Die Gartenlaube (1892)/Heft 7
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Halbheft 7. | 1892. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahrgang 1892. Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf. alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.
Weltflüchtig.
Zum Unglück tauchte in dem Augenblick, in welchem Bettinas Gestalt verschwand, der Mond in eine Wolkenschicht hinein und völliges Dunkel umhüllte das Höwt. Weiter zu schreiten wäre für Rott Tollkühnheit gewesen, denn jeder Schritt konnte auch ihn in den Abgrund stürzen. Es blieb ihm nichts übrig, als laut ihren Namen zu rufen. Da – aus der Tiefe kam eine deutliche Antwort:
„Sind Sie es, Herr Rott, der ruft?“
„Ja, aber um Gotteswillen, wo befinden Sie sich?“
„Ich hänge über der Brandung. Schreiten Sie ja nicht weiter, Sie stehen am Abgrund!“
Kaum hatte Bettina geendet, so zitterte ein furchtbares Erschrecken durch Rotts Herz. Der Mond war wieder zum Vorschein gekommen und ließ ihn mit einem Male die ganze Gefahr für Bettina erkennen. Diese hing senkrecht über der leise rauschenden Brandung an einer Baumwurzel, die vom Bergrand etwa zwanzig Fuß tief abgerutscht und in einer Wasserrinne stecken geblieben war; diese Stütze konnte jeden Augenblick nachgeben. Als er endlich die Sprache wiederfand, rief er Bettina verzweifelt zu: „Sie schweben in einer furchtbaren Gefahr — und ich bin rathlos — können Sie sich halten?“
„So lange die eingeklemmte Baumwurzel festhält, bin ich sicher. Sie könnten mich retten, wenn Sie eines der langen Seile, mit welchen die in der Mulde weidenden Schafe an den Pflock befestigt sind, herbeischaffen und mir zuwerfen. Ganz in unserer Nähe blökt eins der Thiere. Gehen Sie ruhig zu Werke — ich fürchte den Tod nicht.“
In rasendem Laufe sprang Rott zu der Stelle, wo er mehrere Schafe an langen Seilen angebunden sah, die sie am Entlaufen verhinderten. Er riß den Pflock aus der Erde, an den eines der Schafe gefesselt war, und zog das widerstrebende Thier an sich, um ihm das Seil abzunehmen. Dann eilte er mit der Beute zurück. Ihm schien es, als seien Stunden vergangen, seit er sich von Bettina entfernt hatte.
„Sind Sie noch da?“ rief er von der Höhe aus und vernahm ein lautes Ja. Hastig warf er das mit der Schlinge versehene Ende des Seils Bettina zu, mit der Anweisung, sie möge die Schlinge über die Schultern zu bringen suchen damit das Seil unter ihren Armen einen Halt gewinne. Das auszuführen, war für Bettina fast unmöglich, denn sie mußte sich mit einer Hand festklammern, um nicht abzustürzen. Da sie jedoch ruhig und stark war, so gelang es ihr endlich, die Schlinge wenigstens über den Kopf und unter die linke Schulter zu bekommen, mit der rechten Hand umklammerte sie das Seil.
Rott, welcher in seiner Heimath Tirol wiederholt beobachtet hatte, wie Abgestürzte aus Felsklüften heraufgezogen wurden, prüfte
[198] erst die Stärke des Seils, rief Bettina zu, sie solle den Körper von der Wand abhalten, und nun warf er sich der Länge nach zu Boden und zog, vorwärts kriechend, die theure Last empor. Er hatte das Ende des Seils mit dem Querholz unter die linke Schulter genommen und verschaffte sich einen Halt an den Büschen, die mit ihren Dornen ihm die Hände zerrissen. Die Angst, daß das Seil reißen oder der Knoten sich lösen könne, die ungeheure Anstrengung machte ihn zittern; die Minuten dehnten sich zu Ewigkeiten. Endlich ertönte der Ruf: „Lassen Sie los, ich stehe auf festem Boden!“ Mit einem Jubelschrei sprang er auf die Füße und schloß die Gerettete in seine Arme. Und Bettina, welche bis zur vollendeten Rettung mit Anspannung aller seelischen und körperlichen Kräfte der furchtbaren Gefahr getrotzt hatte, fühlte sich jetzt einer Ohnmacht nahe, ein müdes Vergessen befiel sie. Der süßen Mattigkeit nachgebend, ließ sie den Kopf gegen Rotts Schulter sinken, und wie im Traume vernahm sie das Geständniß seiner Liebe. Sie wehrte seine Liebkosungen nicht ab und hatte doch keinen Laut der Erwiderung auf sein Bekenntniß; sie duldete es auch, daß er sie zuletzt auf seine Arme hob und zu einer alleinstehenden Buche trug. Dort setzte er die süße Last nieder, sank in die Knie und rief mit erschütternder Klage: „Rede, Bettina, rede! Ich liebe Dich, liebe Dich unaussprechlich und müßte verzweifeln, wolltest Du mich verstoßen. Sag’ ein Wort, ein einziges Wort, das den Zweifel verscheucht! Es wäre unmenschlich, wenn Du in dieser Stunde das heiligste Gefühl niederdrücken würdest um äußerer Bedenken willen.“
„Ich kann’s auch nicht,“ erwiderte sie leise, und ihre Hände glitten über sein volles Haar. „Alle Willenskraft ist in mir gelähmt, und ich muß es Dir sagen. Dein Geständniß macht mich glücklich, Franz!“ Sie beugte lächelnd den Kopf zu ihm nieder und drückte einen Kuß auf seine Stirne.
„Bettina! O, Bettina!“ Mehr konnte er nicht erwidern.
Eng aneindergeschmiegt, saßen sie wortlos da und sahen hinaus in die träumerische Nacht. Versunken war mit einem Male die irdische Noth, jeder Gedanke an Vergangenes und Zukünftiges schwand aus ihren Seelen, und als der laue Nachtwind ihre Wangen kühlte, als der Mond seine flimmernde Lichtstraße auf das dunkle Meer warf, da war es ihnen, als trage sie ein guter Genius zu fernen Welten.
„Welch’ eine Nacht ist dies!“
Bettina sprach es; sie versuchte ihrer Bewegung Herr zu werden und wollte sich erheben. Ein brennender Schmerz am Knie erschwerte ihr das Aufstehen. Sie hatte sich offenbar beim Niederstürzen verletzt und konnte ohne Rotts Beihilfe die Klause nicht erreichen. So nahm sie denn den Arm des Geliebten, der sie sicher geleitete.
Auf der dunklen Veranda tauschten sie die letzte Umarmung, den letzten Kuß, und wie sie dann noch einmal zum sternbesäten Himmel aufschauten, da klang es wie aus einem Munde:
„Welch eine Nacht!“
Die Mondnacht hatte den Liebenden die Freiheit des Traumes gegeben, der Tag trieb sie zurück in die Enge der starren Wirklichkeit. Bettina konnte sich am Morgen nur schwer bewegen; ihr Gesicht war blaß und ihre Haltung so gebeugt, als werde sie von unsichtbaren Fesseln gehalten. Auf die mißtrauische Frage der Schwiegermutter, was ihr sei, gab sie den Aufschluß, sie sei bei einem Gange zum Höwt ausgerutscht und gefallen.
Die bevorstehende Wiederbegegnung mit Rott machte sie unruhig. Sie fühlte ihr Gewissen nicht belastet, aber die Frage, was nun geschehen werde, erfüllte sie mit Bangigkeit.
Rott hatte seiner Gewohnheit gemäß in der Morgenfrühe gebadet und bei der Rückkehr vom Strand den Weg übers Höwt genommen. Als er zur Buche kam, fand er daselbst den Schullehrer, welcher kopfschüttelnd das an der Erde liegende Rettungsseil betrachtete.
„Gehört Ihnen das Seil?“ fragte Rott unbefangen.
„Nein, aber ich zerbreche mir mit der Frage den Kopf, wie der Strick hierher gelangt sein kann, denn gestern abend saß der Pflock noch in der Wiese und diese Schlinge war am Halse von Bräunings schwarzem Hammel befestigt. Jetzt vergnügt sich besagter Hammel in meinem Kleefeld, wollte mir jemand einen Schabernack spielen, so soll den Kerl – –“
„Schleudern Sie keinen Fluch und Bannstrahl,“ unterbrach ihn Rott lachend, „denn ich bin der Urheber des Unglücks und will gern dafür aufkommen. Genügen fünf Mark Entschädigung dafür, daß sich der befreite Hammel über Ihren Klee hergemacht hat?“
„O, bitte, das ist weit mehr, als ich annehmen darf,“ wehrte der Lehrer, allein da Rott ihm das Geld ohne weiteres in die Rocktasche schob, so nahm er es dankend an. Dann hob er das Seil auf und bemerkte mit pfiffigem Lächeln. „Nun weiß ich aber noch nicht, wie ich dem alten Bräuning erklären soll, daß sein Hammel in mein Kleefeld gerathen ist.“
„Ich überlasse es Ihnen, die Erklärung zu geben. Vielleicht nehmen Sie an, ich hätte mich in einer Anwandlung von Lebensüberdruß an einem Ast der Buche aufknüpfen wollen und zur Ausführung den Muth nicht gefunden.“
Rott grüßte lachend und schritt der Klause zu. Er fand Bettina im Salon. Sie streckte ihm vom Sofa aus, auf dem sie lag, die Hand entgegen und eine zarte Röthe breitete sich über ihr blasses Gesicht. Er küßte ihre schlanke Hand und sah sie mit glückstrahlenden Augen an.
„Guten Morgen, Franz,“ sagte sie leise und lächelte. „Bei Deinem Anblick fühle ich wieder Muth.“
„Warst Du verzagt?“
„Ja! Als ich heute morgen erwachte, da erschienen mir die Vorgänge dieser Nacht wie ein böser Traum, und mit erdrückender Gewalt beherrschte mich das Bewußtsein meiner verzweifelten Lage. Wie lassen sich die Fesseln lösen, wie gelange ich aus dem Wirrsal heraus? Mit dieser Frage peinigte ich mein armes Gehirn. Dazu kam der körperliche Schmerz infolge des gestrigen Falls. Ich werde einige Tage lang das Zimmer hüten müssen, fürchte ich. Ach, Franz, wie bangt mir vor der Zukunft!“
Er sah sie ernst und forschend an. „Machen wir uns eines klar, Liebste! Hat der Tag wirklich an unsern Gefühlen nichts geändert, oder war das, was uns gestern bewegte, nur der Ausfluß einer augenblicklichen Aufwallung?“
„Auch ich habe diese Frage erwogen, denn ich bin im Laufe der letzten Jahre recht zweifelsüchtig geworden. Aber ich kann nicht anders fühlen als gestern – ich müßte sehr unglücklich werden, könnte ich Dir nicht angehören, Franz!“
„Nun, so sind wir einig, und der alte Spruch von der allesbesiegenden Liebe wird sich hoffentlich auch hier bewähren. Laß uns berathen, was wir nach Monks Rückkehr zu thun haben.“
„Das scheint mir sehr einfach zu sein. Ich muß Ewald so schonend, aber auch so offen wie möglich die Wahrheit bekennen und ihn bitten, mich freizugeben. Was ich an Geld und Gut besitze, mag er behalten!“
„Aber wenn er sich weigert, Dich gehen zu lassen?“
„Welchen verständigen Grund könnte er haben, mich elend zu machen und sich selber? Er liebt mich nicht mehr – wenn er es überhaupt je gethan hat!“
„Das Menschenherz ist wunderlich. Oft wirkt der Gedanke an den Nebenbuhler wie ein starker Wind, der das verglimmende Feuer der Liebe zur lodernden Flamme anfacht. Und wenn nun Monk sich weigerte, Dich freizugeben, hättest Du dann den Muth, ihn zu verlassen und zu versuchen, Deine Ehe mit ihm zu lösen?“
„Ich will alles thun, was unsre Liebe fordert.“
Nach dieser Entschließung sehnten die Liebenden eine rasche Entscheidung herbei, allein ihre Geduld wurde einer harten Prüfung unterworfen, denn von Ewald traf am folgenden Tage ein Brief ein, daß er mit der Barke in See gegangen sei, um in Kopenhagen eine Ladung für Danzig einzunehmen. Ob er von dort nach Massow zurückkehren werde, hänge von den Aufträgen der Kaufleute ab.
Als Bettina das mit den plumpen Schriftzügen ihres Mannes bedeckte Papier weglegte, sagte sie schwermüthig: „Unser Geschick wird schwerlich vor Ablauf des Sommers entschieden werden.“
„Nun, was liegt daran! Mich macht es schon unsagbar glücklich, nur in Deiner Nähe leben zu können.“
„Auch mich! Allein der Gedanke an die Zukunft liegt über unserem Glücke wie eine gewitterschwere Wolke.“
„Warum das Unglück fürchten, ehe es uns trifft? Betrachte Du jeden Tag als ein gütiges Geschenk und genieße ihn froh und harmlos! Der Sommer gehört uns, seien wir dem Geschick dafür dankbar!“
„Du drehst den Spruch um: ‚Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst‘, Du nimmst Deine Kunst sehr ernst und suchst dem Leben die heiterste Seite abzugewinnen.“
„Vielleicht doch nicht, ich habe mich nur gewöhnt, von den [199] sonnigen Gefilden der Kunst etwas Glanz und Licht ins dunkle Leben hineinzutragen, weil ich – dankbar bin. Schau, mein Herz, mich hat in früher Jugend das Leben rauh angefaßt, und ich mußte mir’s sauer werden lassen, bis ich meinen Weg sicher hatte. Damals habe ich gelernt, immer des Erreichbaren mich zu freuen, aus meiner Kunst die Kraft zu nehmen, die mich aufrecht hält, auch wenn Wolken den heiteren Himmel verdunkeln.“
Sie standen während dieses Gesprächs am offenen Fenster; die Sonne strahlte aus lichtblauem Himmel, sie ließ das Meer aufleuchten und flimmern, sie gab den Blumen und Büschen im Garten so heiterbunte Farben wie jenen Faltern welche um die Blüthen gaukelten. Die Sonne verlieh auch Rotts Augen einen seltsamen Glanz. Bettina, welche hineinschaute, war es, als spiegle sich alle Herrlichkeit des Himmels und der Erde in ihnen, und seine Stimme rührte alle guten Gefühle ihres Herzens auf. „Ich werde mich Deiner Worte erinnern,“ sagte sie sanft, „sobald der Unmuth in mir aufsteigt, und will gleich Dir fortan dankbarer sein.“
Er zog sie an sich und küßte ihre Stirne.
Von dieser Stunde an waren sie oft beisammen; besonders häufig unternahmen sie weite Segelfahrten zu den umliegenden Inseln und Küstenorten, und Bettina lehrte Rott, wie man das Segel handhabe.
Auf einem Streifzug durch die Lindströmschen Forsten begegneten sie eines Tages der Schloßherrin, welche in Begleitung einiger Gäste das Wild im Parke bei den Futtertrögen beobachtete. Die Liebenden befanden sich in so eifriger Unterhaltung, daß sie die Gräfin erst bemerkten, als jedes Ausweichen unmöglich geworden war. Diese, eine Blondine von zierlicher Gestalt und lebhaften Bewegungen, redete Rott an und überhäufte ihn mit Vorwürfen, daß er nicht im Schlosse abgestiegen sei. Sie sprach in nervöser Hast, stellte Fragen, ohne die Antwort abzuwarten und sprang von einem Thema zum andern. Die Freunde ihres Hauses behaupteten, nur das unzerstörbare Phlegma ihres verstorbenen Gatten habe diese Unruhe in ihr hervorgerufen. Begabt mit einem lebhaften feurigen Wesen sei die Gräfin fünfzehn Jahre lang an einen schwerfälligen Mann gekettet gewesen, der keine andere Lebensaufgabe gekannt habe, als seine Einkünfte in Werthpapieren und Grundbesitz anzulegen oder auf Tafelgenüsse zu verwenden. Das vergebliche Bemühen, diesen Gatten aus dem Schlaraffenleben aufzurütteln, habe ihre Nerven zerrüttet. Sie war die Tochter eines deutschen Musikers und hatte sich in ihrer Jugend der Künstlerlaufbahn zugewendet. Man erzählte sich, daß sie als junge Opernsängerin nach Stockholm gekommen sei und von der Bühne aus den Grafett bezaubert habe. Die fünfzehnjährige Trennung von der Kunst hatte jedenfalls ihr Interesse daran noch gesteigert, sie behauptete, gute Musik beruhige und erquicke sie mehr als jede Arznei.
Rott stellte seine Begleiterin der Gräfin vor, welche die erröthende und befangene Bettina mit dem Ausdruck der Ueberraschung und Neugierde betrachtete.
„Man beschäftigt sich hier zu Lande viel mit Ihnen,“ sagte sie lächelnd, „und die verschiedenartige Beurtheilung, welche Ihre Weltabgeschiedessheit erfährt, hat mich neugierig gemacht, Sie kenenzulernen. Leute, welche den Muth besitzen, ihren eigenen Weg zu gehen, sind mir stets sympathisch; der Herdentrieb, der in der sogenannten guten Gesellschaft besonders stark ausgebildet ist, widert mich an. Ich heiße Sie auf meinem Grund und Boden willkommen, Frau –?“
„Monk.“
„Darf ich Sie mit meinen Gästen bekannt machen? Ah, da ist gleich Herr Lieutenant von Ellernbrück, der vor wenigen Tagen die Ansicht aussprach, Sie müßten eine begeisterte Anhängerin von Rousseau sein, denn Sie hätten die ‚Rückkehr zur Natur‘ praktisch ausgeführt.“
„Ihre Offenheit, meine Gnädige, streift fast die Grenzen der Bosheit,“ versetzte der Schwager des Lotsenkommandanten scherzend und begrüßte Bettina mit großer Artigkeit als eine alte Bekannte und doch mit einer Zurückhaltung, die deutlich sagte: zwischen mir und dir gähnt eine tiefe gesellschaftliche Kluft. Auch die Töchter eines grimmig aussehenden adligen Gutsnachbars der Gräfin begegneten Bettina mit jener herablassenden Höflichkeit, welche als Demüthigung empfunden wird. Die Gräfin hatte noch einen schwedischen Landschaftsmaler und einen Berliner Cellisten in ihrem Gefolge. Der letztere war wiederholt Gast in Bettinas Vaterhaus gewesen und begrüßte sie nun mit der Freudigkeit eines Mannes, der unerwartet eine interessante Entdeckung gemacht hat. Er stürmte derart mit Fragen auf sie ein, daß Rott sich mit der abwehrenden Bemerkung ins Mittel legte: „Sie wollen dies Interview doch nicht heute noch der Berliner Presse telegraphisch mittheilen, Herr Kollege?“
Die Schloßherrin lud Rott und Bettina so dringend zum Bleiben ein, daß diese, wollten sie nicht unhöflich erscheinen, ihr aufs Schloß folgen mußten. Dieses lag auf einer Anhöhe und gewährte eine weite Rundsicht übers Meer^ der schöne Batt, im Stile der Frührenaiffanee gehalten bot einen stolzen Anblick. In einer offenen Säulenhalle war bereits die Mittagstafel für die Gäste gedeckt. Die Gräfin nahm ihren Platz neben Rott und wußte die Unterhaaung bei Tisch mit so viel Munterkeit und Geschick einzu.eiten, daß bald die ganze Tafelrttude in die fröhlichste Stimmung kam. Selbst Bettina, welche nur mit innerem Widerstreben und in peinlicher Verlegenheit gefolgt war, athmete allmählich freier auf; ihr schien es mit einem Male, als sei sie durch eine wunderbare Fügung des Schicksals in die Lebenssphäre ihrer Jugend zurückversetzt worden.
Der Cellist, ein witziger Gesellschafter, zeigte seine Gaben im hellsten Lichte und forderte zuletzt Rott heraus, Abenteuer aus seinen Künstlerfahrten zu erzählen. Bettina lernte dabei den geliebten Mann von einer neuen Seite kennen. Seine Sprache war knapp und klar, er verstand es meisterlich, in seinen Schilderungen das Charakteristische fremdartiger Erscheinungen herauszuheben und die heiteren Erlebnisse mit köstlicher Laune wiederzugeben. Das Lachen der Zuschauer steigerte seinen Humor. Bettina vermochte kaum die Blicke abzuwenden von seinem glücklichen Gesicht, seinen leuchtenden Augen – wie freute sie sich, daß man ihn so unverhohlen bewunderte!
Die Gesellschaft saß bei Tisch, bis die Sonne sank. Bettina genoß den Ausblick aufs Meer, das ganz in Gluth getaucht war, und mit dem herrlichen Naturbilde, mit dem süßen Duft der Rosen, den der Abendwind aus dem Garten herauftrug, mit dem fröhlichen Lachen der Nachbarn verschmolz sich das innere Glücksgefühl, das ihr die Liebe gab, zu einer Lebensfluth, die ihr so wohlig und wonnig einging wie der goldklare Wein, den sie schlürfte. Es war doch eine Lust, an des Lebens festlicher Tafel zu sitzen, wo sich die Seele aus der Gebundenheit zur Freiheit erhob. Sie fühlte sich als Gleichberechtigte in diesem Kreise, nahm lebhaften Antheil an der Unterhaltung und bewies der Gesellschaft durch ihre treffenden Bemerkungen über die neuen Strömungen auf künstlerischem und litterarischem Gebiete, daß sie an Bildung und Urtheilskraft den anderen Damen zum mindesten gleich stehe.
Als man sich endlich vom Tische erhob und Rott Miene machte, sich zu verabschieden, erfaßte die Gräfin seinen Arm und rief scherzend: „Sie wissen, daß meinem Hause kein Musiker ohne Tribut entschlüpft. Bitte, bitte, lassen Sie uns etwas hören!“
Rott erwiderte ablehnend, daß er seine Geige nicht zur Hand habe, allein die Gräfin schnitt seinen Widerstand durch die Entgegnung ab: „Sie finden im Musiksaal drei Cremoneser Geigen, die Ihnen sicher gefallen werden.“
So begab man sich denn in den Musiksaal, dessen Wände mit farbigen Mosaikbildern und dessen Nischen mit Büsten geschmückt waren. Ein herrlicher Flügel stand auf einer Erhöhung im Hintergrund des Saals. In mehreren schön geschnitzten Schränken befand sich eine ganze Bibliothek von Musikwerken und daneben eine reiche Auswahl von Instrumenten. Rott wählte sich eine der Geigen aus und bat Bettina, die Klavierbegleitung zu einem Stücke zu übernehmen, das sie miteinander eingeübt hatten. So war der Vortrag desselben wie aus einem Gusse und rief bei allen in dem kleinen Kreise Bewunderung hervor. Als Rott die Geige aus der Hand legte, wurde er mit Bitten um weitere Gaben bestürmt, er aber wies auf den Cellisten, der sich auch bereit finden ließ. Nun war die Gesellschaft im Zuge, und die Lust, ihr musikalisches Können zu offenbaren, erfaßte auch die Damen. Die Gräfin bestimmte die Töchter ihres Gutsnachbars, ein Duett zu singen, dann gab sie selbst eine Arie aus dem „Figaro“ zum besten. Wieder hatte Bettina die Begleitung übernommen und führte sie mit soviel Geschmack und Sicherheit durch, daß die Gräfin ihr in überschwänglicher Weise dankte.
„Was ist aus Ihrer Stimme geworden, Frau Monk?“ fragte der Cellist. „Ich erinnere mich noch mit Vergnügen an die Abende, da ich Sie in Berlin singen hörte.“
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[201] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [202] „Ah, Sie singen auch? Dacht’ ich mir’s doch gleich, als ich Ihre melodische Sprache hörte! Bitte, bitte, ein Lied!“
Die Gräfin ließ nicht nach, bis sich Bettina vor den Flügel setzte und zwei Lieder von Franz vortrug. Ihre Stimme war leicht umflort und besaß keinen großen Umfang, aber es lag ein eigener Zauber in ihrer Klangfarbe; jeder Ton war von echter weicher Empfindung durchhaucht.
Als Bettina sich mit bescheidener Miene vom Flügel erhob, war es ganz still um sie her. Dann plotzlich fühlte sie sich von den Armen der Gräfin umschlossen, die sie herzlich küßte und sagte: „Die Stille mag Ihnen bezeugen, welche Wirkung Ihr Gesang auf den Hörer hervorbringt. Sie reden die Sprache eines tiefempfindenden edlen Herzens.“
Von diesem Augenblick an ließ sie Bettina nicht von ihrer Seite, und diese athmete auf. Vergessen und versunken waren alle Demüthigungen, Kränkungen und Entbehrungen; sie fühlte sich emporgehoben und las in Rotts glänzenden Augen die Verheißung einer schönen Zukunft.
Bevor die Gäste aufbrachen, zeigte die Gräfin Bettina und Rott ihr anmuthig ausgestattetes Boudoir. Dabei fiel der Blick Bettinas auf das Bild eines Offiziers, der ihr bekannt vorkam und die gleiche Uniform trug wie einst Graf Trachberg.
„Ist dies nicht Baron Leblanc?“ fragte sie.
„Gewiß, kennen Sie ihn?“
„Nur flüchtig; er wurde mir einst von einem seiner Kameraden vorgestellt.“
„Darf ich den Namen desselben wissen?“
„Graf Trachberg.“
„Ah, das ist sein Freund, der unserer Trauung beiwohnen wird. Sie sehen mich beide überrascht an,“ fuhr die Gräfin lachend fort. „Nun denn, Baron Leblanc ist mein Verlobter; ich bin waghalsig genug, mich im Spätherbst dieses Jahres zum zweiten Male in das Joch der Ehe zu fügen. Die Hochzeit soll hier gefeiert werden und ich wünsche das Fest durch künstlerische Genüsse zu verschönen. Darf ich auch auf Sie rechnen?“
„Wenn Sie mir den Tag der Hochzeit rechtzeitig mittheilen, stelle ich mich ganz zu Ihrer Verfügung,“ entgegnete Rott zuvorkommend.
„Und Sie, Frau Monk?“
Bettina gerieth bei der unerwarteten Frage in große Verlegenheit. Um keinen Preis mochte sie mit dem Grafen Trachberg zusammentreffen, sie sagte daher in ängstlich abwehrendem Tone, daß sie nicht Herrin ihrer Entschlüsse sei und als Lotsenfrau wohl auch nicht in aristokratische Kreise passe.
Gräfin Lindström lachte hell auf. „Seien wir doch nicht zimperlich,“ rief sie. Die Kunst giebt jedem Sterblichen einen Geleitsbrief, den auch Fürsten anerkennen. Nun, ich will Ihnen Zeit zur Ueberlegung lassen, aber wenn Sie mich erst näher kennen, werden Sie erfahren, wie wenig von dem Staube aristokratischer Vorurtheile auf mich gefallen ist.“
„Das weiß ich schon jetzt,“ versetzte Bettina herzlich. „Ich weiß, daß Sie hochherzig sind. Haben Sie Dank, innigen Dank für so viel Freundlichkeit ... das war ein Tag, den ich nie vergessen werde.“
Die Gräfin küßte Bettina auf beide Wangen und geleitete sie bis zum Schloßportal, wo für sie, Rott und den Lieutenant von Ellernbrück der Wagen bereitstand. Da Bettina mit Rott im Boote über die Bucht gekommen war, so machte sie schüchtern den Vorschlag, ob sie nicht lieber übers Wasser segeln wollten, dem Wagen bleibe dann die weite Fahrt über die sandige Landenge erspart. Dem Offizier kam der Vorschlag sehr erwünscht, und auch Rott erklärte sich bereit.
Die Fahrt gestaltete sich zu einem schönen Nachspiel des ereignißreichen Tages. Eine träumerische Stille lag über den kühlen Fluthen, die geheimnißvoll unter dem Kiele aufrauschten und sich murmelnd verloren. Noch einmal konnte Bettina alles überdenken, und die Lobsprüche, welche der Schwager des Lotsenkommandanten ihrem Gesang und Spiel nachträglich spendete, schmeichelten sich in ihr Ohr und thaten ihrem Herzen wohl. Als das Fahrzeug vor der Klause endlich auf den Sand lief und der Offizier sich verabschiedete, schreckte sie auf; die harte Wirklichkeit stand wieder vor ihr.
Sie fand die Thür des Hauses verschlossen. Auf ihr Klingeln erschien nach einiger Zeit die alte Monk und leuchtete murrend den beiden ins Gesicht; in ihren Augen war ein flackerndes Licht, das den Ausbruch verhaltener Wuth ankündigte.
Kaum hatte sich Rott entfernt, so machte die Alte ihrer Schwiegertochter heftige Vorwürfe darüber, daß sie zu „nachtschlafender“ Zeit mit einem leichtfertigen Musikanten auf dem Wasser herumfahre; das möchten sich die Stadtdamen erlauben, in Massow aber sei es nicht der Brauch.
Bettina erwiderte kühl, daß auch der Schwager des Lotsenkommandanten mit ihnen über die Bucht gefahren sei und daß sie über ihr Betragen Ewald allein Rechenschaft schuldig sei.
Der Grimm der Alten wurde durch die ruhige Abwehr eher angeschürt als besänftigt. Unter heftigen Drohungen faßte sie Bettina, die sich zum Gehen anschickte, am Arm und wollte sie zwingen, ihre Anschuldigungen noch länger anzuhören.
Nun aber wallte auch in der jungen Frau die Entrüstung heiß auf. Mit einer heftigen Bewegung schüttelte sie die Hand ab und rief in flammendem Zorne: „Hüten Sie sich, mich wieder zu berühren! Und wenn Sie den Tag verfluchen, an dem ich in Ihr Haus gekommen bin, so mögen Sie wissen: ich verwünsche ihn auch und bin entschlossen, Sie in Kürze von meiner Person zu befreien. Hoffentlich kommt Ihr Sohn bald zurück, damit diese unerträgliche Lage zu ihrem Ende kommt.“
Der Wunsch Bettinas erfüllte sich rascher, als sie erwartet hatte. Am nächsten Abend schon, als sie mit Rott von einem Spaziergang über das Wiesengelände heimkehrte, sah sie Ewald mit den beiden Alten auf der Veranda beim Abendbrot sitzen. Sie erschrak so heftig bei seinem Anblick, daß ihr der Feldblumenstrauß, den sie in der Hand trug, zu Boden fiel. Ewald, von seiner Mutter auf Bettina aufmerksam gemacht, sprang vom Stuhle auf, und es lag eine solche Kampfbereitschaft in seiner Haltung, seinen Mienen, daß die junge Frau ihrem Begleiter bebend zuflüsterte: „Er weiß alles. Bitte, laß uns allein – die entscheidende Stunde ist gekommen!“
„Soll ich nicht zu Deinem Schutze –“
„Nein, das würde meine Lage nur verschlimmern.
Bleich und nach Athem ringend stieg sie allein die Treppe hinan.
„Na,“ rief ihr Ewald drohend entgegen, „ich komme der Madame wohl ungelegen? Freilich, wenn man einen Musikanten im Hause hat – –“
„Nicht weiter, Ewald! Ueber das, was in Deiner Abwesenheit geschehen ist, will ich Dir ehrlich Rede stehen, sobald wir ohne Zeugen sind. Vor Deiner Mutter gebe ich auf keine Deiner Fragen Antwort.“
„Man wird Dich zwingen –“
„Wodurch? Glaubst Du, Deine geballte Faust schrecke mich? Ich habe mich noch niemals der rohen Gewalt gebeugt und Du weißt recht gut, daß ich nicht feig bin. Was ich fürchte, ist etwas ganz anderes. Verzehre Dein Abendbrot, Du wirst nach der Reise hungrig sein, und dann laß uns allein miteinander fertig werden!“
Bettina war mit einem Male ruhig geworden. Ewalds Drohung hatte ihren Muth aufgerüttelt, sie fühlte dem zornigen Mann gegenüber ihre innere Ueberlegenheit. Der Lotse brummte etwas in den Bart, setzte sich aber auf den Stuhl nieder und füllte sein Glas mit Branntwein.
„Ist Deine Fahrt unterbrochen worden?“ fragte Bettina und stützte sich auf das Geländer der Veranda.
Ewald antwortete nicht, sondern leerte bedächtig sein Glas. Statt seiner gab der alte Monk Auskunft. „Ja, ja, min Engelken,“ sagte er mit grimmigem Lachen, „uns’ Bark hett all der Düwel holt.“
„Was soll das heißen? Habt Ihr Schiffbruch gelitten? Ich hörte doch nichts von Stürmen in dieser Zeit?“
„Nee, nee, min Düweken, sie is afbrennt.“
„Wie, verbrannt? Mit der Ladung? Wie konnte das geschehen?“
Jetzt schlug Ewald mit der Faust auf den Tisch, daß die Teller klirrten. „Wenn ich den Hund erwische, der mir das gethan hat,“ rief er und schüttelte die Faust gegen Bräunings Gehöft, „dann zerbrech’ ich ihm alle Knochen im Leibe.“
„Willst Du mir nicht ruhig erzählen, wie alles gekommen ist?“
„Was giebt’s da viel zu erklären,“ antwortete Ewald mit einem finstern aber unsichern Blick auf Bettina. „Wir lagen in Danzig vor Anker, und als die Ladung gelöscht war, gingen Vadding und ich abends ins Wirthshaus, um zu Nacht zu essen [203] und einen Schluck Bier zu trinken. An Bord blieb Gust Henning zurück. Auf dem Quai begegnete uns Karl Bräuning, der sich unten bei den Ausladestellen herumtrieb. Der Kerl drückte sich, wie er uns sah, scheu beiseite. Gegen Mitternacht hörten wir auf der Gasse Feuerlärm. Vadding und ich brachen auf und sahen, daß ein Schiff im Hafen brannte. Es war unsere Barke. Als wir zum Quai kamen, hatten die Matrosen der umliegenden Schiffe das brennende Fahrzeug schon hinausgeschleppt, damit die anderen Schiffe nicht in Gefahr kämen. Ans Löschen dachte niemand, dazu war’s auch wohl schon zu spät, und so ist die Barke bis auf den Kiel niedergebrannt.
„Und wo war Henning unterdessen?“
„Dem Schlingel war die Zeit lang geworden, und er hatte das Schiff verlassen, um ebenfalls einen hinter die Binde zu gießen. Dem hab’ ich’s eingetränkt. Wenn mir aber der Halunke, der Bräuning, in den Wurf kommt, dann schlag’ ich ihn tot, denn er hat das Feuer angelegt – kein andrer.“
„Hast Du Beweise?“
„Daß der Galgenvogel um mein Schiff herumstrich, ist mir Beweis genug.“
„Auf diese zufällige Begegnung hin kannst Du niemand eines schweren Verbrechens zeihen. Es war nicht wohlgethan, das Schiff solange in der Obhut eines jungen Burschen zu lassen. Gust Henning zählt erst sechzehn Jahre, bei ihm konntest Du ein Gefühl seiner Verantwortlichkeit nicht voraussetzen. Wie hoch war die Barke versichert?“
Bei dieser Frage Bettinas schlug Ewald verlegen die Augen nieder. „Da sitzt ja der Haken,“ platzte er endlich heraus, „die Barke war gar nicht versichert!“
Wenn Ewald erwartet hatte, daß Bettina auf das Geständniß hin, die Bark sei nicht versichert gewesen, aufschreien und jammern werde, so irrte er sich. Sie ließ stumm ihre Blicke über die Gruppe der Monks gleiten und sagte dann leise: „Ich hätte mir’s denken können! Meine Ermahnung wurde also wieder einmal in den Wind geschlagen. Das ist eine schwere Einbuße.“
„Vadding meinte, das Versicherungsgeld könnten wir selber verdienen –“ bemerkte Ewald in unsicherem, entschuldigendem Tone.
Um die Lippen der jungen Frau zuckte ein spöttisches Lächeln. „Und Ihr habt’s in der Kneipe verdient, wo Ihr vermuthlich bis Mitternacht hinter den Karten saßet. O, man kann sein Gut nicht gewissenhafter behüten!“
Die beiden Männer schwiegen betreten, aber Mutter Monk übernahm ihre Vertheidigung und bemerkte giftig, ihr Sohn habe sich jedenfalls weniger vorzuwerfen als Bettina, die in ihres Mannes Abwesenheit den ganzen Tag vor dem Klimperkasten verbracht oder sich mit dem hergelaufenen Musikanten herumgetrieben habe.
Die Verklagte biß sich auf die Lippen und schaute aufs Meer hinaus. Als die Alte endlich schwieg, sah Bettina Ewald fest an und sagte mit leisem Beben in der Stimme: „Willst Du jetzt mit mir durch den Garten gehen? Es muß klar werden zwischen uns.“
Sie ging voraus. Langsam senkte sich die Abenddämmerung über Meer und Land, am Himmel flimmerten die ersten Sterne. Bettina blickte zu ihnen auf, preßte die Hände gegen das ungestüm pochende Herz und flüsterte. „O laß mich jetzt die rechten Worte finden, gütige Vorsehung, damit ich ihn überzeuge und nicht verletze; ich möchte in Frieden von ihm scheiden. Frei werden laß mich, sonst geh’ ich elend zu Grunde!“
Hinter ihr wurden schwere Tritte hörbar. Sie wandte sich gegen den Gatten um, ihr Gesicht war weiß wie Marmor.
„Ewald,“ sagte sie mit todestrauriger Stimme, „Du wirst wissen, um was es sich handelt, Du mußt die Wandlung bemerkt haben, die sich seit dem Tode unseres Kindes in mir vollzogen hat. Dein und mein Verhängniß – ich habe es erkannt. Wir glaubten uns zu lieben – wir haben uns getäuscht; es waren falsche Sterne, denen wir vertrauten und folgten.“
Ewald hatte ihr mit soviel Spannung zugehört, daß die Pfeife, welche er kurz vorher in Brand gesteckt hatte, wieder verlöschte. Bettinas feierliches Wesen ließ ihn ahnen, daß ein großer Entschluß ihr Inneres bewege und daß sie beide vor einem Wendepunkt ihres Lebens stünden. Jetzt, da sie aus beklommener Brust tief Athem schöpfte, warf er grollend ein. „Ich hatte Dich gern.“
„Du magst mich gern gehabt haben, so wie ich Dich, Ewald,“ sagte sie sanft, „aber wir liebten uns nicht. Muß ich Dir die Beweise dafür erst aufzählen? Komm, laß uns auf und abgehen und höre mich ruhig an! Das Unabänderliche ist ja doch stärker denn wir.“
Sie wanderten durch den breiten Mittelgang des Gartens, während die Johanniskäfer leuchtend von Busch zu Busch flogen, während die Blumen mit ihrem Dufte die laue Abendluft würzten und im Geäst der jungen Obstbäume ein Vogel von Zeit zu Zeit sein leises Gezwitscher vernehmen ließ. Und Bettina enthüllte dem schweigenden Manne an ihrer Seite jede Falte ihrer Seele. Wie im Selbstgespräch entwarf sie ein Bild ihrer Lage nach dem Tode des Vaters, forschte der eigenen Thorheit nach und den Mitteln, durch welche Ewald ihre Hand gewonnen hatte. Ohne Bitterkeit, aber klar und bestimmt wies sie die Gründe nach, durch welche das Freundschaftsgefühl ihrem Gatten gegenüber – nur diese und keine andre Empfindung habe sie mit ihm verbunden, wie sie jetzt erkenne – zerstört worden sei. In dem Wahne, unter Naturmenschen freier und glücklicher leben zu können als in den gewohnten Verhältnissen, sei sie nach Massow gekommen, hier aber habe man sie der Willensfreiheit beraubt, ihre geistige Natur in einen unerträglichen Zustand der Knechtung und Stumpfheit herabzudrücken versucht. Da sei in dem Augenblick, in welchem die Verzweiflung sie zu überwältigen gedroht, Franz Rott erschienen und mit ihm – die Liebe. Ewald müsse sich erinnern, wie heftig sie sich gegen die Aufnahme dieses Mannes in ihr Haus gesträubt habe, eine seltsame Ahnung dessen, was kommen werde, sei schattengleich in ihr Inneres gefallen. Nun habe sich ihr Schicksal doch erfüllt, sie sei fortgerissen worden von jenem höchsten Gefühl, das göttlich und unzerstörbar sei. Nun müsse geschehen, was nothwendig sei, um die unselige Scheinehe zwischen ihnen zu lösen. Nicht bloß an sich selbst denke sie dabei, auch für Ewald gebe es keinen andern Weg zum Frieden. So wenig es ihr persönlich gelungen sei, ihn zu beglücken und zu veredeln, so wenig habe ihn ihr Geld zufriedener gemacht. Wenn er in die Scheidung willige, so wolle sie ihm alles lassen, was sie an Geld und Gut besitze, er werde eine Lebensgefährtin finden, die ihm sein könne, was ihr, der so ganz anders Gearteten, verwehrt gewesen, die ihn dauernd beglücke. Sie aber werde ihm bis ans Ende ihres Lebens dafür danken, daß er ihr die verlorene Freiheit wiedergegeben habe.
Sie sprach in zitternder Erregung, und als sie beide auf dem Hügel am Ende des Gartens anlangten, wandte sie ihm voll das Gesicht zu, erhob bittend die Hände und schloß mit den Worten „Wir haben uns getäuscht, Ewald; laß uns ohne Groll scheiden und auf neuen Wegen den Frieden suchen!“
Der Schein des Mondes fiel auf ihre leidvollen Züge, der Lotse sah, daß zwei heiße Thränen sich von ihren Wimpern lösten. Und wie aus den feuchtschimmernden Augen flehende Blicke zu ihm herüberdrangen, so sprach aus ihrer Stimme die ganze Sehnsucht nach Erlösung von unerträglichen Fesseln. Aber Ewald verschloß sich der Gewalt dieses Eindrucks mit einer unwilligen Bewegung. Ihr Bekenntniß hatte seine Eigenliebe verwundet, aus ihrer beweglichen Rede hörte er nur das eine heraus, daß sie den „Musikanten“ ihm vorziehe. Und wie mußte sie den Fremden lieben, daß sie – die Stolze – Thränen vergoß! Der Gedanke rührte alle bösen Leidenschaften in Ewald auf und machte ihn unzugänglich für ihre Bitten. Und nie zuvor war ihm Bettina so schön und begehrenswerth erschienen als jetzt, da er sie verlieren sollte. Lange sah er ihr in das thränenfeuchte Gesicht, und als sie nochmals die Hände zu ihm erhob und fast schluchzend seinen Namen rief, antwortete er rauh und barsch: „Du hältst mich wohl für einen Narren?“
„Ewald!“
„Ja, ‚Ewald!‘ Du kannst mich lange anrufen und angucken als wär’ Dir der Himmel eingefallen, ehe ich auf Deinen unsinnigen Vorschlag eingehe. Ewald Monk ist kein Tropf, der in jede Grube springt, wenn Du nur den Wunsch danach aussprichst. Wir beide sind Mann und Frau, das scheinst Du in meiner Abwesenheit vergessen zu haben. Hier zu Lande läuft man nicht zusammen, um sich wieder zü trennen, wenn eins von beiden verdrießlich wird oder wenn ein Dritter ins Haus kommt, der eine glatte Larve hat und ein wenig gebildeter schwatzen kann als der eigene Mann. Hier zu Lande hat die Frau bei dem angeheiratheten Manne in allen Lagen des Lebens auszuhalten, und wenn sie das nicht thut, so erkennt man dem Manne das Recht zu, sie zur Pflicht zu zwingen. Das könnte Dir gefallen, jetzt, wo es mir ohne mein Verschulden schlecht geht, Dich davon zu stehlen und es einmal mit dem Musikanten zu versuchen! [204] Der Kerl hat Dir wahrscheinlich goldene Berge versprochen, und ich könnte hier sitzen bleiben und all den Hohn und Spott über mich ergehen lassen, den die Lästermäuler schon lange für mich in Bereitschaft haben – nein, mein Schatz, daraus wird nichts. Ich hab’ Dich nicht zur Ehe gezwungen, aber jetzt, da Du meine Frau bist, sollst Du es auch bleiben“
Er wollte sich abwenden und ins Haus zurückkehren, allein Bettina erfaßte seinen Arm und sagte ruhig: „Ich begreife, daß der Gedanke an eine Trennung Dich erschrecken muß, doch wenn Du heute nacht über das Vergangene nachdenkst, so wirst Du zu der Einsicht gelangen, daß es besser für uns beide ist, wenn jedes wieder seinen eigenen Weg geht. Ich habe viel gelitten an Deiner Seite und nicht darüber geklagt, denn ich wußte, daß Du mir nicht aus böser Absicht Leid zufügtest. Der Mensch ist das, was Erziehung und Verhältnisse aus ihm machen, und Du handeltest Deiner Natur gemäß. Die Rauheit und Härte Deines Wesens aber mußte mich verletzen. Wir paßten eben nicht zueinander. Wir haben beide gefehlt, so laß uns ohne Groll die Vergangenheit begraben!“
„Gut, das ist ein verständiges Wort. Es soll alles vergeben und vergessen sein, wenn Du Dir den Menschen da droben aus dem Kopfe schlägst." Er streckte ihr die Hand entgegen sie aber wich hastig abwehrend weit zurück.
„Dazu ist’s zu spät“ sagte sie mit zitternden Lippen. „Die Liebe läßt sich so wenig auslöschen wie das Sonnenlicht. Ewald, sei nicht grausam! Ich flehe Dich an, gieb mich frei!“
Sie hatten seinen Arm umklammert und die Thränen strömten ihr über das bleiche Gesicht. Er aber stieß sie rauh von sich. „Nein und tausendmal nein,“ rief er erregt, „Du bist ein Weib, das seine Pflicht vergißt; so lange ich lebe, sollst Du keinem andern angehören. Ich ermorde den, der Dich zu berühren wagt.“
Bettinas Geduld war erschöpft, die rohe Art der Zurückweisung brachte auch ihr Blut in Wallung. „Wenn Du von Pflichten sprichst, so vergiß nicht, daß Du die Deinigen sehr schlecht erfüllt hast – doch, wozu mit Dir streiten! Da Du fühllos gegen meine Bitten bist, so werden auch gerechte Vorwürfe an Dir abprallen. Ich will Dir Zeit geben zu ruhiger Ueberlegung. Sage mir morgen, wozu Du erschlossen bist!“
Sie entfernte sich mit eiligen Schritten, und als Ewald ihr nachrief. „Du wirst morgen keinen andern Bescheid erhalten wie heute,“ wandte sie den Kopf nicht, sondern trat lautlos ins Haus.
Neunzig Jahre Männermode.
Erst im Laufe des Jahrhunderts hat sich die Gewohnheit herausgebildet, den Frack, eigentlich ein Reitkleid, nur als Gesellschaftsrock, als Prunkstück zu tragen. Er ist das ursprüngliche Hauptstück der modernen Tracht. In den ersten Jahrzehnten trug man bei kaltem Wetter einen Oberrock über dem Frack, den „Redingote“. Dieses Wort ist wie „Frack“ (von frock, Kittel) wieder ein englisches und kündet die Herkunft der Tracht an: riding coat heißt der Reitrock. Die aus dem Franzosischen übernommene Schreibart ist also eigentlich nicht richtig.
Im Gegensatz zu ihm nannte man den Frack in Deutschland den „Leibrock“, wie ihn wohl ältere Leute hier und da noch heute nennen. Bald traten beide Kleidformen in Wettstreit miteinander, der Redingote wurde auch ohne Frack getragen, an den Seiten der Schöße mit Taschen versehen, bald weit, bald in der Taille eng gebildet. Er ist der Vorgänger unseres „Gehrockes“ wie des soldatischen „Interimsrockes“; sein Unterschied vom Frack besteht eben ursprünglich nur darin, daß die Schöße nicht vorn abgestochen sind, sondern die Hüften ganz umschließen.
Heute sitzt ein Frack und Rock erst dann, wenn er „wie angegossen“ aussieht, das heißt, wenn er keinerlei Falten wirft. Dem war nicht immer so. Die Mode hat sich erst langsam an die flachen, schmalen Kragen unserer Herrenröcke gewöhnt; früher zog man die von den weiten Binden geforderten breiten Shawlkragen vor, ja man gefiel sich gerade in recht übertriebenem Schnitt. Meinem Großvater „saß“ ein Rock erst dann, wenn zwischen Binde und Kragen bequem eine Semmel Platz hatte, wenn der Rock also allseitig weit vom Halse abstand. Man dachte nicht daran, den Kragen scharf umzubügeln, sondern ließ ihm bauschige Formen, einen rundlichen Fall. Ebenso waren die Aermel nicht glatt wie die unseren, sondern wurden mit Vorliebe zu lang gebildet, so daß sie sich faltig an der Hand stauchten, oft sogar diese fast ganz bedeckten. Oder sie hatten die Form der heutigen Frauenärmel, oben Verbreiterungen und höckerartige Aufbauschungen. Die weiten Kragen und die Länge der Schöße am Redingote wurden das Kennzeichnende der Mode um 1820 und 1830. Dutzende von Kragen übereinander verbreiterten das mantelartig werdende Gewandstück, welches sich schon zu Anfang unseres Jahrhunderts der Form unseres Havelock näherte. Diesen Namen hat das Kleidungsstück erst von Sir Henry Havelock, dem Sieger im indischen Seapoyskriege, also aus den fünfziger Jahren. Die Sache selbst war aber damals nicht neu, nur die bestimmte Form, welche der General getragen hatte.
Die Farbe des Redingote ging auch langsam zurück. Sie kam aber nicht ganz aufs Schwarz, sondern schwankte zwischen Grau und Braun. Schon war ein lebhafter Ton höchstens am Ballmantel erlaubt und zwar nur im Futter. Aber in den Stoffen blieb noch lange eine größere Auswahl: gerippter Sammet und Seidentuch, Köper und Nanking wechselten miteinander. Viel getragen wurden Verschnürungen und Posamenten, Pelzwerk nach Art der Polen und dergleichen Schmuck. Allein das Ende war auch hier die Ueberwindung des Farbensinnes durch die Farbenstumpfheit.
Der jüngere Bruder der Redingote ist der „Paletot“. Das Wort ist neulateinisch, kommt von palata, paldo, palda, dem gesteppten Rock, wie er im 16. Jahrhundert getragen wurde. Im Italienischen heißt falda der Frackschoß, unser Wort Falte gehört zu demselben Stamme. Ursprünglich war der Paletot auch in den vierziger Jahren ein weitfaltiges Kleidungsstück, welches mit den um 1865 so viel getragenen, jetzt nur noch als Reisedecken üblichen Wollenshawls wetteiferte. Heute ist er ganz in die Gestalt des Redingote zurückgefallen, nur daß er meist nicht die breit sich öffnende Trennung im Schoße hat, welche jenem als Reitrock eigenthümlich ist.
Von einer nationalen Sonderung der Tracht ist in all den kleinen Schwankungen der Mode wenig zu merken. Die Nationen tauschten ihre Neigungen unter einander aus; die französische und in erster Linie die englische waren zumeist die gebenden, doch auch die deutsche trug ihr bescheidenes Theil zur Gesammtgestaltung bei. Man würde aber irre gehen, wollte man allein in den Modeblättern suchen, um die Kleidung der Männer unseres Jahrhunderts kennenzulernen. In ihnen ist die Tracht der Zeit und der verschiedenen Völker nicht ganz richtig niedergelegt. Sie kümmerten sich nicht um die keineswegs bedeutungslosen Bestrebungen der nationalen Stürmer, sie behielten fest den Kurs auf Paris und London, selbst zu einer Zeit, in der das Volksbewußtsein uberall erstarkte. Das Metternichsche Wien kam für sie in der ersten Hälfte des Jahrhunderts allein noch in Betracht. [205] Nur ganz vereinzelt findet man „deutsche Moden“ in einem Leipziger Blatt, und zwar im Jahre 1815. Später nahm Laube in der „Eleganten Welt“ die Frage einer deutschen Männertracht auf. Doch in den eigentlichen Modeblättern wurden alle Regungen des nationalen Geschmackes vollständig verschwiegen.
Wie sah nun die „deutsche Kleidung“ der Jünglinge von 1815, der aus den Siegen von Leipzig und Waterloo Heimgekehrten, aus? Es waren so ziemlich die bereits geschilderten Ritterkostüme der Theater. Denn man wollte deutsch sein, nicht undeutsch wie die vorhergehende Zeit der Knechtschaft. Man besann sich auf die Glanzzeit des deutschen Kaiserthums, des Ritterwesens, und wollte an dieses anknüpfen. Allen diesen altdeutschen Anzügen war gemeinsam das Barett, der mit Pappe unterlegte Stirnreifen, aus dem oben noch ein Sack hervor quillt. Von Sammet mußte es sein, eine Kokarde und womöglich eine Feder tragen. Die Kokarde trug das Kreuz des Christenthums, die Farbe des Vaterlands, und die flatternde Feder bedeutete die Freiheit. Ich weiß nicht, woher das Barett stammt. Man hielt und hält es für altdeutsch, doch kommt es in dieser Form nirgends in der Kostümgeschichte vor. Das Wort stammt auch aus dem Neulateinischen und bedeutet den Kopfschmuck des Gelehrten im 16. Jahrhundert. Es ist also keineswegs urgermanisch, wie man glaubte, sondern ein Stück vom alten Besitzstande der Universitäten. Heutzutage trägt es nur noch der Student bei feierlichen Aufzügen.
Und dann trugen die deutschen Jünglinge nach den Befreiungskriegen den Leibrock, das heißt ein kurzes, eng anliegendes Kleidungsstück ähnlich unseren Jacketts, meist hoch geschlossen, manchmal aber auch am Hals mit einer Spitzenkrause oder mit breitem Hemdkragen versehen. Auch diese beiden wichtigen Dinge waren dem Ritterthum entlehnt. Zwar die Ritter selbst, das heißt die Helden des echten Mittelalters, haben nichts davon gewußt, aber zur Kleidung des Theaterritters gehörten sie unbedingt. Freiheit offenbarte der weite Kragen, der offene Hals. Die ganze Welt jener Zeit umspann den Hals mit Kragen und Binden; es ist darum kein Zufall, daß Jahn und Byron den Hals offen trugen, daß noch heute der flatternde Schlips als das Merkmal der Genialität gilt. Enge Hosen und Reiterstiefel vollendeten das deutsche Kleid des Jünglings. Die Studenten der Wartburgfeier haben es getragen; noch heute ist ein Stück davon in der „Kneipjacke“ des Corpsbruders, in der Sammetpekesche des Studenten erhalten, noch heute kündet die bunte Mütze das Streben an, sich von der Herrin Mode zu befreien.
Ein anderes Kostüm, welches dauernd sich hielt, war das des Künstlers. Der Schlapphut und der Radmantel sind italienischen Ursprungs, sie sind von den Modellen der Spanischen Treppe in Rom, von den Cioccaren auf die Maler und Bildhauer übergegangen. Cornelius und seine Geistesgenossen haben sie mitgebracht über die Alpen, namentlich des Mantels und seines freien Faltenwurfs sich freuend.
Das waren die letzten Kostümstücke, die den Stand kennzeichneten. Vielleicht ist der lange schwarze, bis oben zugeknöpfte Rock des Geistlichen noch zu nennen, der in ähnlicher Gestalt, doch meist vorn in der Mitte offen, schon bei den Abbés der Rokokozeit vorkommt. Das Bauernkleid ist ja kein modernes, sondern der Rest früherer Geschmacksbildung. Sonst ist’s still im Reich der Herrenmode. Höchstens die Laune der Gigerl fördert von Zeit zu Zeit eine neue Kleiderschrulle zu Tage, die wohl eine Saison lang in den Zirkeln dieser Lebemänner Aufsehen erregt, weitere Kreise aber – gottlob – unberührt zu lassen pflegt.
Wir haben es zum System erhoben, daß unsere Erscheinung nicht von jedem nach eigenem Wunsch, sondern von einem eigens dazu Berufenen, dem Schneider, bestimmt werde. Die Frauen wehren sich noch gegen die Herrschaft der Schneider, sie wollen noch nicht auf das Mitreden in Geschmackssachen verzichten, sich ihren kleinen Einfluß auf diese wahren. Die Männer haben sich im Kampf um das ihnen Zukommende für vollständig geschlagen erklärt. Der Weise unter uns schämt sich sogar schon, zu erzählen, daß er mit seinem Schneider längere Besprechungen habe. Er thut, als ob ihm sein Kleid gleichgültig sei, so lange er jung ist. Es wird ihm thatsächlich gleichgültig, sobald er auf Eroberungen verzichtet – wie sieht er aber dann auch aus!
Ich würde nun ganz gern den Schneidern ihren Ruhm lassen, wenn ich nicht leider wüßte, daß auch sie im allgemeinen herzlich wenig mitzureden haben bei der Fortentwicklung der Mode. Die Schneider sind nicht eben reichlich gesät, die jemals in ihrem Leben einen eigenen Kostümgedanken gehabt, und die noch spärlicher, die mit einem solchen Gedanken auf weite Kreise eingewirkt haben. Der ganze geistige Betrieb im modernen Schneidergeschäft besteht in der Erlernung des Technischen des Handwerkes und in der Wahl eines geeigneten Modejournals.
Die Kunst selbständigen Entwurfes wagen nur sehr wenige auszuüben. Ist es doch bequemer, seinem Kunden ein von anderen sorgfältig gezeichnetes Blatt vorzulegen, um diesem zu zeigen, was getragen wird: das Modejournal. Der Mann, der wohl zu Hause über seine Frau spottet, daß sie von ihrem Blatte abhängig sei, ordnet sich selbst noch willenloser unter. Ihm bleibt eine viel kleinere Wahl, er kleidet sich nicht einmal nach dem Blatt, das ihm, sondern nach dem, das seinem Schneider gefällt.
Wenn man die langen Bändereihen älterer Modezeitungen durchsieht, so erkennt man deutlich, wie stark sich der Antheil der Männer an der Geschmacksbildung verringert. Während im 18. Jahrhundert Modebilder für Männer fast in gleicher Zahl wie solche für Frauen in den für die große Menge bestimmten Blättern geliefert wurden, verschwinden die Herren nach der Zeit des ersten Napoleon mehr und mehr aus diesen Zeitungen, welche sich nun vorzugsweise, oft sogar ausschließlich, an die Frauen wenden. Dagegen entstehen nun die nur für den Herrenschneider bestimmten Blätter, in welchen ein leitender Kopf die Modeblätter zeichnet, Tausende von Schneidern bis zur Willenlosigkeit von sich abhängig machend und durch diese Millionen von mehr oder minder „eleganten“ Kleiderträgern.
Diese Einheit der Kleidung ist im wesentlichen durch die napoleonische Zeit herbeigeführt worden. Vorher gab es immerhin noch bescheidene örtliche Unterschiede. Nur die Höfe waren seit dem 17. Jahrhundert schon einig in der schleunigsten Nachahmung [206] der Pariser Sitten gewesen. Im Bürger- und Bauernstand erhielt man sich wenigstens das Recht, langsamer den Sprüngen der launischen Göttin zu folgen, die französische Mode von vorgestern mit Stolz und in der Ueberzeugung zu tragen, daß es so wohlanständiger sei.
Die Einheitsmode, welche heute die Welt beherrscht, ist ein Erzeugniß nicht der Völkerverbrüderung, sondern der Schneiderverbrüderung. Die Schneider trafen zusammen, um über die Behandlung des Technischen sich zu unterrichten, gewisse einflußreiche Lehrer führten sie zu der Einheitlichkeit des Geschmackes. Es waren dies die Männer, welche durch die Modejournale zur ganzen Welt der mit Nadel und Bügeleisen Arbeitenden sprechen konnten.
Der Mann, welcher zuerst diese Vereinheitlichung des künstlerischen Theiles der Männerbekleidung ins Leben rief, war Antoine Fernand Barde (geb. 1786), zugleich der erste große Theoretiker seines Faches, der sich 1810 durch eine damals mit Begeisterung von den Schneidern angenommene Neuerung in Paris bekannt machte, indem er nämlich beim Maßnehmen an Stelle des jetzt nur noch beim ländlichen Schuhmacher üblichen Papierstreifens das Centimetermaß anwendete. Seit 1818 unterhielt er in der Rue Vivienne 8 ein Geschäft, das er „Musée de la Mode“ nannte, das berühmteste seiner Zeit, eine bis dahin noch nicht gesehene öffentliche Ausstellnug fertiger Kleidungsstücke, die er in seinem großen „Pompe Anglaise“ genannten Atelier fertigen ließ. Für das Maßnehmen wendete er wissenschaftliche Systeme an, er erfand Werkzeuge, um die genauesten Angaben über die verschiedenen Körperformen zu erhalten, er war der erste, der eine strenge Arbeitstheilung einführte, der erste, der die Schnittpatronen in Papier ausschnitt, sie sammelte und so 1832 eine Aufsehen erregende Ausstellung veranstalten konnte, in der er sein System des Kleidermachens an zahllosen solchen Patronen erklärte. Dann brachte er sein Wissen in die Form eines Buches und ließ dies als „Traité encyclopédique de l’art du tailleur“ 1834 erscheinen. Von 1843 an leitete er das große für die Schneiderei wichtige Modeblatt „Le Parisien“, in welchem er die Herrschaft Weniger über die Erscheinung der gesammten Männerwelt erfolgreich vorbereitete.
Neben Barde wirkte Adolphe Dubois (geb. 1807), welcher im Jahre 1832 ein Lehrbuch der Schneiderkunst, den „Manuel du Tailleur“, und zugleich eine Zeitung für Schneider, nicht ein Modejournal nach alter Form, den „Précurseur des Modes“, herausgab, welchem später noch mehrere andere Blätter dieser Art folgten, namentlich der in den fünfziger Jahren sehr einflußreiche „Progrès“.
In Deutschland war die erste Schneiderzeitung, „Der Elegante“, in den vierziger Jahren in Weimar gegründet worden. Es ist merkwürdig, welche Summe von Anregung von dem kleinen thüringischen Fürstensitz damals ausging. Das Bertuchsche Intelligenzkomptoir hatte auch in Modefragen ihm eine Bedeutung geschaffen, die nun ein Freiherr von Biedermann zur Forderung jenes neuen Blattes ausnützte. Er war es, der zuerst die Schneider auf den Mann aufmerksam machte, welcher für die deutsche Herrenmode von entscheidender Bedeutung werden sollte, auf Heinrich Klemm.
Klemm ließ im Jahre 1844 zu Leipzig das „Handbuch der Bekleidungskunst für Herren“ in seinem eigenen Verlage erscheinen. Es war das erste völlig sachgemäße Lehrbuch seiner Art in Deutschland. Im selben Jahr erlebte es eine zweite, heute steht es nahe vor der fünfzigsten Auflage, trotz seines nicht unbedeutenden Preises. Schon 1848 übernahm Klemm die Leitung des Blattes „Der Elegante“, gab sie aber, wohl erkennend, daß die Mode eines großstädtischen Mittelpunktes bedarf, 1849 schon wieder auf, da er in Dresden einen Mann gefunden hatte, mit dem er gemeinsam Größeres zu erreichen hoffte, den Schneider Gustav Adolf Müller. Beide gründeten zusammen zwei Unternehmen, erst eine Schule und dann 1850 eine Zeitung: die „Deutsche Bekleidungsakademie“ und die „Europäische Modenzeitung“.
Beide Unternehmungen bestehen noch heute, obgleich ihre Leiter inzwischen verstorben sind. Lange Zeit haben sie auf Deutschland und auf einen großen Theil namentlich der östlichen Nachbarländer einen maßgebenden Einfluß geübt. Denn noch heute hat Dresden, die einstige Hauptstadt des glänzendsten Königs von Polen, für jene Länder den Strahlenkranz besonderer Eleganz. Ein Ausschuß, welcher sich aus den ersten Schneidern Deutschlands, Oesterreichs, Rußlands und Skandinaviens zusammensetzt, verwaltet die Anstalt, die sich jetzt „Genossenschaft der Europäischen Moden-Akademie“ nennt und an deren Spitze Klemm und Müller lange Jahre standen. Der Unterricht erstreckt sich für Reifere auf das Zuschneiden aller Art, für Lehrlinge auf die gesammte praktische Schneiderei in Lehrstufen von 1 bis 2 Jahren. In geistiger und räumlicher Verbindung mit der Anstalt steht der Verlag der „Europäischen Modenzeitung“, der nicht nur dieses, sondern fast ein Dutzend verwandter Blätter erscheinen läßt, während ein zweites von Klemm gegründetes Verlagsunternehmen vorzugsweise die Lehrbücher für alle Gebiete der Schneiderei herausgiebt.
[207]
In zwei Häusern der Dresdner Nordstraße ist dem Schneidergewerbe ein Mittelpunkt geschaffen, der Paris gegenüber seinen Werth seit einem halben Jahrhundert behauptet.
Es ist das Verdienst Klemms, daß in Deutschland wenig französische Blätter gehalten werden. Die Zeichnungen für die deutschen Journale werden zumeist in Dresden und Berlin angefertigt. Sie gehen von Deutschland aus durch die ganze Welt, durch sie beeinflußt heute Deutschland das Ausland. Die großen Schneider halten wohl auch eine englische Zeitung und richten sich nach den von dort kommenden Anregungen. Die mächtige Tuchindustrie Großbritanniens hat hierauf einen entscheidenden Einfluß. Namentlich in allen Sportskreisen lauscht man bei uns mit allzu willigem Ohr den Anregungen, die von London kommen. Aber unsere Modeblätter sind die ersten der Welt. Die „Europäische Modenzeitung“ hat Ausgaben für Schweden, Holland, Ungarn, verschickt Bilder und Schnitte nach Belgien, Oesterreich, Rußland; ja selbst Frankreich spürt das Fortschreiten der deutschen Fachliteratur. Die heftigen Angriffe, welche von Paris gegen die deutschen Modeblätter gerichtet werden, sind ein Beweis dafür.
Ich bin Klemm in seinen späteren Jahren wiederholt begegnet. Er war damals schon über seine Fachkreise hinaus bekannt geworden als einer der emsigsten Sammler namentlich von seltenen Drucken. Mit seinem Spürsinne wußte er Altes, Sonderbares zu finden, seine reichen Mittel gestatteten ihm, zu kaufen, was ihm gefiel. Als er eines Tages seine Sammlungen öffentlich ausstellte, da bot er fast der gesammten Welt der Sammler ein überraschendes Schauspiel. Ihm blieb zwar der Inhalt seiner zahlreichen kostbaren Bücher meist völlig gleichgültig, er hatte auch eigentlich keinen geschichtlich gebildeten Sinn, sonst hätte er den alten Drucken nicht so abscheulich geschmacklose moderne Einbände geben lassen; er war auch an manchen Orten das Opfer von Täuschungen gewesen. Aber der Werth dessen, was der einstmals kümmerlich in der Lehre eines Dorfschneiders sich durchfristende Waisenknabe durch Fleiß und geschickte Ausnutzung der Schwäche dieser Welt erreicht hatte, wird am besten dadurch gekennzeichnet, daß das Bibliographische Museum zu Leipzig den Schatz von 2000 Bänden als Grundstock für seine Sammlungen erwarb und daß im Buchhändlerhause zu Leipzig wie im Germanischen Museum zu Nürnberg Klemms Büste aufgestellt wurde.
Klemm war ein Mann von gutem, zum Wohlthun geneigtem Herzen, im äußern Auftreten zurückhaltend und bescheiden. Es war nicht leicht, von ihm über seine Bestrebungen Auskunft zu erlangen. Und doch habe ich ihn einmal nach dem Geheimniß gefragt, durch welches er den Erfolg an seine Modeblätter fessele.
„Woher nehmen Sie die Anregung zu den Aenderungen in der Herrenmode? Gehen Sie nach Paris? Nach London? Beobachten Sie die dortige vornehme Welt?“
„Ach nein, man sieht ja hier und da, in Dresden oder auf Reisen, etwas Neues, aber …“
„Und das bilden Sie dann fort?“
„Manchmal! Nun, man macht eben einmal den Shawlkragen etwas breiter und sticht die Schöße vorn rund ab – oder man macht etwas anderes – was einem gerade einfällt!“
„Und die Schneider? Bäumen die sich gegen solche Willkür nicht auf?“
„Solange die alles nachmachen, was in den Modejournalen steht, hat’s damit gute Wege!“
„Und der Geschmack des Publikums?“
Klemm lächelte, die kleinen aber pfiffigen Augen blitzten vergnügt. Er antwortete nicht, sondern beugte sich mit dem Mundspitzen des Feinschmeckers auf einen alten Druck des 15. Jahrhunderts nieder, den er für schweres Geld eben erworben hatte. –
Mit der Herrschaft des Modejournals endet die Phantasie in der Gestaltung des Männerkleides. Die letztere vermag den Kulturhistoriker kaum noch anzuziehen. Was für einen Werth hat es, diese oder jene kleine Schwankung im Geschmack zu verfolgen, wenn sie aufgehört hat, Ausdruck einer Entwicklung des Schönheitsgefühles zu sein? Die Willkür der Zeichner hat die Lebenskraft der Mode zerstört. Niemand wagt, etwas an ihr zu modeln, außer jenen wenigen, welche im Zeichensaal sich durch die Haare fahren, jammernd, daß sie wieder einmal etwas Neues erfinden sollen. Und auf Befehl ist das so schwer!
Ein ungebetener Frühlingsgast.
Eine wohlbekannte und vielbesprochene Eigenthümlichkeit unsres Klimas bilden die Rückfälle der Kälte im Mai, die bösen Nachtfröste des Frühjahrs. Sie richten in Weinbergen und Gärten oft einen sehr empfindlichen Schaden an, der in vielen Fällen verhütet werden könnte, wenn der Weinbauer oder Gärtner am Abend wissen würde, daß in der Nacht ein Frost eintreten wird; denn man kann die zarteren Pflanzen durch Bedeckung mit Stroh, die Weinberge durch künstliche „Wolkenerzeugung“, durch Abbrennen raucherzeugender Stoffe schützen.
Die Wetterprophezeiung ist nun eine schwierige Kunst. Man verspottet die Wetterpropheten der alten Zeit, aber auch die modernen wissenschaftlichen sind kein Muster der Vollkommenheit. Die Zahl der fehlerhaften „Prognosen“ oder Wettervorhersagen ist auch bei ihnen eine nicht unbeträchtliche. Wenn man außerdem noch die Zeit in Rechnung bringt, bis die Depeschen der meteorologischen Stationen dem Publikum bekannt werden, so muß man so ziemlich zu der Ueberzeugung gelangen, daß man aus diesen Wetterberichten zumeist erfährt, wie das Wetter beschaffen ist oder beschaffen war, selten aber, wie es sein wird.
Das ist nun ein Uebelstand, der voraussichtlich durch die künftigen Fortschritte der Wissenschaft gehoben werden wird. Glücklicherweise betrifft er aber nicht die Vorhersage derjenigen Naturerscheinung, mit der wir es hier zu thun haben, denn wir sind imstande, das Eintreten der Nachtfröste mit fast unfehlbarer Sicherheit vorherzusagen, ohne über den Wetterstand auf so und so viel meteorologischen Stationen Europas durch den Telegraphen unterrichtet zu sein.
Um den Nachtfrost vorherzusagen, genügt eine Summe von Kenntnissen und ein geringfügiger Apparat, den sich schließlich jeder, auch derjenige, der auf dem Gebiete der Meteorologie Laie ist, beschaffen kann.
Die wissenschaftlichen Untersuchungen haben festgestellt, daß der Nachtfrost von dem sogenannten „Thaupunkt“ abhängt.
Die atmosphärische Luft hat die Eigenschaft, Wasserdampf in sich aufzunehmen, und zwar Wasserdampf, wie wir betonen wollen, in seiner gasigen, dem Auge unsichtbaren Form. Aber dieses Vermögen geht nicht ins Unbegrenzte, eine bestimmte Menge Luft kann nur eine bestimmte Menge Wasserdampf aufnehmen und zwar wird diese Aufnahmefähigkeit [208] noch durch die Temperatur der Luft beeinflußt. Kalte Luft kann nur wenig Wasserdampf aufnehmen, warme mehr. Ein Kubikmeter Luft von 0° C. Wärme vermag z. B. in Gestalt unsichtbaren Dampfes eine Menge Wasser in sich aufzulösen, die etwa 5 g wiegt. Ein Kubikmeter Luft von +10° C. ist schon imstande, 9½ g Wasser aufzulösen, und in einem Kubikmeter Luft von +15° C. finden etwa 13 g Wasserdampf Raum. Die atmosphärische Luft ist aber nicht immer mit Wasser völlig gesättigt; es herrscht ja bei uns abwechselnd feuchte und trockene Witterung.
Nehmen wir nun an, daß an einem Tage die Temperatur der Luft +15° C. beträgt und daß die in einem Kubikmeter dieser Luft thatsächlich aufgelöste Wassermenge 9½ g beträgt. Gegen den Abend kühlt sich die Luft ab. Das Thermometer zeigt auf +10° C. In diesem Augenblick ist die Luft völlig mit Wasser gesättigt; sollte die Temperatur noch mehr sinken, so könnte die kühler gewordene Luft das Wasser nicht mehr in der Form von Wasserdampf festhalten; das Wasser müßte aus ihr in Gestalt von feinen Tröpfchen ausgeschieden werden, und dies geschieht in der That: kühlt sich die Luft noch weiter ab, so fällt Thau, und der Temperaturgrad, bei welchem die Luft völlig mit Wasser gesättigt erscheint, giebt uns den Thaupunkt an.
Der Thau ist somit die Folge der Abkühlung der Luft – sobald er sich aber bildet, beginnt er gegen die Abkühlung anzukämpfen; denn wenn Stoffe aus gasigem in flüssigen Zustand übergehen, so wird Wärme frei. Die Thaubildung trägt also wieder zur Erwärmung der Luft bei. Nehmen wir nun wieder an, daß an einem Frühlingsabend die Luft derart mit Wasserdampf gesättigt sei, daß die Thaubilduug bei +5° C. eintritt. Der Himmel ist klar, in der Nacht wird sich die Erde durch Strahlung abkühlen: wird dann ein Nachtfrost eintreten? Nein, denn der Thau wird bei seiner Entstehung Wärme entwickeln, und dadurch die Abkühlung bis unter 0° verhindern. Wenn aber die Luft so wenig Wasser enthält, daß die Thaubildung erst bei –1° C. beginnen kann, dann ist Nachtfrost sicher zu erwarten, denn die Abkühlung der Luft wird ungehindert solange vor sich gehen, bis der in ihr vorhandene Wasserdampf erst unter dem Gefrierpunkt in Form von Reif aus ihr ausgeschieden wird. Daraus ergiebt sich die Regel: liegt bei ruhiger klarer Witterung am Abend nach Sonnenuntergang der Thaupunkt der Luft einige Grade über dem Gefrierpunkt, so ist Nachtfrost nicht zu befürchten, wohl aber, wenn derselbe unter dem Gefrierpunkt sich befindet. Es ist also nur nöthig, nach Sonnenuntergang den Thaupunkt zu bestimmen, um sofort beurtheilen zu können, ob Nachtfrost droht oder nicht.
Der Thaupunkt wird mit Hilfe des „Psychrometers“ bestimmt. Dieser Apparat besteht aus zwei in ihrem Gange übereinstimmenden Thermometern, welche nebeneinander aufgehängt sind. Die Kugel des einen Thermometers ist mit Musselin umwickelt, welcher in ein unmittelbar darunter stehendes Gefäß mit destilliertem Wasser oder Regenwasser reicht, so daß die Kugel beständig feucht gehalten wird. Wenn nun die Luft nicht vollständig mit Wasserdampf gesättigt ist, so wird von dem feuchten Musselin Wasser verdunsten und dem Thermometer Wärme entziehen. Das feuchte Thermometer wird also niedriger stehen als das trockene. Aus den Temperaturangaben der beiden Thermometer läßt sich nun die jedesmalige Luftfeuchtigkeit und die Lage des Thaupunktes berechnen. Dazu sind allerdings kleine Tabellen nöthig, die wir hier aus Raumrücksichten nicht wiedergeben können. Wer solche Beobachtungen anstellen möchte, den verweisen wir auf eine kleine treffliche Schrift von Dr. C. Lang, Direktor der k. b. Meteorologischen Centralstation in München, „Die Vorausbestimmung des Nachtfrostes“, die im Verlag von Otto Salle in Braunschweig erschienen ist und nur 30 Pfennig kostet.
Eine durch Ermittlung des Thaupunktes am Abend gestellte Vorhersage des Nachtfrostes läßt nur in äußerst seltenen Fällen im Stiche und ist für den Landwirth und Gärtner eine hinreichend sichere.
Die Erfahrung hat indessen noch eine andre, allerdings nicht so sichere, aber doch immer noch brauchbare Methode gelehrt. Man hat beobachtet, daß die Temperatur, welche ein mit feuchtem Läppchen umwickeltes Thermometer in irgend einer Nachmittagsstunde zeigt und die niedrigste Temperatur der darauffolgenden Nacht stets in gewisser Wechselbeziehung zueinander stehen; und zwar ist das Temperaturminimum der Nacht während des ganzen Jahres 3 bis 4° C. niedriger als die am Nachmittag von einem feuchten Thermometer angegebene Temperatur. Demzufolge ist ein Nachtfrost wahrscheinlich, wenn das feuchte Thermometer nachmittags etwa 3° C. oder weniger über dem Gefrierpunkt zeigt.
Die Sicherheit dieser Vorausbestimmungen wird noch wesentlich durch die Berücksichtigung der allgemeinen Wetterlage erhöht, wie sie aus den Berichten verschiedener Meteorologischer Stationen täglich entnommen werden kann. Wer sich über diese schwierigere Kunst orientieren und die Witterungsberichte in Zeitungen mit Verständniß und Nutzen lesen will, dem können wir ein „für alle Berufsarten“ bestimmtes Buch vom Abtheilungsvorstand der Deutschen Seewarte, Prof. Dr. J. van Bebber empfehlen: „Die Wettervorhersage“, das neuerdings im Verlage von Ferdinand Enke in Stuttgart erschienen ist. C. F.
Die Sonnenflecken.
Auf unserm Sonnenball war es in der letzten Zeit auffallend lebendig. Man beobachtete dort eine stark erhöhte Thätigkeit, und auf der Erde trat gleichzeitig das Schauspiel des Nordlichts mit besonderem Glanze auf. Die Sonnenflecken, jene räthselhaften Erscheinungen an unsrer Licht- und Wärmespenderin, erschienen in ungewöhnlicher Größe und beschäftigen nunmehr wie je die Gedanken der Himmelsforscher und die Aufmerksamkeit der Laien. So dürfte es nicht unangemessen sein, einmal einen Rückblick zu werfen auf die Entwicklung unserer Kenntnisse von diesem Gegenstand und die gegenwärtigen Anschauungen darüber mitzutheilen.
Soviel uns bis jetzt bekannt ist, sind die Chinesen die ersten gewesen, welche Sonnenflecken gesehen haben; in einer Encyklopädie von Ma Twan Lin finden sich nämlich fünfundvierzig den Zeitraum von 301 bis 1205 nach Christus umfassende Beobachtungen angegeben, in denen die Flecken in Bezug auf ihre Größe mit Eiern, Pflaumen etc. verglichen werden. Von Huyana Capac aber, dem Inka von Peru, der im Jahre 1525 starb, weiß der Spanier J. de Acosta zu berichten, derselbe habe mit freiem Auge Flecken in der Sonne beobachtet und deshalb an ihrer göttlichen Natur zu zweifeln begonnen.
Eine Erscheinung, die mit Sicherheit auf Sonnenflecken zurückzuführen ist, erwähnt auch der Biograph Karls des Großen, der berichtet, vom 16. April 807 an sei ein kleiner, schwarzer Flecken acht Tage lang in der Sonne gesehen worden; den Beobachter führt er nicht an, wahrscheinlich ist derselbe jedoch in der Person Eginhards, des Geheimschreibers von Karl dem Großen, zu suchen. Diese Mittheilung blieb unbeachtet, bis Kepler in seiner Optik darauf zurückkam und meinte, der beobachtete Flecken habe seinen Grund in einem sogenannten Merkurdurchgang gehabt, wobei Merkur zwischen Erde und Sonne zu stehen komme und sich folglich als ein schwarzer Punkt von der Sonnenscheibe abhebe. Diese Anschauung suchte er auch durch eine Beobachtung am 28. Mai 1607 zu bestätigen, die nach seiner Meinung dieselbe Erscheinung betraf. Jedoch schon einige Jahre später, als inzwischen die wirkliche Existenz von Sonnenflecken unzweifelhaft erwiesen worden war, zeigte Galilei, daß Kepler nicht recht habe, und er stützte diese Ansicht mit so triftigen astronomischen Gründen, daß Kepler, der stets der Wahrheit die Ehre gab, bald seinen Irrthum zugestand.
Nun hielt sich Kepler aber für den ersten Entdecker der Sonnenflecken, indem er sich mit Simon Marius verglich, der auch die Jupitermonde zuerst gesehen habe, ohne sie zu kennen; doch wird man diesen Anspruch nicht anerkennen dürfen. Der Ruhm der eigentlichen Entdeckung der Sonnenflecken gehört vielmehr Johann Fabricius (geb. 1587, gest. um 1615), dem Sohne des bekannteren friesischen Astronomen David Fabricius. Johann Fabricius entwirft in dem Werke „Narratio de maculis in sole observatis“ oder „Bericht über Flecken, die in der Sonne gesehen wurden“ (Wittenberg, 1611) eine eingehende Schilderung der Erscheinungen, die ihm im Dezember 1610 das wirkliche Vorhandensein von Sonnenflecken unzweifelhaft machten. Ja er schloß sogar in diesem Werke aus der beobachteten Bewegung der Flecken auf die Umdrehung der Sonne, welche Kepler vorher nur geahnt hatte.
Ohne von der wichtigen Entdeckung des J. Fabricius Kenntniß erhalten zu haben, sah P. Christof Scheiner, Professor für Mathematik und Hebräisch zu Ingolstadt, im März 1611 ebenfalls Flecken in der Sonne, die er in drei Briefen an seinen Freund, den Augsburger Patrizier Markus Welser, einen hochgebildeten Gönner der Wissenschaften, genau beschrieb. Interessant ist es für unsre heutige Anschauungsweise, aus dem ersten Briefe zu sehen, mit welchem Erstaunen Scheiner seine eigene Entdeckung aufnimmt; denn für die noch ganz in der Aristotelischen Ansicht von der absoluten Reinheit der Sonne befangenen Geister der damaligen Zeit war es etwas ganz Unerhörtes, in diesem Gestirn Flecken wahrzunehmen. So sehr waren diese Ansichten eingewurzelt, daß Scheiner, obgleich er die Richtigkeit seiner Beobachtungen mit den scharfsinnigsten Schlüssen zu stützen wußte, dennoch bei der von Welser 1612 besorgten Herausgabe seiner drei Briefe mit seinem Namen nicht hervorzutreten wagte, sondern als „Apelles latens post tabulam“, als „Apelles hinter dem Gemälde“ erschien.
Aber die Zeit der Aristotelischen Weltanschauung war eben vorüber, seit Galilei durch seine gewaltigen Entdeckungen die Beobachtung und die Erfahrung als oberste Grundsätze und Leitsterne der Naturwissenschaft hingestellt hatte.
An ihn, den großen Reformator, sandte auch Markus Welser, der mit den berühmtesten Gelehrten seiner Zeit in Briefwechsel stand, zwei Exemplare der drei Briefe des Apelles. Galilei
[209][210] antwortete am 4. Mai 1612 in einem langen Schreiben, in welchem er bemerkte, daß er dieselben Beobachtungen bereits vor achtzehn Monaten gemacht und sie verschiedenen Freunden mitgetheilt habe.
Wenn nun auch kein triftiger Grund vorhanden ist, an der Richtigkeit dieser Angabe zu zweifeln, so ist Galilei auf die Wichtigkeit seiner Entdeckung doch erst durch die Forschungen Scheiners aufmerksam geworden. Uebrigens erkannte er sofort mit dem ihm eigenthümlichen Scharfsinn die Unrichtigkeit in der Ansicht des letzteren, daß die Flecken von Körpern herrührten, welche sich in sehr engen Kreisen um die Sonne bewegten; er hielt sie vielmehr von Anfang an wegen der verschiedenen Gestalten, die sie annehmen, für wolkenartige Gebilde, die vermöge ihrer verschiedenen Dichtigkeit mehr oder weniger imstande seien, das Licht der Sonne zu trüben – eine Auffassung, die den modernen Anschauungen viel näher kommt als irgend eine andre der damaligen Zeit. Scheiner gab die Unrichtigkeit seiner Ansicht über die Natur der Sonnenflecken sehr bald zu, über die Priorität ihrer Entdeckung aber entspann sich zwischen den beiden Astronomen ein fast zwei Jahrzehnte dauernder Streit, der nur die eine gute Wirkung hatte, daß er lange Zeit die Sonnenflecken in den Vordergrund des Interesses rückte und zwei Werke der beiden Gegner entstehen ließ, die ein wichtiges Material von Beobachtungen enthalten. Merkwürdig ist dabei, daß der eigentliche Entdecker der Flecken, J. Fabricius, von keinem der beiden Nebenbuhler auch nur mit einem Worte erwähnt wird.
Trotz der vorgeschrittenen Ansicht Galileis über die Natur der Sonnenflecken erhielt sich bei seinen Zeitgenossen und auch noch lange nach ihm die ursprüngliche Auffassung Scheiners, daß man es mit Gestirnen zu thun habe, welche die Sonne umkreisten. Ja der Niederländer Malapertius schlug sogar vor, dieselben „österreichische Gestirne“ zu nennen, während ihnen der Franzose Tardé den Namen „bourbonische Gestirne“ beilegte. Andere sahen in den Sonnenflecken eine Art Schlacken, welche bei dem großen Sonnenbrande abgesondert und dann zuweilen als Kometen ausgeworfen würden, damit die Sonne, wie z. B. Simon Marius meinte, „wie ein gebutzt Kerzenlicht wieder heller leuchten könne.“
Von der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts bis gegen Ende desselben erlahmte allmählich das Interesse an den Sonnenflecken, und wenn sie auch noch von einzelnen beobachtet wurden, so ist uns doch aus dieser Zeit wenig werthvolles Material überliefert. Es scheint eben, daß die Astronomen von damals glaubten, das Ihrige gethan zu haben, wenn sie die Größe und Gestalt der Flecken, ihre Lage auf zwei schmalen zu beiden Seiten des Sonnenäquators verlaufenden Zonen – die übrigens schon Scheiner kannte – feststellten, die Bewegungen der Flecken nachwiesen und daraus die Umdrehungszeit der Sonne berechneten.
Ein Wendepunkt in der Geschichte der Sonnenflecken trat mit dem Jahre 1769 ein, als der englische Astronom Wilson am 22. November bemerkte, daß die Flecken, wenn sie sich in der Mitte der Sonne befinden, zuweilen einen Halbschatten, einen „Hof“, aufweisen, der ihren dunkeln Kern kranzartig umgiebt. Wilson beobachtete am genannten Tage einen großen Flecken und verfolgte ihn bei seiner Bewegung um die Sonne, wobei er bemerkte, daß, je weiter derselbe von der Mitte der Sonnenscheibe gegen den rechten Rand zu rückte, desto mehr der Halbschatten auf der linken Seite des Fleckens verschwand und der schwarze Kern vortrat. Daraus schloß er sofort, daß die Flecken aus tiefen kraterartigen Höhlungen der die Sonne umgebenden glühenden Gasmassen beständen, und er bewies seine Ansicht in einer 1774 erschienenen Schrift durch die zwingendsten Gründe. Allerdings hatte er auch hierin schon, ohne es zu wissen, Scheiner und Leonhard Rost zu Vorgängern, von denen ersterer bereits den Halbschatten entdeckt und letzterer die Sonnenflecken als tiefe Abgründe bezeichnet und sie mit Sonnenvulkanen in Verbindung gebracht hatte, ohne jedoch seine Annahme begründen zu können.
An diese wichtige Entdeckung Wilsons anschließend, begann der geniale Wilhelm Herschel (geb. 1738 zu Hannover, gest. 1822 zu Slough) mit den von ihm selbst gefertigten riesigen Spiegelteleskopen die Untersuchung des Sonnenkörpers. Er kam zu dem Ergebniß, daß die Sonne ein dunkler mit einer durchsichtigen Atmosphäre umgebener Körper sei, auf welcher eine wolkenartige Lichtsphäre (Photosphäre) schwimme. In dieser Lichthülle entstehen zuweilen durch Strömungen von unten nach oben trichterförmige Oeffnungen, und das seien die Sonnenflecken. Der schwarze Kern aber sei der durch eine solche Oeffnung sichtbare Theil des dunklen Sonnenkörpers. Herschel hat seine Ansichten und Entdeckungen, bei denen er, wie immer, seinen eigenen Weg gegangen war, in zwei großen Abhandlungen niedergelegt, die er 1795 und 1801 erscheinen ließ. Lange Zeit blieb dann auch seine Hypothese über das Wesen des Sonnenkörpers die herrschende, da sich alle bis dahin bekannten Erscheinungen damit aufs beste erklären ließen.
Ein vollständiger Umschwung fand jedoch statt, als man die Entdeckung machte, daß die Sonnenflecken in gewissen regelmäßigen Fristen, also „periodisch“, auftraten. Wohl findet sich schon bei einigen Astronomen älterer Zeit eine Ahnung davon, daß die Flecken periodisch sich zeigen: so schrieb Kircher 1639 aus Rom, daß er die Sonne mit sehr vielen Flecken bedeckt gesehen habe und daß eine solche Erscheinung in hundert Jahren kaum drei- oder viermal vorkomme, und ein andrer, Horrebow, giebt 1776 an, daß die Veränderungen der Sonnenflecken häufige seien, daß sich jedoch keine bestimmte Regel dafür finden lasse, nach welcher Ordnung und nach wieviel Jahren dieser Wechsel sich vollziehe; er spricht jedoch die Hoffnung aus, daß man durch eifriges Beobachten schließlich auch hier eine Periode werde bestimmen können.
Dies gelang, als Schwabe in Dessau 1826 seine Beobachtungen begann. Dieser Gelehrte setzte seine Arbeit mit Ausdauer und Umsicht bis in die neuere Zeit fort und konnte am 31. Dezember 1843 aus seinen Tabellen den bestimmten Nachweis führen, daß während der Dauer seiner Beobachtungen ein regelmäßiger Wechsel in der Häufigkeit der Sonnenflecken stattgefunden habe, und zwar in der Weise, daß einer fleckenarmen Zeit (Minimum) nach etwa fünf Jahren eine fleckenreiche (Maximum) und dieser nach weiteren fünf Jahren wieder eine fleckenarme folgte, also im ganzen eine Periode von etwa zehn Jahren sich bemerkbar mache.
Diese Zeitangabe fand eine nähere Bestimmung durch eine Entdeckung, welche zu den merkwürdigsten unsres Jahrhunderts zählt und zum ersten Male einen Zusammenhang zwischen den Veränderungen in dem Zustand des Sonnenkörpers und den physikalischen Vorgängen auf unserem Erdplaneten erkennen ließ. Der englische General Sabine, R. Wolf in Zürich und Gautier in Genf fanden nämlich fast gleichzeitig im Jahre 1852, daß zwischen der von Schwabe aufgestellten Sonnenfleckenperiode und der Periode, welche die Schwingungen der Magnetnadel aufweisen, eine merkwürdige Uebereinstimmung herrsche. Genaue Beobachtungen hatten nämlich ergeben, daß eine Magnetnadel, deren Stellung bekanntlich eine gewisse Abweichung (Deklination) von der genauen Richtung nach Norden zeigt, täglichen Schwankungen in der Weise unterworfen ist, daß sie zwischen 8 und 9 Uhr morgens ihren östlichsten Stand besitzt, sich sodann bis 2 Uhr nachmittags nach Westen bewegt und bis zum nächsten Morgen wieder in die ursprüngliche Lage zurückkehrt. Den Unterschied der beiden äußersten Standpunkte der Nadel an einem Tage nennt man ihre „Variation“, und man weiß schon seit längerer Zeit, daß dieselbe im Sommer größer ist als im Winter. Durch Zusammenstellung eines größeren Beobachtungsmaterials gelang es nun dem Münchener Astronomen Lamont im Winter 1851/52, eine beiläufig zehnjährige Periode in diesen Schwankungen der Variation der Magnetnadel nachzuweisen, während die drei obengenannten Forscher unter Benutzung dieses Ergebnisses zeigten, daß die Zeitpunkte der größten und kleinsten Variationen mit den Maxima und Minima der Sonnenflecken so vollständig zusammenfielen, daß eine gegenseitige Beziehung der beiden Erscheinungen außer Zweifel war. Wolfs ausschließliches Verdienst aber ist es, durch ein mehr als drei Jahrhunderte umfassendes Beobachtungsmaterial die Länge beider Perioden auf die Dauer von 111/9 Jahren näher bestimmt zu haben, ja es gelang ihm mit einer aus den Beobachtungen der Sonnenflecken gezogenen mathematischen Formel die magnetischen Variationen für spätere Jahre genau vorauszuberechnen, gewiß ein Beweis für den inneren Zusammenhang beider, wie man ihn nicht schöner wünschen kann.
Nachdem nun einmal die Einwirkung der Sonnenflecken auf die Magnetnadel erkannt war, lag es nahe, auch andere Erscheinungen, welche die Variationen der Nadel beeinflussen, in ihrem Zusammenhang mit den Veränderungen des Sonnenkörpers zu betrachten. So kam es, daß man vor allem dem noch immer rätselhaften Schauspiel des Nordlichtes, welches, wie schon Mairan 1733 dargethan hatte, die Magnetnadel in unruhige Schwingungen versetzt, größere Aufmerksamkeit schenkte; und es ist namentlich der im Mai 1863 beginnenden unermüdlichen Thätigkeit des [211] Astronomen Hermann Fritz zu verdanken, wenn wir jetzt mit Bestimmtheit aussprechen können, daß auch diese irdische Erscheinung mit der Sonne in Verbindung steht, und daß ihre Perioden von 111/9, 555/9 und 222 Jahren mit ebensolangen Perioden der Sonnenflecken sich decken, insofern die höchsten Fleckenstände mit der größten Häufigkeit der Nordlichterscheinungen zusammenfallen.
Ueberhaupt spiegeln sich alle bedeutenderen Vorgänge auf dem Sonnenkörper untrüglich in unseren erdmagnetischen Erscheinungen ab. Das merkwürdigste Beispiel hierfür ist eine Beobachtung, welche die englischen Astronomen Carrington und Hodgson, unabhängig voneinander, am 1. September 1859 machten. Während nämlich Carrington mit seinen täglichen Messungen des Sonnenfleckenstandes beschäftigt war, wurde er durch das plötzliche Auftreten zweier Stellen von besonders starkem Lichte, sogenannten „Sonnenfackeln“, die sich häufig mitten in den Fleckengruppen zeigen, überrascht. Dieser starke Lichtausbruch dauerte nur fünf Minuten, legte aber in dieser Zeit auf der Sonnenscheibe einen Weg von ungefähr 7600 Meilen zurück, und zwar ohne in der Fleckengruppe irgend eine Veränderung hervorzurufen. Genau zur selben Minute zeigten alle erdmagnetischen Stationen einen gewaltigen magnetischen Sturm an, dessen Wirkungen bis zum 4. September dauerten. Der telegraphische Verkehr war überall unterbrochen, Funken gingen von den Drähten aus, Polarlichter zeigten sich auf beiden Erdhälften, und die Magnetnadeln konnten keine Ruhe mehr finden und schwankten hin und her, als wenn sie von einem unerklärlichen Schrecken ergriffen wären. Die Sonne war also hier, wie sich Balfour Stewart ausdrückte, bei der Hervorbringung irdischer Erregungen „auf frischer That ertappt“ worden. Worin der Grund zu dieser merkwürdigen Einwirkung der Sonne auf unsere irdischen Verhältnisse liegt, darüber haben wir bisher noch keine absolute Gewißheit, obwohl die in jüngster Zeit von Hertz gemachten großartigen Entdeckungen im Gebiete der elektrischen Wellentheorie die Wahrscheinlichkeit nahelegen, daß die Sonne auf unseren Weltkörper direkt elektrische Ströme induziert und durch diese magnetische Wirkungen verbreitet.
Nicht so glücklich war man bisher in der Auffindung eines untrüglichen Beweises für den unmittelbaren Einfluß der Zustände des Sonnenkörpers auf unsere irdischen Witterungsverhältnisse. Schon Wilhelm Herschel wurde durch verschiedene Ueberlegungen zu dem Versuche geleitet, die Abwesenheit der Sonnenflecken in manchen Jahrgängen mit den Kornpreisen und den Klagen über schlechte Ernten in Verbindung zu bringen, und sein Gedanke hat auch in neuerer Zeit wiederholt zu Untersuchungen über den Zusammenhang der Sonnenfleckenperioden mit den Handelskrisen Anlaß gegeben. So veröffentlichte W. Stanly Jevons 1879 in den „Times“ mehrere Artikel, in denen er aus einem Vergleich der Weizenpreise zu Delhi eine zehn- bis elfjährige Periode nachzuweisen suchte, welche mit der Periode der Sonnenflecken in der Weise zusammenstimme, daß den Jahren der geringsten Fleckenzahl die höchsten Weizenpreise entsprechen. Obgleich nun R. Wolf nachwies, daß Stanlys Zahlen, selbst wenn sie ausreichend waren, dennoch zu diesen Schlüssen keine Berechtigung geben, so wurden doch 1886 dieselben Untersuchungen von F. Chambers in England wiederum aufgenommen und in größerem Maßstabe weitergeführt. Nach seinen Tabellen, welche die Getreidepreise in zehn indischen Distrikten von 1783 bis auf die neueste Zeit verzeichnen, scheint allerdings eine Uebereinstimmung dieser Preisreihen mit den Sonnenfleckenperioden vorhanden zu sein, wenn man eine Verschiebung der Epochen zuläßt, welche Chambers zum Theil auf die Ansammlung von Vorräthen zurückführt. Doch ist diese Art der Untersuchung vom Standpunkt des Meteorologen entschieden zu verwerfen; denn die Güte der Ernten und die Bewegung der Getreidepreise hängt von den verschiedensten Einflüssen ab und gestattet niemals einen sicheren Rückschluß auf die größere oder geringere Trockenheit und Wärme der betreffenden Jahrgänge. Vielmehr gab es nur einen richtigen Weg, den die Meteorologen einschlagen konnten, nachdem sie einmal einen Einfluß der Vorgänge im Sonnenkörper auf unsern Planeten kannten; sie mußten ihr Hauptaugenmerk unmittelbar auf die Temperatur, die Regenmengen, den Luftdruck und die damit zusammenhängenden Erscheinungen richten.
Die Ergebnisse, die hierbei erzielt wurden, lassen sich in kurzem folgendermaßen schildern: Zunächst ist zu bemerken, daß, wie die größte Winterkälte meist erst nach dem tiefsten Stande der Sonne, die höchste Wärme nach der Sommersonnenwende eintritt, so auch die Einwirkungen der Sonnenfleckenperioden, wenn solche vorhanden sind, erst nach dem Eintritt der Maximal- und Minimalstände zu erwarten sind. Außerdem ergaben die Untersuchungen von Köppen in Hamburg 1873 die wichtige Thatsache, daß die von der Fleckenperiode mittelbar oder unmittelbar beeinflußten Schwankungen der Temperatur nicht gleichzeitig auf der ganzen Erde eintreten, sondern zuerst nur in den Tropen, dann, allmählich immer mehr abnehmend, nach den Polen zu fühlbar werden und in den kalten Zonen kaum mehr wahrnehmbar sind. Ferner zeigen die Beobachtungen von 1816 bis in die letzten Jahre, daß wenigstens in diesem Jahrhundert die höheren Temperaturen in den Zeitraum zwischen einem Sonnenfleckenmaximum und einem Minimum fallen, während die niedrigeren Temperaturen in die Zeit zwischen einem Minimum und dem darauffolgenden Maximum treffen und somit als die Wirkungen des vorhergehenden kleinsten Fleckenstandes anzusehen sein dürften. Die Uebereinstimmungen im Wechsel dieser Vorgänge sind so genau, daß man einen ursächlichen Zusammenhang für dieses Jahrhundert kaum mehr leugnen kann. Interessant ist es, nebenbei bemerkt, daß schon Riccioli zu Bologna im Jahre 1651 annahm, daß mit einer Abnahme der Sonnenflecken eine Steigerung der Temperatur zusammenfalle.
Schwieriger gelingt der Nachweis einer Verbindung beider für das Ende des vorigen und den Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts (1779 bis 1816), da hier merkwürdigerweise gerade die umgekehrten Erscheinungen zutreffen. Ob dieselben nun von dem gegen Ende des vorigen Jahrhunderts eingetretenen Hauptmaximum, der großen 555/9jährigen Fleckenperiode, in noch unbekannter Weise bedingt wurden, oder ob andere Ursachen zugrunde lagen, die stark genug waren, jene Regelmäßigkeit für eine Reihe von Jahren ganz zu verdecken, das ist noch nicht zur Genüge aufgeklärt.
Was nun die Regenmengen anlangt, so sprechen sich Meldrum, Jelinek und Wolf dahin aus, daß die Niederschläge in den fleckenreichen Jahren im allgemeinen größer seien als in den fleckenarmen, und Hahn bemerkt, daß trockene Sommer in den Perioden vom Minimum zum Maximum der Sonnenflecken am häufigsten auftreten. Aehnliches gilt auch von dem Erscheinen der sogenannten „Cirrus-Wolken“, wie ein alter Mitarbeiter der „Gartenlaube“, der Astronom H. J. Klein in Köln, durch zahlreiche Beobachtungen mit Sicherheit nachgewiesen hat. Es sind dies bekanntlich jene feinen, weißen Wölkchen, welche bald flockig ausgebreitet sind, bald in zarten Verästelungen oder auch in langen Parallelstreifen den Himmel überziehen. Dieselben bestehen, wie man jetzt allgemein annimmt, aus Eisnadeln und treten in ihrer größten Häufigkeit nach einem Sonnenfleckenmaximum auf. Da nun diese Wolken, wie allgemein bekannt, die Vorläufer und Begleiter der Regen und Sturm bringenden „Depressionen“ sind, so müssen auch letztere am zahlreichsten in den Jahren mit vielen Sonnenflecken und am seltensten in den Jahren der Sonnenfleckenminima sein.
Im allgemeinen ist wohl zu beachten, daß unsere bisherigen Kenntnisse der besprochenen Erscheinungen noch kaum Schlüsse auf eine längere Zeitperiode und einen allgemeinen Durchschnittsstand der Witterung in größeren Länderstrecken, geschweige denn Schlüsse auf ein einzelnes Jahr und auf Landstriche von geringerer Ausdehnung, gestatten. Aehnliches gilt auch für andere Dinge, wie vulkanische Ausbrüche, zündende Blitze, Hagel, Veränderung der Gletscher und das Auftreten verheerender Heuschreckenschwärme, die in den letzten Jahrzehnten mit den Sonnenfleckenperioden in Verbindung gebracht wurden. Es fehlt eben noch an genügendem statistischen Beobachtungsmaterial – ist dies beschafft, so wird eine spätere Zeit sicher Aufklärung bringen.
So stünden wir denn mit unsrer Geschichte mitten in der neuesten Zeit, und es bleibt uns nur noch übrig, unsere gegenwärtigen Ansichten über das Wesen der Sonnenflecken und des Sonnenkörpers überhaupt in Kürze darzustellen.
Wie schon erwähnt, ist die Herschelsche Theorie von dem dunkeln Sonnenkern unhaltbar geworden, und zwar einerseits und hauptsächlich infolge der Forschungen, welche Kirchhoff durch Anwendung der Spektralanalyse über das Wesen der im Sonnenkörper enthaltenen Stoffe anstellte, andrerseits durch die zuerst von Carrington in den Jahren 1853 bis 1861 genauer untersuchte Eigenbewegung der Sonnenflecken. Obgleich nämlich schon Scheiner 1612 die bedeutsame Bemerkung gemacht hatte, daß diejenigen Sonnenflecken, welche weiter vom Sonnenäquator entfernt sind, [212] sich langsamer bewegen als die ihm näher gelegenen, so blieb doch diese Erscheinung zwei Jahrhunderte lang unbeachtet und mußte, wie es in der Wissenschaft so oft geht, erst wieder neu entdeckt werden. Man erkennt auf den ersten Blick, daß sich die sonderbare Erscheinung durch die Umdrehung der Sonne keineswegs erklären läßt, ja daß in der Eigenbewegung der Flecken vielmehr der Grund dafür lag, weshalb die Astronomen, von Galilei bis auf unsre Zeit, in Bezug auf die Umdrehungsdauer der Sonne zu so wenig übereinstimmenden Ergebnissen gelangten; schwanken doch die von ihnen angegebenen Zahlen zwischen 25 und 30 Tagen!
Carrington unternahm nun eine Reihe von Beobachtungen und fand, daß die Flecken, sobald sich ihr Stand dem Minimum nähert, nach dem Aequator hin zusammenrücken und dort schließlich ganz verschwinden; hierauf erscheinen, gleichsam durch einen frischen Anstoß, plötzlich wieder Flecken in höheren Breiten der Sonne, die sich mit dem Fortschreiten der neuen Thätigkeitszeit wieder gegen den Aequator hin ausbreiten. Wolf, der diese Angaben durch seine eigenen Beobachtungen bestätigt fand, vergleicht die Bewegung der Flecken mit Strömungen, welche von den beiden Polen nach dem Aequator hin gehen; je nach einem Fleckenminimum beginnen solche Strömungen, steigern sich bei gegenseitiger Annäherung in ihren uns als Flecken und Fackeln sichtbar werdenden Wirkungen, bis ein gewisser Höhepunkt erreicht ist und nun eine Ausgleichung beginnt, die zur Zeit des minimalen Fleckenstandes als beendigt betrachtet werden kann. Die Flecken vor dem Minimum sind die letzten Spuren der erlöschenden alten Strömung, die nach dem Minimum die ersten Wirkungen der neuen Strömung.
Aus dieser sogenannten Eigenbewegung der Sonnenflecken schloß nun Secchi 1864 nicht nur, daß die Photosphäre, das heißt die die Sonne umgebende leuchtende Gashülle, wie die Wolken unsrer Atmosphäre beständig in Bewegung ist, sondern auch, daß der sogenannte Sonnenkern kein fester Kern, sondern eine glühende Gasmasse von beträchtlicher Dichtigkeit sei, eine Ansicht, die, durch verschiedene gewichtige Gründe gestützt, jetzt allgemein Eingang gefunden hat. Diejenigen Theile der Masse, welche ihrem Mittelpunkt näher liegen, besitzen nach Secchis Ansicht eine größere Umdrehungsgeschwindigkeit als die Photosphäre. Steigen nun infolge einer gleich näher zu besprechenden Ursache Ströme von Gasmassen aus dem Innern der Sonne an die Oberfläche auf, so kommen sie daselbst mit dieser durch ihre frühere Lage bedingten größeren Geschwindigkeit an und werden deshalb in der Drehungsrichtung der Sonne vorwärts geschleudert, eine Erscheinung, die thatsächlich beobachtet werden kann, wenn man die Entstehung der Flecken aufmerksam verfolgt. Nach dieser Theorie sind also die Sonnenflecken einfach Brüche oder Löcher in den photosphärischen Wolken, welche durch die senkrecht vom Sonnenkern ansteigenden heißen Ströme verursacht werden, sie sind somit Gegenden, in denen eine erhöhte Hitze herrscht. Da die Photosphäre, in welche die Gasmassen durch die senkrecht aufwärts gerichteten Ströme gelangen, ihrem Eindringen infolge ihrer größeren Dichtigkeit einen beträchtlichen Widerstand entgegensetzt, so verlangsamt sich allmählich die Bewegung der emporgeschleuderten Massen, bis ein gewisses Gleichgewicht hergestellt ist, das heißt bis der Flecken dieselbe Geschwindigkeit besitzt wie das ihn umgebende Mittel. Der dunkle Kern, den die durch die hervorbrechenden Gasmassen entstehenden Höhlungen zu enthalten scheinen, rührt nach Secchis Anschauung theils von metallischen Dämpfen her, welche die Lichtstrahlen stärker absorbieren und deren Existenz durch die Spektralanalyse thatsächlich nachgewiesen ist – theils ist er auf eine Wirkung des Gegensatzes der ausgestoßenen helleren Massen gegen die tiefer liegenden Partien der entstehenden Krater zurückzuführen. In der That hat man sich auch bei Beobachtung der Venus- und Merkurdurchgänge überzeugt, daß die scheinbar schwarzen Sonnenfleckenkerne weit heller als diese ganz dunkeln Planeten sind, eine Bemerkung, die schon Galilei 1612 gemacht hatte.
Woher nun jenes Aufsteigen von heißen Gasmassen? Secchi sucht die Veranlassung darin, daß die Photosphäre sich durch fortgesetzte Ausstrahlung in den Weltraum abkühlt; die Gasmassen verdichten sich durch diese Abkühlung, nehmen folglich an Gewicht zu, sinken hinab und verdrängen die wärmeren Massen, welche dann infolge ihres geringeren Gewichtes emporsteigen und so als fleckenbildende Ströme erscheinen.
Der Sonnenkörper befindet sich sonach beständig im Zustand einer kolossalen Bewegung. Manche Flecken bilden sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit und verschwinden wieder ebenso schnell, als sie gekommen. Andere wieder besitzen eine beträchtliche Dauer und können nach Verlauf von drei oder vier Sonnenumdrehungen wenig verändert wieder aufgefunden werden. Diese gehören zu den größten und weisen die tiefsten Kraterbildungen auf, die man beobachten kann. Die Größe der Sonnenflecken ist eine sehr wechselnde, die umfangreichsten besitzen einen Durchmesser bis zu 30200 geographischen Meilen – einen von dieser Ausdehnung hatte z. B. Schwabe in Dessau 1850 beobachtet. Solche Flecken können mit freiem Auge wahrgenommen werden. Die kleinsten hingegen sind nur in den stärksten Fernrohren sichtbar.
Auch ihre Gestalt ist einer fortwährenden Veränderung unterworfen: sie erweitern sich und ziehen sich zusammen, ja sie theilen sich oft in mehrere kleinere, und umgekehrt vereinigen sich kleinere zu einem einzigen Flecken von beträchtlicherer Ausdehnung.
Man erkennt, wie sich alle diese Vorgänge leicht mit der Ansicht Secchis über das Wesen des Sonnenkörpers erklären lassen; nur die Eigenbewegung der Flecken sowie ihr periodisch wechselndes Auftreten bleibt in dieser Theorie unerklärt, und es ist bisher, trotz der verschiedensten Hypothesen, die von anderen Gelehrten wie Zöllner, Young, Faye und Lockyer (1886) aufgestellt worden sind, noch nicht gelungen, eine vollkommen befriedigende Lösung dieser wichtigen Fragen zu erreichen. Vielleicht hat dies seinen Grund darin, daß die Ursachen jener Erscheinungen gar nicht im Sonnenkörper selbst, sondern außerhalb desselben, etwa in der Massenanziehung der Planeten, zu suchen sind.
Schließen wir mit dem Wunsche, daß es auch hier dem nimmer rastenden Menschengeist gelingen möge, in ein Geheimniß der Natur völlig einzudringen, dessen Einwirkung auf die kosmischen Erscheinungen wir bis jetzt wohl theilweise erkennen, aber noch nicht in seiner ganzen Tiefe zu ergründen imstande sind!
Der Zeitgeist im Hausstande.
Im Frühroth des folgenden Tages rollten Walter und der Professor miteinander auf der Straße dahin und hatten bald den noch mit Schaubuden und Karussells geschmückten Marktplatz von Oberhausen erreicht. Hastige Umfragen in den wenigen Wirthshäusern führten zu keinem Ergebniß: es hatten sich viele Jungen tags zuvor darin herumgetrieben, über Nacht geblieben war keiner.
„Vorwärts!“ sagte der Professor. „Daß wir ihn nicht schon hier finden, war zu erwarten.“
Und das Wägelchen rollte weiter, und dem darin sitzenden Vater wurde das Herz schwer und schwerer. Wenn dem Jungen ein Unglück zugestoßen war! Er sah ihn deutlich vor sich mit den unentwickelten Gesichtszügen, dem ängstlichen Blicke und dann dachte er um Jahre weiter zurück, wo die Augen des Kindes voll Glückseligkeit dem heimkehrenden Papa entgegengeleuchtet hatten, wo dessen Knie sein liebster Platz war. Trug er wirklich schuld an der Aenderung? Hatte er seine Pflicht als Vater nicht voll gethan? Und – war dies die Strafe dafür?
… Es wurde ihm beklommen zu Muthe, ein leises Stöhnen entrang sich seiner Brust. Theilnehmend griff der alte Mann nach seiner Hand. „Wir werden ihn finden!“
„Es ist nicht allein diese Sorge!“ erwiderte Walter. Und nun sprach er, einem unwiderstehlichen Drange nachgebend, seine quälenden Gedanken aus. Der andere hörte ernsthaft zu.
„Erinnern Sie sich unseres gestrigen Gesprächs?“ sagte er endlich voll Milde. „Dies gehört auch dazu. Ist es denn die sogenannte Welt mit allen ihren rastlosen Interessen und gesellschaftlichen Pflichten werth, daß man das Größte um sie aufgiebt, [213]
den Frieden seines Hauses, die Liebe seiner Kinder? Wenn
auch Sie sich, wie ich aus Ihren Worten schließen muß, von dem
großen Strome zu weit haben mitreißen lassen, dann segnen Sie
den heutigen Tag, der Ihnen die Augen öffnet! – Kommen
Sie, wir wollen diese Anhöhe da zu Fuß hinauf, die Bewegung
in der Morgenluft wird Ihnen gut thun!“
Sie schritten miteinander, sich stets nach allen Seiten umblickend, den Waldweg zwischen thaufrischem Brombeergerank und einzeln herumgestreuten Felsblöcken empor. Plötzlich blieb Walter stehen, ein Zittern überlief ihn, er deutete, unfähig zu sprechen, nach einem der Blöcke, hinter welchem ein Stiefel und der Anfang einer karierten Hose im Gras sichtbar wurde. Im nächsten Augenblick stürmte er mit einem Satze hinüber, der Professor folgte, so schnell er konnte, und da lag er vor ihnen – schlafend, nicht tot, der gesuchte Fritz, in sich zusammengekauert, das dünne Ränzchen unter dem Kopfe, ein armes hilfloses Kind. Es stieg dem Vater heiß vom Herzen in die Augen, als er sich über das blasse Gesicht beugte.
„Fritz!“
Der Knabe schlug die Augen auf und fuhr zusammen. „Ach Papa, schlage mich nicht!“
Walter erröthete. Ehe er antworten konnte, sagte der Professor gütig: „Komm, mein Junge, steh’ auf und bitte Deinen Papa um Verzeihung für die Angst, die Du ihm gemacht hast! Das war ein recht dummer Streich. Hast Du denn gar nicht gedacht, wie Deinen Eltern zu Muthe sein werde?“
„Ach freilich – hinterher!“ schluchzte Fritz. „Und der Seppl hat mich auch im Stich gelassen – wie er sah, daß ich nichts mehr hatte –“
„Was hast Du denn überhaupt gehabt?“
„Eine Mark und fünfzig Pfennige. Aber das haben wir alles gestern auf der Kirchweih ausgegeben und hernach lief der Seppl fort – und da bin ich allein weiter gegangen – bis hierher und habe mich da zum Schlafen niedergelegt. O Papa, verzeihe mir!“ brach er überwältigt aus. „Ich war schlecht, ich sehe es jetzt ein, aber ich will mich gewiß ändern. Nur diesmal noch verzeihe mir!“
„Komm zur Mama!“ sagte dieser erschüttert mit ungewohnter Milde. „Wir wollen jetzt ein neues Leben anfangen, Fritz, ein besseres als vorher.“
„Und was nun?“ fragte Walter, als Einlieferung und Begrüßung,
Emmys Freudenthränen und die Aufregung der Kinder
und Hausbewohner vorüber waren und er den neugewonnenen
verehrten Freund nach dessen stillem Häuschen zurückgeleitete.
„Sie haben mir heute einen so großen Dienst erwiesen, daß
Sie sich nicht wundern dürfen, wenn ich gleich noch um mehr
bitte. Ich sehe jetzt erst ein, daß man nicht selbstverständlich
ein Erzieher ist, weil man Kinder hat; helfen Sie mir mit
Ihrem Rath weiter! Was soll ich nun mit dem Jungen anfangen,
um ihn auf den rechten Weg zu bringen?“
„Dasselbe, was Sie früher hätten thun müssen, um ihn darauf zu erhalten: er muß Ihre tägliche Sorge werden, Sie dürfen jetzt seine Entwicklung, sein Lernen keinen Augenblick mehr aus den Augen lassen. Dabei muß er Liebe fühlen und Aufmunterung, sobald die ersten Fortschritte kommen, das Ehrgefühl des künftigen Mannes muß in ihm geweckt werden, er muß allmählich im Vater den Freund erkennen und in den abendlichen Erholungsstunden unter seinen Augen das beste Glück finden.“
„Erholung! Bei dieser Ueberbürdung im Lernen! Die Jungen müssen ja bis zehn Uhr fortarbeiten.“
„Ich glaube, das kommt vielfach daher, daß sie nicht verstehen, richtig zu arbeiten, und daß man sie auch darin nicht beaufsichtigt. Wie viel von ihrem Arbeitsstoff müßten sie schon aus der Klasse im Kopfe vorbereitet mitbringen! Dann – eine Stunde Vieruhrbrot, Bewegung im Freien, völlige Ausspannung und hierauf eine weitere Stunde rasches gesammeltes Arbeiten,
[214] ohne Hinhorchen auf das, was mittlerweile im Familienzimmer vor sich geht, ohne Abhaltung durch hereingeschneite Kameraden mit allerhand Zerstreuungen und ohne die Freiheit, zwischenhinein fortzulaufen. Mittwoch und Samstag, die Tage der größeren Arbeiten, dürften nicht für Kindergesellschaften und dergleichen verwendet werden; im Theater hat ein Junge unter vierzehn Jahren überhaupt nichts zu suchen – kurz, ich bin überzeugt, daß die Klagen über die Schule vielfach das Haus treffen, denn ich sehe stets wieder Beispiele, daß richtig zur Arbeit und zur Erholung angeleitete und normal begabte Jungen das Gymnasium ohne Ueberanstrengung durchmachen.“
„Es giebt aber solche, die auch bei bestem Willen eine Stunde an einer Seite Wörter lernen, und Fritz gehort leider dazu.“
„Und warum müssen diese durchaus in die gelehrte Schule gezwungen werden?“ fragte der alte Mann ernsthaft. „Haben wir da nicht auch wieder ein Stück Größenwahn unserer Zeit? Warum soll der Sohn des Beamten, Professors und Offiziers nicht einen einfachen praktischen Beruf ergreifen, wenn seine Fähigkeiten zum Studium nicht reichen? Ich weiß wohl, man schützt das Einjährigen-Examen vor. Allein das ist auch von der Realschule aus zu erreichen. Ich möchte doch lieber meinem Sohn das Ziel kleiner stecken und ihn dann mit frischer Kraft drauf losgehen und zum tüchtigen Menschen werden sehen, als ihn schon von Anfang an nach einem höheren vergeblich ringen lassen. Das Sprichwort: ‚Jeder ist seines Glückes Schmied‘ hat seinen tiefen Sinn, jedoch nur für den, der nicht zu hoch hinaus will. Man muß auch mit seinen Kindern bescheiden sein; Genies kann nicht jeder zu Söhnen haben, aber sie zu tüchtigen pflichttreuen Menschen erziehen das kann jeder. Und diese finden dann doch ihren richtigen Platz. Lassen Sie Fritz, der, wie Sie sagen, Sinn und Freude für Naturwissenschaften hat, die Realschule und das Polytechnikum besuchen, um sich für die Elektrotechnik oder eine andere praktische Thätigkeit vorzubereiten. In allen diesen Berufsarten hat der Sohn aus gutem Hause, der streng ehrliche und gescheite Mensch, die besten Aussichten. Dann steht Fritz die Welt offen, und wer weiß, was sie noch alles aus seinen Fähigkeiten entwickelt, die heute nicht dazu angethan sind, Latein und Griechisch zu lernen!“
„Sie mögen recht haben,“ sagte Walter zögernd. „Wenn ich nur gewiß wüßte, daß es Unfähigkeit und nicht Faulheit ist! Man entschließt sich so schwer, den Sohn auf das verzichten zu lassen was man selbst einst ohne Schwierigkeit fertig gebracht hat.“
„Wissen Sie was? Schicken Sie mir ihn, so lange Sie hier sind, täglich eine Morgenstunde mit seinen Büchern herauf. Nach vier Wochen glaube ich, Ihnen hierüber ziemlich Gewisses sagen zu können.“
Walter stand ergriffen da. Er kam sich mit seiner eleganten Haltung und dem empfindlichen Selbstbewußtsein auf einmal so klein vor gegen den einfachen Menschenfreund im abgetragenen Rock, der nun bedächtig seine Gartenthüre aufschloß und ihm die Hand zum Abschied hinstreckte. Lebhaft griff er danach und sagte voll tiefer Bewegung:
„Ich danke Ihnen mehr, als Sie ahnen können. Ihr großmüthiges Anerbieten nehme ich als Wohlthat von höchstem Werthe an. Meine Frau wird auch glücklich darüber sein ... dieser Tag wird zur Wendung in unserem Leben. Wie ich Ihnen das alles vergelten soll, weiß ich freilich nicht!“
„Nicht mir – anderen vergelten Sie es,“ erwiderte der Alte, heiteren Glanz auf der Stirne und die Augen voll Milde auf den Jüngeren gerichtet. „Wie kann der einzelne besser dem Ganzen dienen, als indem er jeden Dienst leistet, der überhaupt im Bereich seines Armes liegt? Nichts einfacher als das. Und das Ganze, lieber Freund, das Ganze ist die Hauptsache!“
Ein prächtiger Septembermorgen stand über dem Lande Tirol. Helleuchtend ragten die rosenfarbenen Gebirgshäupter in den tiefblauen Himmel, duftige Nebelschleier zogen zwischen ihren Zinnen und Schrofen hin, und in tausend Tropfen funkelnd dehnten sich die grünen Haiden zum Thal abwärts. Dieses selbst war noch von kämpfenden Nebelmassen verdeckt, aber schon stachen
die Tannenspitzen aus dem weißen Duft heraus ins Sonnenlicht, und immer stärker klang das Wasserrauschen aus der Tiefe. Daneben wurde noch ein anderer Ton hörbar: durch Dampf und Dunst kam das Schnauben einer Lokomotive, die keuchend ihren Wagenzug zwischen Fluß und Bergwand aufwärts schleppte. Sie hatte längst die Stadt Innsbruck mit ihren Kuppeln und ragenden Bergschlössern hinter sich, nun wühlte sie sich immer weiter in das stets enger werdende Thal des Inn hinein, wo die Wände steil in das reißende Wasser hinunterschauen, wo Straße und Bahn dem Felsen abgerungen sind und durch die Scharten da und dort die großen Eis- und Schneefelder von fern hereinlugen. Station Imst war passiert, als das Nebelmeer gerade über der Lokomotive sich theilte, wie durch ihren schrillen Pfiff gespalten, und nun drang mit dem Sonnenschein zwischen den entweichenden Nebelfetzen soviel Pracht von allen Seiten auf die Reisenden im Aussichtswagen ein, daß sie kaum genug Augen hatten, um alles zu sehen.
Ganz vorn an dem großen Glasfenster stand ein junges Mädchen im einfachen grauen Reisekleid. Sie stützte beide Hände auf die Brüstung und wandte das Gesicht, völlig hingenommen, so nach der Aussicht, daß ihren Mitreisenden nur ein schmaler Theil davon sichtbar blieb. Schon lange stand sie so, ungeduldig das Fallen des Nebels erwartend und nach jeder Felsenecke hinaus spähend. Nun, da in unaufhörlicher Folge grüne, dörfergekrönte Höhen, rauschende Wildwasser mit hohen Brücken, silberne Schneefelder über dunklen Tannenwäldern an ihren Augen vorüberzogen, vergaß sie in ihrem stillen Entzücken vollends die Reisegesellschaft, die hinter ihr englisch und deutsch schwatzte. Sie hatte auch nicht bemerkt, daß in Imst ein bestaubter und sonnverbrannter Passagier eingestiegen war, der sie selbst aus dem Hintergrunde des Wagens ein Weilchen zweifelhaft musterte, dann aber, als ihm einen Augenblick ihr volles Profil sichtbar wurde, sich lächelnd den graublonden Bart strich und murmelte:
„Sieh da, die selbständige Paula! Am Ende auf der Reise nach der Emanzipation! Aber wie gut sie aussieht in ihrer entschlossenen Haltung – keine Spur von ihrem sonstigen gedrückten Wesen!“
Und Thormann, denn er war es, setzte sich seitwärts und betrachtete über ein paar alte Engländerinnen weg die feine Umrißlinie des Kopfes mit dem weichen Filzhütchen auf tiefgesteckten dunkeln Flechten und die schlank abfallenden Schultern, über welche der Riemen des Täschchens lief.
Ein Tunnel klappte jetzt den schwarzen Deckel über das farbenreiche Bild draußen, und allgemeines Niedersitzen erfolgte. Thormann half sich in der Dunkelheit über ein paar Sitze vorwärts; als dann wieder Helle zu den Fenstern hereindrang, fiel Paulas Blick auf ein wohlbekanntes, ernsthaft freundliches Gesicht, dessen hellblaue Augen mit einer gewissen Erwartung nach ihr hinsahen.
Eine leise Röthe stieg in ihre Wangen, dann stand sie auf, that entschlossen einen Schritt gegen ihn, der sofort emporsprang, und bot ihm die Hand.
„Herr Thormann – wie froh bin ich, Sie hier noch einmal zu sehen!“
Unter dem Bartdickicht entwickelte sich ein humoristisches Lächeln, und mit einer gewissen Anzüglichkeit sagte der Maler:
„Ich hätte nicht gehofft, eines solchen Vorzugs zu genießen, gnädiges Fräulein.“
„Schelten Sie nur, Sie haben alles Recht dazu,“ sagte sie freimüthig und blickte ihn dabei so unverzagt an wie noch niemals während ihrer Bekanntschaft, „ich habe mich damals gar zu albern gegen Sie benommen, als Dank für Ihre Freundlichkeit. Längst hätte ich Sie gern um Verzeihung gebeten, und daß ich dies nun auch noch kann, das letzte, was mir vor dem Abschied noch auf der Seele lag, das macht mich wahrhaft glücklich. Nicht wahr, Sie tragen mir’s nicht ferner nach?“
„Ich habe das bis jetzt auch nicht gethan; ich bedauerte nur hinterher, wieder einmal nach meiner verzweifelten Gewohnheit zu geradeaus geredet zu haben. Schlimm, wenn man so etwas nicht loswerden kann!“
„Mir kommt das gar nicht schlimm vor,“ erwiderte sie ernsthaft. „Sie dürfen auch nicht glauben, es habe mich verletzt, zu merken, daß Sie meine Lage als hilfsbedürftig kannten, nein, gewiß nicht. Es kam nur an jenem Tage so viel zusammen ... [215] Sehen Sie,“ fuhr sie entschlossen fort, „obgleich es eine schlechte Entschuldigung ist und ich sonst gar nicht zugeben mag, daß eine Frau sich immer auf das Gefühl berufen soll, statt auf vernünftige Gedanken – ich kann nur sagen, daß ich damals furchtbar unglücklich war, hoffnungslos, aus Verhältnissen herauszukommen, in welchen ich mich langsam ersticken fühlte. Das alles hätte ich Ihnen damals nicht mittheilen können – heute ist es anders, ich fühle mich jetzt in der Freiheit als ein neuer Mensch und jetzt, abschiednehmend von den alten Verhältnissen und auch von Ihnen, ist es mir eine wahre Erleichterung, alles das einmal offen auszusprechen.“
„Heute sind Sie ganz glücklich, wie es scheint, Fräulein Paula!“
„Ja!“ sagte sie mit glänzenden Augen. „Jetzt habe ich erreicht, was damals unmöglich schien. Ich bin auf dem Wege nach Zürich und dort werde ich die Freiheit haben, nach Herzenslust zu arbeiten, alle Grundlagen selbst zu erwerben, statt nur immer die Resultate aus zweiter Hand zu nehmen; in einigen Jahren kann ich dann an der Schwelle einer eigenen Laufbahn stehen!“
War das dieselbe Paula, die sonst scheu jedem Gespräch auswich? Als unbefangener Beobachter hätte Thormann finden müssen, wie jetzt erst dies junge geistvolle Gesicht seinen wahren Ausdruck hatte und wie lieblich bei dem eindringenden Blicke der Augen die reine Unschuld des Mundes wirkte. Aber er schien nicht zu solcher Betrachtung aufgelegt, er fühlte sich von so viel kühler Selbständigkeit unangenehm berührt und sprach seinen Gedanken aus.
„Sie sind ehrgeizig, Sie möchten sich auszeichnen!“
„Ich möchte eine Pflicht haben und sie erfüllen,“ sagte sie einfach. „Ich glaube, daß es unerlaubt ist, nur für sich hinzuleben, ohne irgendwie zu nützen. Es giebt so viel in der Welt zu thun, wenn man den Willen dazu hat –“
„Sollte sich die Gelegenheit dazu nicht vor allem in der eignen Familie bieten?“ fragte er hartnäckig.
Sie sah ihn ohne alle Empfindlichkeit an: wenn das seine Meinung war, mußte er sie selbstverständlich aussprechen; allein einschüchtern ließ sie sich nicht dadurch.
„Die Familie!“ erwiderte sie lebhaft, „die Fessel, die tausend Mädchen bindet, ohne ihnen dafür das Gefühl der Unentbehrlichkeit zu geben! Wo schon zwei Töchter vorhanden sind zur Hilfe und Unterhaltung – muß da die dritte auch dabei bleiben, um unnütze Tage herumzubringen und fortwährend das Gefühl der eigenen Ueberflüssigkeit zu genießen? Wie viele meiner Bekannten leiden unter demselben Drucke, wie viele möchten ernstlich arbeiten, da man ihnen ja von Kind auf den Segen der Arbeit predigt, und dürfen es nicht, weil entweder der Anstand oder der Papa oder sonstige Rücksichten es verbieten. Heirathet ein Mädchen mit siebzehn Jahren, wohl und gut, dann entläßt die Familie sie mit Freuden –“
„Weil sie damit ihre Bestimmung erfüllt.“
„Und die vielen, die nicht dazu gelangen, die dann nach dem Tode der Eltern arm und unfähig zu einer Erwerbsthätigkeit dastehen? Ist es nicht grausam, ihnen eine solche Zukunft zu bereiten, nur damit Papa und Mama sich zeitlebens so recht gemühtlich im Kreise ihrer Töchter fühlen?“
Darauf war nicht so leicht zu antworten. Er sah sie nachdenklich an. Wieviel Bitterkeit mochte die junge Seele schon in sich verwunden haben! Und sie deutete mit keinem Worte auf eigene Leiden hin!
Schweigend saßen sich Paula und Thormann eine Zeit lang gegenüber.
„Ich begreife sehr wohl,“ sagte der letztere endlich, die vorher ausgesprochene Reue über seine Aufrichtigkeit schon wieder vergessend, „daß gerade Sie in Ihren häuslichen Verhältnissen sich nicht wohl fühlten.“
„Ich paßte nicht hinein, das war alles, und deshlab konnte niemand mit mir zufrieden sein. Mama hat auch mich sehr lieb, aber meine ganze Richtung war ihr ungeheuerlich. Und Vilma –“ sie sah den plötzlich sich verdüsternden Ausdruck seines Gesichtes und fuhr mit raschem Erröthen fort: „Utheilen Sie nicht hart über Vilma! Sie ist ein Ausnahmegeschöpf mit glänzenden Eigenschaften ausgestattet. Auch sie leidet unter dem Drucke der Verhältnisse, sie würde sich in glücklicheren ganz anders entwickelt haben.“
„Fräulein Paula –“ fing er an und stockte, denn, was ihm auf den Lippen schwebte: „Sie sind ein außerordentliches Mädchen!“ das konnte er doch nicht aussprechen und ebensowenig konnte er ihr hier vor den Leuten die Hand drücken wie er gerne gethan hätte. So blieb nichts übrig, als sie lange und eindringlich anzuschauen, wobei es ihm war, als sehe er sie heute zum ersten Male. Sie empfand darüber eine plötzliche Verlegenheit und wandte die Augen wieder durchs Fenster, der so lange vernachlässigten Aussicht zu.
Da ging ihm die Möglichkeit des Verabschiedetwerdens auf, und er beeilte sich, das Gespräch wieder anzuknüpfen.
„Sie haben sich also für ein Leben der Pflicht begeistert. Und der Gedanke, im fremden Lande allein unter fremden Menschen zu stehen, schreckt Sie nicht?“
„Es giebt ein schönes Wort, an das ich oft denke: ‚Die Erde ist überall des Herrn‘. Das heißt für mich: überall stehen wir im Dienste unserer Mission und finden Genossen dafür. Freilich an unser kleines persönliches Ich dürfen wir nicht soviel denken, es ist ja auch ein herzlich uninteressantes Ding, das muß sich unterordnen!“
Er lächelte. „Und wenn einmal – verzeihen Sie dem Ungläubigen, der Ihnen auf diese Höhe nicht zu folgen vermag – wenn einmal der Tag kommt, wo Ihr Herz, das so streng zur Ruhe verwiesene, doch sprechen wird?“
„Aber das hat ja längst gesprochen!“ rief sie eifrig, wie ein Schulmädchen, das recht haben will.
„Ah! ... In der That?“ stieß er verblüfft und merklich enttäuscht heraus, um nach einer kleinen Pause hinzuzusetzen: „Freilich, wie konnte ich das auch vergessen!“
„Sie?“ fragte Paula ganz erstaunt. „Ja, woher wollen Sie denn überhaupt etwas von mir wissen?“
„Nun, wissen wohl eigentlich nicht, aber vermuthen. Ich sah es selbst an jenem Winternachmittage im ‚Lehrlingshort‘, wie eifrig der junge Lehrer Ihre Gesellschaft suchte.“
„O,“ rief sie lachend mit der mädchenhaftesten Schelmerei, „das ist köstlich, da sind Sie hübsch fehlgegangen! Herr Lenz ist ja mit Selma Breitenbach, der Tochter des Vorstandes, im stillen verlobt. Der folgte er – freilich ging sie mit mir Arm in Arm.“
„Nun, wenn es also dieser nicht ist –“
„So braucht es noch lange kein anderer zu sein. Sie haben mich vorhin ganz mißverstanden und ich Sie auch, als Sie von dem Herzen sprachen. Ich wollte nur sagen: mein Herz ist aufs lebhafteste bei meiner künftigen Berufswahl betheiligt; alles Glücksgefühl, das ich jetzt empfinde, strömt ja einzig aus ihm hervor!“
„Eine seltsame Anschauung von Glück in so jungen Jahren!“ sagte er kopfschüttelnd.
„Sie ist für mich die natürliche,“ erwiderte sie einfach. „Jeder muß doch von seiner Stelle aus das Leben ansehen, nicht wahr? Nun, ich sehe, seit ich denken kann, ein rastloses Jagen nach persönlichem Glück, ich sehe Menschen, die scheinen wollen, was sie nicht sind, um Zwecke zu erreichen, die sie nicht eingestehen. Dabei täuschen sie sich doch fortwährend und werden innerlich klein, völlig unfähig, die großen geistigen Freuden des Lebens auch nur zu ahnen. Ist es ein Wunder, wenn man sich da einmal auf den gerade entgegensetzten Standpunkt stellt? Ich habe das natürlich ganz in der Stille gethan, denn so oft ich redete, wurde ich als ganz verkehrt und unpraktisch ausgelacht. Aber ich kann nicht anders fühlen; mir kommt das Geschenk des Lebens als etwas so Hohes und Wunderbares vor, dieses zum Licht Auftauchen für eine kurze Spanne Zeit, daß ich es wie ein Angstgefühl empfinde, nicht hinlänglich die Verpflichtungen zu erfüllen, die es auferlegt. Früher, wenn ich von großen Menschen las, pochte mir das Herz, es ihnen nachzuthun. Seither habe ich wohl eingesehen, daß das nur den Außergewöhnlichen möglich ist; aber zugleich ist es mir immer wärmer und beglückender zum Bewußtsein gekommen, daß auch der Bescheidenste wirken kann, wenn er sich ganz in den Dienst der Pflicht stellt. Und dies ist nun mein fester Vorsatz geworden, und wenigstens einer billigt ihn, mein lieber alter Onkel Mayer, der für mich der verehrungswürdigste aller Menschen ist. Wo mich das Schicksal künftig verwenden wird, weiß ich nicht, ich folge einstweilen dem Weg, den meine Fähigkeiten mir zeigen. Täusche ich mich über sie, reichen sie nicht zu einer guten Ärztin, so werde ich eine gute Pflegerin werden. Allein nützen und zugleich lernen – das werde ich immer können, und da dies nun einmal mein Begriff von persönlichem Glücke ist, so verstehen Sie wohl, daß ich eine außergewöhnlich glückliche Person sein werde!“
[216] Sie blickte ihn lächelnd an, aber wie verschieden war dabei ihr leuchtender klarer Blick von Vilmas bedeutungsvollem Augenaufschlag! Der Vergleich kam ihm ganz plötzlich zu Sinne, und er begriff nicht, daß er diese ebenfalls sehr schön geschnittenen großen Augen so lange neben den anderen kaum bemerkt hatte. Indessen – ging es nicht mit der ganzen Persönlichkeit ebenso? Diese Paula war ja die weitaus interessantere von beiden! Und das erkannte er jetzt erst, wo sie ihm in kürzester Frist schon aus den Augen verschwinden sollte!
„Station Landeck!“ – Schon?! .. Hier sollte er ja aussteigen, um nach Finstermünz zu kommen. Na, dem ließ sich leicht abhelfen durch ein Billet nach der Schweizer Endstation, so blieb man noch ein paar Stunden beisammen. Ihm konnte es ja einerlei sein, wohin er fuhr, und so angenehm hatte er sich seit lange nicht im Bahnwagen unterhalten.
Eilig entstieg er demselben, das neue Billet zu holen, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Paula erfuhr nur im Laufe der Unterhaltung, daß er einen Ausflug ins Rheinthal vorhabe. Dann saßen sie in bester Stimmung an dem geöffneten Aussichtsfenster beisammen. Die herrlichen Landschaftsbilder zogen vorüber, und der goldene Septembertag goß seinen Glanz darüber aus. Die beiden Schweigsamen geriethen so lebhaft ins Gespräch, daß ihnen die Zeit vorüberflog wie draußen die wechselnde Landschaft, und bald kam über jedes von ihnen ein heiteres Sichgehenlassen, als habe es das andre schon lange gut gekannt.
In Feldkirch schaffte Thormann einen Kellner mit Wein und Speisen herbei, er nöthigte Paula, die in Gedanken an ihre schmale Börse am liebsten nur ein Brötchen gegessen hätte, zum Zugreifen und wurde sehr zornig, als sie einen schüchternen Versuch zum Zahlen machen wollte. Dann ging es weiter, und ihm fiel der bevorstehende Abschied immer schwerer ins Bewußtsein. Das Gespräch fing an, Pausen zu bekommen.
„Fräulein Paula,“ begann er plötzlich nach einer solchen, „kennen Sie meine Kleine?“
„Sigrid? O ja, ich habe sie bei meinen Schwestern gesehen.“
„Welchen Eindruck machte sie Ihnen?“
Paula zögerte in der Erinnerung an Sigrids maßlose Ungezogenheiten. „Sie sieht intelligent aus,“ sagte sie endlich.
„Und ist nebenbei sehr verzogen, nicht wahr?“
„Ich glaube, ja!“
„Das finden Sie also auch! Ich merke es schon seit längerer Zeit, aber wie soll man dem abhelfen?“
„Können Sie sich nicht entschließen, das Kind ein paar Jahre von sich wegzugeben, in ein gutes Familieninstitut, wo es von erfahrenen Frauenhänden zum Rechten angehalten wird? Ohne solche Erziehung werden die Kinderunarten leicht zu Charakterfehlern der Erwachsenen, und die sind dann nicht mehr zu ändern.“
„Sie haben wohl recht!“ seufzte der solchergestalt am Gewissen gepackte Vater und versank eine Zeit lang so tief in Nachdenken, daß er nicht merkte, wie nahe schon das Ziel der Fahrt sei, und über den Ruf: „Station Buchs!“ ganz verstört auffuhr.
Zwanzig Minuten Aufenthalt – Zollrevision, Gedränge und Durcheinander! Thormann leistete der jungen Reisenden noch jeden möglichen Dienst, dann half er ihr ins Damencoupé. Ein kurzer Händedruck war gewechselt worden, er hatte es auch nur zu ein paar einfachen Abschiedsworten gebracht, aber seine treuen blauen Augen ruhten so selbstvergessen auf dem jungen Gesicht hinter den Wagenfenstern, daß eine Paula gegenübersitzende töchterreiche Mutter es entschieden auffallend fand.
Da klangen die drei kurzen Glockenschläge – noch ein Gruß, ein freundliches Nicken zur Antwort – und fort rollte der Zug.
Thormann saß noch lange in der Bahnhofrestauration, gedankenvoll vor sich ins Glas starrend, und würde ohne die Mahnung des Kellners nicht mehr in den Zug gekommen sein, der nach Landeck zurückfuhr. Paula ihrerseits dachte in dem überfüllten Damencoupé: „Eigentlich haben die nicht so unrecht, die ihre Lebensreise gern im Schutze einer guten und treuen männlichen Begleitung machen wollen.... Ah bah! man muß sie auch allein fertig bringen. Kopf in die Höhe, nun geht das neue Leben an!“ Aber es erschien ihr auf einmal nicht mehr so beglückend wie heute morgen.
- Mein verehrtes Fräulein!
Es sind erst fünf Tage, seit Sie von mir geschieden sind, und doch dünken sie mich sehr lange. Ich sitze hier oder laufe auch wohl umher, aber meine Gedanken drehen sich unablässig um einen Punkt, und ich kann nicht mehr anders, als Ihnen dieselben mitzutheilen. Vermuthlich, ich sage mir es immer wieder, wird das an Ihrem Entschluß nichts ändern können, aber eine schwache Möglichkeit bleibt immerhin, und auf diese richte ich jetzt meine Augen, wenn ich Ihnen schreibe.
Fräulein Paula – müssen es durchaus fremde Menschen in unbekannten Verhältnissen sein, welchen Sie Ihre Sorge und Theilnahme widmen wollen? Könnten Sie sich nicht entschließen, als den Ihnen bestimmten Ort der Pflicht das Haus eines einsamen Mannes anzusehen, der gerade genug Ecken und Wunderlichkeiten hat, um den Verkehr mit ihm recht schwierig zu machen, ganz abgesehen von seinem Kinde, zu dessen endlicher Erziehung die Geduld eines Engels nothwendig ist?
Sie sehen, ich biete Ihrem Hunger nach Opfern und Selbstüberwindung glänzende Aussichten. Nun aber lassen Sie mich als ehrlichen Mann auch die erschwerenden Umstände anführen! Daß Sie nämlich mit einem Ja einen Menschen unendlich glücklich machen würden.
Es war nur ein Tag, den wir miteinander zubrachten, allein er hat mir in Ihnen ein Wesen gezeigt, wie ich es nicht mehr hoffte finden zu können. Und nicht nur Ihr fester besonnener Geist, Ihr klares Gemüth sind es, die mich entzücken – es ist ebenso die Anmuth Ihrer äußeren Person, Ihr holdes Lächeln, die braunen stillen Augen, Ihr ganzes liebes Bild, das überall, wohin ich gehe, mich umschwebt.
Dies mußte ich Ihnen sagen, auf die Gefahr hin, daß es
Sie erschreckt und meinem Antrag abgeneigt macht. Es ist mir
sehr ungewiß zu Muthe, liebe Paula, denn ich weiß, daß Sie
mich viel näher kennen müßten, um Ihre Hand ohne Ueberwindung
in die meine zu legen. Und doch möchte ich die Hoffnung
haben, daß Sie mich künftig lieben lernten, wie ich Sie heute
schon von Herzen liebe. Entscheiden Sie also! Aber lassen Sie
mich, ich bitte, nicht länger in dieser Ungewißheit, als durchaus
nöthig ist! Geben Sie mir ihr Ja oder Nein telegraphisch
hierher! Im letzteren Falle hören Sie nie mehr von mir, im
ersteren kommt zwölf Stunden später und holt Sie als ein sehr
Glücklicher heim Ihr Lars Thormann.
Ja, und ohne Ueberwindung! Paula.
Fünf Jahre später.
„Siebenundvierzig!“ sprach der Ministerialrath Walter und that dabei einen Athemzug, der fast wie ein Seufzer klang, obwohl die Veranlassung zu einem solchen aus seiner augenblicklichen Situation nicht abgeleitet werden konnte Denn er stand am Abend seines Geburtstages, Gäste erwartend, in dem schönen hellbeleuchteten Salon, Frau und Tochter zur Seite, und betrachtete mit ihnen noch einmal die unter Blumen und Kuchen aufgebaute Gabenfülle seines Tisches: neue Bände Afrikareisen, hübsche Juchtengegenstände, daneben zwei schriftliche Geistesprodukte der Herren Söhne und feine, schneeweiße, von Elsbeths fleißigen Fingern gesäumte Tücher, außerdem noch manches Zeichen glückwünschender Freundschaft. All dies war sehr schön und erfreulich, und doch seufzte der Herr Ministerialrath.
„Siebenundvierzig!“ wiederholte er nachdenklich. „Die Jugend ist vorbei, das Rad steht nicht still, ob man auch noch so sehr verlangt, in seine Speichen greifen und ‚Halt!‘ rufen zu können. Es hilft nichts, als sich mit Ergebung aufs Altwerden einzurichten – wie, Schatz?“ Und er wandte zärtlich die Lippen nach dem blonden Haupt, das glücksfroh wie einst in fernen Jugendtagen an seiner Schulter lehnte.
„Da hört man wieder einmal den ‚schönen Mann‘,“ sagte Karoline Wiesner, die eben beschäftigt war, ihre Geburtstagsgabe,
[217][218] Elsbeths Porträt, ins beste Licht zu rücken. „So einer ist doch immer doppelt so anspruchsvoll und undankbar als das übrige Mannsvolk. Haben Sie noch nicht genug an Glücksgütern, Unersättlicher? Eine glänzende Beförderung –“
„Nur seinen Verdiensten angemessen,“ versetzte die schlanke Elsbeth und hob sich auf den Zehenspitzen liebkosend an dem Papa empor.
„Eine Frau, für die Sie alle Tage Gott auf den Knien danken müßten, die ungerathenen Mädels, die ihren Papa nur verwöhnen, die beiden Jungen, an denen Sie Freude haben können –“
„Na ja,“ erwiderte er gedehnt. „Das ist alles gut und schön. Aber die Bedingung, unter der man das hat, das eigene Altern, ist eben doch eine scheußliche Sache.“
„Je nachdem man’s nimmt,“ erwiderte sie mit verstellter Unschuld. „Die wirklichen Altersbeschwerden fangen bei gesunden Meuschen erst hinter den Sechzigern an, und bis dahin ist’s doch eine hübsche Zeit gewesen!“
„Ach, davon spreche ich jetzt nicht –“
„Sie meinen mehr den kosmetischen Theil der Sache?“ lachte sie. „Ja, das ist freilich für schöne Leute sehr schmerzlich. Darin haben es die Nichthübschen besser; wer nie geblüht hat, dem thut auch das Verblühen nicht weh. So gleicht sich alles aus in dieser Welt. Aber es giebt doch ein ausgezeichnetes Mittel auch für die Schöngewesenen, alle unangenehmen Empfindungen darüber los zu werden –“
„Und das wäre?“ fragte er mißtrauisch.
„Sie errathen es nicht?“ Sie setzte sich zu ihm und sah ihn lächelnd an. „Nun, ganz einfach, am fünfzigsten Geburtstag seine Eitelkeit abthun, ermorden, austilgen! Denn sie allein ist es doch, die vor dem Altaussehen zittert. Graue Haare thun nicht weh, Falten ebensowenig, man kann trotzdem innerlich jung bleiben und von den Jungen geliebt werden, wenn man ein warmes Herz für sie behält und nicht vergißt, daß jetzt die Zeit gekommen ist, an sie abzuzahlen, was man einst von seinen Alten empfing. Das ganze Leben ist uns ja nur unter Bedingungen gegeben, und eine davon heißt: das Alter so selbstverständlich und natürlich hinnehmen, wie man einst die Jugend nahm. Es hat wie diese seine Merkmale, seine Leiden und Freuden –“
„Und Freuden?!“ wiederholte Walter ironisch.
„Rechnen Sie die ruhige Erkenntniß, den inneren Frieden, die Freiheit von leidenschaftlichen Irrthümern für nichts? Wer Gesundheit und verhältnißmäßige Körperkraft bewahrt, der kann auch in älteren Tagen im Natur- und Kunstgenuß ein unendlich erhöhtes Glück finden, er wird, im Hinblick darauf, daß die Nacht kommt, in der niemand wirken kann, doppelt für das Wohl seiner Mitmenschen sorgen und handeln, und er wird in solcher Thätigkeit genug Herzen finden, die ihm in lebhaftester Neigung anhängen. Das ist für meinen Geschmack ein wahreres Jungbleiben, als radfahrender Greis zu sein oder gletscherbesteigende Großmutter oder was für Blüthen die ‚Berechtigung der Persönlichkeit‘ heut zutage sonst noch treibt.“
„‚Man ist so alt, als man sich fühlt‘!“ citierte Walter.
„Ja, aber die Natur schreibt mit deutlichem Finger den Kommentar zu diesem Spruche in die Gesichter, und die anderen sehen’s, man mag sich fühlen, wie man will. Ich kannte eine Dame, welche sagte: ‚In der Gesellschaft wird man nicht älter als vierzig Jahre, was darüber ist, das muß gemacht werden!‘ Nun, und sie ‚machte‘ es denn auch so gut, daß sie aussah wie ein übertünchtes Grab.“
Emmy lachte. „Nein, Linchen, soweit kommen wir nicht. Wir altern einmal ganz hübsch natürlich, mit Würde und Heiterkeit. Ich weiß übrigens gar nicht, wie Ihr gerade auf dies Gespräch verfallt. Schau’ ihn Dir doch einmal an, sieht er denn für seine Siebenundvierzig nicht brillant aus?“
„Natürlich thut er das, er will ja bloß mit seinem Alter kokettieren. Wenn’s einmal Ernst wird, spricht er nicht mehr davon.“
„Und der junge Gatte Thormann ist nicht viel jünger als er.“
„Der Thormann, ja wahrhaftig! Aber ich weiß nicht, bei dem denkt man überhaupt nicht daran, ob er alt oder jung ist; ich glaube, weil er selbst nicht daran denkt und in aller Unbefangenheit so dahinlebt. Das sind doch die Glücklichsten, die das fertig bringen.“
„Kein Wunder,“ dachte Hugo und warf einen schnellen Blick in den Spiegel, aus dem ihm ein immer noch eines Odysseus würdiges Haupt, wenn auch mit etwas Silberglanz an den Schläfen, tröstlich entgegenleuchtete, „kein Wunder! Wer so aussieht wie der gute Thormann, der weiß nicht, was andere mit der Jugend verlieren. Und das naive Linchen spricht auch davon wie der Blinde von der Farbe. Na“ – zweiter Blick der Genugthuung „eine Weile thut sich’s noch!“
Und er strich vergnügt den weichen dunkeln Bart und durchmaß mit raschem Schritte den Salon bis zur Eingangsthür, wo eben die ersten Besucher erschienen – das Ehepaar Hoffmann. Hinter ihnen erschien Helenchen; sie sah noch ebenso blaß und verschwommen aus wie vor fünf Jahren, ein ungewisser Zug von Niedergeschlagenheit schwebte um ihre Lippen; sie schloß die jugendfrische Elsbeth mit gewaltsamer Zärtlichkeit in die Arme. Von Hoffmanns Söhnen war keiner erschienen, die jungen Herren verabscheuten den Zwang der Geselligkeit, und es konnte ihrem die Freiheit eines jeden achtenden Vater nicht in den Sinn kommen, sie dazu anzuhalten. Hätte er ihnen nur alles andre Störende ebenso ersparen können! Aber nicht einmal die wahrhaft traurige Examensordnung konnte er zu ihren Gunsten abändern: seine Reden in der ersten Viertelstunde waren ein einziger Strom von Entrüstung gegen die Gymnasialprofessoren, die seine beiden Aeltesten, die hochbegabten Jungen, auf eine wahrhaft empörende Weise schikaniert hätten. Natürlich waren beide durchgefallen.. „Und Fritz?“ schloß er, einen Blick nach dem hochgewachsenen Siebzehnjährigen hinüberwerfend, der soeben mit seinem Bruder Moritz nach beendigter Arbeit noch für eine Stunde in der Gesellschaft erschien.
„Er ist glücklich nach Prima gekommen,“ sagte Emmy einfach. Es widerstrebte ihr, von den wirklich guten Zeugnissen zu reden, die ihr Aeltester seit den letzten Jahren regelmäßig heimbrachte; sie war überglücklich im stillen. Wie hatte ihr häusliches Leben sich nach jener Schreckensnacht in Allersbach geändert! Welch ein Unterschied zwischen ihrem damaligen steten Zittern vor Hugos Unzufriedenheit und ihrem jetzigen offenen gegenseitigen Vertrauen! Freilich ohne Schwierigkeiten war es wohl nicht abgegangen, aber sie hatten sich beide redlich gemüht. Die Thatsache, daß Fritz damals unter des alten Professors Leitung in Bälde gern und ordentlich arbeitete, traf das Gewissen seines Vaters, und mit nicht geringerem Eifer als der Junge nach der Lösung seiner Aufgaben rang jener nach der richtigen Art, ihn zu behandeln. Er suchte sein Vertrauen und seine Liebe auf langen Spaziergängen wieder zu gewinnen, und bald hing Fritz mit Begeisterung an ihm. In Gedanken segnete Emmy den einfachen Landaufenthalt heute noch aus Herzensgrund! Denn im nächsten Winter verstand sich alles von selbst – Hugo ging abends nur noch selten aus, weil es ihm wohl war im Kreise seiner Familie, die Knaben arbeiteten eifrig, um abends fertig zu sein, wenn der Papa heimkam, er nahm theil an den Liebhabereien der Kinder und richtete allmählich das Interesse der Heranwachsenden auf die großen Fragen des Lebens. Dabei war er selbst stets am meisten überrascht von ihrem raschen Verständniß und wunderte sich, wie viel anziehender die Entwicklung dieser jungen Seelen war als die politischen Gespräche seiner Wirthshausherren, die er, genau besehen, alle auswendig kannte. Und merkwürdig – gerade als sein ganzes Wesen voll durch Beruf und Familie in Anspruch genommen war, so daß kein Raum mehr für unzufriedene Nebengedanken blieb, gerade da war der Ruf ins Ministerium erfolgt, der mit der Gehaltsvermehrung einen bedeutend erweiterten Wirkungskreis und große Befriedigung brachte. Kurz, es war reiches Glück emporgeblüht aus der einfachen Thatsache, daß der Vater seine Pflichl erfüllte, wie die Mutter sie von jeher gethan hatte!
„Will Fritz immer noch nach Kamerun?“ fragte Hoffmann ironisch lächelnd.
„Ja, sein Traum sind die Kolonien,“ erwiderte Emmy. „Aber er weiß, daß es dazu solider Grundlagen bedarf, und so soll er vorher erst ein recht tüchtiger Ingenieur werden; Begabung und große Lust dazu hat er.“
„Und Moritz? Den bringen Sie wohl nicht durchs Gymnasium?“ fuhr der gute Freund fort.
„Da er Kaufmann werden will, brauchen wir den Versuch nicht zu machen. Er ist in seiner Realschule sehr fleißig und schwärmt ebenfalls von künftigen überseeischen Unternehmungen. Vor der Hand sind wir glücklich, die beiden lieben Jungen noch um uns zu haben.“
„Ja, ja,“ sagte Linchen, die Emmys glänzendem Blicke folgte, „die [219] Herren Söhne in allen Ehren, wenn man sie glücklich so weit hat. Aber jetzt betrachtet mir einmal dort das vergnügte Kind Gottes, die Elsbeth! Wie so was emporwächst, schlank und nett, ohne Umstände und immer frohgemuth, das ist schon eine Freude zum Ansehen; das junge Mädel, wie es sein soll, statt der schickmäßigen jungen Dame mit der Ueberlegenheitsmiene und dem frühzeitig vertrockneten Herzen! Auf die darfst Du Dir zu allererst etwas einbilden, Emmy.“
„Sie ist sehr hübsch,“ sagte der Medizinalrath anerkennend, „da macht sich das Gefallen von selbst.“
„Sie ist verständig, gut und heiter dazu,“ erwiderte Linchen eifrig, „das sind die drei Kardinaltugenden der Frau, und wo diese sich mit hellen Augen und rosigen Wangen verbinden, da kann man für das übrige ganz unbesorgt sein. Und passen Sie ’mal auf: die kleine Maja, die jetzt noch um acht Uhr zu Bett geschickt wird, das giebt einmal eine Schönheit!“
Die harmlose Karoline sprach nach ihrer Gewohnheit ohne Nebengedanken, der Vater seiner Tochter aber hatte Gründe, die Unterhaltung nicht reizvoll zu finden, und brach deshalb ab, indem er sich zu Emmy wandte.
„Sagen Sie ’mal, habe ich mich getäuscht oder ging vorige Woche wirklich der langbeinige junge Amerikaner an mir vorbei, den Sie vor ein paar Jahren im Hause hatten?“
„O, Francis Weston! Ja, der war es wirklich. Er besuchte uns auf seiner Hochzeitsreise, die natürlich bis nach Aegypten geht, und schien ungeheuer glücklich zu sein.“
„Brannte er denn nicht früher stark für Vilma?“
„Das mag sein; sein Herz war, glaube ich, aus sehr brennbarem Stoff. Allein nun scheint es endgiltig beruhigt und untergebracht zu sein; er erzählte mir, daß es zwei Jahre ‚sehr in Liebe war‘ mit Miß Herbert. ‚Aber ich sagte sie nichts davon, wenn wir waren allein, bis ich gehen konnte, zu sprechen mit ihrem Vater. O, es war sehr, sehr schwer‘. Und diese Prüfung scheint den guten Frank zum Manne gehärtet zu haben. Er tritt nach Beendigung der großen Hochzeitsreise ins Geschäft seines Schwiegervaters drüben ein.“
„Sieh einmal, da kommen Thormanns!“ sagte der Medizinalrath und betrachtete voll Interesse das Ehepaar, welches soeben den Hausherrn begrüßte. Auch Emmy eilte in herzlicher Freude hinzu.
„Merkwürdig,“ bemerkte Hoffmann zu dem vor einigen Augenblicken mit Helenchen herangetretenen Doktor Seiler, „wie famos der graue Mensch aussieht, seit er geheirathet hat. Das Glück leuchtet ihm ja förmlich aus den Augen. Und die junge Frau wie eine ernste Muse in dem weißen Gewand! Sonderbar, daß man die früher so wenig neben Vilma beachtete.“
„Ich finde sie gar nicht hübsch,“ sagte Helenchen geringschätzig. „Die Nase ist entschieden zu groß, und dann hat sie so einen eingebildeten Ausdruck im Gesicht!“
„A propos,“ fragte ihr Vater, leiser sprechend, den Journalisten, „wo ist denn die schöne Vilma diesen Sommer hingerathen? Man hat ja gar nichts von ihr gehört! Zieht sie sich jetzt von der Welt zurück?“
Seiler zuckte die Achseln. „Zuletzt sah ich sie mit ihrer würdigen Mutter in Reichenhall, und in ihrer Begleitung stets einen ältlichen abgelebten Diplomaten, der nur noch Haut und Knochen war, aber ein wirklicher Graf. Dem that die Alte wunderschön. Hören Sie, das ist ein gräßliches Weib!“
„St! da kommt sie eben!“ Und in der That erschien, einigen neuen Gästen voraus, unter der Thür Frau von Dürings erhitztes Gesicht, und sie eilte, die fetten Händchen ausstreckend, auf Emmy zu.
„Liebste Frau Ministerialrath, nicht wahr, wie unbescheiden, daß ich hier eindringe, wo Sie Gesellschaft haben –“
„Sie erfreuen uns sehr damit, Frau von Düring,“ erwiderte Emmy freundlich. „Es ist nur unser wöchentlicher einfacher Empfangsabend, freilich heute etwas festlicher durch den Geburtstag meines Mannes –“
„Ich komme nämlich gerade von der Bahn,“ fuhr Frau von Düring fort, ohne Emmys Rede zu beachten, „das heißt, von Paula, zu der ich fuhr; ich hörte, sie sei hier bei Ihnen ah, da bist du ja, mein Kind –“ und sie hauchte einen flüchtigen Kuß auf die Stirne ihrer Tochter – „ich wollte Dir eine große Neuigkeit bringen, eine sehr beglückende.“ Bei diesen Worten richtete sie sich empor und sprach im Kreise umhersehend voll Triumph: Unsere Vilma ist Braut – Braut des Grafen Vöhrenberg – eines der ältesten österreichischen Häuser – Schloß in Böhmen – ein wahrhaft en–or–mer Grundbesitz – wir werden künftig auch dahin übersiedeln – ich bin entzückt von meinem Schwiegersohn, aber positiv entzückt!“ ...
Alles dies sprudelte sie mit einer Geläufigkeit heraus, die bereits von bedeutender Uebung sprach, und warf dabei den Kopf so stolz empor, als es bei ihrer Kürze und ihrem Umfang nur irgend möglich war.
Die murmelnde Bewegung der Gesellschaft hätte sich am besten durch ein allgemeines tiefgefühltes: „Nun, Gott sei Dank, – endlich!“ wiedergeben lassen, sie kam indessen Frau von Düring gegenüber in der geziemenden Form zur Aussprache und diese nahm, in einem Sessel sitzend, mit der Theetasse in der Hand, eine Gratulation nach der andern huldvoll entgegen.
„Ja, sehen Sie, Liebste,“ sagte sie sehr laut, als Fräulein Linchen ihren von unerschütterlicher Sympathie für Vilma eingegebenen Glückwunsch aussprach: „Sie haben ganz recht, Vilma ist eine Perle, ein Juwel! Gott, wie viel glänzende Partien hätte das Kind früher machen können! Aber sie konnte sich nie entschließen, wo ihr Herz nicht sprach, auch stellte sie doch“ – das wurde nach Thormanns Seite hin gesprochen – „geistige Anforderungen, denen nicht jeder genügen konnte. Nun, das ist jetzt alles aufs charmanteste vereinigt, der Graf liebt sie ebenso glühend wie sie ihn –“
„Brrr!“ machte Doktor Seiler leise hinter der Front.
„Er ist ein Diplomat von ausgezeichneten Fähigkeiten,“ fuhr sie eifrig fort, „die Hoffnung einer künftigen Aera, Sie verstehen mich! Eine edle, ritterliche Erscheinung –“
„Um Gotteswillen, Fräulein Elsbeth,“ sagte der Journalist, „spielen Sie schnell einen Walzer, daß man diesen Kerl nicht auch noch als Adonis preisen hören muß!“
Und Elsbeth ließ sich’s nicht zweimal sagen. Lachend eilte sie zum Flügel, und im nächsten Augenblick schon drehten sich ihre Freundinnen mit den Herren Primanern und Sekundanern lustig im Kreise. Moritz, der bisher im Hintergrund gestanden hatte, besah rasch seine Finger, dann, als er sie tintenfrei fand, reichte er sie der hochaufgeschossenen Sigrid, deren schöne blaue Augen und starkes Blondhaar doch einige Hoffnung für ihre künftige Erscheinung gewährten, und sie nahm, in Beherzigung des Grundsatzes vom Spatzen in der Hand, den dreizehnjährigen Tänzer in Gnaden an.
Paula folgte während des fröhlichen Getümmels ihrem Manne in ein kleines Nebenzimmer und sagte, indem sie seine Hand faßte: „Welch ein Glück, daß dies so gekommen ist! Nun brauche ich nicht mehr die stete Sorge zu haben, daß Du meinen Besitz auch noch mit Opfern bezahlen mußt.“
„Er wäre mit dem Schwersten nicht zu theuer erkauft,“ sagte der glückliche Mann und sah ihr tief in die Augen. „Du hast mir mit Dir soviel gegeben, meine Paula, dazu unseren süßen Jungen, Sigrid hängt an Dir wie an einer wirklichen Mutter – wie könnte ich Dir all das je vergelten? Aber für Deine Mama und Vilma ist mir’s lieb, daß alles so kam, denn ihre Wege werden doch in Ewigkeit nicht unsere Wege sein; auch Hedy wird künftig lieber auf jenen wandeln. So können wir in Frieden scheiden. ... Daß Du Deiner Schwester Ausstattung besorgst, versteht sich von selbst, die Mittel dazu sind in Deiner Hand, wende sie an, wie Du es für gut findest!“
Sie hob die glänzenden Augen voll inniger Liebe zu seinem ehrlichen einfachen Gesicht empor. „Du Guter, Edler!“ war alles, was ihre Lippen leise sprachen, aber viel, viel mehr sagten ihm ihre Blicke und der warme Druck ihrer Hand. –
„Nun erklären Sie mir einmal, Beste,“ flüsterte eine Stunde später, als die Unterhaltung in vollem Gange war, eine sehr geputzte Dame, die Frau des Unterstaatssekretärs, die heute zum ersten Mal in Walters Hause war, ihrer Nachbarin, Frau Malchen Hoffmann, zu, „was das eigentlich für eine Art von Geselligkeit ist. Von Souper scheint ja keine Rede, ich sehe nur Thee, Bier und belegte Brötchen; und wenn es sich auch ganz niedlich macht, wie das blonde Haustöchterchen mit der gestickten Schürze überall geschäftig herumgeht und die Gäste versorgt, so muß ich doch gestehen, daß ich meine Meta nicht in dieser Rolle sehen möchte, dazu gehört doch Dienerschaft. Daß man Musik macht, ist ganz hübsch, Frau Walter spielt ja selbst sehr gut, und das Duett, welches vorhin Elsbeth und die andre Kleine sangen, war soweit recht nett, aber das sind doch am Ende alles keine Leistungen, auf die man heute einladen kann. Und es herrscht keine rechte Trennung zwischen [220] den älteren Gästen und dieser ziemlich grünen Jugend. Vorhin hörte ich Walters ältesten Jungen mit Doktor Seiler ein Gespräch über die Aussichten im Kolonialdienst führen, und der gab ihm wirklich Antwort, als wenn er einen Erwachsenen vor sich hätte. Das ist ja doch wahrhaft komisch. – Nein, ich muß sagen, ich bin enttäuscht. Man hat mir von den reizenden Abenden hier im Hause soviel erzählt, aber dies ist ja nur – wie soll ich sagen? – ein erweitertes Familienleben; dafür zieht man sich doch nicht an und geht abends aus. Wer nicht wirkliche Gesellschaften geben kann, der soll es bleiben lassen und nicht mit solchen Halbheiten dergleichen thun. Das ist meine positive Ansicht von der Sache."
Und die Sprecherin hob ihr stattliches Doppelkinn würdevoll aus der Spitzenumrahmung ihres Halsausschnittes hervor. Frau Malchen sah sie betroffen an. Für sie hatten Ansichten etwas unbedingt Imponierendes, auch wenn, wie eben jetzt, ihr eigenes unsicheres Empfinden nach einer andern Richtung steuerte. Sie war immer sehr gern hier, ihr Mann ebenfalls, und Walters gaben ja auch andere Gesellschaften, warme Soupers, und recht gut gekocht. Sie hatten es ja jetzt dazu, vollends seit noch die Erbschaft von Frau Walters Eltern dazu kam. Aber diese Abende, die gaben sie absichtlich so einfach, es war eben ihre Ansicht so.
Und im Eifer dieser anstrengenden prinzipiellen Entwicklung hätte sich Frau Malchen beinahe zu einer ausdrücklichen Billigung letztgenannter Ansicht aufgeschwungen.
Das Gespräch der beiden Damen hatte einen unbemerkten Zuhörer gehabt. Leise durchschritt der alte Professor Mayer, der dem Geburtstag zuliebe auch auf eine Stunde anwesend war, das Zimmer, in dem sie auf dem Sofa plauderten, und hörte den Schluß ihrer Unterhaltung. Er lächelte still vor sich hin, trat dann in den großen Salon zurück und ließ sich von Elsbeth ein Glas Bowle geben. Damit trat er dann einen Schritt vor und begann, mit seinen ruhig-heiteren Augen Walter und Emmy im Kreise ihrer Gäste fixierend:
„Meine Freunde! Wenn man einen glucklich preist, wie es heute unserem Walter mit Fug und Recht geschehen ist, so denkt man dabei zunächst an alles, was ihm ein günstiges Geschick beschert hat: Ehre und Erfolg, Gesundheit und Gedeihen in der Familie. Aber das ist nur die Hälfte eines vollen Menschenglückes und die andre Hälfte ist das Wohlgefühl, welches man sich verschafft in sittlicher Arbeit an sich selbst, in unablässiger Uebung jeder Pflicht von der größten bis zur kleinsten herab. Dieses Glück brauchen wir nicht von außen zu erwarten, wir haben es ganz in unserer eigenen Hand! Daß nun unsere Freunde es verstanden haben, es in ihrer Mitte anzupflanzen und zu pflegen, bis es fest und unerschütterlich gewurzelt ist, dafür möchte ich sie heute glücklich vor vielen preisen. Unsere Zeitgenossen in ihrem hastigen Ringen nach Effekt und Auszeichnung vergessen so leicht, daß die innere Zufriedenheit auch dabei sein muß und daß diese nur aus tiefen, ins Gemüth reichenden Wurzeln erwächst! Wohl der Familie, welche den schlimmen Zeitgeistern zum Trotze die Einfachheit hochhält und im Streben nach edlen Zielen jedes Streberthum nach leerem Scheine entbehren kann! Ihre Kinder werden das ganz sein, was sie nach ihrer Anlage werden können, und sich über das Unerreichbare, das andere unglücklich macht, ruhig bescheiden. Und wenn dann die Freunde zur schönsten Form der Geselligkeit, zur erweiterten Familie“ – er sprach diese Worte mit besonderem Nachdruck – „zusammentreten, so fühlen auch sie sich von dem guten Geiste des Hauses angeweht und froh im Gedanken, daß es in der Oede unserer konventionellen Geselligkeit noch solche Mittelpunkte des unverfälschten Menschenthums giebt. Ihnen gilt mein Spruch! Möge die deutsche Familie ihre höchste Ehre darein setzen, Hüterin unserer besten Güter zu sein, möge sie uns zurückführen aus der Trockenheit einer selbstsüchtigen Verstandesbildung zu dem Reichthum des Gemüthslebens, welcher der ewige Jungbrunnen unseres deutschen Volkes ist. Alles wirklich Große, alles wahrhaft Beglückende entstammt dem Gemüth – wie arm müßten wir werden, wenn wir dauernd den personlichen Vortheil, den nervösen Ehrgeiz, die Uebersättigung mit Vergnügen dem einfachen Glücke der Liebe, des Vertrauens, der harmonischen Lebensführung vorziehen wollten! .. Wir sind weit gekommen seit zwanzig Jahren in praktischen Fähigkeiten, im Gewinn äußerer Güter, wir müssen weiter kommen und die inneren wieder finden. Wir müssen den neuen anspruchsvollen Zeitgeist durch den alten guten Familiengeist unseres deutschen Volkes überwinden, der uns getröstet hat in Zeiten der Trübsal, der uns nicht verloren gehen darf in Glanz und Besitz, denn wahrlich! diese wären damit zu theuer erkauft.
Auf ihn also hebe ich mein Glas, auf den wohlbekannten idealen Schutzgeist. Möge er ein zeitgemäßes neues Gewand anlegen und als verjüngter und bester Zeitgeist uns ins kommende Jahrhundert führen!“
Franz Drake.
Es war im September des Jahres 1513. Ein Zug bewaffneter
Spanier, von Bluthunden begleitet, von Indianern geführt,
klomm die Pässe der Anden hinauf. Sie waren von der Küste
des Atlantischen Oceans aufgebrochen und wollten die Landenge
von Panama durchqueren, um das große Meer jenseit Amerikas
zu erreichen, das bis Tahiti noch keines Europäers Auge geschaut
hatte und das den Spaniern nur aus den Berichten der Eingeborenen bekannt war.
Am 25. September um 10 Uhr morgens traten die indianischen Führer an den Befehlshaber der Spanier, den kühnen Ritter Vasco Nuñez de Balboa, heran und theilten ihm mit, daß er von der nächsten Anhöhe das andre Meer erblicken werde. Ein denkwürdiger Augenblick in der Geschichte der Eroberung der Erde nahte.
Balboa fühlte es, und so befahl er seinen Begleitern, zurückzubleiben, und ging allein auf die Spitze der waldentblößten Anhöhe. Von hier erblickte er einen gliederreichen Golf, der sich nach dem andern Weltmeer öffnete. Da warf sich der Entdecker auf die Kniee, jauchzte mit erhobenen Armen den australischen Gewässern zu und dankte inbrünstig Gott für die Gnade, die er ihm erwiesen. Bald darauf standen die Spanier an der Mündung des kleinen Savanasflusses, und als die Fluth herankam und das halbentleerte Bett sich füllte, da sprang Balboa in voller Rüstung, die Fahne mit dem Bilde der Jungfrau in der Linken, das gezückte Schwert in der Rechten, bis an die Kniee in das brandende Meer und ergriff für die Krone von Kastilien Besitz „von diesen australischen Meeren, Ländern, Gestaden, Häfen und Inseln, mit ihren Reichen und Marken vom Nordpol bis zum Südpol!“
So wurde im Jahre 1513 der Große Ocean entdeckt. Aber den Namen erhielt er damals noch nicht; die Spanier, die von Norden gekommen waren, nannten ihn die „Südsee“, und sie hatten keine Ahnung von seiner wirklichen Größe.
Sieben Jahre später segelte ein Portugiese in spanischen Diensten durch die von ihm entdeckte Straße im Süden Amerikas vom Atlantischen Ocean in die Südsee hinein. Es war Magalhães, der erste Weltumsegler; er trat die Heldenfahrt durch das unbekannte Meer an, welches nunmehr in seiner wahren Größe erkannt wurde – „als ein ungeheueres Meer, das größer ist, als man fassen kann“, wie einer seiner Begleiter schrieb.
Magalhães fiel am 27. April 1521 im Kampfe mit den Eingeborenen auf der Insel Matan, aber sein Steuermann Sebastian del Cano vollendete die Erdumseglung, und am 6. September 1522 lief die „Victoria“, von Würmern zerfressen, geflickt, mit gebrochenen Masten und zerrissenen Segeln, in den Hafen von San Lucar ein, den sie vor drei Jahren verlassen hatte.
Der Große Ocean war erschlossen; aber er blieb ein spanisches Meer. Spanische Schiffe befuhren ihn; sie brachten die Schätze Perus nach Panama, von wo sie nach der Küste des Atlantischen Oceans befördert wurden. Man scheute die mühselige Fahrt durch die Magellanstraße. Ja, wenige Jahrzehnte nach Magalhães’ Tode schrieb ein Spanier, „die Straße sei den spanischen Piloten jetzt verloren gegangen, entweder weil man ihre richtige Lage nicht mehr wisse, oder vielleicht, weil eine von dem stürmischen Meere und wüthenden Winden losgerissene Insel sie verstopft habe."
Erst als Spaniens Stern zu sinken und England nach der Herrschaft der Meere zu trachten begann, erstand ein Nachfolger Magalhães’ in dem englischen Seehelden Franz Drake; erst im
[221][222] Jahre 1578 drangen wieder Schiffe in die düstere, sturmdurchtobte Magellanstraße ein, durchquerten wieder den Großen Ocean, um rund um die Erde über Afrika nach Europa heimzukehren.
England ist mit Recht stolz auf Franz Drake, denn er zählt zu den Begründern seiner Seemacht und war für viele Söhne Albions durch seinen verwegenen Muth und seine rastlose Thatkraft ein leuchtendes Vorbild. Seine Gegner fürchteten und haßten ihn zugleich und gaben ihm den Beinamen eines „Erzpiraten des Erdglobus.“
Francis Drake wurde vermuthlich zu Tavystock in Devonshire geboren. Ueber sein Geburtsjahr herrscht keine Klarheit; man nimmt an, daß er um 1540 das Licht der Welt erblickt habe. Auch über den Stand seines Vaters ist man nicht genau unterrichtet; die einen behaupten, er sei Schiffsprediger, die anderen, er sei Matrose gewesen. Soviel aber steht fest, daß der junge Franz frühzeitig zur See ging. Als er selbständig wurde, trieb er Handel in Guinea und den westindischen Gewässern.
Da wurde er eines Tages von Spaniern überfallen und ausgeplündert. Wie einst Hannibal den Römern, so schwur er den Spaniern ewige Rache – und er hat seinen Schwur gehalten.
Im Mai des Jahres 1572 verließ Drake mit zwei wohlausgerüsteten Schiffen den Hafen von Plymouth, aber nicht als ein friedlicher Kauffahrer, sondern als Seeräuber. Westindien war sein Ziel, und er wählte die Landenge von Panama zum Schauplatz seiner Thaten. Nombre de Dios war die erste Stadt, für die sein Name schrecklich werden sollte. Es gelang ihm, die Stadt zu uberrumpeln und einen reichen Raub an Silberbarren, Gold und Edelsteinen davonzutragen. Hier erfuhr er aber auch, daß eine reiche Karawane von Panama am Großen Ocean nach dem Hafen von Nombre de Dios aufgebrochen war. Diese Gelegenheit wollte er sich nicht entgehen lassen. Er verband sich mit den Indianern, welche ihre spanischen Bedrücker haßten, und marschierte an der Spitze von achtzehn Matrosen gegen Panama, um der Karawane aufzulauern. Dieser Marsch begann am 3. Februar 1573; am 11. desselben Monats wurde auf beschwerlichen Wegen der Rücken des Berggrates erreicht, welcher sich über die Landenge hinzieht.
Da zeigten ihm seine indianischen Führer einen Baum und sagten ihm, daß er vom Gipfel desselben die Nordsee würde sehen konnen, von der er gekommen sei, und zugleich die Südsee, deren Gestade er jetzt erreichen wolle. Drake bestieg den Baum auf Stufen, die in den Stamm gehauen waren – und er war nun der erste Engländer, welcher den Großen Ocean erblickte.
Der Anblick der beiden Weltmeere wirkte auf ihn überwältigend, namentlich die ihm noch unbekannte Südsee erfüllte ihn mit brennendem Verlangen, und er faßte hier den Entschluß, alles dran zu setzen, um auf einem englischen Schiffe in diesen Ocean einzudringen. Bald darauf stieß er auf die erwartete Karawane; er griff sie mit tollkühnem Muthe an, erbeutete zwei mit Silber beladene Maulthiere und entkam glücklich nach seinen Schiffen, mit denen er im August 1573 nach England zurückkehrte.
Hier trat er eine Zeitlang in die Dienste der Regierung und nahm theil an den Kämpfen gegen Irland; vor allem aber suchte er seinen Plan, in die Südsee einzudringen, zu verwirklichen. Er trug ihn der Königin Elisabeth vor, und diese billigte ihn. So rüstete er im Jahre 1577 ein Geschwader von fünf Schiffen („Pelikan“, „Elisabeth“, „Ringelblume“, „Schwan“ und „Christopher“) aus und segelte nach der Magellanstraße. Der Zweck seiner Fahrt war die Plünderung der reichen Küstenstädte Perus; das Schicksal fügte es aber, daß diese Fahrt zu der denkwürdigsten aller Korsarenfahrten wurde und sogar die Bedeutung einer Entdeckungsfahrt erhielt.
Als Drake die Magellanstraße erreichte, taufte er zur Feier des Ereignisses sein Flaggschiff um, das fortan nicht mehr „Pelikan“, sondern „Die goldene Hindin“ hieß. Auf die Freude über das erreichte Ziel folgte aber bald Trauer, denn bei der Umschiffung Amerikas verlor Drake, durch Stürme nach Süden verschlagen, die meisten seiner Schiffe, von denen eins nach England zurückkehrte.
Seine Kräfte waren dadurch geschwächt, allein sein Muth sank nicht. In der That hatte er hier auch ein leichtes Spiel. Die Gewässer des Großen Oceans längs der amerikanischen Küste waren bis dahin, wie wir das schon angedeutet haben, ein spanisches Meer, die Städte an den Küsten des ehemaligen Peru fühlten sich durchaus sicher, denn in diesen Gewässern waren Seeräuber unbekannt. Als daher Drake zuerst vor Valparaiso erschien, ergriffen die Bewohner in panischem Schrecken die Flucht, und fast ungestört plünderte er die Stadt und den Hafen. Der Ruf von dem Auftauchen eines Seeräubers breitete sich zwar rasch in Peru aus; die Küstenstädte wurden gewarnt, aber bei der Unzulänglichkeit der damaligen Verkehrsmittel war Drake schneller als die spanischen Boten, und so konnte er ziemlich ungefährdet sein Räuberhandwerk fortsetzen, Hafenstädte plündern und Schiffe kapern. Seine Beute an Gold, Silber und Edelsteinen wurde schließlich auf 150000 Pfund Sterling, etwa drei Millionen Mark, geschätzt.
Der Rachedurst des Piraten war nunmehr gelöscht und er mußte an die Heimkehr denken. Sollte er wieder über die Magellanstraße England zu erreichen suchen? Das erschien ihm zu gefährlich; denn es waren nunmehr seit seiner Abfahrt von Plymouth anderthalb Jahre verflossen, und es stand sicher zu erwarten, daß die Spanier inzwischen eine Flotte ausgerüstet hatten, die ihm den Weg an der Magellanstraße verlegen sollte.
Um mit dieser nicht zusammenzutreffen, faßte Drake einen kühnen Entschluß.
Man glaubte damals, daß im Norden Amerikas eine ähnliche Durchfahrt vom Atlantischen nach dem Großen Ocean vorhanden sei, wie dies im Süden bei der Magellanstraße der Fall war. Drake beschloß nun, diese Durchfahrt aufzusuchen, und so ging er am Schlusse seiner Korsarenfahrt auf Entdeckungen aus. Er segelte nordwärts, „um Amerika in nordöstlicher Richtung zu umsegeln“, drang auch gegen 1400 Seemeilen in dieser Richtung vor, aber nirgends zeigte sich die erhoffte Durchfahrt, überall versperrte ihm das Festland den Weg. Schließlich gelangte er bis zum 48° nördlicher Breite, wo die Kälte so groß war, daß ihm die Lebensmittel gefroren, und vor ihm erhob sich an der Küste ein hohes schneebedecktes Gebirge. Nun sah er sich zur Umkehr gezwungen; er lief in einen bequemen Hafen des heutigen Kaliforniens ein, wo er seiner Mannschaft einige Zeit Ruhe gönnte.
Die Magellanstraße schien ihm gesperrt, die nordöstliche Durchfahrt unerreichbar, so kam er auf den Gedanken, weiterhin den Spuren Magalhães zu folgen und quer durch den Großen Ocean, über die Gewürzinseln und das Kap der Guten Hoffnung nach England zurückzukehren. Das Glück war ihm günstig, und am 26. September 1580 landete die „Goldene Hindin“ in England, wo Drake mit ungeheurem Jubel als der erste englische Weltumsegler empfangen wurde. Die Spanier führten bei der englischen Regierung Klage gegen den kühnen Seeräuber, und Drake mußte auch einen Theil des Raubes herausgeben; es blieb ihm aber noch immer genug übrig und dazu erntete er noch unverhoffte Ehren.
Am 4. April 1581, als die morsche „Goldene Hindin“ im Hafen zu Deptford lag, erwies die Königin Elisabeth Drake die Ehre, daß sie ihn auf seinem Schiffe besuchte und auf demselben ein Festmahl abhielt. Bei dieser Gelegenheit wurde Drake zum Ritter geschlagen und hieß nunmehr Sir Francis Drake; die Königin verlieh ihm ein neues Wappen, auf dem ein Schiff und ein Erdglobus abgebildet waren, indessen hat Drake auch in späterer Zeit sein altes einfacheres Wappen benutzt, das einen Adler mit ausgebreiteten Flügeln darstellte. An den Mastbaum des Schiffes aber schlug man die bekannten Verse:
„Und könnten Menschen von dir schweigen,
Die Sterne müßten redend zeugen,
Die Sonne kann sich nicht vermessen,
Je dein Geleite zu vergessen!“
Die „Goldene Hindin“, das erste englische Schiff, welches die Erde umsegelt hatte, sollte auf Befehl der Königin als Nationalheiligthum im Hafen von Deptford aufbewahrt werden; da aber das morsche Holz bald in Stücke zerfiel, so wurde aus den besten Theilen desselben ein Stuhl gezimmert, der noch heute in der Universität zu Oxford aufbewahrt wird.
Drake gehörte nicht zu den Männern, die auf ihren Lorbeeren ausruhen können. Schon wenige Jahre darauf tauchte er wieder – ein Schrecken der Spanier – plündernd und sengend in den westindischen Gewässern auf. Von hier aus besuchte er die englische Niederlassung in Virginien, und von dort soll er auch zum ersten Male die Kartoffel nach England gebracht haben. Aus diesem Grunde wurde ihm im Jahre 1853 der badischen Stadt Offenburg ein Denkmal errichtet; aber die neuere Forschung [223] hat erwiesen, daß die Kartoffel schon früher in Europa bekannt war und Drake sich nur um die Verbreitung der wichtigen Pflanze verdient gemacht hat.
Endlich sollte der Seeräuber als englischer Admiral auftreten. Zwischen England und Spanien zog sich ein Kriegsgewölk zusammen, und Drake erschien plötzlich vor Cadix, um die spanischen Rüstungen zu verhindern. In der That gelang es ihm, eine große spanische Transportflotte zu zerstören.
Nun rüstete Spanien die berühmte unüberwindliche Armada aus. 130 große und 30 kleinere Kriegsschiffe mit 30 000 Mann, 2630 Kanonen, dem Großinquisitor und 150 Dominikanern an Bord bedrohten England. Königin Elisabeth konnte diesem Feinde nur eine kleine Flotte unter dem Oberbefehl Lord Howards entgegenstellen, aber unter diesem wirkten als Admirale ausgezeichnete Seeleute wie Hawkins, Frobisher und vor allem Drake. So erscheint der ehemalige Korsar als Vertheidiger der Freiheit seines Vaterlandes und seines Glaubens, und sein Antheil an der Vernichtung der Armada war ein hervorragender; man erzählt, daß spanische Schiffe schon bei Nennung von Drakes Namen sich dem gefürchteten Feinde ergeben hätten.
Drake setzte nunmehr als Admiral seine Kämpfe gegen die Spanier fort. Wir sehen ihn zuletzt an der Spitze einer Expedition, die gegen Westindien gerichtet ist. Die Landenge von Panama, auf welcher er seine ersten kriegerischen Lorbeeren gepflückt hatte, wurde wieder zum Schauplatz seiner Thaten. Es waren die letzten. Das Glück war ihm nicht hold, und als ihm ein Angriff auf Panama mißlang, fühlte er sich in seinem Ehrgeiz derart gekränkt, daß er in Fieber verfiel und starb. Wie über seinen Geburtstag die Angaben der Geschichtschreiber sich widersprechen, so ist auch sein Todestag nicht genau festgestellt; die bewährtesten Quellen nennen den 28. Januar 1595.
Am 29. Januar wurden seine sterblichen Ueberreste in einen bleiernen Sarg gethan und dieser in die Tiefe des westindischen Meeres versenkt. So wurden die Wogen sein Leichentuch und die Wasser der See sein Grab, aber – singt ein unbekannter englischer Dichter jener Zeit – „der Ocean war zu klein, um seinen Ruhm zu fassen“.
Das ist nun freilich eine starke poetische Uebertreibung. Ohne Zweifel eröffnet Sir Francis Drake die lange Reihe der englischen Seehelden, aber in der Geschichte der geographischen Forschung, unter den großen Weltentdeckern nimmt er einen untergeordneten Rang ein. Hoch überragen ihn die Gestalten eines Kolumbus, Magalhães und Vasco da Gama und sein Ruhm kann sich mit dem seines großen Landsmannes James Cook nicht messen. S. J.
Das Merseburger Schloß.
Wer auf dem Altan der Westseite des alten, ehrwürdigen Merseburger Schlosses steht und hinausblickt ins freie Land, hinweg über die grünen, wogenden Wipfel, hinweg über die leis plätschernde Saale, die am Fuße des mächtigen Baues ihre Wasser nach Norden wälzt, dem flüstern die Wellen, dem raunen die alten Bäume wundersame Geschichten aus alten Zeiten zu. Noch eindringlicher aber sprechen zu ihm die grauen Steine des Jahrhunderte alten Schlosses. Und sie haben viel zu erzählen. Von Gewaltigem und Kleinem, von Erhabenem und Niedrigem, von emsigem Bürgerschaffen und regem Handel wie von seiner Verwüstung in lautem Kriegsgetümmel, das die Horden der Hunnen und Avaren, der Dreißigjährige Krieg und endlich die Franzosen des korsischen Eroberers ins Land trugen. Von stillem Gelehrtenthum und kirchenfürstlichem Prunke waren diese alten Mauern Zeuge, wie nicht minder von kaiserlichem Glanze und Pomp; denn die größten deutschen Kaiser haben in Merseburg geweilt, von Karl dem Großen, Heinrich dem Städtegründer und Friedrich Barbarossa an bis herab auf den Heldenkaiser Wilhelm I.
Die Entstehung des Ortes, den das Schloß hochthronend überragt, fällt in das Dunkel vorgeschichtlicher Zeiten, und dieses Dunkel umhüllt auch seinen Namen. Zwar den alten Chronisten war es ganz klar, woher die Stadt Merseburg ihren Namen hatte – sie waren überzeugt, niemand anders als der römische Kriegsgott Mars habe ihr den Namen. „Martisburg“ gegeben, und ebenso klar war ihnen, wann die Stadt gegründet worden; der ehrsame Bürgermeister Ernst Brotuff, der Chronist, weiß ganz genau, daß sie im Jahre 7 nach Christi Geburt von Drusus Germanicus gebaut worden sei. Aber so einfach liegt die Sache denn doch nicht: die Römer sind nämlich nachweislich nie in diese Gegend gekommen! Die ältesten Burgmauern Merseburgs rühren vielmehr mit höchster Wahrscheinlichkeit von den Franken her, wie denn auch der Name der Stadt nicht auf Mars sondern auf Martin, den grossen Heiligen der Frankenstämme, hinweist. Aus „Martinsburg“ mag sich „Merseburg“ entwickelt haben.
Aber gleichviel: das Merseburg, das heute steht, muß seine Gründung auf König Heinrich I. zurückführen. Allerdings bestanden dort schon vorher dörfliche Gemeinden unter dem Schutze einer Burg, der „Alten Burg“, die eben auf jener früheren Frankenburg fußte, es war auch schon eine steinerne Kirche und ein geistliches Stift vorhanden, das Karl der Große errichtet und reich ausgestattet hatte, aber erst Heinrich der Städtegründer machte die Ortschaften um die Burg zur „Stadt“ und erhob diese zur kaiserlichen Pfalz.
Es waren übrigens nicht nur politische und kriegerische Gesichtspunkte, welche Heinrich ein besonderes Interesse gerade für Merseburg einflößten. Auf der „Alten Burg“ saß nämlich seit dem Jahre 900 ein Graf Erwin, und der hatte ein schönes Töchterlein mit Namen Hatheburg. Diese edle Jungfrau gewann sich, trotz seiner Fünfzig, Heinrich zum Ehegemahl. Kein Wunder, wenn ihm Merseburg lieb und werth blieb! Und nicht weit von Merseburg hat sich auch Heinrich den schönsten Siegeslorbeer erstritten. In jener Gegend war es, wo er am 14. März 933 die Hunnen in der weltgeschichtlichen großen Schlacht blutig aufs Haupt schlug und damit dem Ansturm des Barbarenthums gegen die aufstrebende deutsche Kultur einen Damm entgegensetzte. Freilich, sein Sohn Otto der Große mußte später den Kampf gegen die Ungarn noch einmal aufnehmen: im Jahre 955 schlug er die asiatisch-pannonischen Horden in einer Vernichtungsschlacht auf dem Lechfeld bei Augsburg – und dieser Sieg ward mittelbar der Ausgangspunkt für den Jahrhunderte währenden Glanz [224] von Alt-Merseburg. Denn Otto – der vorher die Merseburg zwei Monate lang hatte belagern müssen, um seinen aufrührerischen jüngeren Bruder Heinrich daraus zu vertreiben, und der darauf den Bau eines neuen Schlosses begann – er hatte vor jener Hunnenschlacht auf dem Lechfeld im Angedenken an den Merseburger Hunnensieg seines Vaters gelobt, falls auch ihm ein solcher Sieg würde, ein Bisthum in Merseburg zu stiften. Der Sieg wurde ihm, und nun baute Otto das Schloß als Kaiserpfalz und Bischofssitz aus. Wohl wurde das von ihm gegründete Bisthum auf Grund bischöflichen Konkurrenzneides nicht lange danach wieder aufgehoben; aber der 1002 zum Kaiser gewählte Heinrich II., welcher Merseburg mit seiner Gemahlin Kunigunde sehr gern besuchte und es „ein Paradies“ zu nennen pflegte, stellte die Stiftung wieder her. Sein zum Bischof ernannter Kaplan Wigbert gründete die noch heute bestehende Stiftsbibliothek, in der sich viele wichtige Handschriften darunter auch die berühmten „Merseburger Zaubersprüche“ aus dem zehnten Jahrhundert befinden, einige der wenigen uns erhalten gebliebenen althochdeutschen Sprachdenkmäler.
Die schon erwähnte alte Kirche ließ Heinrich gänzlich umbauen; den Grundstein zum Neubau legte der hochberühmte Bischof Tiethmar, Merseburgs ältester Chronist, und über diesem Grundstein erhob sich eine Kirche, die nach vielfachen weiteren Um- und Ausbauten der altehrwürdige, noch heute stehende Merseburger Dom wurde. Als eine architektonische Schönheit kann der Bau ja nicht gelten, aber durch sein hohes Alter und durch seine archäologische Bedeutung, durch die werthvollen, seltenen und wohl auch seltsamen Schätze, welche er in sich birgt, ist er zu hohem Ruhme gelangt.
In der Gewandkammer des Domes ist z. B. die Hand aufbewahrt, welche dem Gegenkaiser Heinrichs IV., Rudolf von Schwaben, 1080 in der Schlacht bei Mölsen abgehauen wurde; droben im alten Merseburger Schlosse war er an seinen Wunden gestorben und im Dome hatte man ihn unter einem außerordentlich prachtvollen Grabmal beigesetzt. Auch sein Gegner Heinrich sah diese Hand als er sieben Jahre nach der Schlacht zu einem Reichstag wiederum nach Merseburg gekommen war und vom Schlosse zum Gottesdienst in den Dom ging; er sah dort auch das herrliche Grabmal Rudolfs und las darauf die für ihn selber nicht gerade schmeichelhafte lateinische Inschrift. „In dieser Gruft ruht König Rudolf, der, mit Recht zu beweinen, für der Väter Gesetz fiel. Hätte er in Friedenszeit geherrscht, es wäre kein König seit Karl ihm an Weisheit und Schwertkraft gleich gewesen.“
Aber als man Heinrich in niedriger Liebedienerei anging, er möge doch nicht dulden, daß seinem Feinde solch ein prachtvolles Ehrenmal errichtet bleibe, sondern es niederreißen lassen, da soll er in grimmigem Spotte das Wort gesprochen haben: „O daß doch alle meine Feinde so herrlich begraben lägen!“
Das alte Schloß hatte schon vor Heinrich IV. mehr als einem Kaiser zum Heerlager bei den in Merseburg abgehaltenen Reichstagen gedient; die größte kaiserliche Prunkentfaltung aber sah es doch erst 1152, als Friedrich Barbarossa hier im Beisein der deutschen Fürsten und Herren den Erbfolgestreit zwischen den Dänenprinzen Sven und Kanut schlichtete und Sven zum König von Dänemark krönen ließ, während Kanut der Würde entkleidet wurde. Der neue Dänenherrscher mußte dem deutschen König und römischen Kaiser Rothbart damals den Lehnseid schwören und ihm dann als Friedrich Barbarossa, die Krone auf dem Haupte, an der Spitze all der Fürsten und Herren in feierlichem Zuge sich zum Dome begab, das Reichsschwert vorantragen.
Waren die Kaiser nicht anwesend, so saßen auf dem Schlosse allein die Bischöfe und regierten von da aus Merseburg. Zwar hielten sie die Stadt in starker, zeitweise drückender Abhängigkeit; dennoch blühte sie auf, namentlich als Handelsstadt durch ihre ausgedehnte „Marktgerechtigkeit“, ihre Messen. Sind doch die später so wichtig gewordenen Leipziger Messen eigentlich aus denen Merseburgs entstanden! Nach dem großen Brande von 1323 – dem ersten von vielen – sahen sich die Kaufleute, die bis dahin nach Merseburg gekommen waren, gezwungen, erst nach Grimma, dann nach Leipzig sich zu wenden, so daß, wie eine handschriftliche Stadtgeschichte sagt, „der Jahrmarkt seither ganz zurückblieb und der Leipziger sich erhob“.
Der berühmteste der Merseburger Bischöfe und obenein der besten einer war der seit 1249 regierende Thilo von Trotha. Er ist es auch, der für die Geschichte des Schloßbaues am meisten in Betracht kommt. Denn wie er überhaupt für Merseburg sehr viel that – „ohne Beschwerung der Unterthanen“, da er nach Chronistenzeugniß „ein guter Herr“ war – wie er besonders der Domkirche im wesentlichen ihre jetzige Gestalt gab, so war er auch der eigentliche Bauherr des heutigen Merseburger Schlosses. So viele An-, Um- und Ausbauten das Schloß in den sechs Jahrhunderten seit Thilo auch erfahren hat, noch heute verräth es, wie damals, selber dem Besucher, wer es errichtet hat, durch des Bischofs in Stein gemetztes Wappen, „das der gute Herr gar oftmalen anzubringen liebte“, den Raben, der einen Ring im Schnabel trägt. Unsere Leser kennen aus dem Artikel „Unschuldig verurtheilt“ in Halbheft 24 des Jahrgangs 1890 die Legende, welche sich an dieses Wappenbild knüpft, von dem treuen Diener Johannes, der auf eines böswillig abgerichteten Raben Zeugniß hin auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, von der Reue seines Herrn, als die Unschuld des Hingerichteten zutage kam. Der tief zerknirschte Bischof soll aus diesem Anlaß den Raben mit dem Ringe in sein Wappen aufgenommen, eine Stiftung für Witwen und Waisen errichtet und die fortdauernde Unterhaltung eines lebendigen Raben im Schloßhof angeordnet haben.
In der That ist das Wappen, in Stein gehauen, vielfach im und am Schlosse zu sehen, die Witwen- und Waisenstiftung ist noch heute in Kraft; und auf Generalunkosten krächzt heutigen Tages noch ein lebendiger Rabe in einem schönen großen Käfig auf dem äußeren Schloßhof – und dennoch erheben sich gegen den geschichtlichen Werth dieser Lokalsage gewichtige Bedenken. Nachweislich führte Thilos Zweig der noch heute blühenden Familie Trotha den Raben bereits im Wappen, lange bevor Thilo Bischof wurde. Die Unterhaltung eines lebendigen Raben auf dem Schlosse geschah eben deshalb, weil der Rabe Wappenthier war, wie ja auch sonst noch Fürsten und selbst Städte „lebendige Wappenthiere“ hielten und halten; z. B. die Fürsten von Reuß Kraniche, die Stadt Bern Bären.
Thilos unmittelbare Nachfolger bauten ebenfalls dies und das am Schlosse, wenn sie nämlich Geld dazu im Beutel und nicht andere, wichtigere Dinge im Kopfe hatten. Ein größerer Umbau ward indeß erst wieder unternommen, als der Administrator Kurfürst Johann Georg I. vom Stiftstage eine „reichliche Beisteuer“ zum Ausbau des damals schon wieder arg vernachlässigten Schlosses erhielt. Bei Gelegenheit dieser 1650 begonnenen Umänderung rückte übrigens mit schier unglaublicher und schon damals scharf getadelter Ungeschicklichkeit der Schloßbaumeister Melchior Brenner den Ostflügel so dicht an den Dom, daß er das Domfenster, durch welches der hohe Chor Licht bekam, völlig „zusetzte“.
So sehr sich nach diesem Umbau auch „das neue, gewaltige Schloß durch Größe, Geschmack, Pracht und Geräumigkeit der Gemächer auszeichnete“, es unterlag kaum länger als ein Jahrhundert danach doch wieder einer neuen starken Umgestaltung, bei der es im wesentlichen sein jetziges Aussehen erhielt.
Zwischendurch war es Zeuge schlimmer Zeiten gewesen denn der Dreißigjährige Krieg ging auch in Merseburg nicht ohne furchtbare Greuel und Unthaten vorüber. Erst plünderte General Pappenheim mit einem kaiserlichen Heere Stadt und Schloß, dann eroberten die Schweden ihrem Bundesgenossen Johann Georg seine „gute vnd getrewe Statt“ zurück, bis Wallenstein sich mit 1500 Mann zum Herrn der Stadt und des Schlosses machte; und schließlich verwüsteten die Schwedengenerale Bannér und Torstenson die „stiftischen Lande“ des ihnen nach Gustav Adolfs Schlachtentod abtrünnig gewordenen Johann Georg. Die Zeiten wurden erst wieder besser, als des Kurfürsten dritter Sohn, Christian der Aeltere, Herzog und damit Begründer der Linie Sachsen-Merseburg wurde, das Schloß um neue Gemächer bereicherte, im Innern prächtig ausschmückte und dort eine fürstlich glanzvolle Hofhaltung einrichtete.
Einen etwas närrischen, aber von Herzen guten Fürsten beherbergte das Schloß später in dem „Geigenherzog“ Moritz Wilhelm, der alle Räume mit Musikinstrumenten mannigfacher Art anfüllte, stets eine Geige unter dem Arme trug, selbst während des Ministerrathes und in der Kirche, und häufig einen Satz, den man mit ihm sprach anstatt durch Worte durch ein paar Griffe oder Bogenstriche zustimmend, abwehrend, zweifelnd oder fragend beantwortete und nachts sehr oft sentimentalisch thränenreiche Totenklagen auf den Gräbern verstorbener Diener anstimmte.
Mit seinem Sohne starb das Haus Sachsen-Merseburg im Jahre 1738 schon wieder aus und die Administration des Hochstifts wurde „für ewige Zeiten“ mit der sächsischen Kurwürde verknüpft – was leider zur unmittelbaren Folge hatte, daß im Schlosse eine schreckliche Plünderung begann. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, wurde nach Dresden geschleppt, darunter natürlich auch der große Schatz an werthvollen silbernen Geräthen, das Tafelzeug, sämmtliche in fast fünf Jahrhunderten zusammengebrachten Kunstgegenstände wie überhaupt alle Kostbarkeiten ja sogar die schönen gepreßten Ledertapeten und die künstlerisch gewirkten Wandbekleidungen wurden herabgenommen und nach der Residenz an der Elbe geschafft.
Große Zeiten und sehr verschiedenartige Gäste sah das Schloß im Siebenjährigen Kriege. Es beherbergte damals z. B. den Prinzen [225] Soubise mit seinen Generalen und Offizieren, seinen Schauspielerinnen und Freundinnen, in deren Kleidern und Reifröcken sehr bald die preußischen Soldaten satirische Stücklein aufführten, nachdem sie am 5. November 1757 etwa anderthalb Meilen südwestlich von Merseburg die Franzosen bei Roßbach geschlagen und Soubisens Lager, Munition und – Schminktöpfchen erbeutet! Am 8. November abends zog dann der glorreiche Sieger von Roßbach, Friedrich der Große, in Merseburg ein und am folgenden Vormittag besichtigte er die im innern Schloßhof aufgestellten eroberten Kanonen und sonstigen französischen Beutestücke.
Die nächsten vierzig Jahre waren für Merseburg endlich einmal eine Friedenszeit. Aber 1806 brach die französische Hochfluth noch einmal über die Stadt herein, und das alte Schloß mußte am 18. Oktober den korsischen Eroberer selber in seinen Mauern aufnehmen – ihn und seine 13 Köche! Als zehn Jahre später Merseburg im Wiener Kongreß mit einem Theile Sachsens an Preußen abgetreten worden war, sah das Schloß den neuen Landesherrn, König Friedrich Wilhelm III., einziehen. Und nun endlich blieb es auch Frieden rings um den ehemaligen Bischofssitz, Frieden, so gewaltige Kämpfe Deutschland auch noch auszufechten hatte, bevor es zu seiner jetzigen Einheit, Macht und Größe gelangte.
Das Schloß ist nunmehr Sitz der Regierung des Bezirks Merseburg. Umgeben von einem ausgedehnten, herrlichen Schloßgarten, der sich an der rauschenden Saale entlang zieht, stellt es sich uns in seiner Gesammtheit dar als eines der schönsten Denkmäler der mitteldeutschen Renaissance, in welchem Reichthum der künstlerischen Gestaltung und guter Geschmack sich vereinigen. Namentlich sind die Fassaden des innern Schloßhofes bewundernswerth in der geschmackvollen Verwerthung einer wahren Fülle von architektonischen und rein ornamentalen Motiven. Ein Beispiel dafür giebt das Hauptportal des nördlichen Flügels, die beiden flankierenden Säulen, zwischen denen sich das sächsische Wappen von 1605 befindet, werden bekrönt von den Gestalten der beiden Schutzheiligen des Stiftes: auf der einen Seite Sankt Johannes mit dem Lamm, auf der andern der heilige Laurentius, mit der Linken auf den Rost gestützt. Derselbe Flügel des Schlosses weist auch noch den wunderschönen Erker auf, den unsre Abbildung Seite 223 wiedergiebt.
Im innern Schloßhof, in dessen Nordostecke sich der „Treppenthurm“ mit einer prächtigen Wendeltreppe erhebt, spendet sein Wasser der reich gestaltete Schloßbrunnen, ein auf dreieckiger Basis aufgebauter Neptunsbrunnen; im mächtigen äußern Schloßhof aber ist außer der Hauptwache noch der neue Rabenkäfig untergebracht, der, eben seines „historischen“ Bewohners wegen, für die Mehrzahl der Schloßbesucher einen der Hauptanziehungspunkte abgiebt.
Ueberragt ist das Schloss von drei Thürmen: dem Treppenthurm innen an der Nordostseite, dem „Pagen“- oder „Trabantenthurm“ außen vor dem Westflügel und dem „Konditorthurm“ an der Außenseite des Nordflügels, der seinen Namen davon hat, daß er vor dem ehemaligen Küchenanbau des Bischofs von Schleinitz steht; der vierte auf unsrer Abbildung sichtbare Thurm gehört zu dem Dome, der dicht an das Schloßgebäude stößt und unmittelbar von ihm aus durch das Portal der sogenannten Bischofskapelle betreten werden kann. Außen vor dem Schlosse zieht sich an der Nord- und Ostseite der schon erwähnte schöne Schloßgarten entlang, der mit großartigen Pavillons, herrlichen Aussichtspunkten und Rondellen geschmückt und von alten, schattigen Alleen durchzogen ist. Und an dem ehrwürdigen Bau vorüber zieht der Fluß mit seinem trauten Wellengeflüster – und in die Seele klingt ein fröhliches Studentenlied:
„An der Saale hellem Strande
Stehen Burgen stolz und kühn!“
Blätter und Blüthen.
Großherzog Ludwig IV. von Hessen. (Mit Bildniß.) Wieder ist einer jener Fürsten hingegangen, die in dem entscheidenden Kriege von 1870/71 die deutsche Einheit, die Größe des Vaterlandes miterrungen haben – am 13. März verschied Großherzog Ludwig von Hessen an den Folgen eines Schlaganfalls, der seiner thatkräftigen Natur ein frühes Ziel setzte. Ein offenes Herz für das Wohl seines Landes und darüber hinaus für die Größe Deutschlands, ein reger Sinn für die Forderungen einer neuen Zeit zeichnete ihn aus; leutselig und wohlwollend im Umgang, wußte er sich das Vertrauen seines Volkes zu gewinnen. Was unter seinem Kommando die braven Hessen besonders bei Gravelotte und in den Kämpfen an der Loire leisteten, wird unvergessen bleiben.
Nicht ganz fünfzehn Jahre war es dem Fürsten vergönnt, die Regierung zu führen. Sein Oheim, Großherzog Ludwig III., starb kinderlos am 13. September 1877, ihm folgte der am 12. September 1837 geborene Prinz auf dem Throne. Schon das nächste Jahr brachte ihm einen herben Verlust, den mit ihm das ganze Land schwer empfand – seine Gemahlin Alice, die edle Tochter der Königin Viktoria von England, wurde plötzlich von der Diphtherie hinweggerafft. Aus der Ehe mit dieser englischen Prinzessin entstammt der Erbgroßherzog Ernst Ludwig, der jetzt im jugendlichen Alter von 23 Jahren den väterlichen Thron bestiegen hat. Mit ihm und seinem Lande betrauert das deutsche Volk den Heimgang eines Fürsten, der es ernst nahm mit der Aufgabe, durch Verbesserungen auf allen Gebieten das Wohl seiner Unterthanen zu fördern.
Der Kilimandscharo. (Zu dem Bilde S. 200 und 201.) Unsere Leser wissen, daß der Kilimandscharo, jene gewaltige Gebirgsmasse in Deutsch-Ostafrika, aus zwei Bergen besteht – der höhere, der in die Kaiser Wilhelm-Spitze ausläuft, heißt der Kibo, der niedrigere der Mawensi. Der Kibo, dessen Kraternatur sich noch ganz deutlich erkennen läßt, ist mit Gletschern ausgefüllt. Er bietet in seiner majestätischen Einfachheit ein Bild von ergreifender Größe. Mit seiner funkelnden Schnee- und Eishaube ist er jetzt der Hauptberg, und der zerklüftete zernagte Mawensi, den unser Bild wiedergiebt, tritt gegen seinen Bruder zurück. Aber das war nicht immer so; einst überragte der Mawensi hoch den Kibo, ja er sah den jetzt so stolzen zu seinen Füßen entstehen und emporwachsen, denn der Mawensi ist der ältere Bruder.
Es gab einst eine Zeit, wo der Kibo und alle die kleinen Bergkegel rings um ihn noch nicht da waren und aus der Ebene nur ein Berg sich erhob, der Mawensi. Er war der ursprüngliche Vulkan. Er arbeitete ruhig und stetig; schreckend gewaltige Ausbrüche, durch welche ganze Berge in die Luft geblasen und ganze Länderstrecken in die geschmolzene Lavafluth getaucht werden, fanden hier nicht statt. Allmählich quoll und floß das flüssige Innere über die Mündung des Vulkans und erhöhte immer mehr und mehr seinen Rand, bis der aus Lavaschichten, Geröll und Tuffsteinmassen gebildete Schlund eine solche Höhe erreichte, daß die unterirdischen Kräfte zu schwach waren, das Gewicht der Lavasäule bis zu der Oeffnung zu heben. Von Zeit zu Zeit fand hier noch ein Ausbruch statt, bis der Vulkan gezwungen wurde, zu erlöschen oder sich eine andere Krateröffnung zu bilden.
Letzteres geschah westlich vom Mawensi, der, nachdem er seine Thätigkeit eingestellt hatte, nach und nach sein Haupt in Eis und Schnee hüllte. Der neue Krater, der heutige Kibo, wetteiferte im Verlauf der Zeit bald mit seinem Nachbar an Höhe, thürmte sich dann noch höher hinauf, zermalmte das eisgraue Haupt des Mawensi mit einem Regen von Felsblöcken und drohte ihn unter seinen vulkanischen Ausbrüchen zu begraben.
Inzwischen hatten auch andere Kräfte an dem Mawensi ihr Zerstörungswerk begonnen. Regen, Frost und Schnee arbeiteten an seinem Verderben, indem sie allmählich die lose Asche wegspülten, welche einst den Krater gebildet hatte, die fester gefügten Lavafelder unterwühlten und bergabwärts spülten, bis endlich der feste Kern als ein zerfressener, vom Wetter zerzauster Gipfel herausragte; nur eine leichte Einsenkung verräth die Linien des ursprünglichen Kraters. Die schöne Hohlkurve, welche so charakteristisch ist für große Vulkane, ist nur noch von Osten her zu erkennen. Das Schicksal des Mawensi ereilte auch bald nachher den Kibo. Eine Höhe wurde erreicht, welche allen Versuchen des Vulkans spottete, die Lava bis zur Oberfläche zu heben, und so löschte auch er aus wie jener. –
[226] Dr. Hans Meyer, der berühmte Ersteiger des Kilimandscharo, hat sich mit seinem Begleiter Purtscheller in den Oktobertagen des Jahres 1889 auch einer gründlichen Erforschung des Mawensi unterzogen. Die furchtbare Zerrissenheit des Mawensi ist dabei allenthalben festgestellt worden, und auch Meyer schließt in seinen „Ostafrikanischen Gletscherfahrten“ (Leipzig, Duncker und Humblot) aus dem ganzen Baue dieser alten Kraterruine, daß der Berg in seiner ursprünglichen Gestalt dem viel jüngeren, besser erhaltenen Kibo an Höhe mindestens gleichkam, wenn nicht ihn bedeutend übertroffen hat.
Die Landschaft des Kilimandscharo bietet selbst dem naturwissenschaftlich nicht geschulten Geiste einen bestrickenden Anblick. Hoch auf den Gipfeln lagern Gletscher und jungfräulicher Schnee, in den oberen Gebieten treten uns die bescheidenen Gewächse der gemäßigten Zone entgegen: die Heiden, Hundszungen, das Vergißmeinnicht, die Butterblumen, Waldreben, Anemonen, Veilchen, Geranien und die Farren; dann kommen wir, tiefer hinabsteigend, in das Gebiet, das den Vordergrund unserer Illustration bildet: Wälder von eigenartig geformten Baumfarren, Drachenbäumen und moosbedeckten Baum-Eriken, bis wir in die äquatoriale Zone gelangen mit ihren nach Myriaden zählenden Pflanzenformen, unter denen die Bananen und Palmen als Wahrzeichen hervortreten.
Von den Palmen zum ewigen Schnee schweift hier
der Blick in einer Sekunde! Und zu den Füßen des alten
Feuerberges wollte man jüngst auch werthvolle materielle
Schätze gefunden haben, nämlich weit ausgedehnte Salpeterlager.
Leider hat sich diese Kunde nicht bewahrheitet,
und so wird man sich mit dem Reichthum an landschaftlicher
Schönheit begnügen müssen, wie er dort am Kilimandscharo
dem Beschauer allenthalben entgegentritt. *
Das Mozartdenkmal in Wien. (Mit Abbildung.) Die Mozartgedenktage, welche uns das vergangene Jahr brachte, sind von den Wienern in jeder Beziehung würdig begangen worden. Daß aber diese
Gedenkfeierlichkeiten nicht, wie seit Jahren geplant war,
durch die Enthüllung des Mozartdenkmals gekrönt wurden,
das hatte seinen Grund in gewissen örtlichen Schwierigkeiten,
in jener leidigen Platzfrage, die gleich einer unheilvollen
Wolke in Sicht zu kommen pflegt, sobald die Wiener
das Gedächtniß eines Großen in Erz oder Stein verewigen wollen.
Das Ende der wechselvollen Vorschläge und Versuche war, daß man sich auf den erprobten Rath des verstorbenen Dombaumeisters Schmidt für die Stelle des alten Kärntnerthor-Theaters, hinter dem neuen Opernhaus, auf dem Albrechtsplatz entschied, und zwar sollte das Denkmal, um für ruhige Betrachter Raum zu lassen, nicht in der Mitte, sondern etwas zur Seite, gegenüber der Vorderseite einiger stattlichen Bürgerhäuser, errichtet werden. – Für diesen Platz wurde denn ein neuer Wettbewerb ausgeschrieben, bei welchem zunächst Bildhauer Hellmer als erster mit einem Entwurf siegte, der den eigenthümlichen Platzbedingungen am meisten gerecht wurde. Die Ausführung des Denkmals selbst wurde aber Viktor Tilgner, dessen Mozartfigur als die beste anerkannt wurde, übertragen. Und dieser Künstler ging nun bei der Ausführung dieses Auftrags dem doppelten Ziele nach, sein Mozartdenkmal aus der profanen räumlichen Umgebung würdig herauszuheben und den Wienern einen Mozart vorzustellen, der zugleich dem Bilde, welches sich jeder von ihm mit unbewußter Idealisierung macht, und den uns überlieferten wirklichen Bildnissen entspräche.
Um den ersteren Zweck zu erreichen, hat Tilgner das 7½ Meter hohe Denkmal – die Figur Mozarts selbst ist 2 Meter 90 hoch – auf einen Unterbau gestellt, zu dem vom Platze aus zwei Stufen emporführen und den im Rücken gegen den Bürgersteig und die Häuser eine Balustrade abschließt. Elliptisch wie der Unterbau erhebt sich das Denkmal selbst, unten breit ausladend, im eigentlichen Postament nach oben sich verjüngend. Die Architektur weicht durch wechselvolle Bewegung in wohlthuender Weise von der akademischen Schablone ab. Sie wird aus weißem Marmor ausgeführt, während aller Schmuck aus Bronze, theilweise vergoldeter Bronze bestehen wird, so daß der Eindruck lebendigster Heiterkeit, reichsten Glanzes, wie er dem Wiener Wesen so recht zusagt, nicht ausbleiben kann. Zu unterst am Sockel steht in goldenen Buchstaben der lateinische Vers: „Dignum laude virum musa vetat mori“, „den Ruhmwürdigen läßt die Muse nicht sterben“. Darüber lehnt in der Ecke eine Lyra, von der ein Goldband zu jener Inschrift herabfließt, während Lorbeerblätter unter ihr hervorschauen und ein üppiger Rosenstrauch aus ihr emporsprießt hinein in die Schrift des Namens: Wolfgang Amadeus Mozart. Dieser Inschrift entspricht auf der Rückseite des Postaments ein Relief, welches den kleinen Mozart vorstellt, wie er vor der Kaiserin Maria Theresia Klavier spielt.
Seiner ganzen reichen und liebenswürdigen Phantasie hat der Künstler
Lauf gelassen in der Behandlung der beiden Seiten. Kosende, allerlei
Musikinstrumente mit komischem Eifer spielende, lesende und scherzende
Putten sitzen, liegen und klettern hier durcheinander, getreue Sinnbilder der
heitern Muse des Tondichters, die uns ja, nach einem tiefen Worte, erst
so recht gezeigt hat, wie schön es auf Gottes Erde ist. Und nun Mozart
selbst, wie poetisch und wie getreu zugleich ist er erfaßt und dargestellt,
in einem Augenblick, da er, gleichsam der Erde entrückt, dem Klange
himmlischer Harmonien zu lauschen und sie festzuhalten scheint, um mit
ihrer Wiedergabe die Welt zu beglücken! Das Haupt, leicht zur Linken und
nach rückwärts geneigt, weist wohl die allen bekannten Züge, aber in einer
fast überirdischen Verklärung. Und etwas wie ein höheres Leben fließt
durch die ganze, in die zierliche Tracht der Zeit gekleidete Gestalt. Da ist
alles von einer süßen, überzeugenden Beredsamkeit, insbesondere der, wir
möchten sagen, in melodischem Flusse bewegte rechte Arm, die Hand,
in deren ausgestreckten feinen Fingern die innere Bewegung sich malt, das
etwas erhobene rechte Bein, das sich von der Erdenschwere loszulösen
scheint, die Linke, die in seliger Vergessenheit in den Blättern auf
dem gefällig ausgemeißelten Notenpulte spielt. In anmuthigen Wellen
senkt sich von der linken Schulter über den linken Arm der Mantel im Rücken zum rechten Fuße herab, während Frack, Kniehose und Strümpfe eng an den Leib sich schmiegen und jede Biegung und Bewegung sichtbar werden lassen. Voll edlen Schwunges, zugleich hoheitsvoll und heiter, wird das Mozartdenkmal Viktor Tilgners eine hohe Zierde der Kaiserstadt, eine würdige Dankesgabe der Nachwelt für den großen Tondichter sein. W. L.
Ein Bahnbrecher der Pädagogik. Erst die geistige
Bewegung der Reformation zusammen mit den Antrieben,
welche eine freudige Versenkung in die innere Welt des
Alterthums seit dem 15. Jahrhundert brachte, half einen
Gedanken durchsetzen, der schon dem weitblickenden Geiste
Karls des Großen vorgeschwebt hatte, den aber das
Mittelalter nicht zu verwirklichen vermochte, den Gedanken
einer allgemeinen Volksbildung. Unter den Männern, die
sich um das Gedeihen dieses Werkes verdient gemacht
haben, steht Amos Comenius in erster Linie, der dreihundertjährige Gedenktag seiner Geburt am 29. März dieses Jahres – Comenius wurde in dem mährischen Städtchen Nivnitz geboren – lenkt
von neuem die Aufmerksamkeit auf seine Bedeutung, nachdem man schon zur Feier seines
zweihundertjährigen Todestages unter dem Namen
einer Comenius-Stiftung in Leipzig eine pädagogische Centralbibliothek geschaffen und ihm 1874 an dem Orte seiner ersten Wirksamkeit, zu Prerau in Mähren, ein Denkmal errichtet hat.
Das Leben des Comenius war ein wechselvolles; die Noth des Dreißigjährigen Krieges vor allem mußte ihn, der nach Beendigung seiner theologischen Studien in Heidelberg Lehrer und Prediger der Brüdergemeinde an verschiedenen Orten Mährens geworden war, mit besonderer Schwere treffen: 1624 wurde er aus seinem Beruf und Hause, vier Jahre später aus Mähren überhaupt vertrieben. Lissa in Polen bot ihm eine neue Heimath und in der Leitung des dortigen Gymnasiums eine ausgedehnte Wirksamkeit. Reisen nach England und Schweden folgten. Man war dort auf seine Werke aufmerksam geworden und beschäftigte sich mit dem Plane, die Schule nach seinen Ideen zu reformieren.
Was diesen Ideen solches Aufsehen verschaffte, das war die Forderung, daß sich alle Erziehung und aller Unterricht anzuschließen habe an die natürliche Entwicklung des Geistes, daß alle Belehrung sich stützen müsse auf die Anschauung lebendiger Wirklichkeit. Demgemäß stellte Comenius den Unterricht in der zu gunsten des Lateinischen bisher vernachlässigten Muttersprache voran und verlangte, daß man den Sprachunterricht nicht auf die Schriften der Gelehrten, sondern auf Beispiele aus der wirklichen Welt gründe. Darin liegt das Moderne seiner Gedanken. Es war ihm vergönnt, diesen nicht nur durch seine Schriften Geltung zu verschaffen, sondern sie auch ins Leben umzusetzen. Im Jahre 1650, nachdem er inzwischen nach Lissa zurückgekehrt war, wurde er nach Siebenbürgen berufen, um dort ganz seinen Plänen gemäß eine höhere Lehranstalt einzurichten und zu leiten. Allein diese Zeit ungestörten freudigen Wirkens sollte nicht lange dauern; der Tod des Fürsten Rakoczy, der ihn herbeigezogen hatte, setzte seiner Thätigkeit ein frühes Ziel. Kriegsunruhen vertrieben ihn auch aus Lissa, wohin er sich wieder wandte, und so war der 64jährige Gelehrte gezwungen, bei einem reichen Gönner in Amsterdam Zuflucht zu suchen. Hier starb er im November 1670. Unter seinen Schriften ist besonders hervorzuheben sein Orbis pictus, der erste seiner Art, welcher zahlreiche Nachahmungen hervorrief; sein Gedanke dabei war, in dieser „gemalten Welt“ die Wortbenennungen der Dinge durch die entsprechenden Abbildungen sinnfällig zu machen und so gemäß seiner pädagogischen Theorie Begriff und Anschauung zu verbinden. In der geplanten Gesamtausgabe seiner Werke wird gerade dieses Buch von besonderem Interesse sein.
[227] Eisbootfahrt. (Zu dem Bilde S. 197.) Der Winter ist ein unbequemer Gast für die Bewohner der Inseln an der Westküste von Schleswig-Holstein; mit starren Eismassen bedeckt er die „Watten“, jene Untiefen zwischen den Inseln und der Küste, und hemmt so den Verkehr mit dem Festland. Tagelang kommt wohl weder Brief noch Zeitung herüber. Wenn es aber irgend geht, so wird trotz aller Hindernisse der Versuch gemacht, die Postsendungen von der Küste herüberzubringen und die eigenen fortzubefördern. Unser Bild auf S. 197 kann veranschaulichen, wie das geschieht; es stellt eine Scene aus dem Posttransport zwischen der Insel Nordstrand und der Stadt Husum dar. Das Eisboot mit dem hinten aufgeschnallten Postsack hat Nordstrand verlassen und sucht nun, über die Eisfläche hingezogen, seinen Weg in der Richtung gegen das Dorf Schobüll, das nördlich von Husum auf einer ins Meer vorspringenden Landzunge gelegen ist. Von dort her sollen, wie zwischen Husum und Nordstrand telegraphisch vereinbart worden ist, die Poststücke von Husum dem Boote eine Strecke weit über das Eis entgegengebracht werden, und der Führer des Bootes sieht nun mit seinem Fernrohr nach den Trägern aus, die von Schobüll her sich zeigen müssen. Immer weiter dringt das Boot vor, das auf drei eisenbeschlagenen, glatten, nach vorn und hinten abgerundeten Kielen wie ein Schlitten vorwärtsgleitet und mit seinem hochstehenden Schnabel leicht auf übereinandergethürmte Eisschollen hinaufgezogen werden kann. Endlich erreichen die vier Männer den „Wattstrom“, die vom Eis nicht bedeckte Fläche; sie lassen das Fahrzeug ins Wasser hinab, besteigen es und schieben es nun mit langen Stangen vorwärts, indem sie zugleich heranschwimmende Eisblöcke mit den Eishaken fernhalten. Drüben am andern Ufer des Eisfelds begrüßen sie mit einem freundlichen „Gode Dag“ die Husumer Postträger, die sich bereits dort eingefunden haben und durch Zeichen aus dem Nebelhorn des Bootsführers schon von weitem über die einzuschlagende Richtung verständigt worden sind. Man tauscht nun einige Festlands- und Inselneuigkeiten aus, die Postbeutel werden gewechselt und das Boot kehrt zur Insel zurück.
Nicht immer geht diese Postbeförderung glatt vor sich; das Eisboot kann im Wattstrom durch Eisschollen bedroht oder durch eine starke Strömung des Wassers von seiner Richtung abgedrängt werden, oder dichter Nebel macht das gegenseitige Zusammentreffen unmöglich, obgleich man sich mit Hilfe des Kompasses und durch fortgesetzte Signale mit dem Nebelhorn zusammenzufinden sucht. In solchen Fällen heißt es, das beschwerliche Werk am andern Tag von neuem in Angriff nehmen, und sie thun es unverdrossen, die wackeren Stephansjünger der Nordseeinseln. M. V.
Schneeschuhlaufen im Heere. (Zu dem Bilde S. 213.) Man läßt in unserer Armee nichts unversucht, was dazu dienen kann, deren Schlagfertigkeit zu erhöhen. Namentlich ist man darauf aus, die Beweglichkeit der Truppen so viel wie möglich zu steigern. Zu diesem Zwecke ist schon länger das Velociped in Aufnahme gekommen, und neuerdings hat man nun Versuche mit dem Schneeschuhlaufen angestellt. In Berlin giebt es einen Verein für das Schneeschuhlaufen, an dessen Uebungen vielfach auch Offiziere theilgenommen haben. Jetzt hat man diese Uebungen auf Unteroffiziere ausgedehnt und den Harz zum Uebungsfeld gewählt, da die riesigen Schneemassen dort den Schneeschuh erst voll ausnutzen lassen.
Die Schuhe bestehen aus zwei Meter langen, schmalen Brettern, die an den Enden aufgebogen sind und auf der oberen Seite zum Einstecken der Füße Riemen oder einen Halbschuh von Leder tragen. Zwei Stäbe mit eisernen Spitzen vervollständigen die Ausrüstung des Läufers. Unser Bild zeigt eine Abtheilung, die eben im Laufe einen Bergabhang herabkommt – eine Situation, die offenbar von den noch weniger Geübten durchaus nicht als der Genuß angesehen wird, welchen die Virtuosen dieser Kunst gerade dem Bergabwärtsfahren nachrühmen.
Ueber das praktische Ergebniß dieser Wintermanöver ist noch nichts Näheres bekannt. Bewährt sich die Sache, so dürfte in einem etwaigen Winterfeldzug für Patrouillen, vorgeschobene Posten und fliegende Corps auf diese Weise eine erheblich gesteigerte Schnelligkeit der Bewegungen gewonnen werden.
Afrikanischer Postverkehr. (Mit Abbildung.) Ein wichtiges Glied in der Kette von Maßregeln, welche bestimmt sind, die deutsch-ostafrikanische Kolonie einer gedeihlichen Entwicklung entgegenzuführen, bildet die Einrichtung einer Postverbindung zwischen der Küste des Indischen Oceans und den Gestaden des Viktoria Njanza. Mit der Ausführung dieser Postverbindung ist von seiten des kaiserlich deutschen Gouvernements die Firma Schülke und Mayr in Hamburg betraut worden. Monatlich einmal, unmittelbar im Anschluß an das Eintreffen der deutschen Postdampfer, marschiert eine Expedition, bestehend aus fünf Trägern und einem Führer, von Dar es Salaam ab. Die Leute tragen auf der Brust große Messingschilder mit der Inschrift „Kaiserliche Gouvernementspost“, sind mit Mauserkarabinern Modell 71 bewaffnet und ihre Last an Postsachen beläuft sich bis zu je zehn Kilo. Von Dar es Salaam wird zunächst Mpwapwa aufgesucht und dort die Post für die Station und die englische und französische Mission abgeliefert; dann wird der Marsch über Tabora nach Bukoba fortgesetzt, und von da kann mit den Briefen und Berichten aus dem Innern sofort der Rückmarsch angetreten werden. Die Expedition marschiert täglich 11 Stunden und bewältigt die Strecke von der Küste nach Bukoba und zurück in der unglaublich kurzen Zeit von 100 Tagen. Ein von Berlin abgesandter Brief wird daher künftig nur 71 Tage bedürfen, um nach der äußersten deutschen Station am Viktoria Njanza zu gelangen. Die Antwort kann schon nach 4½ Monaten in Berlin eintreffen. – Unser Bild stellt die erste dieser afrikanischen Postexpeditionen dar, welche am 6. Januar 1892 Dar es Salaam verlassen hat. Nach Nachrichten, welche von ihr an die Firma Schülke und Mayr gelangt sind, verschafften ihr die blanken Messingschilder überall den nöthigen Respekt, und der Führer hat nur einen Wunsch in Bezug auf Vervollkommnung seiner Ausrüstung laut werden lassen: er verspricht sich noch eine wesentliche Erhöhung seines Eindrucks von einem – Cylinderhut.
Die Priesterin von Delphi. (Zu dem Bilde S. 221.) In einer engen, tiefen Schlucht südlich vom Parnaß, unterhalb zweier steil aufsteigender Felswände desselben, lag Delphi mit seinem berühmten Orakel. Hier hatte nach dem Mythus der Gott Apollo, nachdem er den Drachen Python überwunden, Männern aus Kreta, die er in Gestalt eines Delphins nach Griechenland geleitet, geboten, einen Tempel zu gründen. Schon Homer kannte diesen Tempel in „Pytho“, der Fragestätte. In alter Zeit sprach der Gott nur einmal im Jahre, später an jedem siebenten Monatstag, auch öfter, wenn die Opfer günstig waren. Wer ihn befragen wollte, der hatte sich mehrere Tage vorzubereiten, sich zu reinigen und mit dem Wasser des kassotischen Quells zu besprengen. Dann brachte er, mit Lorbeer bekränzt, in der Zelle des Tempels ein Opferthier dar. Fanden die Priester das Opferthier fehlerlos und die Zeichen günstig, so durfte der Fragende in die Ueberbauung des Erdschlundes, eine durch große Steinblöcke gebildete Kammer, hinabsteigen. Hier sehen wir auf dem Bilde von Henri Motte die Priesterin auf dem hohen Dreifuß sitzen, über dem Erdschlund, „dem Munde der Erde“, wie die Griechen sagten. Die Pythia war in früheren Zeiten eine Jungfrau aus bürgerlichem Stande, später wählte man eine ältere Frau. Durch Baden und dreitägiges Fasten mußte sie sich vorbereiten, und nachdem sie Wasser aus dem kassotischen Quell getrunken, nahm sie Lorbeerblätter in den Mund und bestieg, in ein langes Gewand gekleidet, den Dreifuß, dessen Unterbau der Spruch „Erkenne dich selbst“ zierte. Allmählich versetzten die aufsteigenden Dämpfe sie in den göttlichen Wahnsinn, in welchem sie [228] ihr Prophetenwort verkündete. Schreiend, unter krampfhaften Zuckungen stieß sie einige deutliche Worte oder unverständliche Töne aus – der Priester, welcher den Fragenden geleitet hatte, bildete aus ihnen den Orakelspruch, den er jenen verkündigte. Henri Motte hat phantasievoll den Erdspalt bevölkert mit verhüllten Gestalten, welche das Orakel des Gottes in tiefer Ehrfurcht vernehmen, und mit Schlangen, die an den Füßen des Dreifußes emporzüngeln – zur Erinnerung an den alten Drachen, den hier der Gott erlegte.
Delphi war längere Zeit der kirchliche Mittelpunkt Griechenlands.
Die Orakelsprüche waren weit seltener Verkündigungen der Zukunft als politische Weisungen und Rathschläge, welche den Abgesandten der Herrscher und der Völker ertheilt wurden. Diese Rathschläge waren meistens klug und praktisch, sowohl was die innere Verwaltung und Regierung der Staaten als auch besonders die Gründung von Kolonien und Handelsplätzen betrifft. Auf die ganze Entwicklung von Griechenland hatten sie den größten Einfluß. Die Prophetin auf dem geheiligten Dreifuß war nur eine Statistin – die Hauptrolle spielten diejenigen, die ihre Worte deuteten und sie in der Form von Orakelsprüchen verkündeten. Das waren kluge Männer, welche durch geheime Verbindungen über die inneren und äußeren Verhältnisse der einzelnen Staaten aufs genaueste unterrichtet waren und mit überlegenem Geiste ihre Angelegenheiten leiteten. †
Vogelkasten. Es giebt viele Vögel, die ihre Nester nicht zwischen den Baumzweigen bauen, sondern andre Schlupfwinkel aufsuchen, die ihnen die Natur darbietet, Höhlungen und Löcher in morsch werdenden Bäumen. Diese Vögel, welche zu den nützlichsten und liebenswürdigsten Geschöpfen zählen, haben jetzt unter einer Art Wohnungsnoth zu leiden.
Unsre Kultur hat mit den alten Bäumen, die früher auf Feldrändern, an Gräben etc. standen, ziemlich gründlich aufgeräumt; in neu angelegten Gärten giebt es gar keine oder sehr wenige morsche Bäume. Die Vögel meiden aber die Plätze, wo ihnen Nistgelegenheiten fehlen. Man hat darum Vogelkasten nach dem Muster der bekannten Starkasten als Ersatz für die natürlichen Vogelwohnungen empfohlen. Ornithologische Vereine lassen hier und dort solche Kasten herstellen. In letzter Zeit hat die bekannte Blumenfirma Schmidt in Erfurt sehr schön ausgestattete Vogelkasten in den Handel gebracht. Dieselben sind zusammenlegbar, so daß sie im Herbste, wenn die Vögel nach dem Süden abgezogen sind, auseinandergeklappt und gründlich gereinigt werden können. Mancher Gartenbesitzer trägt sich wohl mit der Absicht, einen Nistkasten zu bauen, kommt aber nicht dazu. Nun ist die Zeit da, in welcher die gefiederten Sänger wieder bei uns erscheinen. Wer für sie in seinem Garten Wohnungen aufhängt, dem werden sie im Frühling und Sommer durch ihren Gesang und ihr munteres Treiben pünktlich den Miethzins entrichten! *
Räthsel.
Mit u, da liefert’s der General
Mit r Fortuna im Lottosaal.
Eduard Schulte.
Litterarisches Ausschnitträthsel.
Im Bücherschrank – an jenem Ort,
Wo Meister Goethes Werke stehen,
Da kannst du stets mein Räthselwort
Als ein bekanntes Schauspiel sehen.
Nimm mir den Fuß und köpfe mich; –
Nun suche mich bei Schillers Werken,
Dort wirst alsdann du sicherlich
Als Schauspiel gleichfalls mich bemerken.
Buchstabenräthsel.
Als Stadt in Schweden kennst du mich,
Die mit der Erde Schätzen handelt,
Ein Zeichen nimm, dann werde ich
Sogleich in eine Gott verwandelt.
Scherzräthsel.
Mit o, da ruft es groß und klein,
Mit u ruft’s kleine Schar allein.
E. S.
Die mit Buchstaben bezeichneten Quadrate sind in dem gegebenen Raume so aneinander zu reihen, daß 1. die Buchstaben abwärts gelesen den Namen eines deutschen Dichters, 2. diese Quadrate den Anfangsbuchstaben desselen als Mosaikbild geben.
Homonym.
Der ist zu seh’n beim Militär,
Die gern manch’ alte Jungfer wär’.
Oscar Leede.
Versetzungsräthsel.
In der guten alten Zeit,
Wo die Dampfkraft unbekannt,
Bracht’ ich oft in Schnelligkeit
Reisende von Land zu Land.
Aendre meiner Zeichen Stand,
Bis ein neues Wort sich beut,
Welches, in des Feindes Hand,
Mit dem Tode dich bedräut.
Umstellungsräthsel.
Entstamm’ ich zwar auch fremder Zone,
Kennt mich ein jeder doch zumeist,
Und oftmals hast du zweifelsohne
Mich, lieber Leser, schon verspeist.
Hast meine Zeichen ohne Zagen
Du nun zu neuem Wort gereiht,
Weißt du, daß listig und verschlagen
Ich einst gestiftet Zank und Streit.
Wir können unsern Lesern die erfreuliche Mittheilung machen, daß der in Aussicht gestellte Roman
bereits in dem nächsten Halbheft der „Gartenlaube“ seinen Anfang nehmen wird.
Seit seinem „Unfried“, welcher vor fünf Jahren in der „Gartenlaube“ erschien, hat Ganghofer keinen Roman mehr geschaffen. Um so größer ist unsere Genugthuung, den Dichter jetzt auf seinem alten Felde wieder begrüßen zu dürfen. Im „Klosterjäger“, einer historischen Erzählung aus dem vierzehnten Jahrhundert, führt uns der Dichter wieder in sein Lieblingsgebiet, in die schönen Berglande von Berchtesgaden, an die Gestade des Königssees. Mit der Sicherheit des bewährten Meisters entrollt er vor uns eine ergreifende Herzensgeschichte, in welche Volks- und Naturschilderungen von köstlicher Frische eingewoben sind.