auch waren sie vollauf berechtigt, das Herabsehen der schönemann’schen Geldprozerei auf diesen ihren solid-bürgerlichen Haushalt unverschämt zu finden und darum jedes Entgegenkommen zu vermeiden. Frau Schönemann und ihre Söhne hinwiederum waren der Geldreligion zu sehr ergeben, um nicht merken zu lassen, daß die Bewerbung des Advokaten und Versemachers um ihre Tochter und Schwester eben nur eine geduldete sei und daß Lili eigentlich von Religions-, Rechts- und Anstandswegen einen Prozen heiraten müßte. Denn Geld und Geld gesellt sich gern, steht geschrieben im Evangelio Mammonis, Kap. 13, V. 25.
Das Verhältniß schleppte sich den Winter über und in den Sommer hinein der Art fort, daß der arme Bräuterich zwischen Wonne und Weh und Weh und Wonne „in schwebender Pein“ schwankte. Das Weh schlug namentlich dann vor, wann Lili’s Gefallsucht es nicht lassen konnte, auch anderen Männern gefallen zu wollen und mit ihren Talenten und Talentchen vor der Gesellschaft zu glänzen. Derartige Püppchen haben das so. Doch muß gesagt werden, daß Lili’s Koketterie eine harmlose gewesen, zum größeren Theile wohl auch verschuldet durch die Unstätheit ihres Verlobten, der heute Glut und morgen Frost war. Die ganze Geschichte nahm so von beiden Seiten mehr und mehr eine mißliche Färbung an, sie wurde zu einem Wechselfieber, so zu sagen, und die beiden Verlobten mochten sich, des ewigen gegenseitigen Anziehens und Abstoßens müde, heimlich gleichsehr nach Genesung und Befreiung sehnen. Als es einmal soweit, nahm der Dichter den Riß und Bruch auf sich, wozu sich im Mai von 1775 eine gute Gelegenheit bot.
Da waren nämlich die Hainbündler Fritz und Christian Stolberg bei Goethe eingekehrt, auf einer Schweizerreise begriffen und begleitet von ihrem Freunde Kurt von Haugwitz, welcher nachmals zum Verderben Deutschlands das unselige preußische Unstaatsmännerkleeblatt Haugwitz, Lombard und Lucchesini mitgebildet hat. Auch Maximilian Klinger war gerade in seiner Vaterstadt anwesend und viel im goethe’schen Hause. Die Stolberge standen damals im Vollsaft ihrer Kraftgeniewuth, die sich in unbändigem, mitunter geradezu verrücktem Freiheitsgeschrei austobte, welches dann später bekanntlich bei dem einen in papistisches Gegrunze, bei dem andern in pietistisches Gegreine umgeschlagen ist. Bei einem Gelage der jungen Männer setzte die Frau Rath in ihrer humoristisch-gescheiden Weise die beiden gräflichen Tyrannenfresser tüchtig zurecht und bei dieser Gelegenheit erhielt sie den Namen Aja. Ihr Sohn scheint es darauf angelegt zu haben, die Entfremdung zwischen ihm und Lili durch häufige Entfernungen von der Stadt wachsen zu machen. Er schwärmte mit seinen Besuchern in der Umgegend herum und derweil gaben sich daheim beiderseitige Freunde die mehr oder weniger redliche Mühe, das unersprießliche Verhältniß zwischen dem Doctor Goethe und dem Fräulein Schönemann zu lockern und zu lösen. Daß sich der Doctor plötzlich entschloß – von seinem Vater übrigens lebhaft dazu aufgemuntert – die Geniereise der Stolberge nach der Schweiz mitzumachen, schlug dem Fasse vollends den Boden aus. Verzeihung für ein so küfermäßiges Bild, das auch wirklich verzeihlich sein dürfte, insofern man ja etwa das in Rede stehende Verhältniß mit dem Danaidenfaß vergleichen könnte.
Ohne förmlichen Abschied von Lili genommen zu haben, brach unser Dichter mit seinen Reisegefährten auf, zunächst nach Darmstadt, allwo Freund Merck, wie Goethe berichtet, über die [518] Reisegenossenschaft heftig den Kopf geschüttelt habe („daß du mit diesen Burschen ziehst, ist ein dummer Streich!“). Sagte Merck so, hatte er recht, wie sich bald herausstellte. In Emmendingen sah der Wolfgang am 4. Juni seine Schwester Cornelie, welche ebenfalls entschieden gegen seine Heirat mit Lili aufgetreten war, zum letztenmal. Acht Tage später finden wir ihn in der jetzt noch wohlerhaltenen Lavaterstube im zweiten Stock der Helferei zum Sanct Peter in Zürich, nachdem er von Emmendingen aus eine Abschrift seines in letzter Zeit fertiggewordenen Singspiels „Claudine von Villa Bella“ (in der ursprünglichen Gestalt) an Knebel zur Mittheilung an den Erbprinzen Karl August gesandt hatte. In Zürich ließ er die Stolberge laufen; er war der Kraftgeniestreiche, welche sie machen zu müssen glaubten, um sich als Genies im Allgemeinen und als Poeten im Besonderen auszuweisen, herzlich müde geworden. Mit einem zufällig getroffenen Landsmann, Passavant, fuhr er den See hinaus, welchen vordem Klopstock so schön gefunden und so schön gefeiert hatte. Goethe seinerseits dichtete „Auf dem See“:
„Und frische Nahrung, neues Blut
Saug’ ich aus freier Welt;
Wie ist Natur so hold und gut,
Die mich am Busen hält!
Die Welle wieget unsern Kahn
Im Rudertact hinauf
Und Berge, wolkig, himmelan,
Begegnen unserm Lauf –“
und hat dabei gewiß an dem alten prächtigen Kerl, dem Glärnisch, welcher dort linkshin hinter den Voralpen majestätisch aufsprang, eine rechte Freude gehabt. In seine Naturschwelgerei drängte sich aber doch während der ganzen Schweizerreise, welche zu einigen der später dem Werther angehängten „Briefe aus der Schweiz“ Veranlassung gab, der Gedanke an Lili, „freudvoll und leidvoll“. Auf dem Wege von Richtersweil nach Mariä-Einsiedeln schrieb er, von der Schindeleggi auf den Zürichsee niederblickend, in sein Taschenbuch:
„Wenn ich, liebe Lili, dich nicht liebte,
Welche Wonne gäb’ mir dieser Blick!
Und doch, wenn ich, Lili, dich nicht liebte,
Was, was wär’ mein Glück?“
Ueber den rauhen Haken nach Schwyz und von dort über das noch nicht unter dem Roßbergsturze von 1806 begrabene Goldau zum Rigi gewandert, erstieg der Dichter den Gipfel des berühmten Berges, welchen ich das Ausrufungszeichen in der Riesenschrift der schweizerischen Alpen nennen möchte. Dann ging es an den Vierwaldstättersee hinunter, zu Schiffe nach Flüelen, das Reußthal entlang und zur Wasserscheide des Gotthardpasses empor. Wollt ihr erfahren, was für unverwischbare Eindrücke Goethe von dieser Gotthardwanderung mit heimgenommen, so les’t im Schiller die Stelle, wo der Tell dem Parricida den Gotthardweg weis’t. Daß Schiller diesen Weg, ohne ihn jemals mit leiblichen Augen gesehen zu haben, also schildern konnte, verdankte er der Beschreibung, welche sein großer Freund ihm davon entworfen hatte. Vom Gotthardhospiz aus wurde die Rückwanderung nach Zürich angetreten, wo unser Wanderer mit Lavater und dem alten Bodmer noch gute Tage verlebte. Die Heimreise ging zunächst über Konstanz nach Ulm, von wo der arme Schubart etwas später an seinen Bruder schrieb: „Goethe war auch hier – ein Genie, groß und schrecklich, wie’s Riesengebirg!“ Von Ulm wandte sich der Dichter nach Stuttgart und von dort nach Straßburg, aber nicht nach Sesenheim. Während der kurzen Rast zu Straßburg machte er die Bekanntschaft des mit mehr oder weniger Recht berühmten Arztes Zimmermann, der in seine schweizerische Heimat zu reisen im Begriffe war, und dieser zeigte ihm eine Sammlung von Schattenrissen, worunter auch der von Charlotte Stein, einer Weimarer Hofdame. Der Anblick des Bildchens und Zimmermann’s lebhafter Commentar dazu erregten Goethe’s Theilnahme in nicht geringem Grade: „Zukünftiges wirft seinen Schatten voran.“ Am 25. Juli war er wieder in Frankfurt.
In die nächste Zeit fiel seine Beschäftigung mit der Geschichte der niederländischen Insurrection gegen Spanien und so wandte er denn seinen Blick in ein Jahrhundert zurück, das ihm zur Stofffundgrube für sein erstes epochemachendes Werk gedient hatte. Auch jetzt bot es ihm wieder den Stoff zu einer Dichtung, welche unter den so recht charakteristisch-goethe’schen mit in erster Linie steht: – die ersten Scenen vom „Egmont“ wurden geschrieben. Aber dieses Drama, womit, wie einer der feinsinnigsten Beurtheiler Goethe’s, Rosenkranz, treffend bemerkt hat, unser Dichter ebenso in die Sphäre zurückgriff, in welcher der Götz, wie in die Sphäre vorausgriff, in welcher die Iphigenie entstand, sollte erst viele Jahre später unter der Sonne Italiens ausreifen. Der Hochsommer und Spätherbst von 1775 waren für den Wolfgang keine ausgiebige Schaffenszeit. Gleich nach seiner Heimkehr aus der Schweiz hatte ja die Lili-Qual wieder begonnen. Von der Herbigkeit derselben geben dazumal entstandene Lieder wie „Lili’s Park“ und „Herbstgefühl“ Andeutungen, welche deutlich genug sind. Das ganze Verhältniß war verhetzt und vertrübt, unsühnbar und unhellbar. Mitte Septembers schrieb der Dichter an Auguste von Stolberg: „Lili heut nach Tisch geseh’n – in der Komödie geseh’n. Hab’ kein Wort mit ihr zu reden gehabt – auch nichts gered’t. Wär’ ich das los! Und doch zitter’ ich vor dem Augenblick, da sie mir gleichgiltig, ich hoffnungslos werden könnte.“ Nun, gleichgiltig wurde ihm das „leidig liebe“ Mädchen, welches schlechterdings nicht zu ihm paßte, und zwar bald ward es ihm gleichgiltig, aber er ist darum nicht hoffnungslos geworden. Das Menschenherz ist bekanntlich zwar ein eitel und verzagt Ding, wie die Schrift besagt, aber auch ein sehr zähes und trotziges. Die Werther und Günderoden der Wirklichkeit lassen sich zählen, nur die gebrochenen Mutterherzen sind unzählbar.
Der Bruch zwischen den Verlobten war eine Thatsache, ohne daß das Wort ausgesprochen worden wäre. Unser Dichter fühlte, daß er fort mußte aus Frankfurt, und als der Herzog Karl August mit seiner jungen Neuvermählten am 12. October anlangte und die Einladung Goethe’s nach Weimar mit voller Bestimmtheit und Herzlichkeit wiederholte, sagte der Eingeladene zu. Wie jedermann weiß, hätte aber ein dummer Zufall die ganze Angelegenheit um’s Haar vereitelt und konnte der Dichter peinliche Tage lang wähnen, man habe ihn eigentlich zum Narren gehabt, worüber Herr Johann Kaspar („Nah’ bei Hof, nah’ bei Höll’!“) seine geheime, nein, seine offene Freude hatte. „Hör’ mal, Wolfgang,“ ließ er sich vernehmen, „wenn du gescheid bist, so gehst du, maßen es mit dem Weimar doch nur Firlefanz zu sein scheint und du doch einmal fort willst und fort mußt, stante pede nach Italien. Das wird dir gutthun und das Geld dazu sollst du haben.“ Der Wolfgang packte ein, das heißt, Liebmütterlein packte ihm die Koffer, und er fuhr am 30. October ab: – Italiam! Italiam! Am Abend des ersten Reisetages setzte er sich zu Ebersbach an der Bergstraße hin und schrieb unter anderem in sein Tagebuch: „Lili, Adieu! Lili, zum zweitenmal! Das erstemal schied ich noch hoffnungsvoll, unser Schicksal zu verbinden. Es hat sich entschieden, wir müssen unsere Rollen einzeln ausspielen. Mir ist weder bang für dich noch für mich, so verworren es aussieht. Adieu!“ Das war der Strich unter das Lili-Capitel in Goethe’s Leben. Das Mädchen ist keineswegs daran gestorben, bewahre! Lili war dazu weder gemacht noch aufgelegt; wohl aber dazu, unlange darauf ganz munter einen straßburger Bankherrn zu heiraten, was ihr recht gut bekam … Unser Flüchtling war derweil bis nach Heidelberg gelangt. Hier ereilte ihn der Bote, welcher den „dummen Zufall“ aufklärte. Nach kurzem Bedenken faßte der Dichter den Entschluß, umzukehren, und warf sich in die Postkalesche mit den Worten seines Egmont: „Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unseres Schicksals leichtem Wagen durch und uns bleibt nichts, als muthig gefaßt die Zügel festzuhalten und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze dort, die Räder abzulenken. Wohin es geht, wer weiß es?“
Vorderhand ging es Weimar zu.
[586]
Dienstags den 7. November von 1775 Morgens fünf Uhr langte der Dichter in Weimar an und fand zunächst im Hause des alten Kammerpräsidenten von Kalb Herberge. Sein Aufgang war, dem Zeugnisse Knebel’n zufolge, wie der „eines Sterns“. Jedenfalls ist es ein culturgeschichtliches Ereigniß gewesen, daß ein junger Stürmer und Dränger in der Wertherstracht – (blauer Frack mit Messingknöpfen, gelbe Kannevasweste, weiße Lederbeinkleider und Stiefeln mit gelbbraunen Stulpen) – in einen der bisher chinesisch um- und abgemauerten deutschen Hofkreise einbrach und jedermänniglich und jederweibiglich ad oculos demonstrirte, das „Von Genius’ Gnaden“ sei dem „Von Gottes Gnaden“ ebenbürtig, zum mindesten ebenbürtig. Es scheint sehr lächerlich, ist es aber nicht, wenn ich sage, daß das Smollis, welches Karl August seinem Gaste Wolfgang antrug, ein Stück socialer Revolution gewesen sei. Es war das in Wahrheit eine deutschburschikose „Erklärung der Menschenrechte“, und zwar erlassen vor jenem 4. Juli von 1776, an welchem die Amerikaner die ihrige ausgehen ließen in eine hoffnungsvoll aufathmende und die neue frohe Botschaft gläubig empfangende Welt. Ein regierender deutscher Herzog – und wär’s auch nur ein Herzog von Lillipuzien oder Miniaturia – mit einem Frankfurter Bürgerssohn auf du und du – nein, so was war noch nicht dagewesen! Von rechtswegen hätte sich darob das ganze Junkerthum auf den Kopf stellen und mit zappelnden Beinen gegen sothane Ketzerei protestiren müssen. Sehr möglich auch, daß ein solcher Protest im stillen Kämmerlein mitunter von denselben Hofjunkern erhoben wurde, welche dem Smollisbruder ihres herzoglichen Herrn öffentlich noch so eben ihre Verehrung gezollt hatten. Gewiß ist jedenfalls, daß Goethe’s Glück bei Hofe viel Neid von der grüngelbsten Sorte weckte.
Und wie war es denn eigentlich mit dem „Glück bei Hofe“? Gar nicht so glänzend, wie die Neidharte sich’s einbilden mochten. Der Mensch Goethe hat ja, wie wir’s uns bereits früher von ihm sagen ließen, sein wirkliches und eigenstes Glück nur in seinem „dichterischen Sinnen und Schaffen“ gesucht und gefunden. Aber wir wissen auch, das Hofglück war ihm viel häufiger eine schwere Last als eine leichte Lust. Noch mitten im Saus und Braus der weimarer Kraftgeniezeit[2] hat er einmal schmerzlich-zornvoll ausgerufen: „Der Fluch, daß wir des Landes Mark verzehren, läßt keinen Segen der Behaglichkeit aufkommen!“ Aber warum betheiligte er sich an dieser Zehrung? Warum ist er überhaupt zu Hofe gegangen? Warum hat er serviler Weise dort ausgehalten, wenn es ihm nicht gefiel? fragt Reptilius Demophiles mit hoch emporgezogenen Brauen und tief herabgezogenen Mundwinkeln. Guter Reptilius, es ist nicht jedermanns Sache, im Staube zu kriechen wie du, das Paradies in der Kafferei zu suchen und die Majestät des Menschenthums in Pöbelkneipen thronen zu sehen. Der Goethe war nun einmal eine vornehme Natur und blieb es auch dann immer noch, wann er, wie er später that, in den „Wanderjahren“ seines Wilhelm Meister mit der prophetischen Vorwegnahme des echten Dichters und Zukunftssehers stark socialisirte und im zweiten Theile der Faustdichtung herrlich das Evangelium der Arbeit verkündigte, dessen werkthätiger Apostel er übrigens all sein Leben lang gewesen und geblieben ist.
Und wo sollte denn ein Mensch, der dazu gemacht war, auf der Menschheit Höhen zu leben, diese im damaligen Deutschland suchen? Seht euch doch das unendliche Jammersal der deutschen Gesellschaft von damals etwas näher an! Ein Chaos von Verrottung da, von unklarer Gährung dort. Die Bauerschaft kaum dem Halseisen der Hörigkeit entschlüpft, das [588] Bürgerthum kläglich verkrähwinkelt, der Adel entweder wüst verkrautjunkert oder im schlimmsten Sinne verfranzos’t. Es gab einzelne bürgerliche, es gab auch einzelne adelige Kreise, wo ein edlerer Sinn und ein eifriges Bildungsstreben daheim; aber solche Kreise waren leicht zu zählen. Nur gerecht ist es daher, zu sagen, daß zu jener Zeit an deutschen Höfen, auf welche das Beispiel Friedrichs des Großen, wie später Josefs des Zweiten, denn doch nicht ohne Einwirkung blieb, ein gut Stück deutscher Kulturarbeit gethan wurde, insofern derartige Höfe Mittelpunkte und Rückhalte abgaben für die gleichzeitigen Bildungstendenzen und zwar – was ebenfalls günstig wirkte – häufig untereinander rivalisirende und wetteifernde Mittelpunkte und Rückhalte. Nun war aber der weimarische Hof ohne alle Frage ein solcher, ein richtiger Kulturhof so zu sagen. Schon die Herzogin Amalie, Karl August’s Mutter, hatte ihn dazu zu machen gestrebt, und zwar dadurch, daß sie Männer wie Wieland und Knebel, das heißt ausgesprochene Träger des Aufklärungsgeistes der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, zu Erziehern ihrer Söhne berief. Keine prächtige, aber eine höchst liebenswürdige und anziehende Erscheinung, diese Herzogin Amalia, welche noch als Dreiundvierzigjährige griechisch lernte, um mit dem guten Papa Wieland den Grazienlümmel Aristophanes lesen zu können, leichtlebig, warmherzig, liberal und human, eine Humoristin, die gern jung war mit jungen und froh mit fröhlichen Leuten, selbst auf die Gefahr hin, daß Worte flogen, welche weit mehr aristophanisch oder auch mephistophelisch als hofmäßig und etiketteglatt klangen. Wesentlich anders geartet war die Schwiegertochter der verwittweten Fürstin, Luise von Hessen, ernst, hochgestimmt, sehr gottesgnadenthümlich-bewußt, prinzeßlich eingeschnürt und zugeknöpft, ohne rechtes Talent für Liebe und Freundschaft, eine einsame Natur, aber grundgut, pflichttreu und später in schweren, in napoleonischen Prüfungszeiten einen Muth bewährend, wie ihn eben nur wahrhaft edle Frauen bewähren können. Die Fassung und Würde, womit die Herzogin Luise am 15. Oktober von 1806 dem in seiner Wachtstubenmanier roh sie anrasselnden Sieger von Jena entgegengetreten ist, umgeben ihre Gestalt mit einem nie erbleichenden historischen Nimbus. Nur allzu viele deutsche Weiber – ich sage sehr absichtlich Weiber und nicht Frauen – haben in jenen Schmachzeiten dem französischen Uebermuth und der französischen Zuchtlosigkeit gegenüber die eigene Würde und die ihres Landes schmählich preisgegeben; aber diese Würde wurde in ruhmvoller Weise gewahrt und behauptet durch Frauen, wie Luise von Preußen, Luise von Weimar und jene Luise von der Recke, welche zu Erfurt (1808) dem allmächtigen Empereur Achtung vor ihrem Patriotismus abzwang.
Vaterländisches Fühlen, das war der Punkt, worin die Herzogin Luise mit ihrem Gemahl zusammenstimmte. Sonst gingen ihre Anschauungen und Stimmungen weit auseinander. Karl August ist eigentlich ein ewiger Student gewesen, und als er starb, starb ein „bemoos’tes Haupt“. Es war ein wesentlich genialer Zug, ein Erbtheil von seiner Mutter her, in dem Herzog und dieser Zug hat bis zuletzt vorgehalten. In jungen Jahren sprühte ihm das Kraftgenie gleichsam aus allen Poren und dieser fürstliche Stürmer und Dränger hätte nur statt auf einem Thrönlein auf einem Throne zu sitzen gebraucht, um die Welt von sich reden zu machen und zwar sehr. Dieses, das heißt den peinlichen Widerspruch zwischen dem großen Wollen und dem kleinen Können seines herzoglichen Freundes hat Goethe unter dem „engen Schicksal“ verstanden, wenn er und zwar noch im Jahre 1783, wo doch die Weimarer Kraftgeniezeit schon vorüber war, in der tiefbewegten Rhapsodie „Ilmenau“ von Karl August sagte:
„Ein edles Herz, vom Wege der Natur
Durch enges Schicksal abgeleitet,
Das ahnungsvoll, nun auf der rechten Spur,
Bald mit sich selbst und bald mit Zauberschatten streitet,
Und was ihm das Geschick durch die Geburt geschenkt,
Mit Müh’ und Schweiß erst zu erringen denkt.
Kein liebevolles Wort kann seinen Geist enthüllen
Und kein Gesang die hohen Wogen stillen.
Gewiß ihm geben auch die Jahre
Die rechte Richtung seiner Kraft;
Noch ist bei tiefer Neigung für das Wahre
Ihm Irrthum eine Leidenschaft.“
Freilich, wie und wo hätte im damaligen Deutschland Karl August die „rechte Richtung seiner Kraft“ finden können? Etwa im preußischen Militärdienst? Nun ja, er that bekanntlich als preußischer General im Unglücksjahre 1806 seine Pflicht so rühmlich wie wenige; aber was konnte er bei Lage der Sachen Ersprießliches ausrichten? Nichts. Mehr allerdings konnte er thun und that er, indem er später seinen Hof zu einem der Herde machte, worauf das Feuer der Vaterlandsliebe, die Glut des Hasses der Fremd- und Zwingherrschaft unablässig-treu genährt und geschürt wurde.
Zur Zeit, von welcher hier zuvörderst die Rede, war Karl August noch ein Unband von Jüngling, zwar schon verheiratet, aber mit einer Frau, welche ihm nicht wahlverwandt und die sich gegen die mit Goethe’s Ankunft am Hofe aufgethane Geniewirthschaft entschieden ablehnend verhielt, während ihre Schwiegermutter gutlaunig darauf einging. Die Herzogin Luise mag seltsam dazu gesehen haben, daß ihr Herr Gemahl die Werthertracht seines dichterlichen Gastes annahm, worauf natürlich auch die Herren vom Hofe, die Wedel, Einsiedel, Seckendorf und wie sie sonst hießen, in Wertherfräcken herumliefen. Denn Karl August – so hat Goethe in alten Tagen zum Eckermann gesagt – war „eine dämonische Natur“ und „das Dämonische war in ihm in dem Maße vorhanden, daß niemand ihm widerstehen konnte“. Kein Wunder daher, daß auf Betreiben des jungen Fürsten das Wertherthum und der Faustismus für eine Weile – und zwar für eine nicht ganz kleine Weile – am Hofe von Weimar, welches, als Stadt genommen, dazumal noch ein gar armsälig Nest gewesen, Trumpf und Mode wurden. Die Mode ist aber, wie weltbekannt, für die Frauen allzeit und überall eine Päpstin, deren Unfehlbarkeit nicht erst durch irgendein Blödsinns-Conventikel, genannt Concilium Vaticanum, dogmatisirt zu werden braucht. Ganz in der Ordnung also, daß es auch in dem Damenkreis der Weimarer „Welt“ – man zählte zu diesem Kreise Lotte von Stein, Luise von Imhof, die Gräfin Werthern, die bucklige, will sagen witzige Thusnelda von Göchhausen, die Kammerpräsidentin von Kalb, dann auch Lotte von Kalb, die hellenisch-schöne Sängerin Corona Schröter – zu werthern und zu fausten begann, mehr oder weniger merklich, mehr oder weniger naiv oder bewußt, mitunter wohl auch mehr oder weniger bedenklich. Denn so ganz ohne Verwüstungen ging der Sturm keineswegs vorüber. Schiller und Jean Paul sahen, als sie zum erstenmal in die Gegend kamen, noch die deutlichen Spuren und haben sich, jener gegen Körner, dieser gegen Otto, auch deutlich genug darüber geäußert …
Wohl, „wie ein Stern“, also ging unser Wolfgang am Hofe von Weimar auf, mit seinem Gestrale und Geleuchte Männlein und Weiblein gleichermaßen bezaubernd. Papa Wieland, der kurz zuvor von dem Ankömmling so scharf satirisch gemaßregelte Papa Wieland, war einer der ersten von ihm Bezauberten. Schon drei Tage nach Goethe’s Ankunft schrieb der Verfasser der Abderiten an Jakobi: „Oh, bester Bruder, was soll ich Dir sagen? Wie ganz der Mensch beim ersten Anblick nach meinem Herzen war! Wie verliebt ich in ihn wurde, da ich an der Seite des herrlichen Jünglings zu Tische saß! Alles, was ich Ihnen nach mehr als einer Krisis, die in mir diese Tage über vorging, jetzt von der Sache sagen kann, ist dies: Seit dem heutigen Morgen ist meine Seele so voll von Goethe wie ein Thautropfen von der Morgensonne.“ Gerade zwei Monate später hat Wieland, nachdem der Wolfgang im Schlosse Stetten bei Erfurt (Eigenthum einer Frau von Bechtoldsheim) ihn und alle entzückt hatte, an die Schloßbesitzerin eine Epistel in Versen gerichtet, worin es von dem „herrlichen Jüngling“ hieß:
„Und als wir nun so um und um
Eins in dem andern glücklich waren
Wie Geister im Elysium:
Auf einmal stand in unsrer Milte
Ein Zaubrer! Aber denke nicht,
Er kam mit unglückschwangerem Gesicht
Auf einem Drachen angeritten.
Ein schöner Hexenmeister es war
Mit einem schwarzen Augenpaar,
Zaubernden Augen mit Götterblicken,
Gleich mächtig, zu tödten und zu entzücken.
So trat er unter uns, herrlich und hehr,
Ein echter Geisterkönig, daher
Und niemand fragte: Wer ist denn der?
Wir fühlten beim ersten Blick: ’s war er!
[589]
So hat sich nie in Gottes Welt
Ein Menschensohn uns dargestellt,
Der alle Güte und alle Gewalt
Der Menschheit so in sich vereinigt;
So feines Gold, ganz innrer Gehalt,
Von fremden Schlacken ganz gereinigt!
Der, unterdrückt von ihrer Last,
So mächtig alle Natur umfaßt,
So tief in jedes Wesen sich gräbt
Und doch so innig im Ganzen lebt!
Was macht’ er nicht aus unsern Seelen!
Wer schmilzt wie er die Lust in Schmerz?
Wer kann so lieblich ängsten und quälen?
In süßen Thränen lösen das Herz?
Wer aus der Seelen innersten Tiefen
Mit solch entzückendem Ungestüm
Gefühle wecken, die ohne ihn
Uns selbst verborgen im Dunkeln schliefen?
Oh, welche Gesichte, welche Scenen
Hieß er vor unsern Augen entstehen!
Wir wähnten nicht zu hören, zu seh’n,
Wir sah’n. Wer malt wie er so schön
Und immer ohne zu verschönen
So wunderbarlich wahr, so neu?
Und dennoch Zug für Zug so treu?
Doch wie? Was sag’ ich malen? Er schafft
Mit wahrer, mächtiger Schöpferkraft!
So spiegelte sich unser siebenundzwanzigjähriger Dichter auf der Netzhaut von des enthusiastischen Wielands Augen, als er im Spätherbste von 1775 das Signal zum Beginne der „lustigen Zeit von Weimar“ gegeben hatte. Und wie sah denn, die Wieland’sche Netzhaut oder auch Idealisirungsbrille beiseite gethan, der „schöne Hexenmeister“ in seiner wirklichen Leibhaftigkeit dazumal aus? „Sehr mager, behende und zierlich, so daß ich ihn leicht hätte tragen können,“ giebt uns der alte Kammerdiener Goethe’s zur Antwort, das heißt er sagte so am 13. November 1823 zum Doctor Eckermann.
[672]Die „lustige Zeit“ von Weimar! Nun ja, das war sie, obzwar der vielberufene „Magister Ubique“, der gute Hofrath K. A Böttiger, das Klatschen der „abscheulich großen“ Parforcekarbatschen, womit der Wolfgang und sein herzoglicher Dutzbruder auf dem Marktplatze der Stadt „stundenlang“ um die Wette geknallt haben sollen, item noch viel anderes Geklatsche – als da zum Beispiel die Werthertrachtkostenrubrik für zu- und abwandernde Genies, welche des Herzogs Schatzmeister Bertuch in seinen Rechnungen gehabt – wohl nur mit seinen höchsteigenen, sehr gelahrten, über mehr als billig langen Ohren gehört [673] haben mag. Jedennoch war von anderen Leuten des Wirklichen und Thatsächlichen noch genug zu hören, was, vollends in die Weite hin durch das Gerücht vergrößert, glauben machen konnte, in der bis dahin so still-ehrbar-langweiligen Stadt an der Ilm sei der Teufel los. Wieland, ein gewiß unverdächtiger Zeuge, denn er „liebte ja“, wie er sagt, den Wolfgang „wie seinen Sohn“ und hatte „eine innige Freude daran“, daß ihm derselbe „so schön über’n Kopf wuchs“, konnte sich doch des brieflichen Stoßseufzers nicht enthalten: „Goethe hat in den ersten Monaten durch seine damalige Art zu sein die meisten skandalisirt und dem diabolus prise über sich gegeben“ – und unser Dichter selber bestätigte diese Censur, indem er in den ersten Monaten von 1776 im kräftigsten Kraftstil an Merck meldete: „Ich treib’s hier freilich toll genug“ – „Ist mir auch sauwohl geworden“ – „Wir machen Teufelszeug.“ Aber der gute Wieland hat obigem Seufzer das Postscript angehängt (24. Juli 1776): „Von dem Augenblicke an, da er decidirt war, sich dem Herzoge und dessen Geschäften zu widmen, hat er mit untadeliger σωφροσύνη (Verständigkeit, Mäßigung) und aller ziemlichen Weltklugheit sich aufgeführt.“
Auf ein Festhalten des Freundes an seiner Seite und in seinem Lande hatte es der Herzog wohl von vornherein abgesehen, und daß Goethe seinerseits der Absicht des Freundes, ihm Amt und Würde zu geben, nicht entgegen und zum Bleiben in Thüringen bald entschlossen war, deutete er schon zu Anfang des Jahres 1776 verständlich genug an, wenn er am 5. Januar an Merck schrieb: „Wirst hoffentlich bald vernehmen, daß ich auch auf dem theatro mundi etwas zu tragiren weiß.“ Und weiterhin: „Ich bin nun in alle Hof- und politischen Händel verwickelt und werde fast nicht wieder wegkommen.“ Er kam nicht wieder weg.
Im Frühjahr bezog er das sogenannte Jägerhaus an der Straße nach dem Belvedere. Bald darauf schenkte ihm Karl August einen von Bertuch erkauften Garten, der am Wege nach Oberweimar am Fuße eines Hügelgeländes, genannt das Horn, gelegen war. Der Dichter schrieb darüber am 17. Mai an Auguste von Stolberg: „Hab’ ein liebes Gärtchen vor’m Thor an der Ilm, schöne Wiesen in einem Thale. Es ist ein altes Häuschen darin, das ich mir repariren lasse.“ In diesem Gartenhause hat er sieben Jahre lang im Sommer und meist auch im Winter gewohnt. Hierher hat er sich aus dem Weltgedränge gerettet, sich selbst und sein Bestes, Eigenstes. Hier wurde der Egmont geschrieben und die Iphigenie (in erster Form) gedichtet, hier quollen ihm viele seiner innigsten Lieder aus dem Herzen, wie jenes unnachahmlich stimmungsvolle Mondlied „Füllest wieder Busch und Thal still mit Nebelglanz“. Im Juni wurde der Dichter bleibend für Weimar gewonnen: der Herzog ernannte ihn, alles Abwinkens von seiten höfischer Petrefacte, als da zum Beispiel der frühere dirigirende Minister Graf Görz und die Oberhofmeisterin Gianini gewesen sind, sowie auch des Stirnrunzelns bureaukratischer Banausier ungeachtet, am 11. Juli zum Geheimen Legationsrath mit Sitz und Stimme im Cabinett und einem Jahrgehalt von tausendzweihundert Thalern. Später wurde das „Tragiren auf dem theatro mundi einträglicher. Im September von 1779 wurde Goethe Geheimrath und erhielt zweihundert Thaler Besoldungszulage, etwas später eine weitere Zulage von vierhundert, endlich vom Jahre 1816 an die Ministerbesoldung von dreitausend Thalern. Seine auf Betreiben Karl Augusts durch Kaiser Josef den Zweiten mittels Diploms vom 10. April 1782 bewerkstelligte Adelung ist bekanntlich nicht nur ohne, sondern wider Wunsch und Willen des Dichters in’s Werk gesetzt worden. Es stießen sich eben verschiedene mehr oder weniger petreficirte Herren und Damen bei Hofe an dem „bürgerlichen“ Geheimrath. Als der Dichter schwarz auf weiß gelesen, daß er jetzo glücklich ausgebürgert und eingejunkert sei, schickte er das Diplom an Lotte von Stein und schrieb dazu: „Ich bin so wunderbar gebaut, daß ich mir gar nichts dabei denken kann.“ Können Sie sich etwas dabei denken, meine Damen? Ich meinerseits gestehe bescheidentlich, ich kann mir nichts dabei denken, absolut nichts als dieses, daß die menschliche Narrethei vom Anfang an da war und bis an das Ende aller Dinge da sein wird. …
Doch halt! wir sind ja im Galopp, so zu sagen, der Zeit vorausgeeilt und müssen wieder umlenken, um doch nicht gar zu rasch über Weimars lustige Zeit hinwegzuhuschen, obzwar es überflüssig, länger dabei zu verweilen, maßen ja verschiedene mehr oder weniger dicke Bücher über den Gegenstand geschrieben, gedruckt und hoffentlich auch gelesen worden sind. …
Während der ersten Wochen, Monate, meinetwegen auch Jahre von Goethe’s Aufenthalt in Weimar ging es bei Hofe – um für Burschikoses einen burschikosen Ausdruck zu gebrauchen – kreuzfidel genug her. Doch aber nicht so toll, daß dem guten Klopstock in Hamburg, wie er im März von 1776 an unsern Dichter schrieb, Angst zu werden brauchte, der junge Herzog werde sich zu Tode trinken; auch nicht so toll, daß die Haare des Herrn Doctor Zimmermann in Hannover, wie dieser Herr an den inzwischen auf Goethe’s Betreiben nach Weimar berufenen Herder meldete, nöthig gehabt hätten, vor lauter Entsetzen darob „sich senkrecht in die Höhe zu richten“. Es wurde allerdings auf den Schauplätzen des Kraftgenietreibens, als da waren die Lustschlösser Belvedere, Ettersburg, Tieffurt, das Dorf Stützerbach, auch Dornburg, Ilmenau und Lauchstädt, viel bunte und lärmende Zigeunerei aufgeführt; es wurde rasend geritten, gejagt und gehetzt, weit über Durst poculirt, überlaut gesungen und jubilirt, nächtelang mit Bauermädchen im Tanze gesprungen und tage- und nächtelang mit Mädchen aller Stände „gemiselt“, das heißt geliebelt, denn die guten Dinger heißen im kraftgenialischen Rothwelsch „Misels“. Aber der Wolfgang, von dem in einem Knittelversbrief eines von der Geniebande (Kammerherr von Einsiedel) dazumal geschrieben stand:
„Mit seinen Schriften unsinnsvoll
Macht er die halbe Welt jetzt toll,
Schreibt ein Buch von ein’m albern Tropf,
Der heiler Haut sich schießt vor’n Kopf;
Meint Wunder, was er ausgedacht,
Wenn er einem Mädel Herzweh macht;
Parodirt sich drauf als Doctor Faust,
Daß ’m Teufel selber vor ihm graus’t –“
ja, der Wolfgang hat in seinem vorhin bereits angezogenen Gedicht „Ilmenau“ mit Recht darauf hingewiesen, daß in all der übermüthigen Lustigkeit der Jagden, Schlittenfahrten, Trinkgelage, Maskeraden, Possenspiele und Liebschaften doch das edlere Element immer wieder obenauf kam: –
„Unbändig schwelgt der Geist in ihrer Mitten
Und durch die Rohheit fühl’ ich edle Sitten.“
Zu Zeiten überwältigte den Dichter die Empfindung, daß er doch eigentlich „für diese Welt nicht gemacht sei“, wie er seinem Tagebuche anvertraute, das heißt nicht für diese Welt geräuschvoller Zerstreuungen und buntwechselnder Liebesränke und galanter Schwänke. Er flüchtete sich dann aus derselben zu seiner großen Flamme, Lotte von Stein, von welcher noch mehr zu sagen sein wird, oder er verschloß sich in sein Gartenhaus, oder er packte plötzlich seinen Mantelsack, setzte sich zu Pferde und ritt einsam in die Welt hinein. So im Winter von 1777 nach dem Harz, von wo er den Hymnus „Harzreise im Winter“ mit heimbrachte, in welchem ein beklommenes Dichterherz seinen Sorgen in erhabenen Bildern Luft machte. Was Goethe über diesen winterlichen Ritt äußerte, ist insbesondere auch darum denkwürdig, weil es zeigt, wie innig dieser Pöbelhasser das Volk verstand und liebte: – „Wie sehr ich wieder auf diesem dunkeln Zuge – ich war vierzehn Tage allein und kein Mensch wußte, wo ich war – Liebe zu der Klasse von Menschen gekriegt habe, die man die niedere nennt, die aber gewiß für Gott die höchste ist! Da sind doch alle Tugenden beisammen: Beschränktheit, Genügsamkeit, gerader Sinn, Treue, Freude über das leidlichste Gute, Harmlosigkeit, dulden, dulden, ausharren!“ … Im nächsten Frühjahr finden wir unseren Wanderer auf einem ganz anderen Schauplatz. Am 8. December war er „über anderthalb Ellen hohen Schnee“ auf dem Brocken gestanden; jetzt, da er den Herzog nach Berlin begleitet hatte, ging er neugierig in Potsdam und Sanssouci herum, allwo damals noch der große Alte mit dem Krückenstockscepter waltete. „Ich guckte nur drein – schrieb Goethe an Frau von Stein – wie das Kind in Schön-Raritätenkasten. Aber es sind mir tausend Lichter aufgegangen. Und dem alten Fritz bin ich recht nah worden; da hab’ ich sein Wesen gesehen, sein Gold, Silber, Marmor, Affen, Papageien und zerrissene Vorhänge und hab’ über den großen Menschen seine eigenen Lumpenhunde räsonniren hören.“
[674] Wiederholt begegnen wir zu dieser Zeit in des Dichters vertraulichen Aeußerungen seiner Klage über die „Hofnoth“ und daß er „des Treibens müde sei“. Natürlich! Der Genius in ihm fühlte sich unbefriedigt. Das Getöse und Gestaube einer ins Leben übertragenen Genialität, wie es die ersten weimarischen Jahre Goethe’s erfüllte, konnte der Muse nicht eben hold und günstig sein. Allerdings beschäftigte sich der Dichter in den stillen Tagen und Nächten, welche er dem Tumult der „Hofnoth“ abzugewinnen vermochte, mit seinen größeren Entwürfen: der „Egmont“ wurde gefördert, die „Iphigenie“ vollendet (in Prosa), der „Tasso“ begonnen, der „Wilhelm Meister“ ins Auge gefaßt, der „Faust“ dann und wann um eine Scene weitergerückt. Aber alles dieses ist erst später ausgereift und offenbar worden, während es für jetzt ganz den Anschein gewann, als ob Goethe nur noch zur Hervorbringung von allerhand poetischem Zeitvertreib Muße und Stimmung finden könnte. Zu solchem höfisch-poetischen Zeitvertreib zählen wir die kleinen Dramen und Singspiele „Die Geschwister“ – „Der Triumph der Empfindsamkeit“ (ursprünglich „Die geflickte Braut“) – „Lila“ – „Jery und Bätely“ – „Die Fischerin“ – „Scherz, List und Rache“. Die Goethenarren haben sich an diesen Sachen und Sächelchen pflichtschuldigst erbaut. Der unbefangene Urtheiler dagegen wird darin und daran weiter nichts finden wollen und können, als niedliche, recht niedliche Kleinigkeiten, welche ein genialer Mensch, der im Nothfall die Poesie zu „kommandiren“ verstand[3], niederschrieb, um zu den Kosten höfischer Feste seinen Antheil beizusteuern. So eine goethe’sche Beisteuer waren dann auch „Die Vögel“, eine mit aristophanischem Pfeffer gewürzte Posse, die urtheilslose Lesewuth des Publikums satirisirend.
Die erwähnten dramatischen Kurz- und Kleinwaaren unseres Dichters dienten zunächst dem theatralischen Bedarfe des Hofkreises. War man des wilden Treibens in Feld und Wald überdrüssig, so griff man zum Komödienspiel, welches von der Herzogin Amalia hochbegünstigt war. Die weimarer Theaterzustände waren aber damals noch sehr hinterwäldlerische. Eine stehende Bühne gab es gar nicht in dem „Nest“ von Ilmresidenz. Aber komödirt mußte doch werden. Also wurde zur Geniezeit bei Hof ein Liebhabertheater aufgeschlagen, aus dessen Brettern die Fürstlichkeiten und die Hofleute Rollen agirten. Der Wolfgang war Theaterdichter, Theaterdirector und Schauspieler zugleich, Primadonna die Korona Schröter. Zunächst diente diese improvisirte Schaubühne als handliches Mittel muthwilligster Neckerei und einer keineswegs zartfühligen Schabernackssucht. Der gute Wieland wußte davon zu erzählen, noch Anno 1779, wo in seiner Gegenwart seine allerdings parodirenswerthe „Alkeste“ mittels Aufführung der „Geflickten Braute“ fürchterlich parodirt wurde. Der Schelm von Theaterdirector ließ die süße Arie: „Weine nicht, du meines Lebens Abgott!“ schnurrig mit dem Posthorn begleiten und in dem Singsang an den Mond:
„Du gedrechselte Laterne
Ueberleuchtest alle Sterne
Und an deiner kühlen Schnuppe
Trägst du der Sonne mildesten Glanz“ –
wurde das Wort „Schnuppe“ als unendlicher Triller gesungen. Diesmal wurde Wieland „wüthig“ und lief im Zorne davon. Sein Brief an Merk, worin er sich über die ihm widerfahrene „Polissonnerie“ ausläßt, lautet sehr anders als ein drei Jahre zuvor an denselben Freund gerichteter, worin der gute Papa gesagt hatte: „Goethe lebt und regiert und wüthet und gibt Regenwetter und Sonnenschein und macht uns alle glücklich, er mache, was er will …“ Im April von 1779 kam die „Iphigenie“ zur Aufführung und man kann wohl mit Fug sagen, daß mit der Erscheinung dieser edlen Dichtung die kraftgenialisch wolkige Atmosphäre Weimars sich zu reinigen und zu klären begonnen habe. Goethe hatte die Rolle des Orest, Korona die der Iphigenie. Ein Augenzeuge einer der Aufführungen des Stückes, der nachmals berühmt gewordene Medizinmann Hufeland, hat darüber dieses Wort gesprochen: „Nie werde ich den Eindruck vergessen, den Goethe als Orestes im griechischen Gewande machte. Noch nie erblickte man eine solche Vereinigung geistiger und körperlicher Vollkommenheit in einem Manne wie damals in ihm. Man glaubte einen Apollon zu sehen.“
[744]Für keinen Dichter haben die Frauen soviel gethan wie für Goethe; aber keiner that auch mehr für sie als er. Denn wie oft er als Mann durch Untreue diesem Mädchen oder jener Frau wehgethan haben mag, als Poet hat er die Sünden des Menschen herrlich gesühnt und gutgemacht, indem er im Allerheiligsten der Schönheit jene ewigen Weihgeschenke, jene Frauenbilder aufstellte, wie sie in solcher Lebenswahrheit nur noch ein Dichter, der Vater Julia’s, Desdemona’s und Kordelia’s, zu schaffen vermochte. Selbst die vollendetsten Gestalten des „Ewig-Weiblichen“, welche sonst in alter und neuer Zeit zur dichterischen Erscheinung gekommen sind: – die homerische Nausikaa und die sophokleische Antigone, die beiden Inderinnen Damajanti und Savitri, Firdusi’s Tehmime und Menische, unseres Wolframs Sigune und unseres Gottfrieds Isolde, Dante’s Francesca und Ariosto’s Isabella, Miltons Eva und Moreto’s Donna Diana – keine von allen reicht zu den shakspeare’schen und goethe’schen Frauen hinan, bei weitem nicht; denn in keiner ist so wie bei jenen der Realismus des Daseins von dem Hauche des Ideals durchathmet und umwittert. Zwei modernen Poeten jedoch ist in ihren besten Momenten die Bildung von weiblichen Charakteren gelungen, welche den shakspeare-goethe’schen sehr nahe kommen: ich rede von Lord Byron und Madame Dudevant. Des ersteren Haidee darf neben die Ophelia, seine Myrrha neben die Iphigenie, seine Abeline neben die Philine sich stellen.
Aurore Dudevant hat, namentlich in ihrer ersten Periode, Frauenfiguren geschaffen, in welchen die weibliche Seite der französischen Gesellschaft in einer mit souveräner Künstlerschaft wiedergegebenen Naturtreue sich darstellt, die zugleich Schrecken und Mitleid erregt. Ich meine nicht etwa die gänzlich vergeckten weiblichen Fauste und Manfrede der Dichterin, sondern vielmehr Gestalten wie ihre Valentine, Geneviéve und Indiana. Charakteristisch für die Ohnmacht unserer deutschen Romantiker ist es, daß aus ihrer Schule nicht ein einziges Frauenbild hervorgegangen, welches typischen Werth hätte und für unsterblich gelten konnte. Selbst der Romantiker, welcher von allen am meisten vom echten Himmelsfeuer der Poesie in sich trug, Heinrich von Kleist, hat entweder nur Traumwandlerinnen wie sein Heilbronner Käthchen oder mannweibliche Monstra wie seine Penthesilea und seine Thusnelda zu schaffen verstanden. In diese Kategorie gehört auch die relativ gelungenste Frauenschöpfung Tiecks, die Viktoria Aceorombona, während später Hebbel mittels Aufdonnerung seiner Judith, Mariamne u. s. w. den Kleist zu überkleisten versuchte. Das anmuthigste weibliche Geschöpf, welches die Romantik ersonnen hat, dürfte die Mathilde von Ofterdingen von Novalis sein. Endlich darf sich Grillparzer als Frauenschöpfer zwar nicht mit Goethe und Shakspeare, aber sonst mit jedem heimischen oder fremden Poeten kecklich vergleichen. Seine Medea ist und bleibt ein Prachtexemplar von einer tragischen Heldin, seine Hero darf sich eine Halbschwester von Goethe’s Gretchen und Klärchen nennen und seine Esther kann für eine Base von Goethe’s Eugenie gelten. …
Ja, die Frauen haben viel für unseren Dichter gethan, vielleicht zu viel. Denn mitunter macht sich doch in seinen Werken das „Ewig-Weibliche“ zu sehr bemerkbar und vermißt man dagegen das Ewig-Männliche. Gereicht ja schon im gewöhnlichen Leben einem Manne die Gabe, allen Frauen ein Wohlgefallen zu sein, mehr zum Fluch als zum Segen. Immerhin aber bleibt es fraglich, ob die Frau, welche zweifelsohne von allen den bedeutendsten Einfluß aus Goethe geübt und ihn, so zu sagen, ein Jahrdutzend hindurch souverän beherrscht hat, Lotte von Stein, wirklich ein Segen für ihn gewesen, obzwar sie als ein solcher in seinen Briefen an sie unzählig oft anerkannt und gefeiert wurde. Schade, daß wir nur seine Briefe besitzen! Sie sind köstlich, aber sie reichen zur endgültigen Beurtheilung des Romans der Wirklichkeit, betitelt „Wolfgang Goethe und Lotte von Stein“, nicht aus. Ihre Briefe an ihn hat sie bekanntlich, nachdem der Dichter aus Italien zurückgekommen und die Christiane Vulpius zu seiner Hausgenossin gemacht halte, zurückgefordert und vernichtet, in einem Zornanfall, welcher, alle Phrasen beiseite gethan, mit der allerordinärsten Eifersucht die bedenklichste Aehnlichkeit hatte. Das ganze Verhältniß ist von Anfang an kein gesundes gewesen. Lotte, die Tochter des Hofmarschalls von Schardt und Gattin des Oberstallmeisters von Stein, war 1742 geboren und demnach um sieben Jahre älter als Goethe. Diesen Altersunterschied hat auch der Umstand, daß sie, als der Dichter sie kennen und lieben lernte, Mutter von sieben Kindern war, nichts weniger als ausgeglichen. Eine Schönheit ist sie selbst während ihrer Mädchenschaft [745] nicht gewesen; aber sie besaß, was mehr ist als Schönheit, Anmuth des Körpers und des Geistes, Weite und Klarheit der Anschauung, gediegene Bildung und ein nur selten störbares Gleichgewicht eines maßhaltenden Temperaments. Schiller, welcher bekanntlich während seines ersten Aufenthalts in Weimar die dortige Gesellschaft in seinen vertraulichen Auslassungen einer scharfen Kritik unterzog, schrieb am 12. August von 1787 – also nahezu elf Jahre nach Goethe’s Bekanntschaft mit Lotte Stein – an Körner: „Wie viel flache Creaturen kommen einem hier vor! Die beste unter allen ist Frau von Stein, eine wahrhaftig eigene interessante Person, von der ich begreife, daß Goethe sich so ganz an sie attachirt hat. Schön kann sie nie gewesen sein, aber ihr Gesicht hat einen sanften Ernst und eine ganz eigene Offenheit. Ein gesunder Verstand, Gefühl und Wahrheit liegen in ihrem Wesen. Man sagt, daß ihr Umgang mit Goethe ganz rein und untadelhaft sein soll.“ Und so war es. Lotte Stein gehörte zu jenen weiblichen Wesen, welche geliebt sein müssen und geliebt sein wollen, aber mit der Seele. Besäßen wir ihre Briefe an Goethe, sie würden, mit den seinigen an sie zusammengethan, einen wundersamen Dialog ausmachen, ein unvergleichliches Zwiegespräch zwischen Leidenschaft und Vernunft. Die Stimmführerin der letzteren war Lotte.
Es muß für sie ein schweres Stück Arbeit gewesen sein, die hoch und heiß lohende Flamme der Dichterliebe zum milde leuchtenden Lichte geschwisterlicher Vertrautheit herabzudämpfen. Aber diese Arbeit wurde gethan, und daß sie gethan werden konnte, dies beweis’t unwidersprechlich, welche außerordentliche Macht die Geliebte über den Liebenden übte. Freilich, Mann und Weib bleiben eben doch immer Mann und Weib. Die Natur läßt sich meistern, tyrannisiren sogar; aber doch immer nur für eine Weile, zumeist nur für eine kurze Weile, und muß es daher für eine Art von Wunder erklärt werden, daß die Weile im vorliegenden Falle ein Dutzend Jahre währte. Dann war kein Halten mehr: die Ungesundheit, die Unnatur, welche vom Anfang in diesem Wolfgang-Lotte-Roman gelegen, rächte sich und die künstlich-gewaltsam in die idealistische Stimmung hinaufgeschraubten Saiten der platonischen Leier sprangen mit einem grell realistischen Mißklang entzwei. Die junge und schöngerundete Thatsache Christiane Vulpius trug es über die angealterte und abgeblaßte Idee Lotte Stein davon. Die Logik des Lebens wollte es so. Auch gegen sie, wie gegen die des Todes, ist kein Kraut gewachsen …
Derweil war unser Dichter aus dem Jagdbruder und Zechgenossen Karl August’s mehr und mehr der führende Freund und vertraute Berather des jungen Fürsten geworden. Als solchem schien es ihm passend, den Herzog einmal für eine Weile von allem Hofquark zu entfernen, und aus diesem Gedanken ging dann jene „Geniereise“ hervor, welche Karl August mit Goethe und dem Kammerherrn Wedel im September von 1779 zu Pferde nach der Schweiz unternahm. Der Ritt führte über Frankfurt, wo unsere Reiter den guten Herrn Johann Kaspar von Altersbeschwerden gebeugt, die Frau Aja dagegen so hellauf wie allzeit fanden. Ueber Speyer ging’s in das Elsaß hinüber, dessen Bewohner sich damals noch in die Seele hinein geschämt hätten, den schnöden und schmachvollen Verrath an ihrer Nation und Nationalität zu begehen, welchen sie fünfzig Jahre später unter Anleitung von Seiten französischer Bonzen begangen und vollendet haben.
Es trieb unsern Dichter auf die Spuren vergangener Tage, es trieb ihn nach Sesenheim, als wollte und müßte er in Augen, deren zärtlicher Blick ihn vordem beseligt hatte, Verzeihung lesen. Und er las sie darin. An einem Septemberabend ritt er von Selz zur Sesenheimer Pfarre hinüber, während seine Reisegefährten geradeaus reis’ten. „Ich wurde“ – berichtet er – „von der Familie Brion freundlich und gut aufgenommen. Die zweite Tochter hatte mich ehemals geliebt, schöner als ich’s verdiente und mehr als andere, an die ich viel Leidenschaft und Treue verschwendet habe. Ich mußte sie in einem Augenblicke verlassen, wo es ihr fast das Leben kostete. Sie ging leise darüber weg, mir zu sagen, was ihr von einer Krankheit jener Zeit noch überbliebe, betrug sich allerliebst, mit so herzlicher Freundschaft vom ersten Augenblicke an, da ich ihr unerwartet auf der Schwelle in’s Gesicht trat, daß mir’s ganz wohl wurde. Nachsagen muß ich ihr, daß sie auch nicht durch die leiseste Berührung irgend ein altes Gefühl in meiner Seele zu wecken unternahm. Sie führte mich aber in jede Laube und da mußt’ ich sitzen und so war’s gut. Ich blieb die Nacht und schied am andern Morgen, von freundlichen Gesichtern verabschiedet.“ Wie edelsinnig, gut und lieb die arme Friederike auch hier wieder erscheint! Die schlichte Pfarrerstochter von Sesenheim ist doch das Weib gewesen, welches von allen, die Goethe geliebt hat, seiner Liebe am würdigsten war. Man erkennt so recht den Unterschied von des Dichters Friederikeliebe und Lililiebe, so man beachtet, in was für einer ganz anderen Tonart er von seiner ehemaligen frankfurter Verlobten redet, die sich inzwischen, wie wir wissen, nach Straßburg verheirathet hatte. „Ich ging zu Lili und fand den schönen Grasaffen – („Der Grasaff’, ist er weg?“ fragt Mephisto den Faust inbetreff Gretchens) – mit einer Puppe von sieben Wochen spielen. Auch da wurde ich mit Verwunderung und Freude empfangen; fand auch, daß die gute Creatur recht glücklich verheirathet ist. Ihr Mann scheint brav, verständig und beschäftigt zu sein; er ist wohlhabend, hat ein schönes Haus, einen stattlichen bürgerlichen Rang etc., alles, was sie brauchte.“
Ueber Emmendingen, wo Goethe das Grab seiner Schwester besuchte, ging es nach Basel, von dort durch das Münsterthal und den Jura an die Seen der Westschweiz. Von Genf aus nach Chamonnix, von da in’s Wallis, dann über die Furka an den Vierwaldstättersee und nach Zürich, wo Karl August mit Lavater in Verbindung trat, während die Beziehungen des Dichters zu dem Propheten doch schon nicht mehr so ganz den Ton der früheren Ueberschwänglichkeit einhielten und wenige Jahre darauf vollständig erkalteten, weil dem lavater’schen: „Entweder Christ oder Atheist!“ ebenso kategorisch das goethe’sche: „Bin zwar kein Widerchrist, kein Unchrist, aber doch ein decidirter Nichtchrist!“ sich entgegenstellte. Eine anziehende Schilderung der Alpenreise, deren Kraftgeniemäßigkeit darin bestand, daß sie zur Spätherbst- und Winterszeit unternommen wurde, gab der Dichter in seinen „Briefen aus der Schweiz“ (2. Abtheilung), die ursprünglich an Frau von Stein gerichtet waren. Die Beschreibung der Wanderung von Genf nach dem Gotthard ist vom Papa Wieland mit Recht „ein wahres Poem“ genannt worden. Auf der Rückreise hat Goethe das Singspiel „Jery und Bätely“ entworfen. Ich kann aber nicht finden, daß darin viel von „Gebirgsluft“ wehe, wie er später in seinen Tags- und Jahresheften behauptet hat. In die Rückreise wob sich übrigens eine denkwürdige Episode ein: in Stuttgart nämlich nahmen unsere Reisenden als Gäste des Herzog Karl am 14. December theil an der Stiftungsfeier der Militärakademie (später „Karlsschule“), worin sich damals der zwanzigjährige Schiller als „Eleve“ befand. Bewundernd hingen seine Blicke an dem Dichter des Götz und Werther, der seinerseits keine Ahnung davon hatte, daß in dem Schwarm grotesk uniformirter junger Leute Einer steckte, der von allen seinen Zeitgenossen allein das Zeug besäße, neben ihn sich zu stellen, und der, unzertrennlich ihm verbunden, dioskurisch mit ihm in die Nachwelt hineinschreiten würde.
Die Schweizerreise von 1779 machte für Goethe den Abschluß der Sturm- und Drangzeit und setzte der Kraftgenialität ein Ziel. Er legte die Werthertracht ab und begann im Anzug, Auftreten und Gebahren den Geheimrath herauszukehren; so sehr, daß sein herzoglicher Freund, der all’ sein Lebtag ein starkes Stück von einem Studenten geblieben ist, über die „Feierlichkeit“ und „Taciturnität“ des dichterlichen Dutzbruders sich baß verwunderte. Der angehende Herr Geheimrath seinerseits verwunderte sich zwar nicht allzu sehr über diese oder jene Eigenschaft oder Eigenheit des herzoglichen Freundes – wie z. B. über dessen Soldatenspielerei, welche ja, meinte Goethe, den deutschen Fürsten wie eine unausrottbare Krätze unter der Haut steckte –, aber er hatte sattsam Ursache, sich darüber zu ärgern, maßen ihm in den nächsten Jahren häufig die Aufgabe zufiel, allerhand aus jenen Eigenschaften oder Eigenheiten entsprungene Unzukömmlichkeiten und Wirrsale auszugleichen und zu lösen. Auch alle die jämmerlichen Krähwinkeleien, welche die Regiererei so eines Undings von Miniaturstaat mit sich brachte, hatte er auszukosten. Die viele Zeit, welche er seiner Stellung zufolge dem Hofleben in Weimar selbst und in der Nachbarschaft zu opfern hatte, suchte er dadurch nutzbar zu machen, daß er seine in den aristokratischen Kreisen gehabten Anschauungen und gemachten [746] Erfahrungen für seinen „Wilhelm Meister“ verwerthete, an welchem er ernstlich zu arbeiten begann.[4] Zur Verschönerung der Residenz an der Ilm trug er ganz wesentlich bei mittels der Parkanlagen, welche nach seinen Eingebungen und unter seiner Leitung ausgeführt wurden. Mit wachsendem Eifer sah er sich in den Naturwissenschaften um; aus dem Getümmel und vor den Sorgen des Lebens, wie vor der Unrast des eigenen Herzens flüchtete er immer wieder in die Philosophie des Spinoza als in eine geweihte Zufluchtstätte, deren erhabene Stille und erfrischende Kühle stets wohlthuend auf ihn wirkten.
So sehen wir also den kraftgenialisch hastenden und tastenden Jüngling zum methodisch strebenden, werkthätig eingreifenden, schaffenden Manne geworden. War er auch ein glücklicher? Kaum. Wußte er doch auch schon von Verarmung zu sprechen. Manches, was ihm früher nahegewesen, hatte er als seinem eigenen Wesen antipathisch von sich gestoßen, anderes hatte der Tod von ihm abgelöst. So seine Schwester, deren Verlust ihm sehr schmerzlich gewesen, so den Vater, dessen Hingang ihn doch wohl mahnen mußte, daß seine Gesinnung und sein Verhalten gegen denselben nicht immer gewesen waren, wie sie billig hätten sein sollen. Seine Stellung im Amt und bei Hofe reizte viel grüngelben Neid gegen ihn auf, denn die Neider wußten ja nicht oder wollten nicht wissen, wie viele Sorgen der Beneidete zu tragen, wie viele Widerwärtigkeiten er durchzukämpfen hatte. Dem dichterischen Schöpfungstrieb mangelte häufig die Muße, so daß kein Ganzes und Großes sich gestalten wollte. „Faust“, „Egmont“, „Tasso“, „Wilhelm Meister“ blieben Stückwerk. Ebenso die im Sommer von 1784 angehobenen „Geheimnisse“, in und mittels welcher Dichtung Goethe mit der Religion und dem Christenthum endgiltig sich auseinandersetzen wollte. Das Unternehmen, welches, wenn fortgeführt und vollendet, ein Faust-Epos, ein Goethe’scher „Parcival“, so zu sagen, hätte werden können, war zunächst für Lotte von Stein bestimmt. An sie richtete sich auch die „Zueignung“, jene herrlichen Stanzen („Der Morgen kam“ u. s. w.), welche jetzt in den Werken des Dichters der Lyrik voranstehen. Es ist in allen seinen Auslassungen gegen die Freundin eine herzbewegende Macht innigsten Zugethanseins. So auch in der Strophe:
„Gewiß, ich wäre schon so ferne, ferne.
Soweit die Welt nur offen liegt, gegangen.
Bezwängen mich nicht übermächt’ge Sterne,
Die mein Geschick an deines angehangen,
Daß ich in dir nun erst mich kennen lerne.
Mein Dichten, Trachten, Hoffen und Verlangen
Allein nach dir und deinem Wesen drängt.
Mein Leben nur an deinem Leben hängt –“
welche er von Braunschweig aus, wohin er mit dem Herzoge gegangen, am 24. August von 1784 an Lotte sandte. Aber es gab doch auch Stunden und Tage, wo diese nur halb erwiderte, naturlose Liebe schwer auf ihm lag, von allen Verbitterungen seines Daseins die bitterste. Solch ein Tag war jener 7. September von 1783 gewesen, an welchem auf dem Gickelhahn bei Ilmenau der Brust des Dichters ein Liedseufzer entquoll („Ueber allen Gipfeln ist Ruh’ –“), welcher zu den süßesten, seelenvollsten Naturlauten der Goethe’schen und überhaupt der Poesie gehört. Kein Wunder, daß, als achtundvierzig Jahre später der lebensmüde Greis noch einmal auf dem Gickelhahn stand und das vor nahezu einem halben Jahrhundert von seiner Hand auf die Wand des dortigen Bretterhäuschens geschriebene „Wanderers Nachtlied“ überlas, ihm die Thränen hervorstürzten und er, von Todessehnsucht angefaßt, wiederholt die Schlußzeile vor sich hinsprach: „Ja, warte nur, balde ruhest du auch!“
[841]Die „Geheimnisse“, welche unser Dichter, wie schon gemeldet, im Spätsommer von 1784 auf der Reise nach Braunschweig zu dichten angehoben und auf einer Septemberwanderung in den Harzgegenden weitergeführt hat, deuten vielfach, obzwar in poetischer Ein- und Verkleidung, auf sein Verhältniß zur Frau von Stein. Seine in demselben Sommer an sie gerichteten Briefe bezeugen leidenschaftlich-innig, daß sie immer noch seine „große Flamme“ – (7. Juni: „Ich bin mehr als jemals Dein. Du weißt, daß ich nicht von Dir kann. Mein Herz läßt keinen Augenblick von Dir.“ 11. Juni: „Mein Himmel ist einsam, Du machst den ganzen Kreis desselben aus. Alles, was die Menschen suchen, hab’ ich in Dir. Lebe wohl, liebe mich, sage mir’s und mache mich in Dir glücklich.“ 14. Juni: „Du lieber Inbegriff meines Schicksals!“ 25. Juni: „Ich lebe nur in Dir und bin glücklich, daß ich Dir alles mittheilen kann.“ 27. Juni: „O, Lotte, wie ganz und wie gern bin ich dein!“ 28. Juni: „Nun wird es bald Zeit, daß ich wieder in Deine Nähe komme, denn mein Wesen hält nicht mehr zusammen; ich fühle recht deutlich, daß ich nicht ohne Dich bestehen kann. Ja, liebe Lotte, jetzt wird mir erst recht deutlich, wie Du meine eigene Hälfte bist und bleibst. Alles lieb’ ich an Dir und alles macht mich Dich mehr lieben. Wie freu’ ich mich, Dir ganz anzugehören!“). Aber gerade das von seiner Seite immer wieder so leidenschaftlich-zärtlich genommene Verhältniß nöthigte ihm auch immer wieder „die sauerste der „Lebensproben“ auf, wie er sie in den „Geheimnissen“ nennt, die Selbstbezwingung. Diese wurde ihm noch dazu durch seine Stellung zum Herzog, zum Hofe, zu seinen Amtsgeschäften und Amtskollegen vielfach anderweit auferlegt. Wie er sich durch das alles eingeengt und im Innern bestürmt fühlte, nicht minder, wie er gegen das Uebel die große Medicin Selbstbezwingung in Verwendung brachte, hat er schön angedeutet in der Strophe:
„Stets alle Kraft dringt vorwärts in die Weite,
Zu leben und zu wirken hier und dort:
Dagegen engt und hemmt von jeder Seite
Der Strom der Welt und reißt uns mit sich fort.
In diesem innern Sturm und äußern Streite
Vernimmt der Geist ein schwer verstanden Wort:
Von der Gewalt, die alle Wesen bindet,
Befreit der Mensch sich, der sich überwindet.“
Aber es ging damit doch oft sehr schwer von statten und häufig genug mag der Dichter, wann es nöthig war, seinen Genius mit seiner Quasi-Premierministerschaft im Reiche Flachsensingen ein Kompromiß schließen zu machen, schwer aufgeseufzt haben: „Hilf, heiliger Spinoza!“ Papa Wieland ist immer bei der Hand, dem „wunderbaren Knaben“ Wolfgang, aus welchem jetzt ein wunderbarer Mann geworden, eine gute, eine beste Note zu geben. „Er schickt sich überaus gut in das“ – schrieb der liebenswürdige Alte am 5. Januar von 1784 an Merck – „was er vorzustellen hat, ist im eigentlichen Verstande ‚L’honnéte homme à la cour‘, leidet aber nur allzu sichtlich an Seel’ und Leib unter der drückenden Last, die er sich zu unserm Besten aufgeladen hat. Mir thut’s zuweilen im Herzen weh, zu sehen, wie er bei dem allem contenance hält und den Gram gleich einem verborgenen Wurm an seinem Inwendigen nagen läßt. Seine Gesundheit schont er, soviel möglich; auch hat sie es sehr vonnöthen.“
[842] Doch erschien Goethe, nach Weimar zurückgekehrt, wohlauf und munter. Zu Ende Septembers erfreute er sich eines gleichzeitigen Besuches von Fritz Jakobi und Claudius, dem „Wandsbecker Boten“, dem seine vielen späteren Querköpfigkeiten und Pietisteleien um seines Rheinweinliedes und seines Mondliedes wegen verziehen sein mögen. Die Dissonanzen, welche aus unseres Dichters äußerer Stellung in sein inneres Dasein häufig herüberklangen, mochten sich auch in jenen Herbsttagen wieder hörbar gemacht haben. Denn Jakobi schrieb am 11. Oktober an die Fürstin Gallitzin, Goethe habe zu ihm gesagt: „Ich weiß wohl, daß man, um die déhors zu salviren, die dédans zu Grunde richten soll; aber ich kann mich denn doch nicht dazu verstehen.
Die weimarer Gesellschaft hatte übrigens zu dieser Zeit mälig ein anderes Gesicht bekommen: der kraftgenialische Tumult war vertos’t. Der Dichter hatte den Zauberstab, womit er das phantastisch-bunte Treiben der lustigen Zeit von Weimar hervorgerufen und gelenkt, beiseite gelegt und es war wieder still geworden in der kleinen Residenzstadt an der Ilm, so still, daß die gute, lustige Herzogin Amalie die Zeit und die Menschen sehr schläfrig fand. Der Tonangeber Wolfgang brachte durch sein Beispiel anstatt des verrauschten Brausens und Sausens die Beschäftigung mit der Natur und ihren Erscheinungsformen in die Mode. Was ihm selber bekanntlich heiliger Ernst und wissenschaftliches Streben war, wurde den Herren und Damen der „Gesellschaft“ zur modischen Liebhaberei: wie früher mit Wertherei und Faustismus, so wurde jetzt mit Mineralogie, Botanik und Osteologie dilettirt. Auch die dumpfe Schwüle, welche dem ungeheuren Gewitter der Revolution voraufging, machte sich fühlbar. Nur ganz Gedankenlose konnten die schwarzen Wolken übersehen, welche immer dichter, immer schwerer am mehr und mehr sich verengenden Horizont heraufzogen. Der Herzog Karl August, durch seinen Dichterfreund mit Geduld, Ausdauer und Geschicklichkeit von dem Boden jugendlichen Ueberschwanges sachte auf den des Lebensernstes und der Pflichterfüllung herübergerückt, suchte sich unter seinen Mitfürsten in Sachen der preußisch-friedrich’schen Fürstenbundpolitik diplomatisch nützlich zu machen und nahm an dem aufklärerischen Geheimbundwesen jener Tage sehr regsam Theil. Auch Goethe scheint für eine Weile – und zwar für eine geraume Weile – für die Sache der Kultur und Humanität von geheimbündischer Thätigkeit Großes erwartet zu haben. Aus den Stanzen der „Geheimnisse“ lies’t ein kundiges Auge leicht heraus, daß sie von einem Bruder Freimaurer gedichtet worden sind. In der That, zur Sommerzeit von 1780 hatte der Dichter, und mit ihm zugleich sein herzoglicher Freund, das Schurzfell umgebunden und Winkelmaß und Kelle zur Hand genommen. Die Maurerei war, wie bekannt, in dem großen Entwickelungsprozeß von damals ein sehr wirksames Ferment. Sie war geradezu ein eifrig angestellter Versuch, der glorreichen Idee der Aufklärung zu sozialer Gestaltung zu verhelfen; sie war eine kraftvolle Feder im großen Triebwerk der Vorschrittsbewegung des Jahrhunderts. „Des Maurers Wandeln“, sang Bruder Wolfgang im „Symbolum“ –
„Des Maurers Wandeln
Es gleicht dem Leben,
Und sein Bestreben
Es gleicht dem Handeln
Der Menschen auf Erden.
Die Zukunft decket
Schmerzen und Glücke
Schrittweis’ dem Blicke;
Doch ungeschrecket
Dringen wir vorwärts.“
Wir wissen ja, ein starker Zug zum Geheimnißvollen war von jeher im Wesen des Dichters gewesen. Zudem entsprach das maurerisch-stille Wirken im Dienste der Humanität ganz und gar der ästhetisch-feinfühligen Abneigung Goethe’s vor dem Gelärm und Getöse des Marktes und der Gasse. Uebrigens gehörte er zu den entschiedensten Vorwärtsdringern innerhalb der deutschen Logen. Ist er doch mit Herder und dem Herzog Karl August auch dem Illuminatenorden beigetreten, welchen der Professor Adam Weishaupt aus der Maurerei herausgebildet und im Jahre 1776 zu Ingolstadt aufgethan hatte, ein höchst heilsames, aber natürlich den Dunkelmännern tiefverhaßtes Licht in der altbairischen Finsterniß. Einer der begeistertsten und thätigsten Illuminati, Bode, mag der Hierophant oder Mystagog gewesen sein, welcher die Weimarer Logenbrüder und die Mysterien des Illuminatismus einweihte, welcher übrigens, wie bekannt, von seiten der Hierarchen und Despoten bald als eine arge religiöse und politische Ketzerei wüthend verlästert und verfolgt wurde. Was unsern Dichter angeht, so ist er sein Lebenlang ein werkthätiger Arbeiter am großen Bau der Vervollkommnung der Menschheit geblieben, ohne freilich seine Zweifel, ob dieser Bau jemals unter Dach gebracht und vollendet werden könnte, zu verbergen. Seine Maurerbruderschaft bezeugen nicht nur seine Logenlieder, unter welchen der „Zwischengesang“ zur Logenfeier vom 3. September 1825 das gehaltvollste sein dürfte,[5] sondern auch und noch bedeutsamer die dichterische Verwerthung und Verklärung maurerischer Tendenzen, Einrichtungen und Bräuche im Wilhelm Meister und zwar sowohl in den „Lehrjahren“ als auch (und zwar noch nachdrucksamer und systematischer) in den „Wanderjahren“.
„Meisters Lehrjahre“ waren in diesem und dem folgenden Jahre die den Dichter am meisten anziehende und fesselnde Beschäftigung: das 6. Buch des Romans wurde mälig zu Ende gebracht. In diese Zeit fiel auch der Entwurf und die Ausführung der beiden Akte des „Elpenor“, welcher Fragment geblieben, aber für Goethe’s Emporschreiten von formaler Wichtigkeit geworden ist, weil er hier seinem dramatischen Stile den fünffüßigen Jambus aneignete. Insofern kann der „Elpenor“ als eine Vorstudie zur „Iphigenie“ und zum „Tasso“ angesehen werden, in welchen Dichtungen, wie später in der „Natürlichen Tochter“, unser Dichter diese Versart mit dem herrlichsten Schmelz geschmückt, mit dem innigsten Wohllaut erfüllt hat. Sonst ist aus den Jahren 1785–86 des Erquicklichen oder Bedeutenden im Leben und Thun Goethe’s wenig zu melden. Im Sommer des ersteren Jahres ging er in Knebels Gesellschaft nach Karlsbad, den nachmaligen vieljährig wiederholten Gebrauch dieses Gesundbrunnens anhebend. Zur gleichen Zeit war der Entschluß gereift, eine Sammlung seiner bis dahin zuwegegebrachten dichterischen Schöpfungen zu veranstalten. Dieser Entschluß wurde zur That, und im Herbste von 1786 lagen die vier ersten Bände dieser ersten Gesammtausgabe goethe’scher Werke bereit, bei Göschen in Leipzig zu erscheinen. In den Sommer dieses Jahres fiel auch der nie wieder geheilte Bruch mit Lavater, welcher nach Weimar gekommen und von dem Dichter gastfreundlich beherbergt worden war. Aber die Zeiten kraftgenialischer Schwärmerei waren vorüber, für Goethe wenigstens. Denn der züricher Apostel war der alte geblieben: ein wunderlicher Mischmasch von, wie sich der Dichter später in den „Xenien“ über ihn ausgelassen hat, „Hohem“ und „Niedrem“ mit zwischenhinein gestellter „Eitelkeit“. Als der Gast fort war, schrieb Goethe an Lotte von Stein: „Kein herzlich, vertraulich Wort ist unter uns gewechselt worden, und ich bin Haß und Liebe auf ewig los; ich habe unter seine Existenz einen großen Strich gemacht.“ Ach, diese Striche! Wer hat sie nicht gemacht, nicht machen müssen? Aber wer weiß nicht auch, daß an jedem derartigen Strich ein Stück des eigenen Lebens hängen bleibt?
Einen Strich anderer Art, aber doch immer auch einen abschließenden, machte der Dichter im folgenden Jahre unter einen bedeutsamen Abschnitt seines Daseins. Er hatte schon lange das Gefühl mit sich herumgetragen, daß es so nicht weitergehen könnte, daß er fortmüßte von Weimar; wenn nicht für immer, doch für längere Zeit. Er mußte sich doch im Stillen sagen, daß er eigentlich seit einem Jahrzehnt viele Zeit vertändelt habe, mit flachsensingischem Hofdienste, mit flachsensingischer [843] Regiererei. Auch mit dem Schwärmen um die „große Flamme“, welche am Ende aller Enden doch kein Sonnenfeuer, sondern nur Mondlicht war, blaßleuchtend, aber nicht wärmend. Der Goethe-Genius verlangte wieder einmal sein Recht – das Recht, seine Schwingen zu entfalten und über all‘ das Kleine, Enge, Eckige, Winkelige einer Miniaturstaatsministerschaft sich hinwegzuheben. Egmont, Iphigenie, Tasso und Faust zupften den Schöpfer-Papa, wo er ging und stand, am Rocke, hoben bittende Hände und fragten und klagten: Sollen wir denn unfertig, als Schatten und Schemen, als Krüppel in der Welt herumschwanken? Haben denn nicht auch wir vollen Anspruch darauf, so schönvollendet wie Deine „Göttin“ („Welcher Unsterblichen soll der höchste Preis sein?“) und wie Dein „Fischer“ („Das Wasser rauscht, das Wasser schwoll“) hinauszutreten in das Leben? Wohl, Kinderchen, den Anspruch habt ihr, gab Papa gütig-beschwichtigend zur Antwort; geduldet euch nur noch ein Weilchen, bis ich die Arme frei habe … Die Arme, ja, und das Herz. Denn mochte der Dichter es sich gestehen oder nicht, auf eine Herzensbefreiung war es mit dem Entschlusse, Weimar und Deutschland für geraume Zeit den Rücken zu wenden, ganz vornehmlich abgesehen. Dann allerdings auch darauf, in Freiheit und Muße wieder einmal aus dem Ganzen und Vollen zu schöpfen und zu schaffen. Er hatte es satt und übersatt, poetische Kurzwaare für höfische Kurzweil zu liefern. Das konnten ja Andere besorgen, die nächsten besten. Ihm aber waren denn doch andere Aufgaben gestellt und höhere Ziele gesteckt.
Zu alledem kam ein tiefes Sehnen nach einem blaueren Himmel und einer milderen Sonne. Der alte Wunsch, Italien zu sehen, zu kennen, zu genießen, war mit neuer Stärke in Wolfgang erwacht, mit einer Stärke, welche ihn dann von jenseits der Berge an Freund Merck schreiben ließ: „Es war hohe Zeit, daß ich mich auf den Weg machte; ich wäre vor Sehnsucht vergangen“. Jahrelang schon hatte er diese Sehnsucht in sich gehegt und gepflegt und mitunter war sie ihm übermäßig in der Brust aufgequollen. So im Jahre 1782, wo er sie seinem wundersamen Zwielichtskinde Mignon als ein Lied voll innigster Herzenslaute auf die Lippen gelegt hatte. („Kennst du das Land?“). Jetzt war kein Halten mehr: es trieb ihn über die Alpen.
Am 24. Juli von 1786 ging er zur Kur nach Karlsbad, entschlossen, von dort aus das Weite zu suchen. Nur dem Herzoge, der ihm ja Urlaub zu gewähren hatte, anvertraute er sein Vorhaben. Der „großen Flamme“ scheint er allem nach nur eine ganz allgemeine Andeutung gegeben zu haben. Es gefiel seinem Hange zur Geheimnisserei, sich so zu sagen „wegzustehlen“, wie er denn auch „incognito“ reis’te, unter dem Namen Möller, als wolle er nicht allein den Geheimrath, sondern auch den Goethe diesseits der Berge zurücklassen. Am 3. September – unterrichtet er uns – „früh drei Uhr warf ich mich, nur einen Mantelsack und Dachsranzen aufpackend, in eine Postchaise und stahl mich aus Karlsbad.“ Durch Böhmen, Baiern und Tirol fuhr er so rasch, als die damaligen Verkehrsmittel es gestatteten. Am Morgen des 9. Septembers ging es die Südseite des Brennerpasses hinab: Italiam! Italiam! „Kennst du es wohl? Dahin! Dahin!“
- ↑ Am kläglichsten erscheint die Befehdung Goethe’s durch Klopstock in Gestalt eines gegen den Goethe’schen „Faust“ gerichteten, im Jahre 1816 bekannt gewordenen Epigramms, welches ich anführe, weil es zeigt, was für absonderliche Verwerfungsurtheile unser Dichter sich gefallen lassen mußte. Es lautet:
„Was man erzählt vom Doctor Faust,
Ist weiter nichts als Lug der Möncherei;
Die Dichtung, die vor uns in wilden Dramen braus’t,
Wie Windsbraut braus’t
Vom Doctor Faust,
Ist lediglich
Kraftmänniglich
Verwünscht Geschrei
Der traurigen Genieerei.
Ob’s Alte oder Neue besser sei,
Zu schlichten, wär’ Bockmelkerei.“ - ↑ Vorlage: „Krafgeniezeit“
- ↑
Und wollt ihr euch Poeten nennen,
So kommandirt die Poesie! - ↑ Die Anfänge des Werkes sind bekanntlich in das Jahr 1777 zu setzen.
- ↑
Laßt fahren hin das allzu Flüchtige!
Ihr sucht bei ihm vergebens Rath.
In dem Vergangnen lebt das Tüchtige,
Verewigt sich zu schöner That.
Und so gewinnt sich das Lebendige
Durch Folg’ aus Folge neue Kraft;
Denn die Gesinnung, die beständige,
Sie macht allein den Menschen dauerhaft.
So lös’t sich jene große Frage
Nach unserm zweiten Vaterland;
Denn das Beständige der ird’schen Tage
Verbürgt uns ewigen Bestand.