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Die Gartenlaube (1892)/Heft 6

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1892
Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[165]

Halbheft 6.   1892.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahrgang 1892. Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf. alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.



Christoph Kolumbus.
Gemälde im Marinemuseum zu Madrid. Mit Randzeichnung von Peter Schnorr.

[166]
Weltflüchtig.
Roman von Rudolf Elcho.
(5. Fortsetzung.)


12.

Lange behauptete der Winter seine eisige Herrschaft. Als Frühlingsstürme endlich die Eisdecke zertrümmert und die Schollen weit hinaus ins wogende Meer getrieben hatten, mußte Ewald wieder auf die See; aber Bettina fühlte sich in seiner Abwesenheit nicht mehr einsam. Der Garten prangte bald im Blüthenschnee der jungen Obstbäume, Schneeglöckchen und Veilchen dufteten von den Saumbeeten und Rainen. Nun beim Anblick des sonnigen Himmels und des blauen Meeres wurde ihr das Herz wieder weit, und aus dem leisen Rauschen der Brandung vernahm sie helle Stimmen des Glücks ...

Als Ewald zu Anfang des Juli von einer seiner Lotsenfahrten zurückkehrte, hielt man ihm ein kleines Wesen als sein Kind entgegen, Bettina aber lag totenbleich und bewußtlos in den Kissen. Bald stellte sich ein heftiges Fieber bei ihr ein, das von Stunde zu Stunde einen gefährlicheren Charakter annahm. Trotz der Abneigung seiner Mutter, einen Arzt zu Rathe zu ziehen, ließ sich Ewald nun nicht länger halten und segelte über die Bucht nach der Kreisstadt, um Hilfe zu holen. Als er endlich mit dem Doktor, einem alten erfahrenen Praktikus, zurückkehrte, da fand dieser fast eine Sterbende.

Mehrere Wochen rang Bettina mit dem Tode, bevor es dem wackeren Arzte gelang, die Gefahr zu beseitigen. In dieser schweren Zeit hatte sie nur selten und nur während einiger Minuten die Besinnung erlangt. Nachdem die furchtbare Krisis vorüber war, galt ihre erste Frage an den Doktor dem Befinden ihres Kindes, und sie erfuhr, daß auch dieses in schwerer Lebensgefahr geschwebt habe. Zugleich dämmerte eine unklare Erinnerung, ein verschwommenes Bild in ihr auf. Einmal mußte sich ihr Bewußtsein für ein paar Augenblicke aus den Fieberschauern emporgerungen haben. Sie erinnerte sich, daß ein altmodisch gekleideter Mann an einem Tischchen neben ihrem Bette gesessen und beim Lichte der Lampe einen Papierbogen durchgesehen hatte. Neben dem Fremden standen die Monks. Ewald verlangte eine Unterschrift von ihr, sie wußte nicht mehr, zu welchem Zwecke, aber sie wußte noch, daß sie große Anstrengungen gemacht hatte, um den Kopf zu erheben. Ewald stützte sie mit dem linken Arme und leitete ihr die Hand beim Schreiben. Als sie wieder in die Kissen zurückgesunken war, hatten die alten Monks ein „Gott sei Dank!“ und Ewald einen Seufzer der Erleichterung ausgestoßen. Zu welchem Ende hatte ihre Umgebung so große Anstrengungen gemacht, um jene Unterschrift zu erhalten? Sie fragte den Arzt, mit dem sie in diesem Augenblick allein war, ob er ihr den Schlüssel zu dem Vorgang geben könne, der aber meinte, es sei fraglich, ob sie das erlebt oder in ihren wilden Fieberphantasien nur geträumt habe, und sie solle sich jetzt nicht mit solchen Gedanken beschweren.

Es war am Abend eines heißen Augusttages, als der Arzt die Genesende aus der dumpfen Krankenstube auf die Veranda tragen ließ. Bettina hatte ihre weißen magern Hände über die Stirn ihres Kindes gleiten lassen und es dann mit der Amme ins Haus gesandt. Eine Stunde später, mit Sonnenuntergang, kam Ewald im Boote dahergesegelt. Er war mit den Fischern auf dem Flunderfang gewesen und schien erfreut, bei der Rückkehr Bettina wieder im Freien zu sehen. Lachend küßte er sie auf die Stirn und sagte. „Du bist noch höllisch blaß, lieber Schatz, aber an der Luft werden sich die Backen bald wieder färben.“

Er ließ sich das Abendbrot auf die Veranda bringen, und da er einen guten Fang gethan hatte, so leerte er ein Glas Wein auf Bettinas Wohl. Während des Essens erzählte er im breiten Tone und langsamen Tempo der Küstenbewohner von den Sorgen, Mühen und Unkosten, welche die Krankheit gebracht habe; aber das sei nun verwunden, versicherte er, sobald seine Betty wieder auf dem Posten wäre, müsse alles ins gute gewohnte Geleise kommen.

Die Genesende hatte das Gefühl, als sei sie aus Todesnacht gerettet worden, um mit Ewald und dem Kinde ein neues Leben zu beginnen. Doch die frische Luft, die heitere Sommerpracht des Abends, der Duft, welcher dem Garten entströmte – das alles wirkte so stark auf ihre Sinne, daß sie sich in die Kissen zurücklehnen mußte, weil ein Schwindel sie überkam. Eine Weile saß sie mit geschlossenen Augen da, und plötzlich glitt wie ein flackerndes Licht das Bild jener nächtlichen Scene an ihr vorüber, von der sie nicht wußte, ob sie erträumt oder erlebt sei.

„Du hast mich während meiner Krankheit ein Schriftstück unterzeichnen lassen?“ sagte Bettina in halb zweifelndem Tone. „War die Angelegenheit so dringend? Was enthielt das Dokument?“

Ewald gerieth in Verlegenheit, und bevor er die Frage beantwortete, schenkte er sich noch ein Glas Wein ein. „Ja, siehst Du, Schatz, es stand höllisch schlimm um Dich an dem Tage ... Da meinte Mudding denn ... und Vadding auch ... man müsse sich doch ’mal bei einem Advokaten erkundigen, wie es um die Erbschaft stehe. Das that ich denn auch, und der Advokat erklärte mir, nach dem Erbrecht, das hier zu Lande gilt, gehe Dein Vermögen im Fall Deines Ablebens auf das Kind und auf mich uber. Es sei aber auch möglich, daß Du bereits ein Testament gemacht und bei Freunden oder bei Deinem Bankier hinterlegt habest und daß ein Vermächtniß zu gunsten Deiner Schwester oder einer Freundin darin enthalten sei. In dem Falle lege sich das Gericht in die Sache und ich könnte viel Schererei haben, wenn nicht eine neue letztwillige Verfügung von Deiner Seite die erste aufhebe. Auch für den Fall, daß Du leben bliebest – so meinte der Advokat – sei eine Vermögensregelung immer gut. Na, so hat er denn ein Dokument aufgesetzt – der Advokat, und wir ließen Dich unterschreiben, das Kind – Du verstehst doch – das Kind durfte nicht benachteiligt werden.“

Er verstummte unter Bettinas forschenden Blicken; es war ihm, als schaue sie auf den Grund seiner Seele. In ihr aber regte sich das Gefühl der Bitterkeit bei der Erkenntniß, daß Ewald in der Stunde, da er sein Weib zu verlieren glaubte, habgierig die Hände nach ihrem Erbe ausgestreckt hatte. Eine Weile saß sie wie betäubt da und starrte mit brennenden Augen in die Purpurgluthen des Sonnenballs, dann erwiderte sie seufzend: „Ja, ich verstehe alles. Wenn ich indessen meiner Schwester oder einer Freundin einen Theil meines Nachlasses hätte zuwenden wollen, so wäre es Deine Pflicht gewesen, den Willen einer Verstorbenen zu ehren. Allein ich hatte diese Absicht nicht, und das Geld, das Du dem Advokaten zahltest, ist weggeworfen.“

Ewald rückte unruhig auf dem Sitze hin und her und entfernte sich dann unter dem Vorwande, daß er nach den Netzen sehen müsse. Bettina sah ihm nach und murmelte: „Mir ahnt – er und ich, wir werden immer in verschiedenen Welten leben.“

*      *      *

Der Spätsommer wurde so mild, das Bettina den ganzen Tag mit dem Kinde im Garten sein konnte. In der würzigen Luft erholte sich die junge Mutter rasch von der schweren Krankheit, und auch das kleine Mädchen an ihrer Seite gedieh. Mit der Genesung aber vollzog sich leise eine Wandlung bei Bettina, welche ihren Gatten mehr beunruhigte als erfreute. Der Klang ihrer Stimme war tiefer, ihre Sprache ruhiger und bestimmter als zuvor; eine edle Harmonie sprach aus ihren Bewegungen. Sie begegnete dem Gatten mit Freundlichkeit, jedoch auch mit jener Zurückhaltung, die jeden innigeren Verkehr ausschließt. Nie wieder strahlte sie Ewald mit ihren blauen Augen an, wie sie das als Braut gethan hatte. Dem Kinde aber wandte sie alle Zärtlichkeit ihres warmfühlenden Herzens zu. Wenn sie die Kleine durch den Garten oder die schattige Wolfsschlucht trug, lag der milde Schein der Freude auf ihrem Gesicht, dann sang sie mit weicher melodischer Stimme Kinderlieder, dann konnte sie lachen, daß man glaubte, in ihr wohne ein volles Glück.

Ewald beobachtete sie einst heimlich, als sie sich mit dem Kinde allein glaubte, und vor ihrer Mutterseligkeit erwachte in ihm das Gefühl der Eifersucht. Hinter dem Busche hervortretend, der ihn verdeckt hatte, schritt er auf das Kind zu, betrachtete es eine Weile und sagte dann kopfschüttelnd: „Wie kann man sich nur um eines solch kleinen zappelnden Geschöpfes willen so närrisch anstellen! Das ist doch noch kein Mensch!“

Bettina nahm das Mädchen in ihre Arme und entgegnete: „Das begreifst Du nicht? Das ist mir ein neuer Beweis, daß [167] wir verschieden geartet sind.“ Damit schritt sie an ihm vorüber, und ihre Haltung verstärkte noch den Eindruck ihrer Worte. Von ihrer Schönheit angezogen, fühlte Ewald das heiße Verlangen, sie in seine Arme zu schließen, allein es war etwas in ihrem Blicke, das ihn zurückschreckte. Er konnte sich keine Rechenschaft darüber geben, was es sei, aber eher hätte er sich gegen die stolze Gräfin auf Schloß Lindström eine Vertraulichkeit erlauben mögen als gegen die eigene Frau. Er blickte ihr nach, bis sie, begleitet von dem hinkenden Pitt, im Hause verschwand, und sagte sich dann seufzend, daß seine Betty „höllisch“ vornehm geworden sei.

Bettina selbst wollte sich nicht klar werden über den Umschlag ihrer Gefühle – sie fürchtete sich vor der vollen Erkenntniß. Ihr Herz klammerte sich mit jeder Faser an das Kind, und sie war glücklich, wenn sie mit ihm allein sein konnte. Im vorigen Jahre hatte sie sich einsam und elend gefühlt, als Ewald zur Zeit der Herbststürme längere Lotsenfahrten unternehmen mußte, jetzt sah sie ihn ruhig scheiden. Sie fürchtete sich nicht mehr, wenn der Wind um die Klause heulte – war doch das Kind bei ihr, zu dessen Schutz sie sich berufen fühlte. Und für Hilflose einzutreten, dazu fehlte ihr nie der Muth.

Ihre Unerschrockenheit sollte in einer Novembernacht auf die Probe gestellt werden, in der Ewald die Wache auf dem „Utkiek“ hatte. Bettina war lange aufgeblieben, weil das Kind sich unruhig gezeigt hatte. Jetzt saß sie gegen Mitternacht an seinem Bettchen und las. Plötzlich richtete sich Pitt, der zu ihren Füßen lag, auf, sprang mit allen Zeichen der Aufregung zum Fenster hin und stieß ein wüthendes Gebell aus.

Bettina erhob sich und lauschte, ob draußen irgend ein Geräusch zu dem auffallenden Benehmen des Hundes Anlaß gebe. Und trotz des sausenden Windes vernahm sie dumpfe Schläge, die im Garten geführt wurden. Es zuckte ihr der Gedanke durch den Kopf, daß irgend ein Frevel begangen werde; sie dachte zunächst an Einbrecher, welche Scheune oder Vorrathskammer ausplündern wollten. Rasch entschlossen sprang sie in das Schlafzimmer, bemächtigte sich mit einem Griffe der über Ewalds Bette hängenden doppelläufigen Flinte, die stets mit Schrot geladen war. Ohne Zagen trat sie auf die Veranda des Hauses. Draußen war es nicht ganz finster, ihr scharfes Auge konnte zwei dunkle Gestalten unterscheiden, die eben dabei waren, die jungen Bäumchen ihres Gartens mit der Axt zu fällen. Sie vernahm das Knacken eines niederbrechenden Stammes, und helle Entrüstung flammte in ihrem Innern auf. Sie machte das Gewehr zum Schuß bereit und befahl den Männern, ihre Aexte niederzuwerfen, allein ihr Ruf mußte vom Winde verweht worden sein, denn die Eindringlinge setzten ihr Zerstörungswerk ruhig fort. Nun sprang Bettina furchtlos in den Garten hinab und schrie so laut, daß ihre Stimme den Wind übertönte: „Noch einen Schlag – und ich schieße!“

Im nächsten Augenblick sah sie etwas Schimmerndes durch die Luft und an ihrem Kopfe vorbeifliegen. Sie begriff, daß einer der Strolche seine Axt nach ihr geschleudert habe, und nun drückte sie los. Zwei Schüsse hallten durch die Nacht, dann folgte ein Aufschrei und die beiden Gestalten verschwanden im Dunkel.

Die junge Frau schritt nach einer Weile vorsichtig durch den Garten und sah, daß drei Obstbäumchen gekttickt an der Erde lagen und daß die Frevler durch eine Lücke im Zaune entwichen waren.

Als Ewald früh am Morgen heimkehrte, meldete ihm Bettina das Erlebniß. Beide hielten im Garten Umschau und fanden etwa vierzig Schritte von dem Standort der Thäter eine Axt an der Erde liegen, auf deren Stiel die Buchstaben K. B. eingekerbt waren.

„Karl Bräuning“, rief Ewald beim Anblick der Axt in grimmigem Jubel aus. „Na warte, Bürschchen, das soll Dir eingetränkt werden!“

Er wandte sich sofort behufs der einzuleitenden Untersuchung an den Kommandanten, der im Orte die Stelle der Behörde vertrat. Dieser verfolgte in dem lehmigen Boden die frischen Fußspuren und sah, daß sie zu Bräunings Hof hinüberführten. Mit der Axt in der Hand betrat er in Begleitung Monks das Haus Bräunings und verlangte dessen Söhne zu sprechen. Der Alte schob seine Mütze aufs linke Ohr und antwortete, seine Jungen seien über Land gegangen, um ein Kalb zu kaufen. Unterdessen aber hatte Ewald auf der Diele eine Blutspur bemerkt und machte jetzt den Kommandanten darauf aufmerksam. Nun kehrte sich dieser nicht weiter an die verwirrten Ausflüchte des alten Bauern, sondern folgte der Spur und kam zu einer Schlafkammer. Die Thüre derselben wurde von innen zugehalten, allein Ewald überwand das Hinderniß, und als er eindrang, versuchte der jüngere der beiden Söhne Bräunings durchs Fenster zu entfliehen, was ihm jedoch nicht gelang; der ältere lag im Bette und litt augenscheinlich am Wundfieber. Die Uebelthäter waren somit gefunden.

Der alte Bräuning, welcher gleichfalls in die Schlafstube getreten war, sah ein, daß weiteres Leugnen die Lage seiner Söhne nur verschlimmern könne, und verlegte sich aufs Bitten. Nach langen Verhandlungen kam ein Ausgleich zustande. Der Bauer verpflichtete sich, funfhundert Mark Entschädigung zu zahlen, und gelobte, fortan Frieden zu halten.

Die That der beiden Bräunings erregte in Massow so großen Unwillen, daß der Verwundete, sobald er wieder zu gehen vermochte, den Ort verließ und in der nächsten Hafenstadt Beschäftigung suchte. Bettinas entschlossenes Vorgehen aber imponierte den Dorfbewohnern, und man begegnete ihr fortan mit mehr Respekt.

Um die Weihnachtszeit war starker Frost eingetreten, und die mit Eis bedeckte Bucht breitete sich wie ein funkelnder Silberschild vor der Klause aus. Die Freude am Weihnachtsfest wurde Bettina jedoch durch die Erkrankung ihres Kindes getrübt, bei dem nach einem längeren Aufenthalt im Schulhaus die Halsbräune ausbrach. Der Anfall schien zunächst ein leichter zu sein, allein am Abend des zweiten Tages nahm die Krankheit wider Erwarten eine schlimme Wendung. Der Husten wurde hohl und heftig, die Kräfte nahmen zusehends ab. Die Besorgniß der jungen Mutter wuchs im Laufe einer Stunde zur furchtbaren Angst; sie sandte die Amme nach dem Gasthaus, wo Ewald beim Kartenspiel saß, und ließ ihm sagen, daß der Zustand des Kindes ein rasches Eingreifen des Arztes erheische; er müsse sofort jemand nach der Kreisstadt senden. Ewald aber war, als die Amme ihre Botschaft ausrichtete, gerade leidenschaftlich in sein Spiel versenkt. Ihm schien es, daß Bettinas Sorge übertrieben sei, und da er gerade ausgezeichnete Karten in der Hand hatte, so murrte er darüber, daß die Belästigungen durch das Kind kein Ende nehmen wollten, und sandte die Amme unwirsch zu seiner Frau zurück.

Bettina hatte mit zitternder Ungeduld auf ihren Mann gewartet; mit pochendem Herzen lauschte sie auf jedes Geräusch im Vorgarten. Endlich nahten Schritte. Sie erhob sich, lief zur Thür und prallte enttäuscht zurück, als sie nur die Amme sah und erfuhr, daß Ewald die Nachricht zornig aufgenommen habe und sagen lasse, es werde nicht so gefährlich sein und morgen sei auch noch ein Tag und Zeit genug, um nach dem Arzte zu schicken.

Bettina kam der Verzweiflung nahe – was nun beginnen? Die Empörung über Ewalds Gleichgültigkeit und die Sorge um das junge Leben gaben ihr endlich den Gedanken ein, selber den Arzt aus der Kreisstadt herbeizuholen. Rasch ans Fenster tretend, bemerkte sie, daß der Vollmond die Bucht hell erleuchtete; dies sehen und entschlossen sein war eins. Sie schrieb der Amme eindringlich vor, wie sie die Kleine in ihrer Abwesenheit zu behandeln habe, dann holte sie die Schlittschuhe vom Boden herunter und nahm unter Thränen von ihrem Liebling Abschied.

Als der Amme klar wurde, daß ihre Frau beabsichtige, in der Nacht über die Bucht zu laufen, wollte sie dieselbe zurückhalten. Bettina aber schob die Besorgte sanft bei Seite und bat nur: „Wachen Sie über mein armes Kind, Lene, und fürchten Sie nichts für mich! Ich werde es schon durchführen!“ Dann lief sie hastig ans Ufer hinab und betrat die weite, leicht mit Schnee bedeckte Eisfläche. Wie sie niederkniete, um ihre Schlittschuhe anzuschnallen, bebten ihre Hände. Allmählich jedoch legte sich der Sturm in ihrem Innern, und als sie aufspringend das glatte Eisen unter ihren Füßen verspürte, kam eine ruhige Entschlossenheit über sie. Wohl war sie sich der Gefahr ihres Unternehmens bewußt, denn es waren fast immer Risse und weitklaffende Sprünge vorhanden, aber der Gedanke an ihr leidendes Kind erhob sie über jedes Bedenken.

Es war bitterkalt. Der scharfe Ostwind blies ihr entgegen, und wo er die nackte Haut traf, rief er einen brennenden Schmerz hervor. Sie setzte sich langsam in Bewegung, bis ihr Auge sich an das Mondlicht und die verschwommenen Färbungen der Eisfläche

[168]


Die erste Landung des Columbus auf Guanahani.
Zeichnung mit Benützung eines Gemäldes von D. Puebla.

[169] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [170] gewöhnt hatte. Dann steigerte sie die Schnelligkeit und zuletzt setzte sie ihre ganze Kraft ein und jagte mit Windeseile durch die lautlose Nacht. Mit der Zeit beruhigte die kalte Luft ihre Nerven, kühn uberwand sie die Hindernisse. plötzlich sah sie einen weiten Spalt vor sich und ein jähes Erschrecken zuckte durch ihre Glieder. Aber mit Blitzesschnelle schoß auch der Gedanke durch ihr Hirn: zu spät zum Anhalten, also weiter! und mit einem mächtigen Satze flog sie über die Kluft und jagte weiter. An manchen Stellen weckte ihr Fuß ein hohltönendes Rollen unter der Eisfläche, das sich unheimlich bis zur offenen See fortpflanzte. Einmal stieß sie mit dem Schlittschuh gegen eine auf der Eisdecke gelagerte Scholle, und da sie sich in vollem Laufe befand, wurde sie mit Wucht zu Boden geschleudert und schlug sich im Sturze Hände und Knie blutig; sie achtete nicht des Schmerzes, sprang auf und raste weiter durch die Nacht. Endlich erreichte sie das jenseitige Ufer von Groß-Küstrow; eben tönten von der Kirchuhr zwölf dumpfe Schläge herab.

Beim Eintritt ins Dorf bemerkte sie noch einen Lichtschimmer im Hause des Krugwirths. Dieser wollte eben seine Thür verschließen, als ein starkes Klopfen ihn veranlaßte, auf die Schwelle zu treten. Er erschrak beim Anblick der einsamen Frau und rief stotternd: „Jungfru Monk? Is denn dat die Menschenmöglichkeit! Sie sind äwer die Bucht loopen bei die grimmige Kälte?“

Nachdem sich der biedere Alte von seinem Erstaunen erholt und den Zweck der nächtlichen Reise erfahren hatte, weckte er dienstfertig seinen ältesten Sohn und hieß ihn rasch den Gaul vor den Schlitten spannen. Nach kurzer Rast konnte Bettina ihre Fahrt fortsetzen. Sie langte – viel zu spät für ihre Ungeduld – zwei Stunden später vor dem Hause des Arztes an. Es dauerte eine Weile, bis der im besten Schlafe befindliche alte Herr sich aufgerafft und zu der Nachtfahrt gerüstet hatte. Kaum hatte der Schlitten auf der Rückfahrt Groß-Küstrow erreicht, so wollte Bettina, um einen Vorsprung zu gewinnen, von neuem den Eislauf über die Bucht wagen, der Arzt aber hielt sie im Schlitten fest. „Danken Sie Ihrem Schöpfer, daß die Tollkühnheit einmal gut vorüber gegangen ist,“ sagte er. „Ueberdies muß ich doch selbst erst da sein, ehe Sie etwas Ernstliches unternehmen konnen, um die Leiden des Kindes zu erleichtern. Seien Sie also geduldig!“

Bettina rang nervös die Hände, aber sie fügte sich. Sie meinte vor Angst vergehen zu müssen – mit peinigender Langsamkeit kamen sie vorwärts. Durch Geldversprechungen feuerte sie den Fuhrmann an, die Kräfte des schwerfälligen Gaules mehr anzuspornen, allein das Thier war nicht aus seinem bequemen Trott herauszubringen, und erst beim Morgengrauen langte der Schlitten vor der Klause an.

Bettina lief dem Arzte voraus ins Haus. Sie erwartete, Ewald am Bette des Kindes zu finden, der aber schlief. Er war, wie die Amme erzählte, um zwei Uhr des Nachts heimgekehrt und hatte sich, wahrscheinlich weil er jede Störung vermeiden wollte, ohne weiteres zu Bett gelegt. Die junge Mutter preßte die Hand gegen die Brust, denn während die Amme ihr berichtete, hatte sie mit der flackernden Kerze ihrem Kinde ins Gesicht geleuchtet, und das Herz wollte ihr fast brechen beim Anblick der verzerrten Züge. Die Kleine hatte sich schrecklich verändert und lag völlig theilnahmlos da.

Der Arzt, welcher unterdessen ans Bett getreten war, erkannte bald, daß er zu spät gekommen sei, um zu helfen.

Die Mutter las auf seinem Gesicht, wie es um die Kleine stehe, sie stieß einen wilden Schrei aus und warf sich dann bitter schluchzend über ihren Liebling.

Und dieser Aufschrei der Verzweifelnden rüttelte noch einmal die Lebensgeister des Kindes auf. Es öffnete mühsam die Augen, starrte in das thränenüberströmte Gesicht Bettinas und sprach mit zitternder Stimme das einzige Wort aus, das es in seinem kurzen Dasein gelernt hatte: „Mama.“

Als Ewald, durch den Aufschrei seiner Frau aus dem Schlafe geschreckt, einige Minuten später die Krankenstube betrat und in verschlafenem Tone fragte, ob denn bei der Kleinen noch immer keine Besserung eingetreten sei, erhob sich Bettina, trocknete ihre Thränen und gab die schroffe Antwort: „O doch, sie ist genesen – genesen von den Schmerzen des Lebens. Wir haben unser Kind verloren; das bedeutet wenig für Dich – für mich alles.“




13.

Es schien, als habe das kleine Wesen bei seinem Scheiden den letzten Schimmer von Freude und Hoffnung aus der Klause fortgetragen. Bettina versank in eine trostlose Gleichgültigkeit und beachtete kaum, was um sie her geschah. Ewald hatte vergeblich den Versuch gemacht, sie zu versöhnen und zu trösten. Bei Tisch saßen sich die Gatten kalt und stumm gegenüber, und Bettinas bleiches Gesicht, ihre traurigen Blicke wirkten so bedrückend auf den Lotsen, daß er fast nur zu den Mahlzeiten in der Klause erschien und während der übrigen Zeit im Wirthshaus bei den Karten Zerstreuung suchte. Dieses Leben blieb nicht ohne schwere Folgen. Von Jugend auf hatte er zur Unmäßigkeit im Trinken Neigung verspürt; heim Kartenspiel gewöhnte er sich bald, große Mengen von Bier und Branntwein zu genießen. Allmählich wurde seine Gestalt voller und schwerfälliger, sein Gesicht aufgedunsen. Er vernachlässigte seinen Dienst in so gröblicher Weise, daß er sich wiederholt scharfe Rügen zuzog. Da er zu wenig Einsicht besaß, um die Berechtigung des Tadels anzuerkennen, so erwachte sein Trotz, und er forderte seine Entlassung. Diese erhielt er im Frühjahr, und nun faßte er den Plan, sich ein eigenes Fahrzeug zu kaufen, um Frachten zu übernehmen oder Fischhandel zu treiben. Er fand auch bald eine schwedische Barke, welche gerade zu verkaufen war. Als er Bettina seine Absichten mittheilte und zum Ankauf der Barke sechstausend Mark von ihr verlangte, seufzte sie schwer auf und vertiefte sich, zum ersten Male seit dem Tode ihres Kindes, in ihr Wirthschaftsbuch. Sie rechnete eine Weile und kam zu der niederschlagenden Erkenntniß, daß ihr Barvermogen fast auf die Hälfte herabgeschmolzen war. Aus den Eintragungen ersah sie, daß zwar durch ihre und des Kindes Krankheit größere Summen nöthig geworden waren, allein trotzdem fehlten mehrere hundert Mark, über deren Verbleib sie sich keine Rechenschaft zu geben vermochte. Sie ahnte, daß Ewald das Geld im Gasthaus und in der Hafenstadt vergeudet hatte, aber sie war großmüthig genug, ihm keinen Vorwurf zu machen; sie legte das Buch ruhig fort und sagte kurz: „Wir müssen unser Leben ändern, wenn wir nicht verarmen wollen.“

Ewald, der dem Tage mit Grauen entgegengesehen hatte, war seelenfroh, ohne Vorwurf und Zank davongekommen zu sein, und gelobte, all seine Kräfte aufbieten zu wollen, um das Verlorene wieder einzubringen. Er wurde ganz beredt und malte eine rosige Zukunft aus, sah die Barke schon den Mittelpunkt einer kleinen Handelsflotte bilden. Bettina theilte seine Hoffnungen keineswegs, dennoch that sie ihm den Willen; sie war müde und das Geld schien ihr nicht der Mühe werth, um deshalb einen Streit mit ihrem Manne auszukämpfen. Mochte er thun, was ihm gut dünkte! Nur die Bitte fügte sie noch hinzu, er möge die Barke gleich nach dem Ankauf gegen See- und Feuersgefahr versichern lassen. Ewald versprach es in freudiger Erregung und begab sich sofort nach der Hafenstadt, weil er bei der Eröffnung der Schiffahrt gleich eine Ladung zu erhalten hoffte. Als jedoch der Schiffskauf abgeschlossen war, entdeckte er bedenkliche Schäden an der Barke, und diese mußte erst zur Ausbesserung auf die Werfte gebracht werden. Bis zur Vollendung der nothwendigen Arbeiten konnten Wochen vergehen, denn die Docks waren überfüllt. Ewald trieb sich einige Zeit in den Hafenkneipen herum, dann, als seine Barschaft zusammenschmolz, kehrte er nach Massow zurück in der Absicht, seine Börse wieder zu füllen.

Während seiner Abwesenheit hatte Bettina die Tage in jener stumpfen Unthätigkeit verbracht, wie sie Schiffbrüchige ergreift, wenn die Wogen langsam das Wrack unter ihren Füßen zertrümmern. Sie hatte versucht, durch Gartenarbeit ihrer verzweifelten Stimmung Herr zu werden, es gelang ihr nicht. Ihre Willenskraft war gebrochen. Sie that nur, was gerade nöthig war, um einer Verwilderung der Anlagen vorzubeugen, aber sie erweiterte dieselben nicht, wie sie sich vorgesetzt hatte. Das Knospen und Blühen in der Natur freute sie so wenig wie der warme Schein der Frühlingssonne; nur das Grab ihres Kindes überdeckte sie mit einem duftigen Blumenflor.

Eines Abends war sie in den Vorgarten getreten, um den Rasen zu begießen; da sah sie Ewald an der Hecke des Bräuningschen Hofes stehen und vertraulich mit Kathrein schäkern. Er hatte die Jacke über die Schulter gehängt und die Mütze in den Nacken geschoben. Allem Anschein nach befand er sich in sehr lustiger Stimmung, denn die Dirne lachte aus vollem Halse und rief [171] dann mit halberstickter Stimme: „Geh doch, Ewald, Du bist’n Filou!“

Die überraschende Wahrnehmung rief in Bettina zunächst ein Gefühl tiefer Verachtung hervor. Wie konnte sich ihr Gatte den Bräunings auf diese Weise wieder nähern; wo blieb sein Stolz, seine Selbstachtung? Als aber ihr Blick die schwankende Haltung, das geröthete Gesicht und die nachlässige Kleidung Ewalds überflog und zu Kathreins roher Gestalt hinüberglitt, da kam ihr der Gedanke, daß das Paar drüben an der Hecke vortrefflich zusammenpasse. „Vögel vom gleichen Gefieder fliegen zusammen,“ sagte sie sich. „Warum habe ich mich in dem thörichten Glauben zwischen die beiden gestellt, diesen Mann in eine höhere Sphäre heben zu können. Er ist so nur seinem Beruf, seiner natürlichen Bestimmung, seiner Lebensweise entfremdet worden. Ich habe mich und ihn elend gemacht, nun muß ich diesen großen Irrthum meines Lebens büßen!“

Ewald ging täglich zum Gasthof hinunter, wo sich die kleine Postanstalt des Ortes befand, weil er auf eine Botschaft aus der Hafenstadt betreffs seiner Barke wartete. Allein Tag für Tag verging, ohne daß ein Brief kam, und da er in der Zeit ungeduldigen Harrens doch nicht zum Arbeiten aufgelegt war, so blieb er meist gleich in der Wirthsstube sitzen, um sich durch Kartenspiel, Rauchen und Trinken die Zeit zu vertreiben. Eines Morgens aber fand er wirklich einen Brief vor, allein die Adresse lautete nicht auf seinen Namen, sondern auf den seiner Frau. Enttäuscht schob er das Schreiben in die Tasche und ließ sich mit dem Wirthe zu einem Spiele im Vorgärtchen des Gasthofs nieder. Spät am Abend erst, als er heimkam und Bettina ihn fragte, ob noch keine Nachricht wegen der Barke eingetroffen sei, zuckte durch seinen schweren Kopf die Erinnerung an den empfangenen Brief und er händigte ihn seiner Frau ein. Sie ließ verwundert ihre Blicke über die Aufschrift gleiten dann erhellten sich ihre Züge und sie sagte leise und zögernd: „Von Lisa!“

Hastig und mit wachsender Erregung überflog sie den Inhalt; dieser war ganz dazu angethan, sie aus ihrer Niedergeschlagenheit aufzurütteln. Die Freundin schrieb, daß Diaz auf zwei Monate nach London gegangen und ihr Kind des Landaufenthalts dringend bedürftig sei. Bei der Ueberlegung, wohin sie sich wenden solle, sei ihr die Freundin in Massow eingefallen und wenn Bettina ein Stübchen für sie und ihr Kind übrig habe, so werde sie mit Vergnügen der früheren Einladung folgen und den stillen Küstenort aufsuchen, wo sie beide als Mädchen so unvergeßlich schöne Tage verlebt hätten.

Bettina reichte ihrem Manne den Brief.

Der Lotse legte die kurze Pfeife aus der Hand und las ihn langsam, dann gab er ihn mit verdrießlicher Miene zurück und setzte seine Pfeife wieder in Brand.

„Lisa wird in der Mansarde wohnen,“ sagte Bettina, mehr zu sich selber als zu dem Gatten, der sein Haupt mit Rauchwolken verhüllte. „Ich will ihr ein behagliches Nest zurecht machen!“ – In ihrer freudigen Erregung achtete sie kaum auf Ewald, der etwas Unverständliches in den Bart brummte und dann sein Schlafzimmer aufsuchte.

Am nächsten Morgen stand Bettina früh auf und in wenigen Stunden hatte sie die beiden Stübchen der Mansarde zur Aufnahme des Besuchs in stand gesetzt. Nachdem dies geschehen war, beantwortete sie Lisas Brief durch einige herzliche Zeilen. Eben wollte sie zur Post gehen, da sah sie, daß Ewalf mit seiner Mutter im Garten eine eifrige Unterhaltung führte. Bei ihrem Erscheinen verstummten die beiden, und Ewald trat ihr mit der Frage entgegen, was sie Frau Diaz geschrieben habe.

„Nun, daß sie uns sehr willkommen sei, selbstverständlich.“

Ewald, aus dessen Mienen ebensoviel Verlegenheit wie Mißmuth sprach, kraute sich im Haar und meinte. „So – und Du hast noch gar nicht gefragt, wie ich darüber denke. Ich aber bin der Herr im Hause und hab’ am Ende doch auch ein Wort mitzusprechen.“

„Dein Hausherrnrecht hab’ ich niemals angetastet, und wenn ich nicht ausdrücklich um Deine Zustimmung bat, so kam das daher, weil ich Dein volles Einverständniß voraussetzen mußte. Du hast gestern abend nichts eingewendet und zudem – die Einladung stammt noch aus unserer Verlobungszeit, Du wirst es selbstverständlich billigen, daß ich als Frau ein Wort einlöse, das ich als Mädchen gegeben habe.“

Ewald schielte unschlüssig zu seiner Mutter hinüber, diese aber feuerte ihn zum Widerspruch an durch die Bemerkung: „Du hettst mi ja noch gar nich seggt, Ewald, wie lang die Gnädge. mit den sbanischen Namen hier bliewen und wat sie betalen will.“

„Ja, ganz recht, Mudding. – Hast Du Deiner Freundin wegen des Preises geschrieben, Betty? Die zwei Stuben können wir im Sommer an Badegäste ganz gut für dreißig Mark monatlich vermiethen, so viel mußt Du Frau Diaz schon abverlangen.“

Ewald hatte, um der Mutter seinen Muth zu beweisen, dieses Ansinnen in so herausforderndem, grobem Tone gestellt, daß Bettina sich tief verletzt fühlte. Heiß stieg ihr das Blut zu Kopf und in zorniger Empörung antwortete sie: „Frau Diaz ist bei mir zu Gast. Damit Dir aber die langersehnte Gelegenheit, ein Geschäft zu machen, nicht entgeht, werde ich den geforderten Preis von meinem Vermögen zahlen.“

Sie wollte stolz an den beiden vorübergehen, allein Ewald, den die alte Monk durch einen Puff in die Seite angespornt hatte, vertrat ihr den Weg und sagte. „Von Deinem Vermögen? Du hast kein Vermögen mehr, daß Du’s nur weißt.“

„Was soll das heißen?“ rief Bettina erbleichend. „Ein großer Theil meines Erbes ist freilich verloren, aber es bleibt mir doch –“

„Ueber das, was Dir geblieben ist, hab’ ich fortan zu bestimmen,“ unterbrach Ewald sie heftig. „Ich hab’s satt, mir von Dir Gnadengeschenke in die Hand drücken zu lassen. Ich bin der Mann und habe mit dem gemeinsamen Gute zu wirthschaften. So ist’s Brauch hier zu Lande, und so soll’s fortan gehalten werden, auf Grund des Schriftstücks, das Du während Deiner Krankheit unterzeichnet hast.“

„Auf Grund – –“ Bettina konnte die Frage nicht aussprechen, die furchtbare Erregung erstickte ihre Stimme. Und sie bedurfte auch keiner weiteren Aufklärung. Der Mann, in dem sie einst das Ideal der Selbstlosigkeit und des sittlichen Muthes erblickte, hatte die Schwäche einer Todkranken benutzt, um sich ihres Vermögens zu bemächtigen.

Mit tiefster Verachtung blitzten ihre Augen Ewald an, und ihre Stimme klang rauh, als sie erwiderte. „So weit wären wir also! Ganz unverhohlen gestehst Du ein, daß Dich, als Du mich sterbend glaubtest, nur der Gedanke an das Geld beherrschte. Ich könnte Euch den Raub streitig machen, denn die mir abgelistete Unterschrift ist schwerlich bindend, da ich ja vom Inhalt des Dokuments keine Kenntniß hatte; aber der Stolz verbietet mir, den Mann, den ich einst geliebt habe, an den Pranger zu stellen. Nimm denn, wonach Du bei Deiner Werbung allein getrachtet hast, es besitzt heute für mich so wenig Werth wie – mein Leben.“

Sie zerriß den Brief an Lisa mit nervös zuckenden Händen und schritt ins Haus zurück.

Ewald blieb bestürzt im Garten stehen, die Scham rang in seiner Brust mit dem Trotze. Vielleicht hätte die bessere Regung gesiegt, denn das Feuer der Liebe glimmte noch in seinem Innern, allein neben ihm stand die Mutter und rief ihm zu. „Wat möt, dat möt! Kriegst Du nich den Kassenslötel rut, dann bliwt sie der Herr und Du – der Döskopp. Resolut, min Jong! In der Srift steiht gesriewen ‚Und er soll Din Herr sein‘.“

*      *      *

Bettina fand erst am Tage nach diesem Streite die Kraft, an Lisa zu schreiben und ihr das beschämende Geständniß ihrer unglücklichen Lage zu machen. Diese Beichte, verbunden mit der Nothwendigkeit, den Besuch abzulehnen, erschien ihr als die größte Demüthigung ihres Lebens – als eine unauslöschliche Schmach. Nachdem sie das Schreiben vollendet und in den Postkasten geschoben hatte, glaubte sie, die letzte Verbindung mit der Welt, in der sie ihre Jugend verlebt hatte, sei nunmehr abgebrochen; keine Menschenseele wußte sie mehr, der sie ihr Leid hätte anvertrauen mögen. Das trostlose Gefühl gänzlicher Verlassenheit trieb sie hinaus auf die einsame Düne; stundenlang irrte sie dort umher.

Müde und zerschlagen kam sie gegen Abend in die Klause zurück und fand Ewald in sehr aufgeräumter Stimmung. „Na, Betty,“ rief er ihr vom Gartenthor aus entgegen, „hast Du ’n Spaziergang gemacht? Das ist recht, das bringt den Menschen auf andere Gedanken. Ich hab’ unterdessen eine Nachricht erhalten. Die Barke ist endlich vom Dock herunter und schwimmt seetüchtig im Hafen sie trägt Deinen Namen am Stern. Nun kann’s losgehen! Morgen reise ich ab.“

[172] Bettina athmete auf, das war Erlösung wenigstens auf einige Zeit. Kein Wort des Bedauerns wegen seiner Abreise kam über ihre Lippen.

„Und wie sich das manchmal glücklich trifft,“ fuhr er lächelnd, aber mit einem scheuen Seitenblick fort, „denk’ Dir, die Mansarde, um derentwillen wir uns heute morgen ein wenig gezankt haben, ist schon vermietet. Was meinst Du wohl, wieviel ich dafür bekommen habe?“

„Das ist mir gleichgültig,“ antwortete sie tonlos.

„Vierzig Mark monatlich. Ein Herr aus Berlin hat sie gemiethet und gleich im voraus bezahlt. Das ging so zu! Ich hatte eben im Gasthaus meinen Brief gelesen und wollte heim gehen, da tritt ein Fremder in den Vorgarten, der deutet nach unserer Klause und fragt den Wirth: ‚Wem gehört die kleine Villa dort oben?‘ Der Wirth weist auf mich und sagt: ‚Meinem Freunde Monk.‘ Der Fremde lüftet den Hut gegen mich. ‚Ihr Haus ist hübsch gelegen,‘ sagt er, ‚dort möchte ich wohl ein paar Wochen – vielleicht auch den ganzen Sommer über wohnen. Sie haben wohl kein Zimmer zu vermiethen?‘ Auf diese Anfrage hin wurde ich neugierig, was wohl unsere Mansarde einbringen könne, und antwortete, wir machten zwar aus dem Vermiethen kein Geschäft, indessen hätten wir just zwei Stuben leer stehen. Der Fremde ging mit mir herauf, sah sich die Wohnung an und bat mich, ihm einen Preis zu nennen. Mehr zum Spaße als im Ernste forderte ich vierzig Mark. Ohne weiteres griff er in die Tasche und legte mir das Geld auf den Tisch. Eben hat er seinen Koffer und einen Kasten heraufschaffen lassen. Nun bist Du in meiner Abwesenheit doch nicht gar so einsam, Betty.“

Sie lächelte bitter, denn sie hatte seine Absicht, durch das rasche Vermiethen der Mansarde den Besuch Lisas unmöglich zu machen, wohl durchschaut. Als sie ins Haus getreten war, fand sie auf dem Tische des Salons eine Visitenkarte; gleichgültig nahm sie dieselbe, um sie in eine Bronzeschale zu werfen. Dabei streifte ihr Blick die Aufschrift und ein leiser Schrei der Ueberraschung entfuhr ihren Lippen. „Franz Rott“ stand auf der Karte.

Eine Weile starrte sie wie gebannt auf den Namen, dann lief sie dem eintretenden Ewald entgegen und fragte hastig. „Wie kommt diese Karte in unser Haus?“

„Die hat mir unser neuer Miether gegeben, damit ich ihn als Gast anmelde.“

„Das Geschäft – diese Vermiethung muß rückgängig gemacht werden, gieb dem Fremden das Geld zurück und sage – sage ihm irgend etwas zur Entschuldigung!“

Ewald erblickte in ihren Worten nichts anderes als den Versuch, die Zimmer für ihre Freundin freizuhalten, und beschloß, in dieser Sache seinen Willen durchzusetzen und seine Herrschaft zu bekunden. Er fragte daher barsch, welchen vernünftigen Grund sie gegen die Aufnahme des Fremden haben könne; Bettina erwiderte in hastiger Weise, daß es für sie nicht schicklich sei, mit einem Herrn allein in dem einsamen Hause zu leben, daß dieser der Bedienung benöthige und daß man recht gut warten könne, bis ein weiblicher Badegast Wohnung suche.

Diese Bedenken schlug Ewald mit der Bemerkung nieder, seine Mutter habe sich schon erboten, dem Gaste jeden Morgen die Kleider zu reinigen und das Frühstück zu besorgen und eine zweite Gelegenheit, die beiden Stuben zu so hohem Preise zu vermiethen, werde wohl nicht wieder kommen.

Nun wandte Bettina ein, daß der neue Miether in ihres Vaters Hause verkehrt habe und daß es ihr peinlich sei, ihm so wieder zu begegnen.

„Wie?“ rief Ewald in ausbrechendem Zorne, „hast Du etwa einen Grund, Dich Deines Mannes oder Deines Hauses zu schämen? Die Sache ist und bleibt abgemacht. Der Gast hat bezahlt und wird in unserm Hause wohnen – für das weitere laß die Mutter sorgen. Wenn Dir der Fremde nicht gefällt, dann kannst Du ihm aus dem Wege gehen. In Haus und Garten ist Raum genug für zwei Menschen, die sich nicht begegnen wollen. Abgemacht!“

Ohne Bettina noch einmal anzusehen, verließ er mit dröhnenden Schritten das Zimmer.

Am nächsten Morgen nahm Ewald einige Hundertmarkscheine aus Bettinas Schreibtisch, sagte ihr flüchtig Lebewohl und segelte dann mit seinem Vater über die Bucht. Als Bettina in die Küche trat, um sich das Frühstück zu bereiten, fand sie ihre Schwiegermutter schon bei der Arbeit. Diese eröffnete ihr, daß der alte Monk sich entschlossen habe, Ewald bei der Bedienung der Barke zur Hand zu gehen und den Sommer über auf See zu bleiben. Da es sich nun für sie selber nicht lohne, eine besondere Wirthschaft zu führen, so habe sie ihr Häuschen zugeschlossen und werde, auf Ewalds Anordnung, in dessen Zimmer schlafen und Bettina in der Wirthschaft helfen.

Die halb unterwürfige, halb spöttische Art, mit welcher die Alte von Ewalds Anordnung sprach, hätte die junge Frau früher zu heftigem Widerspruch gereizt, jetzt war ihre Willenskraft gelähmt, und sie ließ auch diese neue Bevormundung schweigend über sich ergehen. Sie begab sich in ihr Zimmer zurück und trat ans Fenster. Müde schweifte ihr Blick über die von der Morgensonne bestrahlte Bucht. In weiter Ferne zog ein Segel vorüber, gleich einem Schwanenflügel hob es sich ab vom tiefen Blau der See. Das zog hinaus in die weite Welt, frei vom Zwange, nur dem eigenen Steuer gehorchend – o könnte auch sie ihm folgen, in die Ferne ziehen, weit fort von hier! Die bange Sehnsucht übermannte sie, ein Drang überkam sie, ihre Gefühle in Tönen auszuströmen. Rasch ging sie zum Flügel und begann Rubinsteins schwungvolles Lied: „Gebt mir gold’ne Tageshelle –“

War es der strahlenfrohe Tag oder die würzige, durchs offene Fenster strömende Morgenluft oder der Zauber der Musik, welcher ihre Seele aus der langen Gebundenheit erlöste – sie wußte es nicht. Aber mit einem Male kam es über sie wie Befreiung, ihre Stimme schwoll mächtig an, und das Lied wurde zu einem aus tiefster Brust hervorquellenden Rufe der Sehnsucht, zu einem brausenden Aufschäumen innerer Kraft.

Und das Lied fand ein Echo.

Als die letzten Töne verklungen waren, ertönte vom Garten her ein lautes Bravo. Sie glaubte erst an ein Spiel ihrer erregten Einbildungskraft und ging arglos ans Fenster. Hier aber wurde ihr ein überraschender Anblick zu theil. Vor der grünen Wand der Schlehdornhecke stand Franz Rott und schaute mit freudigem Staunen zum Fenster auf. Er trug den Hut in der Hand und die Sonne umleuchtete seinen edel geformten Kopf. Erglühend und verschämt wollte Bettina zurücktreten, da blitzte über sein Gesicht der Ausdruck des Erkennens, und „Fräulein Bettina!“ kam es freudig über seine Lippen.

Im nächsten Augenblick sah die junge Frau, wie der Künstler mit einigen Sprüngen zur Treppe eilte. Sie wollte rasch das Zimmer verlassen, allein es lag wie Blei in ihren Füßen, eine seltsame Beklemmung schnürte ihr die Brust zusammen und raubte ihr den Athem. Sie hatte ein Grauen vor dieser Begegnung, und doch fehlte ihr die Kraft zur Flucht. Jetzt vernahm sie eilige Schritte, gleich darauf eine wallende Bewegung der Portiere – und Franz Rott stand ihr gegenüber. Sie vermochte sich nicht zu rühren, geschweige denn zu sprechen, es war ihr, als töne eine Stimme durch den Raum und spreche: „Nun erfüllt sich Dein Schicksal, Bettina!“




14.

Der Bann, den das Wiedersehen auf Bettina übte, währte nur wenige Sekunden, er schwand bei Rotts Begrüßung.

„Hier also finde ich Sie wieder? So hat mich meine Ahnung doch nicht irre geführt! Auf dieser einsamen Halbinsel hielten Sie sich versteckt, Sie Weltflüchtige?“ Er streckte ihr in herzlicher Bewegung die Hand entgegen, und sie legte zögernd die ihrige hinein, doch nur, um sie hastig wieder zurückzuziehen.

„Diese Begegnung, Herr Rott, überrascht mich nicht weniger als Sie –“

„Aber gewiß nicht so freudig wie mich,“ unterbrach er sie. „Seit unserm letzten kurzen Zusammensein vor zwei Jahren hab’ ich oft an Sie denken müssen, und ich sagte mir jedesmal: Hättest Du damals frisch und unverzagt gesprochen, wie Dir’s ums Herz war, dann –“

„Dann hätten Sie wahrscheinlich das doch nicht hindern können, was sich unterdessen ereignet hat.“ Sie schlug bei diesen Worten die gesenkten Augen auf, und ihre Stimme klang umflort, als sie fortfuhr. „Sie finden Bettina Wesdonk nicht mehr, Herr Rott. Ich bin die Frau eines Schiffers und heiße Monk.“

Ein düsterer Schatten legte sich auf sein Gesicht, und erst nach einer Weile raffte er sich zu der Bemerkung auf: „So ist es also doch wahr, was ich vor Jahr und Tag als Gerücht

[173]

Der Empfang des Kolumbus in Barcelona nach der Rückkehr von seiner ersten Seereise.
Nach einem Gemälde von R. Balaca.

[174] vernommen habe. Ich konnte es nicht glauben, und als ich Sie eben am Fenster erblickte, verklärt vom Zauber der Musik – oder war’s der Glanz der Morgensonne? – da glaubte ich, es erfülle sich mein schönster Traum … aber zerronnen – dahin!“ Er athmete tief auf und sah schweigend vor sich nieder.

Bettina fühlte, daß sie sprechen müsse, um das Gespräch über die leidenschaftlichen Tiefen hinweg in stillere Bahn zu lenken. Leise erwiderte sie:

„Das ist das Schicksal, das uralte Schicksal der Träume, daß sie verrauschen, wenn sie beginnen zu beglücken.“

„So haben auch Sie schwere Enttäuschungen erfahren?“

„Ich habe mein Kind verloren,“ entgegnete sie ablenkend und fragte dann, welcher Zufall Rott nach Massow geführt habe.

„Das will ich Ihnen draußen im Garten erzählen, wenn Sie mir als freundliche Wirthin eine Tasse Kaffee bescheren wollen. Ich habe in aller Frühe schon ein Bad genommen, das Meer war wunderbar erfrischend. Dann lief ich über den sonnigen Bergrand hierher zurück und – fand Sie. Nun liegt mir etwas wie Sonnentrunkenheit im Blute. Ich glaube, Ihr Lied hat es mir vollends angethan! O, noch hat Ihre Seele nicht verlernt, die Schwingen zu regen in brausenden Accorden ...“

„Sie phantasieren – aber das kommt von der Sonnentrunkenheit. Wollen Sie auf der Veranda oder im Garten Ihr Frühstück verzehren?“

„Am liebsteu da, wo man den weitesten Ausblick hat.“

„So treten Sie auf die Veranda!“

Bettina holte das für ihren Gast in der Küche bereitstehende Frühstück herbei, deckte den Tisch und ließ sich dem Künstler gegenüber plaudernd nieder. Rott erzählte, daß er sich während des letzten Winters auf einer Konzertreise durch Rußland übermäßig angestrengt habe und jetzt an einer leichten Lähmung des Armes leide. Man habe ihn mit Massage und Elektricität behandelt und ihm dann gerathen, sich womöglich am Meere noch eine Weile auszuruhen. Zufällig sei er während der letzten Tage seines Berliner Aufenthaltes im Salon eines ihm befreundeten Malers wieder mit der Gräfin Lindström zusammengetroffen, und diese habe die alte Einladung auf ihr Schloß dringend erneuert. So sei er wieder an Massow erinnert worden und habe nun beschlossen, sich hier für den Sommer einzunisten.

„Warum aber bereiteten Sie der Gräfin eine Enttäuschung?“

„Ich habe der Dame keine bestimmte Zusage gegeben und liebe es, frei zu sein. Die Gastfreundschaft würde mir nach der Seite der Musik Verbindlichkeiten auferlegen, die ich nur ungern erfülle. Die Gräfin ist nämlich eine Musikschwärmerin der gefährlichsten Sorte.“

„Hat Ihnen der Arzt das Musizieren streng verboten?“

„Das nicht, aber er hat mir gerathen, im Anfang noch vorsichtig zu sein. Wenn aber Sie jemals Lust verspüren sollten, mit mir Musik zu machen, so stehe ich gern zu Ihrer Verfügung.“

Bettina gestand erröthend, daß sie sein Anerbieten gleich jetzt annehmen möchte. Oft hatte sie sich gesehnt, mit einer gleichgestimmten Seele sich in die Welt der Töne zu versenken – den Monks war Musik stets nur ein aufdringliches Geräusch gewesen – nun sah sie ihren Wuusch erfüllt. Rott holte seine Geige aus der Mansarde herunter und Bettina suchte aus ihrem reichen Notenvorrath Stücke für Klavier und Violine heraus.

Als Rott sein Instrument mit fast zärtlichen Griffen enthüllt und gestimmt hatte, legte er es auf den Flügel und bat, Bettina möge ihm erst durch ein Lied die rechte Stimmung geben. Sie willfahrte gern seiner Bitte und sang in der Komposition von Schumann ein Lied aus dem Heineschen Cyklus „Dichterliebe“.

Franz lauschte mit Andacht. Zuerst überraschte ihn die edle Aussprache der Worte und der Wohllaut ihrer Stimme, dann fesselte ihn die Wärme der Empfindung, die Stärke des Gefühls. Das war mehr als ein Lied, das war zugleich die persönliche Offenbarung eines großen Schmerzes.

Als die Sängerin geendet hatte, ließ sie die Hände in den Schoß sinken. Nach einer Weile erhob sie schüchtern die Blicke zu Rott, welcher stumm und regungslos beim Kamin stand. Er sagte auch jetzt nichts, allein in seinen Augen war ein seltsames Leuchten – sie las Bewunderung darin und Mitgefühl. Schweigend verharrten sie so – endlich deutete Bettina auf die Geige, und Rott trat ans Klavier.

„Was können wir gemeinsam in Angriff nehmen? Da, diese Elegie ist mir zuerst in die Hand gefallen!“

„Sie paßt wenig zu der morgenhellen Stimmung der Natur,“ meinte Rott, indem er dennoch willig die Geige zur Schulter erhob.

„Aber ganz zu meiner Trauer,“ setzte Bettina in Gedanken hinzu und griff in die Tasten. Das Zusammenspiel mit dem Künstler gewährte ihr einen langentbehrten Genuß. So verträumt und verschüchtert ihr Wesen dem oberflächlichen Beschauer erschien, so lebte doch in ihrem Innern eine stete Lernbegierde, eine nachhaltige Energie. Nun fand sie in Rott den rechten Mann, ihrem musikalischen Können die Wege zu ebnen; er war nicht nur ein hervorragender Künstler, sondern auch ein ausgezeichneter Lehrer; während er mit Bettina die Elegie einübte, wies er in freundlichster Weise auf begangene Fehler hin, erklärte ihr manche Regel und zeigte, wie sich die Wirkung verstärken lasse. So gingen für Bettina die Morgenstunden im Fluge dahin, und als die alte Monk von einem längern Streifzug durchs Dorf, wo sie Neuigkeiten eingesammelt hatte, in die Klause zurückkehrte, um zu sehen, was ihre Schwiegertochter gekocht habe, da fand sie diese nicht in der Küche, sondern im Salon vor dem Flügel sitzen. Neben Bettina aber stand der Badegast, gegen dessen Aufnahme die junge Frau sich so heftig gesträubt hatte, und spielte die Geige. Als die Alte erfuhr, daß der Miether ein Musikant sei, sank er tief in ihrer Achtung, und sie ermahnte ihre Schwiegertochter, sich mit einem solchen Menschen ja nicht gemein zu machen, denn es könne ihrer Reputation schaden.

Bettina achtete nicht auf das Geschwätz der Alten, die ihre Neuigkeiten auskramte und erzählte, daß sich der Pastorssohn mit der reichen Witwe eines Gutsbesitzers verlobt habe. Sie blieb still und in sich gekehrt, solange ihre Schwiegermutter in der Klause herumwirthschaftete; erst als diese endlich zum Weststrand hinuntergüig, um mit den Fischern dort zu schwatzen, lief sie aufs neue ans Klavier und spielte noch einmal die Elegie durch. Dabei war es ihr, als höre sie den tiefen klagenden Ton der Geige über ihre Begleitung hinschweben, und unwillkürlich wandte sie den Kopf rückwärts, nachdem sie geendet, denn sie erwartete – sein Urtheil. Ein Seufzer hob ihre Brust, sie war ja allein.

In der Nacht, die diesem ersten Zusammentreffen folgte, schlief Bettina wenig. Sie mußte immer an zwei leuchtende Augen denken, sie hörte wieder und wieder die schwermüthigen Klänge der Elegie. Mit lähmendem Erschrecken erkannte sie, welchen Einfluß der Künstler auf sie gewonnen habe; endlich nahm sie sich vor, dem Gaste von nun an auszuweichen, bis sie ihre Ruhe zurückgewonnen hätte.

Am nächsten Tage erhielt Rott sein Frühstück durch die alte Monk, von Bettina war nichts zu erblicken. Ihn aber beherrschte die gleiche Unruhe wie die junge Frau, und je hartnäckiger sie ihm auswich, desto stärker wurde in ihm der Wunsch, sie zu sehen, einzudringen in die Tiefen ihrer Seele und dort die Wahrheit zu lesen.

Zehn Tage waren so hingegangen, ohne daß er mehr erreichte als eine einzige flüchtige Begegnung, bei der Bettina auf seine bittende Frage: „Werden wir nicht wieder zusammen musizieren?“ ihm mit einem hastigen: „Sie müssen Ihren Arm schonen“ ausgewichen war.

Auch der elfte Tag drohte nach qualvollen Stunden des Harrens für Rott mit einer neuen Enttäuschung zu enden, da sah er beim Beginn der Dämmerung die schlanke Gestalt durch den Garten schreiten. Die Rosenknospen hatten sich dem warmen Sonnenstrahl erschlossen, und von einem der Büsche senkten sich drei voll erblühte Purpurrosen nieder. Bettina brach den schwer belasteten Stiel und befestigte die Rosen an ihrer Brust. In Träumereien verloren, ging sie vom Garten aus zum Höwt hinan. Sie hatte den schmalen Pfad durch die Kornfelder genommen und dieser endete nicht beim „Utkiek“, sondern auf der gegenüberliegenden Kuppe, die mit Ginsterbüschen und wildem Gestrüpp bewachsen war. Auf einem bemoosten Steine ließ sie sich nieder und schaute in die Tiefe. Die Oberfläche des Meeres glänzte matt durch die Dämmerung, von Zeit zu Zeit sah man eine brechende Woge weiß aufschäumen und hörte dann das Gurgeln der durch die verstreuten Basaltblöcke zurückströmenden Wasser. Der Himmel war mit Wolkengebilden bedeckt, durch die sich der aufgehende Mond drängte …

„Eine solche Nacht war’s, als ich mit Lisa zum ersten Male [175] den ‚Utkiek‘ betrat,“ sagte Bettina leise. „In einer solchen Nacht vernahm ich zuerst Ewalds Namen und sein Lob. Ach, was für überschwängliche Träume zogen damals durch meine Seele, und in welches Elend haben sie mich verstrickt!“ Sie schaute zum Himmel auf, wo der Mond eben leuchtend hinter einer dunklen Wolke hervortrat, und ihre Augen füllten sich mit Thränen; flüsternd setzte sie nach einer Weile hinzu: „Wenn eine gütige Vorsehung über jenen Welten thront, warum läßt sie denn für eine Mädchenthorheit eine so grausame Strafe zu?“

Die Hände um die Knie geschlungen, saß sie regungslos da, ohne zu ahnen, daß sie beobachtet wurde. Rott war ihr gefolgt und stand nun mit verhaltenem Athem im Dunkel der Büsche; wie gebannt hing sein Blick an der vom Mondlicht überstrahlten Gestalt.

Endlich erhob sich Bettina und wandte sich seitwärts zur hohen Kante des Berges. Es war ein schmaler Pfad, der dicht an der abschüssigen Düne hinführte; zu ihrer Linken fiel die Wand steil zum Meere ab. Rott hatte am Morgen den Weg begangen und erinnerte sich, wie gefährlich einzelne Stellen des Weges waren. Die Furcht überkam ihn, Bettina könnte straucheln und hinabstürzen. Mit einigen Sätzen durchbrach er die Büsche und rief ihren Namen. Sie aber, durch den Ruf aus ihren Träumereien aufgestört, wandte sich seitwärts und sah, wie eine dunkle Gestalt ihr hastig folgte. Sie hatte weder Rotts Stimme noch seine Figur erkannt, und plötzlich befiel sie die Angst vor einer Rache, welche die Bräunings hier an ihr üben könnten. In raschem Laufe sprang sie, der Gefahr nicht achtend, an dem schmalen Rande hin, um dem Verfolger einen Vorsprung abzugewinnen.

Rott kam eilig hinter ihr drein, vorwärts getrieben von der Hoffnung, sie von dem gefährlichen Pfade abzulenken; näher und näher erblickte er die helle Gestalt, da versank sie plötzlich vor seinen Augen, und als er zu der Stelle gelangte, wo sie verschwunden war, hörte er nur noch einen halberstickten Schrei aus der Tiefe.

(Fortsetzung folgt.)

Unser Brot.

Das wichtigste Nahrungsmittel der civilisierten Menschheit ist das Brot. Es bildet die Grundlage jeder Ernährungsweise, und es war ihm darum in dem Plane der Leipziger internationalen Ausstellung für das Rothe Kreuz, welche in der kurzen Zeit vom 4. bis 12. Februar d. J. geöffnet war, ein gebührender Platz eingeräumt. In der That begegnete uns in den Ausstellungshallen das Brot in den mannigfaltigsten Gestalten. Man konnte verschiedene Sorten von Brot kosten, konnte ihre Herstellung in gewöhnlichen wie in Feldbäckereien beobachten, man sah besondere Enthülsungsmaschinen für Getreide – kurz, es war nach allen Richtungen hin für Belehrung gesorgt.

Aber nicht bloß diese Ausstellung lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die wichtige Brotfrage. Das tägliche Leben drängt sie uns fortwährend auf, und heute, da die Preise für Lebensmittel gestiegen sind und unser russischer Kornlieferant im eigenen Lande mit der Hungersnoth zu ringen hat, noch mehr als sonst.

Die Kulturgeschichte belehrt uns, daß die Menschen ursprünglich das Brot derart bereiteten, daß sie das Korn im Wasser aufweichten, es in Kuchen preßten und dann an der Sonne trockneten. Das Zermahlen des Getreides zwischen Steinen, die Gewinnung eines groben Mehles bildete eine weitere Stufe des Fortschrittes. Aus diesem Mehle formte man Kuchen und ersetzte, um sie zu trocknen, die Sonnenwärme durch künstliche Hitze. So wurde das Brot zur Backware, zu einem Handelsartikel, der sich längere Zeit hielt. Es war das ungesäuerte Brot, wie es noch heute in Afrika, bei den Juden und in Schottland vielfach genossen wird. Wie hoch es auch über den rohen Getreidekörnern steht, es ist doch schwer verdaulich. Wie man vermuthet, ist es den Aegyptern zuerst gelungen, die wesentlichste Verbesserung des Brotes zu erfinden, indem sie es säuerten. Der Sauerteig, welcher dem frischen Brotteig beigemengt wird, enthält ein Ferment, welches in dem frischen Teige eine Gährung einleitet. Ein Theil der Mehlstärke wird zunächst in zuckerartige Substanzen verwandelt, welche alsbald wiederum in Kohlensäure und Alkohol zerlegt werden. Durch die freiwerdende Kohlensäure wird der Brotteig aufgetrieben, es entsteht in ihm eine große Zahl von Höhlungen, welche beim Backen durch die Hitze noch mehr ausgedehnt werden. Das Brot wird durch und durch porös, zum Kauen geeigneter und leichter verdaulich. An Stelle des Sauerteiges wurde später die Hefe verwendet, die in gleicher Weise auf die Beschaffenheit des Brotes einwirkt.

Jahrtausendelang begnügte sich die Kulturmenschheit mit diesen Bereitungsarten, und erst die Wissenschaft der Neuzeit hatte an ihnen etwas auszusetzen. Die Chemiker stellten fest, daß bei der Gährung ein Theil der nahrhaften Stoffe des Mehles verloren geht; denn der Alkohol verflüchtigt sich in der Backhitze und die Kohlensäure ist kein Nährstoff. Wenn auch dieser Verlust an und für sich klein ist und nur 1 bis 2 Prozent beträgt, so gewinnt er doch Bedeutung, wenn wir die Gesammtheit des Brotverbrauches ins Auge fassen. Man hat herausgerechnet, daß durch diese Gährung in Deutschland allein eine Masse Mehl verloren geht, mit der man täglich gegen 40000 Menschen mit Brot versorgen könnte. Man versuchte darum, die Auflockerung des Brotteiges auf eine andere Weise herbeizuführen.

Der berühmte Chemiker Justus Liebig trat mit besonderem Eifer für die Verwendung von Backpulvern ein. Es sind dies Brausepulver, die, wenn sie in den Teig gemengt werden, Kohlensäure erzeugen und das Brot auflockern.

Der Engländer Danglish erfand dagegen ein Verfahren, das in dem Großbetrieb vielfach angewandt wird; das nach seiner Anweisung erzeugte Brot wird „Luftbrot“ (aërated bread) genannt. In einem starkwandigen Kessel wird Wasser unter einem Drucke von 150 bis 180 Pfund auf den Quadratzoll mit Kohlensäure beladen. In einen andern gleichfalls sehr starken verschließbaren Kessel, der mit einer Knetvorrichtung versehen ist, wird das Mehl mit der erforderlichen Menge Salz gebracht. Das mit dem Gase übersättigte Wasser wird darauf mittels eines engen Rohres zu dem Mehle geleitet und das Durchkneten in dem Apparat unter starkem Drucke bewirkt. Nach vollendeter Mischung wird der Druck aufgehoben und das eingeschlossene Gas veranlaßt darauf unmittelbar ein gleichmäßiges Aufgehen des Teiges. Es ist in England festgestellt worden, daß auf diese Weise 118 sogenannte Viertelbrote aus einer Menge Mehl hergestellt werden können, welche nach dem Gährungsverfahren nur 105 bis 106 solcher Laibe ergeben hätte.

Wir lernen aus diesem kurzen Ueberblick, daß die Fortschritte in der Brotbereitung sich nur äußerst langsam vollziehen. Bei einem täglichen Nahrungsmittel spielt die Gewohnheit eine große Rolle. Mitteleuropa hat die Kunst, gesäuertes Brot zu bereiten, von den Römern gelernt, aber in Schweden und Norwegen waren noch um die Mitte des 16. Jahrhunderts die ungesäuerten Kuchen die einzige bekannte Art von Gebäck. Trotz allen maschinellen Fortschrittes ist unsere Brotbäckerei in ihrem Wesen der altrömischen gleich.

Die soeben erwähnten Bereitungsarten stehen jedoch gegenwärtig nicht im Vordergrunde des Interesses. Die Neuerungen, die auf der Ausstellung zu sehen waren, betrafen vor allem die Erhöhung der Nahrhaftigkeit des Brotes.

Das Brot ist kein vollkommenes Nahrungsmittel; von den drei Hauptnährstoffen des Menschen, Eiweiß, Kohlehydrate und Fett, fehlt ihm der letztere fast ganz; Kohlehydrate, das heißt Stärke und ähnliche Stoffe, sind in sehr reichlichem Maße vorhanden, der Gehalt an Eiweiß aber schwankt und beträgt je nach Beschaffenheit des Mehles und dem Wassergehalt des Brotes 5 bis 12 Prozent. Um nun den Eiweißbedarf seines Körpers zu decken müßte der Mensch, wenn er von Brot allein leben wollte, etwa drei bis vier Pfund täglich verzehren. Das sind jedoch Mengen, welche von den Verdauungsorganen nur in seltenen Fällen auf die Dauer vertragen werden. Wir helfen uns darum auf die Weise, daß wir weniger Brot essen und den Restbedarf an Eiweiß durch andere Nahrungsmittel wie Fleisch, Käse, Eier, Erbsen, Linsen u. dgl. beschaffen, in denen das Eiweiß in größeren Mengen vorhanden ist.

Würde man das Brot eiweißreicher machen, so würde man [176] es sicher verbessern, namentlich im Hinblick auf diejenigen Kreise, welche mit dem Ankauf des theuren Fleisches sparen müssen.

Die chemische Untersuchung der vollen ungeschälten Getreidefrucht ergiebt nun, daß in derselben sich viel mehr Eiweiß befindet als im Brote, das aus dem ihr entstammenden Mehle gebacken wurde. Unter der Kornschale liegen nämlich eiweißreiche Schichten, welche bei der gewöhnlichen Mahlweise entfernt werden und in die Kleie wandern. Man hat darum schon seit langer Zeit die Kleie mit verbacken und verschiedene Sorten von Kleienbrot hergestellt, wie z. B. Grahambrot, Pumpernickel etc. Ein solches Brot enthält in der That bedeutend mehr Eiweiß als das gewöhnliche feine Brot. Daraus hat man gefolgert, daß es auch nahrhafter sei, und es giebt eine Menge von Fabrikanten, die mit darauf gegründeten Empfehlungen in gutem Glauben vor das Publikum treten.

Die Sache liegt jedoch durchaus nicht so einfach. Es kommt nicht nur darauf an, ob das Brot mehr Eiweiß enthält, sondern auch, wie es im Körper ausgenutzt wird. In dieser Hinsicht ist nun folgendes zu bemerken.

Die Schale der Getreidekörner enthält Cellulose, die Holzfaser, welche völlig unverdaulich ist, aber einen starken Reiz auf den Darm ausübt. Kleienbrot wandert darum rascher durch den Körper und kann nicht vollständig ausgenutzt werden. Je feiner ein Gebäck ist, desto besser wird es im Körper verdaut. Vom Biskuit gehen z. B. nur 5 bis 6 Prozent unverdaut ab, von den gröberen Brotsorten dagegen 15 bis 17 Prozent! Das Kleienbrot erscheint unter diesen Umständen als eine ziemlich fragliche Verbesserung. Jedenfalls sind die Untersuchungen über dessen Nährwerth im Vergleich zu den anderen Sorten nicht völlig abgeschlossen. Trotzdem kann es vielen Menschen aus gesundheitlichen Rücksichten empfohlen werden, während andere wieder es nicht vertragen können.

Man hat darum ein besonderes Mahlverfahren erdacht, welches die Vorzüge des Kleienbrotes erhalten und dessen Nachtheile beseitigen soll. Das Getreide wird vermittelst eigens dazu hergestellter Maschinen in feinster Weise enthülst, so daß die Holzfaser entfernt, aber die unmittelbar darunter liegende Schicht des Kornes sowie dessen Keim erhalten bleibt; ein aus derart enthülstem Korne bereitetes Mehl ist wie das daraus gebackene Brot entschieden eiweißreicher; außerdem aber ist die Ausbeute bei diesem Mahlverfahren eine viel größere, denn während sonst bis 15 Prozent nahrhafter Bestandtheile des Kornes in die Kleie wandern, beträgt bei dem neuen Enthülsungsverfahren der Verlust nur bis zu 5 Prozent.

Wenn wir die Frage der Volksernährung verfolgen, so finden wir, daß in gewöhnlichen Zeitläuften Kohlehydrate und Fette in genügenden Mengen vorhanden sind; das Eiweiß ist der seltenere und theuerste Nahrungsstoff. Es sind somit Bestrebungen wie die letztgenannten, die auf eine bessere Ausnützung des im Getreide, dem Haupternährer der Menschheit, enthaltenen Eiweißes abzielen, gewiß gutzuheißen, und es ist ihnen ein glücklicher Erfolg zu wünschen. Allerdings steht einem rascheren Fortschritt nach dieser Richtung hin der Geschmack und das Vorurtheil des Publikums im Wege, das von den Bäckern Brot aus möglichst feinem Mehle verlangt, ohne zu beachten, daß das Mehl, je feiner es ist, desto mehr Stärke und desto weniger Eiweiß enthalten muß.

Außer diesem fand man auf der Ausstellung noch andere Vorschläge zur Aufbesserung des Brotes. Wir wollen namentlich das Aleuronat, patentiertes Pflanzeneiweiß, hervorheben. Bei der Fabrikation von Weizenstärke müssen nämlich von dieser die eiweißhaltigen Stoffe des Weizenmehles ausgeschieden werden. Sie bleiben als der sogenannte „Kleber“, eine zähe, leicht in Zersetzung übergehende Masse, zurück. Man hatte für diesen Rückstand wenig Verwendung, man bereitete aus ihm Kleister und Viehfutter, obwohl er gerade die werthvollsten Nahrungsstoffe in sich barg. Vor einigen Jahren ist es nun Dr. Hundhausen zu Hamm in Westfalen gelungen, aus diesem Nebenerzeugniß ein haltbares Mehl herzustellen, das sehr viel, bis über 80 Prozent, Eiweiß enthält und unter dem Namen „Aleuronatmehl“ in den Handel gebracht wird. Es ist verhältnißmäßig sehr billig, ja anscheinend das billigste Eiweiß und kann, unter gewöhnliches Weizenmehl gemischt, zu einem sehr nahrhaften Brote verbacken werden, welches 20 bis 25 Prozent Eiweiß enthält und nach Versuchen, die in physiologischen Laboratorien angestellt worden sind, sehr gut verdaut und ausgenützt wird. Das Aleuronatbrot scheint in der Schweiz die meisten Liebhaber gefunden zu haben. Als Nebenerzeugniß eines Fabrikationszweiges wird indessen das Aleuronat nur in einem beschränkteren Kreise das Brot aufbessern können: wenn alle Brotbäcker Aleuronat verwenden wollten, so würde die Nachfrage voraussichtlich nicht mehr befriedigt werden können. Trotzdem behält es seinen Werth und bleibt ein nachahmenswerthes Beispiel, wie man durch kluge Umsicht den Menschen gute neue Nahrungsquellen eröffnen kann.

Wir haben bisher die Frage nach der Art des Getreides, das wir zur Brotbereitung verwenden, unbeachtet gelassen. Und doch verdient sie eine besondere Betrachtung, denn für Deutschland, das seinen gesammten Bedarf an Korn nicht selbst bauen kann, ist sie die wichtigste und eine geradezu brennende.

Der alte Roßmäßler hat Weizen, Roggen, Hafer und Gerste „die vier Haupternährer der Menschheit“ genannt; es schwebte ihm dabei nur die europäische Menschheit vor; wenn wir weiter blicken und die gesammte Erde in Betracht ziehen, so gesellen sich zu den genannten Getreidearten noch der Mais und der Reis. Prüfen wir den Gehalt derselben an Eiweißstoffen, so bleibt der Reis am tiefsten stehen, und wir können ihn außer Betracht lassen, da er bei uns für die Brotbereitung nicht in Frage kommt. Die übrigen fünf stehen sich im Nährwerth ziemlich gleich, nur die Gerste tritt gegen die anderen merklich zurück. Und doch war sie, wenn wir den Ueberlieferungen der alten Aegypter Glauben schenken dürfen, die erste Körnerfrucht, welche von den Menschen zur Nahrung benutzt wurde. Die Gerste und neben ihr der Hafer sind auch die ältesten Ernährer der nordischen Völker, während der Roggen erst nach den Völkerwanderungen in Mitteleuropa Verbreitung fand. Der Weizen war damals sehr theuer und wurde nur von reicheren Leuten genossen; aber nach und nach drängte er die anderen Getreidearten in den Hintergrund. Heute ist er die vornehmste Brotfrucht der Welt; das jährliche Erzeugniß an Weizen beträgt beinahe das Doppelte von demjenigen des Roggens, und während die Anbaufläche des Weizens im Wachsen begriffen ist, geht diejenige des Roggens bedeutend zurück. Zwischen die beiden drängt sich als kecker Rivale der amerikanische Mais, dessen Anbau in den letzten zwanzig Jahren auf das Doppelte gestiegen ist. Diese Verschiebung ist für Deutschland von der höchsten Bedeutung, denn während die anderen europäischen Länder längst den Weizen als die Hauptbrotfrucht angenommen haben, ist in Deutschland und in den skandinavischen Ländern das Roggenbrot im alten Ansehen geblieben. Aber wir erzeugen nicht allen Roggen selbst, den wir brauchen; wir beziehen den Fehlbedarf zumeist von Rußland; eine Mißernte in Rußland muß uns darum aufs empfindlichste berühren – eine Erfahrung, die wir im vergangenen Jahre gemacht haben.

Der Roggen tritt ab von der Weltbühne, die er lange beherrscht hat; wir können nicht mehr auf ihn hauptsächlich unsere Volksernährung gründen. Wir müssen uns nach Ersatzmitteln umsehen. Die Gerste erscheint in diesem Wettbewerb der Getreidearten minderwerthig, die Bedeutung des Hafers liegt auf andrem Gebiet als auf dem der Brotbereitung, also müssen wir uns den zwei aufgehenden Gestirnen, dem Weizen und dem Mais, zuwenden.

Das Brot aus einer Mischung von Weizen und Roggenmehl findet bereits nach dem Vorgange der Armeeverwaltung Eingang in Deutschland. Von dem Maisbrot liest man viel, bekommt es aber nicht zu sehen. Das hat seinen Grund darin, daß der Uebergang vom Roggen zum Mais schon eine Revolution in der Brotbereitung bedeutet. Was wir als Maizena im Handel finden und zu Backwaaren verwerthen, das ist gereinigte Maisstärke, das gewöhnliche Maismehl ist wegen seines hohen Gehaltes an Fett und Kleber zum Brotbacken weniger geeignet. Darum wurde auch der Mais von Menschen ursprünglich in Gestalt eines ungesäuerten Brotes verzehrt, und noch heute bildet eine Art Maisbrei die „Polenta“ und die „Mamaliga“, das Hauptnahrungsmittel in weiten Volkskreisen Italiens und der Donauländer. Man kann aber das Maismehl backfähiger machen, indem man es mit Weizen- oder Roggenmehl vermischt, und ein aus diesem Gemisch bereitetes Brot vertritt in Portugal und in Spanien schon seit geraumer Zeit die Stelle unseres gewöhnlichen Schwarzbrotes.

Die Vereinigten Staaten von Nordamerika sind die Haupterzeuger von Mais, und dort hat auch die Verwerthung dieser Frucht als Nahrungsmittel für den Menschen die größte Verbreitung [177] gefunden. In Amerika kommen frische Maiskolben als Gemüse oder Eingemachtes auf den Tisch, dort aber hat man auch in der Fabrikation des Maismehls und der Erhöhung seiner Backfähigkeit die größten Fortschritte gemacht, und wer bei uns Maisbrot einführen will, der muß sich eingehend mit dem Studium amerikanischer Verhältnisse befassen.

Der Geschmack des Maisbrotes ist allerdings ein anderer als der unserer gewöhnlichen Brotsorten, und wenn vielen schon das englische Luftbrot unangenehm fade schmeckt, so wird auch das Maisbrot in dem Volksgeschmack in gewisser Hinsicht einen starken Gegner finden. Doch dieser wird überwunden werden, wenn das höhere Gebot der Noth, der Mangel an anderweitigen Brotfrüchten sich fühlbar macht.

Ein andrer Einwand gegen die Einführung des Maisbrotes als Volksnahrung wird auf Grund der Thatsache erhoben, daß der Genuß verdorbenen Maises eine sehr schwere Erkrankung, die sogenannte „Pellagra“ oder „Mailänder Rose“, erzeuge. Diese Thatsache kann aber nicht ins Gewicht fallen; denn auch unsere bisherige Brotfrucht, der Roggen, ist einer Erkrankung ausgesetzt, dem „Mutterkorn“, und ein aus derartigem Mehle bereitetes Brot erzeugt die gefürchtete Kriebelkrankheit. Dank den Fortschritten der Landwirthschaft und der Ueberwachung des Verkaufs von Nahrungsmitteln ist sie bei uns zur Seltenheit geworden, und so dürfte es auch möglich sein, die Verwendung von verdorbenem Mais zu verhüten.

Die größte Aussicht auf Erfolg werden in Deutschland Mischungen aus Weizen, Roggen und Maismehl haben.

Auf der Ausstellung zu Leipzig wurden wohl Backwaren aus verschiedenen Mehlgemischen dem Publikum dargeboten, aber es fehlte in dieser Beziehung an Bestimmtheit und Nachdruck. Wenn wir bedenken, daß in den letzten zwanzig Jahren die brotessende Bevölkerung der Welt sich um 27 Prozent vermehrt hat, die Anbaufläche der Getreidearten aber nur um 20 Prozent größer geworden ist, so müssen wir zu der Ueberzeugung gelangen, daß die fetten Jahre nicht so bald eintreten werden. Wir werden zwischen den Brotfrüchten nicht viel wählen können, werden vielmehr nehmen müssen was uns geboten wird – und darum ist es wünschenswerth, das Volk frühzeitig an ein andres Brot zu gewöhnen, das ebenso nahrhaft ist wie das alte, das wohl etwas anders schmeckt, aber auf dem Weltmarkt leichter zu beschaffen ist. Dies möge ein Wink sein für die nächsten Ausstellungen für Kochkunst und Volksernährung! *      


Christoph Kolumbus.

Ein Gedächtnißblatt zum vierhundertsten Jahrestag der Entdeckung Amerikas.
Von C. Falkenhorst.

Ein unzertrennliches Band verknüpft den Namen des Christoph Kolumbus mit der Großthat der Entdeckung Amerikas, und wie diese Großthat von keiner andern auf dem Gebiet der Entdeckungsreisen übertroffen wird, so verdunkelt auch der Ruhm des Kolumbus den aller anderen Weltentdecker und Seefahrer. Kolumbus gehört zu den wenigen Heldengestalten der Menschheit, welche von allen Völkern und in allen Welttheilen in dankbarer Erinnerung verehrt werden. Um den kühnen Genuesen hat die Nachwelt einen Kranz von Sagen und Legenden gewoben, in denen er nicht nur als Bahnbrecher, sondern auch als Märtyrer erscheint. Die wissenschaftliche Forschung hat im Laufe der letzten Jahrzehnte viele von diesen Legenden in das Reich der Uebertreibungen verwiesen; in ihrem Lichte erscheint Kolumbus auch mit menschlichen Schwächen und Fehlern behaftet, nicht als eine ideale Gestalt, wie wir sie aus den Jugendbüchern früherer Zeiten kennengelernt haben, aber dennoch groß durch die unbeugsame Energie in Verfolgung seiner Ideen.

Im Laufe dieses Jahres wird die Welt den vierhundertjährigen Gedenktag jenes wichtigen Ereignisses feiern, den Gedenktag der ersten Landung des Kolumbus am Gestade einer der amerikanischen Inseln; dieses Jubiläum der Entdeckung Amerikas erweckt überall das lebhafteste Interesse für das ruhmreiche Zeitalter der großen Entdeckungen, und wenn jetzt nicht nur der engere Kreis der Gelehrten, sondern auch weite Volksschichten sich ausführlicher mit den Lebensschicksalen des Entdeckers der Neuen Welt beschäftigen werden, so wird aus der geschichtlich geläuterten Betrachtung für sie die wichtige Ueberzeugung entspringen, daß unser Held viele der Leiden, die er erdulden mußte, selbst verschuldete, daß die Welt gerechter ist, als man gewöhnlich meint.

Um Kolumbus in richtiger Weise würdigen zu können, muß man vor allem den Schauplatz kennenlernen, auf dem er auftrat, muß man sich in den Geist des Zeitalters vertiefen, dessen Kind der glückliche Seefahrer war.

Schon um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts wurde es den Völkern, die auf den Stätten der alteuropäischen Kultur saßen, zu eng in dem Becken des Mittelländischen Meeres, und von den Oceanküsten Europas schweiften die Gedanken der Händler und der Fürsten hinaus in die unbekannte Ferne. Aus dem Orient brachten die Mohammedaner allerlei kostbare Handelsartikel; die Kunde von dem fernen reichen Indien wurde immer volksthümlicher, und es wuchs der Wunsch, mit jenem Wunderland in unmittelbare Handelsbeziehungen zu treten. Was man damals unter Indien verstand, das waren wohl alle Länder am Indischen Ocean von der Sansibarküste Ostafrikas bis zu dem fernen China. Man kannte jene Länder seit geraumer Zeit aus guten Schilderungen wie z. B. denen des berühmten Reisenden Marco Polo, man kannte in großen Umrissen die alte Welt bis zu den Küsten Kathais, d. h. Chinas, und bis zu der Goldinsel Cipangu, d. h. Japan. Es ging aber auch in Europa die Sage, daß in dem fernen Orient sich ein christliches Reich unter dem Erzpriester Johannes befinde, und wenn die Kunde von den Handelsschätzen die Kaufleute entflammte, so spornte die Sage von jenem Christenreiche die Fürsten, welche mit den Mauren kämpfen mußten, zu Entdeckungsfahrten an. Man wollte den fernen unbekannten Brüdern die Hand reichen, sich mit ihnen verbünden und so die verhaßten Mohammedaner von zwei Seiten angreifen.

Das Kloster La Rabida in Spanien.

Dank dem weiten Blicke des Prinzen Heinrich des Seefahrers übernahm Portugal die Führung in diesem Streben nach hohen und weiten Zielen. Seine Seefahrer beschlossen, Afrika zu umsegeln und dadurch den Seeweg nach Indien zu öffnen. Mit eiserner Ausdauer drangen sie vor, bis Bartolomeu Dias das Vorgebirge der Guten Hoffnung entdeckte und Vasco [178] da Gama am 20. Mai 1498 mit seinem Geschwader in dem Hafen von Calicut an der ostindischen Halbinsel anlangte.

Die Entdeckerarbeit der Portugiesen beruhte auf einem wohldurchdachten und sicheren Erfolg versprechenden Plane, aber sie schritt nur langsam vorwärts, denn erst im Laufe der Jahrzehnte wuchs mit den Erfolgen der Muth der Seefahrer. Das Problem des Seeweges nach Indien beschäftigte lebhaft die Gelehrten und die Handelsleute, und da der Weg um Afrika herum so beschwerlich war, so dachte man darüber nach, ob es nicht einen andern geben könnte, und Kosmographen fanden einen, der sich aus der Kugelgestalt der Erde ergab. Im fünfzehnten Jahrhundert zweifelte kein Gebildeter an der Kugelgestalt der Erde, die ja schon den Gelehrten des Alterthums bekannt war; nur über die Größe dieser Kugel war man nicht einig.

Etwa zweihundert Jahre vor unserer Zeitrechnung wurde von dem Alexandriner Gelehrten Eratosthenes die erste Gradmessung zwischen Syene, dem heutigen Assuan am Nil, und Alexandrien ausgeführt. Eratosthenes berechnete aus derselben die Größe des Erdumfangs auf 5323 geographische Meilen (252000 Stadien), eine Zahl, die der wirklichen später ermittelten (5400 Meilen) sehr nahe kommt. Wenn dieser Erfolg schon allein als eine Glanzleistung der Naturwissenschaft im Alterthum angesehen werden muß, so wurde er noch bedeutungsvoller durch die Lage, welche Eratosthenes der alten damals bekannten Welt auf der Erdkugel anwies. Die Entfernung von den Küsten Spaniens landeinwärts in östlicher Richtung bis zu den Küsten Ostasiens betrug nach seiner Berechnung 120 Grade. Da die Erde aber in 360 Grade eingetheilt wurde, so bedeckte die Ländermasse der alten Welt 1/3 der Erdkugel; 2/3 derselben waren unbekannt; auch diese Rechnung kam, wie sich jeder leicht auf einem Globus überzeugen kann, den thatsächlichen Verhältnissen sehr nahe. Eratosthenes wußte aus dieser Thatsache noch andere Schlüsse zu ziehen; er erörterte die Möglichkeit einer Erdumschiffung und erklärte, daß man recht wohl von Spanien nach Indien unter dem Breitengrade von Rhodus oder Thinä segeln könne, wenn es nicht die große Ausdehnung des Atlantischen Meeres verhindere; denn die bewohnte Erde bedecke nur ein Drittel des ganzen Erdumfanges. „Die bewohnte Erde,“ fügt Eratosthenes hinzu, „heißen wir nur den Welttheil, den wir bewohnen und kennen. Doch mag es in derselben gemäßigten Zone noch einen zweiten, ja mehrere bewohnbare Welttheile geben.“

So war die Frage des Seewegs nach Indien schon vor zweitausend Jahren theoretisch gelöst und zwar in meisterhafter Weise mit dem Hinweis auf die Möglichkeit der Entdeckung eines neuen Welttheiles!

Die Ansichten von Eratosthenes blieben aber für die Nachwelt nicht maßgebend. Spätere Geographen machten die Erde etwas kleiner und vergrößerten die Ausdehnung Asiens und Europas derart, daß Spanien von Japan nur durch ein verhältnißmäßig schmales Stück Meer getrennt erschien. In dem Jahre der Entdeckung Amerikas zeichnete der Deutsche Martin Behaim, der „große Kosmograph“, „aus fürbitt und beger der fürsichtigen erbarn und weisen als der obersten Haubtleut der löblichen Reichsstat Nürnberg“ ebendaselbst seinen „Erdapfel“, den ältesten Globus, auf welchem er die Anschauungen seiner Zeit über die Ländervertheilung auf der Erdkugel wiedergab. So wie die Länder auf diesem Globus vertheilt sind, waren sie auch nach der Ansicht aller Kosmographen jener Zeit, Kolumbus nicht ausgenommen, gelagert. Meinungsverschiedenheiten bestanden wohl in Betreff dieser oder jener Insel, in Betreff der großen Länderumrisse herrschte Uebereinstimmung.

Wir haben den Globus Martin Behaims in einer Nachbildung bereits im Jahre 1884 (Seite 176) den Lesern der „Gartenlaube“ vorgeführt. Heute fügen wir unserem Artikel nur den Theil desselben bei, welcher den Ocean zwischen Europa und Asien darstellt. Die Lage Amerikas und die richtige Gestalt der europäischen und afrikanischen Küste sind durch Umrißlinien angegeben.[1]

Aus dieser Zeichnung ersehen wir klar, daß es auf der Erde, wie sie im Zeitalter des Kolumbus in den Köpfen der Forscher sich ausnahm, keinen Raum für einen neuen Welttheil gab. Die Canarischen und Cap Verdischen Inseln sowie die Azoren waren längst bekannt und besiedelt. Das nächste Ziel, dem der Seefahrer, der von Spanien nach Westen segelte, zustreben mußte, war die Insel Cipangu. Zwischen ihr und der bekannten Welt lagen aber nach dem Glauben der Gelehrten noch zwei räthselhafte Inseln, die Insula Antilia und die Insel des heiligen Brandan.

Was lehrt uns diese Karte?

Messen wir die Entfernungen von den Azoren nach Spanien und von den Azoren nach der Insel Cipangu! Sie sind sich annähernd gleich. Nach dieser Karte schien somit eine Fahrt von den Azoren nach der Insel Cipangu kein so tollkühnes Wagniß. Durch diese Irrthümer mußte der Muth der Seefahrer gestärkt werden.

Als sich die Portugiesen mit ihren Fahrten die Küste von Afrika entlang abmühten, gab ihnen ein Italiener den guten Rath, die Westfahrt zu versuchen. Aber dieser Italiener war nicht der berühmte Genuese Christoph Kolumbus, sondern ein Florentiner Arzt, Paolo Toscanelli. Dieser Mann kannte die Schriften Marco Polos und verkehrte mit Nicolo da Conti, der in der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts Indien und die Sundainseln besucht hatte. Er war auch der Meinung, daß Asien sich ungeheuer weit ausdehnen müsse, und er entwarf eine Karte und einen Plan der Westfahrt, die er dem Kanonikus Martinez in Lissabon sandte, damit sie dieser dem König von Portugal vorlege. Das geschah aller Wahrscheinlichkeit nach bereits im Jahre 1474. Die Portugiesen, die an ihrem ursprünglichen Plane der Umsegelung Afrikas festhielten, gingen auf die Vorschläge Toscanellis nicht ein. Einige Jahre darauf trat Kolumbus mit seinen Plänen auf.

*      *      *

Die romanhafte Ausschmückung der Lebensschicksale des Entdeckers der Neuen Welt erstreckt sich auch auf seine Jugendjahre. Seine späteren Verehrer wissen von Universitätsstudien, Kämpfen mit Seeräubern und weiten Fahrten in das nördliche Polarmeer zu berichten. Die strengen wahrheitsliebenden Forscher sehen sich dagegen genöthigt, alle jene Studien und Abenteuer in das Reich der Fabel zu verweisen. Nach ihren Erhebungen gestalteten sich die ersten Lebensjahre des großen Seefahrers viel einfacher.

Christoph Kolumbus wurde in der zweiten Hälfte des Jahres 1446 oder im Frühjahr 1447 als Sohn des Wollwebers Domenico Colombo höchst wahrscheinlich in Genua, und zwar in der Vorstadt vor der Porta San Andrea, geboren. Außer der Wollweberei befaßte sich sein Vater noch mit Handelsgeschäften, in denen er aber kein Glück hatte, so daß er schließlich verarmte. Der junge Christoph betrieb das Gewerbe des Vaters, wobei er in dessen frühzeitig Seereisen unternahm, um Weingeschäfte zu machen; zu diesem Zwecke besuchte er z. B. im Jahre 1474 die Insel Chios.

Im Jahre 1477 kam Domenico Colombo in seinen Verhältnissen derart zurück, daß er sein zweites und letztes Haus in Genua verkaufen mußte. Dieser Umstand veranlaßte den Sohn, der damals dreißig Jahre alt war, die Heimath gänzlich zu verlassen, und da um jene Zeit Portugal eine große Anziehungskraft auf junge unternehmende Ausländer ausübte, so folgte Christoph Kolumbus dem Zuge der Zeit und ging nach Lissabon. Hier gewann er das Herz eines Edelfräuleins Namens Philippa Perestrello, die er heirathete. Der Vater des Edelfräuleins, der um jene Zeit nicht mehr am Leben war, stammte gleichfalls aus Italien und war der erste Lehnsherr der kleinen Insel Porto Santo bei Madeira gewesen. Durch diese Heirath kam Kolumbus in die engsten Beziehungen zu den portugiesischen Kolonisten und Seefahrern, mit ihnen unternahm er Seereisen nach Guinea im Süden und nach England im Norden. Er lernte den Ocean kennen. Aus dem Munde der portugiesischen Kolonisten und Seefahrer vernahm er auch zuerst die dunklen Nachrichten, die über die unbekannten Inseln und Länder jenseit des Atlantischen Oceans verbreitet wurden, über die indischen Pflanzen und Bäume, welche das Meer an die Ufer der Azoren brachte. In Lissabon, dem Sitze aller hervorragenden Kosmographen, der Werkstätte, in welcher Entdeckungspläne ausgearbeitet wurden, lernte er die Bedeutung Indiens kennen und sah, daß die Entdeckerlaufbahn Ruhm, Gewinn und Ansehen bringen könne. Sein Ehrgeiz erwachte; er begann, die Geographie oder, wie man die Wissenschaft damals nannte, die „Kosmographie“ zu studieren. Vor allem fesselte ihn das im Jahre 1410 erschienene Werk [179] Pierre d’Aillys „Imago mundi,“ d. h. „Weltbild“, ein ziemlich kritikloses Buch, auf das sich aber Kolumbus bis an sein Lebensende wie auf eine Autorität berief.

Aus diesem Buche schöpfte er die Ueberzeugung, daß der Ocean zwischen der Westküste Spaniens und der Ostküste Indiens nur sehr schmal sei, so daß man mit günstigem Winde in wenigen Tagen hinübersegeln könnte; aus ihm erfuhr er, daß das Paradies auf einem Berge im fernen Osten liege, und viele andere Dinge, die er auf seinen späteren Fahrten entdeckt zu haben glaubte.

In Lissabon erhielt er auch Kunde von dem Plane und der Karte, welche Toscanelli dem König Alfons V. von Portugal gesandt hatte. Schon damals brannte in seinem Herzen der Wunsch, auf Entdeckungen auszugehen, und er wandte sich brieflich an Toscanelli mit der Bitte um die Seekarte. Eigenthümlicherweise verschwieg er dem Florentiner Gelehrten, daß er sein Landsmann sei, und gab sich für einen Portugiesen aus. Toscanelli sandte Kolumbus bereitwilligst die gewünschte Karte und die Abschrift seines vor langer Zeit an den Kanonikus Ferdinand Maratinez gerichteten Briefes, in welchem der Plan der Westfahrt nach Indien genau beschrieben war. Die Karte Toscanellis ist verloren gegangen, aber aus dem erhaltenen Briefe erhellt, daß sie die Küsten Europas und Asiens in derselben Weise darstellte, wie dies auf dem Globus von Behaim der Fall war.

Von nun an war Kolumbus von der Möglichkeit, Indien auf dem Seeweg nach Westen zu erreichen felsenfest überzeugt; von nun an beginnt seine Entdeckerlaufbahn.

Der Atlantische Ocean nach Martin Behaim.

Er mußte aber zur Ausführung des Planes irgend einen Fürsten gewinnen. Am nächsten lag ihm der Hof von Portugal. Indessen König Alfons V. kannte diesen Plan wohl, ohne ihn weiter zu verfolgen; es wäre müßig gewesen, sich an ihn nochmals zu wenden. Da starb König Alfons im Jahre 1481 und ein unternehmungslustigerer Herrscher, Johann II., bestieg den Thron. An ihn trat jetzt Kolumbus heran.

Der künftige Entdecker der Neuen Welt stand vor den Räthen des Königs, die in nautischen Fragen sicher gebildeter waren als er, und begründete vor ihnen einen Plan, den sie längst kannten. Er imponierte ihnen nicht und man hielt ihn hier für einen „Prahler und Schwätzer“. Um so mehr war man aber erstaunt, als man die Forderungen des kühnen Fremdlings hörte. Er forderte Erhebung in den Adelstand, den Titel „Admiral des Weltmeeres“, die Würde eines Vicekönigs der neuentdeckten Länder und andere Ehren und Vortheile. Solche Auszeichnungen hatte die Krone von Portugal damals selbst ihren bewährtesten Entdeckern nicht eingeräumt. Der König lehnte das Anerbieten des Kolumbus ab, und die Portugiesen setzten ihre Fahrten längs der Küste von Afrika fort. Dies geschah um das Jahr 1483.

Da verließ Kolumbus Portugal und wandte sich nach Spanien. Am Hofe von Ferdinand und Isabella gab es keine so bewanderten Kosmographen wie in Lissabon, in dieser Beziehung brauchte also Kolumbus nicht soviel zu fürchten; aber in Spanien fehlte der Sinn für Handelsfahrten, und so mußte Kolumbus sich nach einem andern treibenden Grunde für die Ausrüstung einer Expedition umsehen. Und diesen fand er leicht. In Spanien tobte der Krieg gegen die Mauren; die Glaubensfrage beherrschte die öffentliche Meinung, und so stellte Kolumbus die Bekehrung der Heiden in den fernen Ländern und die Beschaffung von Goldschätzen zur Wiedereroberung des Heiligen Grabes als das Hauptziel seiner Expedition auf.

Der spanische Hof nahm sein Anerbieten durchaus nicht kühl auf. Bevor man aber Schiffe für Entdeckungsreisen ausrüstete, wollte man zuerst die Beendigung des Krieges mit den Mauren abwarten. Kolumbus erhielt eine kleine Unterstützung und wurde auf die Zukunft vertröstet.

Es begann für ihn die schwere Prüfungszeit des Wartens und der Ungewißheit, und da Granada sich länger vertheidigte, als man angenommen hatte, beschloß er, Spanien zu verlassen und sein Glück in Frankreich zu versuchen.

In der Nähe der Hafenstadt Palos erhebt sich auf einem dürren Hügel das alte Franziskanerkloster la Rabida. Dem fremden Wanderer, der es heute besucht, wird auf einer Plattform ein kleines Kreuz gezeigt. An dieser Stelle brach im Jahre 1491 Kolumbus erschöpft zusammen und bat die Mönche um Wasser und Brot für sich und seinen kleinen Sohn Diego. Eines der Gemächer des Klosters ist heute mit Gemälden geschmückt, welche Scenen aus den Entdeckungsfahrten des Kolumbus darstellen; von den Fenstern desselben blickt man auf den Ocean hinaus, und hier im Angesicht des Meeres klagte der fremde Seefahrer den Mönchen seine Noth, erzählte von seinen kühnen Plänen und seinen getäuschten Hoffnungen. Die Franziskaner meinten wohl, daß es rathsam sei, den seltsamen Menschen in spanischen Diensten festzuhalten, und da einer derselben, der Pater Juan Perez de Marchena, Beichtvater der Königin Isabella war, so gelang es ihm, zwischen dieser und Kolumbus zu vermitteln. Das war ein Wendepunkt in dem Geschick des Weltentdeckers. Granada fiel im Januar 1492; ein Vertrag zwischen Kolumbus und der Krone von Spanien kam zustande; drei Schiffe wurden für die Westfahrt ausgerüstet, und bereits am 3. August 1492 konnte das Geschwader den Hafen von Palos verlassen.

In unserer Zeit, die Hunderttausende, ja Millionen für Entdeckungsexpeditionen ausgiebt, dürfte es interessieren, zu erfahren, wieviel diese erste Fahrt des Kolumbus, die denkwürdigste aller Seefahrten, Spanien gekostet hat. Die Gesammtkosten werden auf 1140000 Maravedis angegeben, und dies beträgt laut einer Berechnung von Sophus Ruge nach unserm Gelde 29184 Mark!

Was Kolumbus mit seiner ersten Fahrt bezweckte, das hat er klar und deutlich in der Einleitung zu seinem Bericht über die erste Reise an Ferdinand und Isabella ausgesprochen. Dieselbe lautet:

„Nachdem Eure Hoheiten in diesem gegenwärtigen Jahre 1492 dem Kriege gegen die Mauren, welche in Europa regierten, ein Ende gemacht und in der großen Stadt Granada Friede geschlossen, dieses selbe Jahr am 2. Tag des Monats Januar sah ich in Kraft der Waffen die königlichen Banner Eurer Hoheiten auf den Thürmen der Alhambra wehen und sah den maurischen König aus den Thoren seiner Stadt ziehen und die Hände Eurer Hoheiten küssen.

In demselben Monat beschlossen Eure königlichen Hoheiten in Ihrer Eigenschaft als katholische Christen und Liebhaber und Verbreiter des heiligen christlichen Glaubens und als Feinde des Mohammedanismus und aller Abgötterei und Ketzerei, mich, Christoph Kolumbus, nach den Gegenden Indiens zu schicken, von denen ich Euren Hoheiten Kunde gegeben, und mich an den Fürsten Grand Khan zu beordern, der in unserer Sprache König der Könige heißt. Dieser hatte wie seine Vorfahren nach Rom geschickt, um Lehrer in unserem allerheiligsten Glauben zu erbitten, [180] auf was der Heilige Vater nie eingegangen ist, wodurch so viele Völker in Götzendienst und Sünden dahingestorben sind.

Eure Hoheiten gedachten mich, Christoph Kolumbus, in besagte Gegenden Indiens zu schicken und genannte Fürsten, Völker und Länder kennenzulernen, ihre Verhältnisse, Anlagen und Neigungen zu erforschen, damit man wisse, wie man sich zu benehmen habe, um dort unsern allerheiligsten Glauben einzuführen. Sie befahlen mir, nicht, wie sonst geschieht, zu Land nach dem Orient zu reisen, sondern Indien auf dem Weg nach Westen hin zur See aufzusuchen, was, soviel man weiß, bisher noch von niemand versucht worden ist.“

Dieser Auftrag, die Karte Toscanellis und die in d’Aillys „Imago mundi“ verzeichneten Ansichten beherrschten Kolumbus ganz und gar, und erst wenn wir uns diese Thatsachen vergegenwärtigen, wenn wir stets den Globus von Martin Behaim vor Augen haben, können wir das Thun und Handeln des Kolumbus auf seinen Reisen verstehen. Er sucht nicht die alten Landkarten der Erde nach seinen Entdeckungen umzumodeln, sondern vielmehr seine Entdeckungen mit jenen in Einklang zu bringen. So glaubt er felsenfest, Indien erreicht zu haben, so hält er die Insel Haiti für Cipangu und läßt von seinen Matrosen auf Cuba eine Urkunde ausstellen, daß sie das Festland Asiens betreten hätten. Auf die Richtigkeit seiner Karte vertrauend, steuerte er auch sicher von den Canarischen Inseln nach Westen; denn er mußte ja hier an der Insel Antilia vorüber geradeaus nach Cipangu gelangen.

*      *      *

„Land! Land!“ Durch Nebelbänke getäuscht, stießen die Matrosen auf der ersten überoceanischen Fahrt wiederholt diesen Ruf aus, bis am 12. Oktober wirklich der Strand von Guanahani erblickt wurde. Die Kanone erdröhnte und mit Freudenthränen sangen die Mannschaft und der Führer das „Te Deum laudamus“. Mit fliegenden Fahnen landeten die Spanier auf der kleinen Bahamainsel, welche von Kolumbus „San Salvador“ genannt wurde, fielen auf die Kniee, küßten den Boden und ergriffen von dem Lande Besitz für den König und die Königin von Kastilien und Leon.

Kolumbus wird in Ketten nach Spanien zurückgebracht.
Nach einem Gemälde von F. Jover.

Bald nahten die Eingeborenen. „Im Gru[nde] schienen sie mir armselig,“ schrieb Kolumbus. „Wie ihre Mütter sie auf die Welt gesetzt, gingen sie nackend.“

Ja, es waren armselige Insulaner, deren Speere nur aus Stäben mit einem Fischzahn anstatt der Eisenspitze bestanden; aber in ihren Nasen trugen sie Goldblättchen als Schmuck und gaben dieselben gern für Glöckchen, bunte Mützen und Glasperlen hin. Nach der Herkunft des edlen Metalls befragt, wiesen sie nach Süden, und Kolumbus brach schon am 14. Oktober dorthin auf. Er berührte drei kleinere Inseln, die er „S. Maria de la Concepzion“, „Fernandina“ und „Isabella“ nannte. Sie waren schön, aber von dem Reichthum Indiens war auf ihnen nichts zu sehen. Die Herbstregen nahten damals ihrem Ende und die tropische Natur prangte in ihrer Jugendfrische, in diesem herrlichen Schmucke stellte sich den Entdeckern am 28. Oktober auch ein Hafen der Insel Cuba vor. Der gelehrte Jude Luis de Torres, der Hebräisch, Chaldäisch und Arabisch verstand, und der Spanier Rodrigo de Perez unternahmen eine Expedition in das Innere des Landes, um den Großkhan aufzusuchen! Sie fanden Dörfer und lernten die Sitte des Tabakrauchens kennen; den Großkhan fanden sie nicht, wohl aber erfuhr Kolumbus, daß in der Nähe eine goldreiche Insel Babeque liege. Dorthin wandte er sich und entdeckte Haiti oder Hispaniola, wo er endlich Gold in einem Flusse, dem Rio del Oro, fand. Hier strandete am Weihnachtstage sein Admiralschiff, und hier wurde die erste Niederlassung „Navidad“ gegründet. Etwa vierzig Spanier unter Führung von drei Offizieren bezogen die „Burg“, aber niemand von ihnen sollte Spanien wiedersehen. Bevor Kolumbus wiederkehrte, war die erste Ansiedlung in der Neuen Welt von den Eingeborenen völlig vernichtet worden.

Doch wer kennt nicht die Reisen des Kolumbus, die ersten Eindrücke, welche die Neue Welt auf den staunenden Spanier ausübte? Die volkreichen Städte Indiens hatte man nicht gefunden, aber war nicht die Natur indisch, tropisch, und hatte man nicht bei den Eingeborenen Gold gefunden? Sicher hatte man den Ostrand Indiens erreicht. In diesem Glauben segelte Kolumbus heimwärts.

Nun feierte der Seefahrer seinen größten Triumph. Vom Jubel des Volkes begrüßt, zog er durch Spanien nach Barcelona, wo der Hof sich aufhielt. Umgeben von den Großen des Reiches, empfingen ihn der König und die Konigin in huldvollster Weise.

Da zeigte Kolumbus die verschiedenen Pflanzen der Neuen Welt, gegen vierzig prächtig gefärbte Papageien, auch sechs Indianer traten auf; Goldproben legte er vor, indem er dabei in bewegten Worten die Pracht Indiens und die Gutmüthigkeit der Bewohner schilderte, die sich leicht zum Christenthum würden bekehren lassen. Es war der glorreichste Tag seines Lebens.

Noch in demselben Jahre 1493 trat Kolumbus seine zweite Reise an. Diesmal stand er an der Spitze einer wirklichen Flotte. Vierzehn Karavellen, drei Lastschiffe und auf ihnen etwa 1200 Bewaffnete gingen mit Christoph Kolumbus nach der Neuen Welt. Der Admiral hatte jetzt eine doppelte Aufgabe zu lösen. Zunächst sollte er eine Kolonie gründen und dann seine Entdeckungen fortsetzen, von der Insel Hispaniola, die er für Cipangu hielt, nach Kathai und Indien segeln und rund um Afrika nach Spanien heimkehren. Es sollte sich bald zeigen, daß er beiden Aufgaben auf einmal nicht gewachsen war.


Die Kolonisten, die mit Kolumbus nach Hispaniola kamen, waren verwegene Menschen, und sie wurden nicht nur von Missionaren, sondern auch von Bluthunden begleitet, die später eine so düstere Rolle in der Neuen Welt spielen sollten. Diese Abenteurer geriethen bald in blutige Händel mit den Indianern, und da das Gold nicht so reich floß, der Admiral und Vicekönig harte Abgaben auferlegte, so waren sie mit ihm nicht zufrieden. Während Kolumbus mit Entdeckungsfahrten auf den Antillen beschäftigt war, gingen inzwischen Schiffe von Hispaniola nach Spanien und wieder von dort nach der Neuen Welt. Der Admiral fürchtete, daß die Unzufriedenen ihn verleumden möchten, er gab den Entdeckerruhm preis, um seine Vortheile als Vicekönig zu wahren, verzichtete auf den Plan [181] der Weltumsegelung und kehrte auf dem Atlantischen Ocean nach Spanien zurück.

Der Tod des Kolumbus.
Nach einem Gemälde von F. Ortega.

Seine Lage am Hofe war jetzt schwieriger geworden. Die Antillen hatten wenig Gold und nur ein paar hundert Sklaven für die andalusischen Sklavenmärkte geliefert. Dadurch wurden die Kosten der Expedition nicht gedeckt, und die Gegner des Admirals hatten ein leichteres Spiel.

Noch einmal gelang es ihm aber, die Besorgnisse der Regierung zu zerstreuen, und um sein indisches Reich besser zu bevölkern, faßte er den Gedanken, dorthin Sträflinge zu verpflanzen.

Es war eine schlechte Gesellschaft, die er auf seiner dritten Reise über den Ocean führte.

Während er die neuen Kolonisten nach Hispaniola sandte, wandte er sich selbst nach Südwesten, wo er reichere Länder zu entdecken hoffte. Am 31. Juli 1498 erblickte er die Insel Trinidad und ihr gegenüber zum ersten Male das Festland von Amerika. Er legte keinen Werth auf die Entdeckung und verfolgte sie nicht weiter, obwohl er sich in der Nähe des irdischen Paradieses wähnte. Der „Vicekönig“ ließ ihm keine Ruhe; er wandte sich zurück nach Hispaniola.

Hier gährte es. Es gefiel den Spaniern nicht, daß die Brüder des Vicekönigs, Bartholomäus und Diego, herrschten, umsoweniger, als das Leben in der Kolonie kein glückliches genannt werden konnte. Die Auswanderer hatten geglaubt, daß sie schnell reich werden würden, sie mußten aber in Wirklichkeit Entbehrungen ertragen und den vierten Theil ihres Goldes an Kolumbus abliefern, der mit eiserner Strenge auf seinen ihm verbürgten Vortheil bedacht war. Die Spanier auf Hispaniola sehnten sich nach ihrer Heimath zurück, unter ihnen war der Schwur gäng und gäbe: „Sobald mich Gott wieder nach Kastilien bringe!“ und vor den Thoren des königlichen Palastes in Spanien saßen die getäuschten bereits heimgekehrten Ansiedler, wiesen mit den Fingern auf die Söhne des Kolumbus, die als Pagen am Hofe lebten, und riefen: „Schaut die Püppchen, die Söhne des Almiranten, der die Länder des Trugs und der Trübsal, den Kirchhof kastilianischer Hijosdalgos (Landedelleute) entdeckt hat!“ Als vollends die von dem oceanischen Indien heimkehrende Flotte anstatt der Gewürze Indiens und des versprochenen Goldes wieder eine Ladung indianischer Sklaven brachte, rief die Königin selbst entrüstet: „Welche Vollmacht besitzt der Admiral, meine Unterthanen irgend wem zu verkaufen?“ Und sie ließ sämmtliche Indianer wieder freigeben und auf den nächsten Schiffen nach ihrer Heimath zurücksenden.

Kolumbus selbst berichtete Ungünstiges aus seiner Kolonie, er schrieb, daß er zur Niederwerfung des Aufstandes das Schwert benutzen werde, und er bat selbst um einen ordentlichen Richter.

Die Krone sandte diesen Richter, welcher das Recht hatte, Personen, die ihm nicht passend schienen, aus der Kolonie zu entfernen. Die Wahl fiel auf den ungestümen Francesco de Bobadilla. Als dieser am 23. August 1500 in den Hafen von San Domingo einfuhr, sah er rechts und links die Leichen von sieben Spaniern am Galgen bleichen. Kolumbus war in der Stadt nicht anwesend, und der Anblick der Gehenkten, sowie der Bericht der Unzufriedenen mochten in Bobadilla die Ueberzeugung wachgerufen haben, daß der Genuese wirklich grausam und habgierig sei.

Nun beschloß der Richter, den Admiral und Vicekönig aus der Kolonie zu entfernen; aber er ging sicher zu weit und handelte nicht im Sinne der Krone, als er ihn in Ketten schlagen ließ. Kolumbus fühlte es, und als man ihm während der Ueberfahrt die Ketten abnehmen wollte, wehrte er ab und meinte, Spanien solle die Schmach sehen, die ihm angeblich auf königliches Geheiß als Lohn für seine hohen Verdienste angethan werde. Daß er in Ketten vor dem Hofe erschien, ist eine der später erdichteten Legenden. Im Gegentheil, man empfing ihn in Ehren und suchte ihn zu versöhnen, aber man setzte kein Vertrauen mehr in seine kolonisatorischen Fähigkeiten – und man hatte darin recht. Kolumbus jedoch bestand auf seinen Privilegien als Vicekönig, und wohl ist es wahr, daß er die Ketten absichtlich in seiner Wohnung aufhängen und zuletzt in seinen Sarg legen ließ. Kolumbus in Ketten ist gewiß eine der Tragödien der Weltgeschichte; aber er trug die Ketten, weil er zu sehr an seinem Vicekönigthum hing.

Tiefer als durch diesen schmachvollen Undank wurde Kolumbus durch andere Ereignisse gebeugt. Seine indische Kolonie blühte nicht auf, sie mußte eher vom Mutterland erhalten werden. Inzwischen aber war es Vasco da Gama gelungen, Indien, das wirkliche Indien zu erreichen, und reich beladen mit den kostbarsten Gewürzen landete die portugiesische Flotte in Lissabon. Die [182] indischen Inseln des Kolumbus erschienen ziemlich werthlos, alle Kaufleute drängten nach Lissabon, um durch Vermittlung der Portugiesen mit dem wirklichen Indien Handelsbeziehungen anzuknüpfen. Und doch konnte jenes portugiesische Indien nicht mehr weit von Haiti, der Goldinsel Cipangu, liegen! Kolumbus raffte sich zu seiner vierten, letzten Fahrt auf, um eine Durchfahrt nach dem „Meere jenseit des Ganges“ zu finden. Aber sein sinkender Stern sollte nicht mehr steigen. Er erreichte die Küste von Centralamerika, allein weder die gesuchte Durchfahrt, noch volkreiche Länder, noch die Gewürze Indiens wollten sich zeigen. Er erfuhr nur Demüthigungen und Enttäuschungen, und gebrochen an Leib und Seele kehrte er nach Spanien zurück.

Er stritt mit der Regierung um seine ihm früher verbürgten Rechte, aber die Sonne der königlichen Huld schien ihm nicht mehr. Die Meere wurden von anderen weniger anspruchsvollen Entdeckern befahren. Man brauchte Kolumbus nicht mehr – er war ein vergessener, verschollener Mann. Am 21. Mai 1506 erreichte ihn zu Valladolid der Tod, umgeben von seinen treuen Freunden, den Franziskanern, hauchte er seinen Geist aus. Seine Leiche wurde zuerst in dem Franziskanerkloster zu Valladolid beigesetzt, erst später führte man den Sarg nach Sevilla über und hier erhielt er die Inschrift:

„A Castilla y à Leon
Nuevo mundo diò Colon.“

(Für Kastilien und Leon fand eine neue Welt Colon.)

Dies geschah später, denn unmittelbar nach dem Tode des Weltentdeckers war sein Name fast völlig verschollen. Die Zeitung von Valladolid erwähnte mit keiner Silbe das traurige Ereigniß, das sich in den Mauern der Stadt vollzog, und Geographen, welche Bücher über „Unbekannte landte“ herausgaben, meinten noch im Jahre 1508, daß Kolumbus „noch auf die gegenwertigen Tage“ am spanischen Hofe lebe.

„Durch seinen Tod,“ schreibt Peschel, „entging Kolumbus wenigstens einem Schicksalsschlage, den er vielleicht schwerer getragen hätte als die Handschellen Bobadillas. Es war ihm vergönnt, den glorreichen Wahn ins Grab zu nehmen, daß Cuba eine Provinz des chinesischen Reiches, Hispaniola die Insel Cipangu sei, und daß zwischen dem karibischen und bengalischen Golfe keine wasserbedeckte Halbkugel, sondern nur eine Landenge liege. Der Entdecker Amerikas ist ohne eine Ahnung gestorben, daß er einen neuen Welttheil gefunden habe. Er hielt den Abstand Jamaikas von Spanien für den dritten Theil eines irdischen Breitenkreises und rief deshalb aus: ‚Die Erde ist lange nicht so groß, als der Pöbel glaubt!‘ Die Verdoppelung der Welt um ein neues Festland lag nicht in Colons Sinn, und tief hätte seine That erniedrigt geschienen, wenn er hinter dem bezwungenen Ocean ein neues Weltmeer entmuthigt hätte gewahren müssen, denn seine Aufgabe, den Westen mit den morgenländischen Kulturreichen zu verknüpfen, hinterließ er nur halberfüllt.“

Die Nachfolger des Kolumbus mußten seine Irrthümer widerlegen und nach und nach der Welt Beweise beibringen, daß man auf der Fahrt nach Westen nicht den Ostrand Asiens, sondern einen neuen Erdtheil erreicht habe. Eine unmittelbare Bedeutung, welche der Indiens hätte gleichkommen können, zeigte aber dieser neue Erdtheil auch im Anfang des sechzehnten Jahrhunderts nicht; denn was man zuerst entschleierte und mit dem Namen „Amerika“ bezeichnete, das waren die mit Urwäldern bedeckten, von Wilden bewohnten Küsten Brasiliens. Von der wirklichen Größe Amerikas hatte auch Waldseemüller, welcher dem neu entdeckten Lande nach dem Florentiner Forschungsreisenden Amerigo Vespucci seinen Namen gab, keine Ahnung.

Erst als Cortez und Pizarro ihre Eroberungszüge antraten, als Spanien mit dem Golde Amerikas überfluthet wurde, erkannte man die Tragweite der Entdeckung des Genuesen. Erst dann besann man sich auf den vergessenen Seefahrer, erwies dem Toten Ehren und schrieb seine Lebensgeschichte, die man mit Legenden schmückte. Erst zwischen 1540 und 1559 erfüllte man seinen Wunsch und setzte seine sterblichen Ueberreste in der Kirche von San Domingo bei. Spanien war stolz auf den Fremdling, und als es im Jahre 1795 die Insel Haiti an Frankreich abtreten mußte, wurde der Bleisarg mit den Gebeinen des Weltentdeckers nach Habana gebracht und am 19. Januar 1796 feierlich im Dome dort beigesetzt. In späterer Zeit suchte man auch ein Bildniß von Kolumbus ausfindig zu machen; verschiedene Schriftsteller gaben verschiedene Porträts, seien es Oelgemälde oder Holzschnitte, für echt aus, aber keiner vermochte bisher einen überzeugenden Beweis für die Echtheit eines derselben beizubringen. Unser Bild auf S. 165 giebt ein Gemälde aus dem Marinemuseum zu Madrid wieder, welches dort als Porträt des Kolumbus betrachtet wird. Im übrigen müssen wir uns die äußere Erscheinung des Weltentdeckers nach den Berichten der Zeitgenossen im Geiste zusammenzustellen suchen. Laut denselben war Kolumbus von hoher kräftiger Gestalt, aber nach der Eigenthümlichkeit seines Kopfes hätte man ihn eher für einen Nordländer als für einen Italiener halten sollen. In dem länglichen, gerötheten, mit Sommersprossen bedeckten Gesicht leuchtete ein Paar hellblauer Augen; auch sein Kopfhaar war röthlich, ergraute aber frühzeitig, weshalb man ihn in der Regel für älter hielt, als er wirklich war. Vielfach wurden dem großen Seefahrer Denkmäler errichtet, in Mexiko, auf Cuba, in Barcelona. Unsere Abbildung (S. 185) zeigt uns das schöne Denkmal zu Genua. Die Marmorstatue stützt sich auf einen Anker und weist auf die zu ihren Füßen knieende Gestalt von Amerika. Die runde Säule ist mit Schiffsschnäbeln geziert. Rings um dieselbe sitzen vier allegorische Gestalten: Religion, Wissenschaft, Stärke und Klugheit. Weiter unten sind Ereignisse aus dem Leben des Kolumbus als Reliefdarstelluugen angebracht. Vorn am Sockel befindet sich die Inschrift: „A Christoforo Colombo la Patria“(dem Christoph Kolumbus das Vaterland). Das Denkmal, ein Werk M. Lanzios, wurde im Jahre 1862 auf der Piazza Acquaverde errichtet. Wie viel hatte sich inzwischen seit Kolumbus’ Tode verändert!

Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, von Jahrhundert zu Jahrhundert wuchs die Bedeutung der neuen Welt für die alte. Die Goldschätze Mexikos und Perus waren erschöpft, aber im Norden entrissen Spaten und Pflug dem Boden Amerikas kostbarere Schätze, den goldenen Weizen. Millionen Europäer fanden in der Neuen Welt eine neue Heimath, und es erblühte dort ein neuer Staat, der in den Künsten des Friedens, in den Werken der Kultur mit dem Mutterland wetteifert. Die Gewürze Indiens wurden in Amerika nicht gefunden, aber Amerika schenkte uns den Tabak, dessen Bau und Handel heute die Bedeutung der Gewürze bei weitem übertrifft, es gab uns die Volksernährerin, die Kartoffel – und siehe da, während auf den alten Gewürzinseln die Kultur von Nelken- und Muskatbäumen im Niedergang begriffen ist, sind auf den Antillen, die einst Kolumbus besiedelt hatte, neue Gewürzinseln entstanden, auf denen die Wohlgerüche Indiens geerntet werden. Amerika hat uns die duftende Vanille und das einzige Heilmittel gegen den winzigen Erzeuger der furchtbaren Malaria, das Chinin, geschenkt. Im Laufe der Jahrhunderte haben die alte und die neue Welt ihre Güter tausendfach ausgetauscht. Spanische und deutsche Reben reifen auf amerikanischen Weinbergen und der wilde Wein Kanadiens rankt heute um unsere Lauben.

Im Laufe der Jahrhunderte erkannte die Menschheit, daß die Entdeckung Amerikas das folgenreichste weltgeschichtliche Ereigniß sei, und unsterblich erschien die That des Mannes, der zuerst über den Ocean nach der Neuen Welt steuerte. Unsterblich ist auch darum der Ruhm des genuesischen Seefahrers – er wird alle Denkmäler überdauern, die dem großen Entdecker nachträglich errichtet wurden.

Die Geschichtsforscher machen ihm allerdings seinen Ruhmestitel streitig und belehren uns, daß schon vor Kolumbus Amerika entdeckt wurde. In der That drang das kühne Volk der Normannen auf seinen Fahrten nach Island und Grönland auch weiter westwärts vor und erreichte um das Jahr 1000 n. Chr. das Gestade von Nordamerika. Leif Erikson, d. h. Leif, dem Sohne Eriks des Rothen, gebührt dieses Verdienst, und die Normänner hatten jenes Gestade nicht nur gesehen und betreten, sondern auch besiedelt. Diese Verbindung Europas mit Amerika blieb aber nicht von Bestand. Im fünfzehnten Jahrhundert hatte man bereits den Seeweg nach jenem Lande vergessen. Im Jahre 1476 sandte König Christian I. von Dänemark einen polnischen Seefahrer, Johann von Kolno, in jene nordwestlichen Gewässer aus, und diesem gelang es in der That, Labrador und den Eingang in die Hudsonstraße zu erreichen und somit Amerika zum zweiten Male zu entdecken. Kolumbus wäre also erst der dritte Entdecker von Amerika in geschichtlicher Zeit! Aber die Größe einer Kulturthat muß nach deren Folgen beurtheilt werden, und wenn wir diesen Maßstab anlegen, so bleibt Kolumbus der wirkliche Bahnbrecher auf den unendlichen Fluthen des Atlantischen Oceans.




[183]

Am Scheideweg.

Ein Wort zum Kampf um die Volksschule.


Eine tiefe Bewegung geht durch das deutsche Volk, in Schlesien wie am Rhein, von der Ostsee bis herab zum Süden wird in mächtigen Versammlungen das Bewußtsein kund, daß der Entwurf zu einem neuen Volksschulgesetz, den der preußische Kultusminister beim Landtag eingebracht hat, nicht Gesetz werden dürfe, daß es sich beim Widerstand gegen diese Vorlage nicht um die verletzten Grundsätze einer politischen Partei, auch nicht bloß um eine innere Angelegenheit Preußens handle, daß hier vielmehr das höchste Gut der Freiheit, die Freiheit des Gewissens und der eigenen Ueberzeugung in dem führenden Staate Deutschländs bedroht und damit das ganze Vaterland vor eine dringende Gefahr gestellt sei. Wenige Wochen haben genügt, um diese Bewegung überall hinzutragen, wo man nicht schmälern lassen will, was die letzten vier Jahrhunderte an Freiheit des Denkens gebracht haben, wo man fühlt, mit einer freien Entwicklung der Volksschule hänge der freie Gang des Volkslebens durch tausend Fäden zusammen und das Volk sei es, welches seine Schule schützen, ihr, die vom Volke den Namen trägt, auch den Geist des deutschen Volkes, den Geist der Duldung retten müsse. Allenthalben kommt man zu der Gewißheit, daß man an einem Scheidewege stehe. Hat doch der Urheber des Entwurfes selbst in den Kammerverhandlungen es ausgesprochen, daß sich in diesem Gesetz die Geister scheiden werden, und der Reichskanzler hat das näher erläutert durch das verhängnißvolle Wort: es gelte den Kampf zwischen der Religion und dem Atheismus; damit sind die Gegner des Entwurfs einer gottlosen Weltanschauung beschuldigt. Ueber die Berechtigung eines solchen Vorwurfs zu streiten, dazu ist hier nicht der Ort. Nur das sei angeführt, was Lessing, der Mann der stolzen Wahrheit, einem seiner Gegner antwortete, der ihn mit eben jenem Vorwurf bedachte. „Sagen Sie selbst,“ ruft er voll Entrüstung diesem zu, „wissen Sie infamierendere Beschuldigungen als diese? Wissen Sie Beschuldigungen, die unmittelbarer Haß und Verfolgung nach sich ziehen?“

Und an einen bekannten Vorgang der Geschichte sei erinnert – wohl liegt er um Jahrtausende zurück, aber die Parallele zu dem Worte vom Atheismus trifft darum nicht weniger zu. Als Sokrates in Athen die Jugend um sich sammelte und sie zur Selbsterkenntniß, zum eigenen Denken, zur freien Ueberzeugung anleiten wollte, da stellte man ihn unter die Anklage des Atheismus und gab ihm den Giftbecher zu trinken. Und heute müssen diejenigen, welche die Volksschule nicht binden, der Jugend und ihren Lehrern den Weg zum selbständigen Denken nicht verlegen lassen wollen, Atheisten sein! Freilich, man kann sie nicht vor Gericht stellen und einen Giftbecher giebt man ihnen auch nicht zu trinken. Aber vergiftende Schlagworte fallen und – ja doch, auch mit dem Gericht bleibt der neue Gesetzentwurf in solchen Dingen gar nicht so ferne. Nach ihm sollen Dissidenten, Eltern, die einer staatlich anerkannten Religionsgemeinschaft nicht angehören, in Zukunft von der Behörde gezwungen werden können, ihre Kinder dem Religionsunterricht irgend einer Konfession zu überantworten, deren Lehre ihrer eigenen Ueberzeugung widerstreitet – ist das nicht gerichtlicher Gewissenszwang? Lehrer, deren Religionsunterricht nicht ganz dem kirchlichen Ermessen entspricht, die in ihrem Gewissen sich gebunden fühlen, nicht gegen besseres Wissen übertriebene Zumuthungen des Dogmas und kirchlich-politischer Anschauungen schon den Kindern eiuzupslanzen – sie sollen auf Antrag der Kirchenbehördeu von der Ertheilung des Religionsunterrichts ausgeschlossen und dadurch in der Gemeinde, in der sie wirken, in ihrem Amte unmöglich gemacht werden können. Sind die Lehrer auf diese Weise nicht der Willkür preisgegeben, wird es nicht fast immer gelingen, durch Bemängelung des Religionsunterrichts den Lehrer zu schädigen, der sich nur aus politischen oder persönlichen Gründen mißliebig gemacht hat? Werden nicht Aeußerungen, welche die Schulkinder als angeblich vom Lehrer herrührend aus dem Religionsunterricht mit heimbringen, zu Anklagen benutzt und wird nicht dadurch das Denunzieren unter den Schulkindern gezüchtet, ihr Vertrauen zum Lehrer erschüttert oder vernichtet werden? Kurz, die Lehrer sind vor die Wahl gestellt, im gegebenen Falle entweder ihre Existenz preiszugeben oder zu heucheln – ist das nicht ebenfalls eine Form des Gewissenszwangs und zwar von der nachtheiligsten Art? Denn sie muß gerade die selbständigen und kraftvollen Charaktere, also die Besten aus dem Lehrerstande entfernen!

Wen kann es da Wunder nehmen, daß die Bewegung gegen das Gesetz immer weiter um sich greift, Männer aller Parteien umfaßt? Sollen wir still dabeistehen und zusehen, wie man die Volksschulbildung von jetzt an mit Vorbedacht in eine evangelische und katholische auseinanderlegen und damit ihre Einheit zerreißen will; soll wirklich in erster Linie die deutsche Geschichte nur nach konfessionellen Gesichtspunkten gelehrt und dadurch das Bewußtsein geistiger Einheit der Nation, das in einer unparteiischen Geschichtsbetrachtung lebt und durch sie lebendig wird, unterbunden werden. Soll am Ende schon die Unbefangenheit der Jugend durch jene Gegensätze des kirchlichen Lebens vernichtet werden, die für den Erwachsenen noch immer viel zu früh kommen? Sollen etwa unsere Schuljungen in Zukunft, statt sich als „Franzosen“ und „Deutsche“ zu bekämpfen, unter der Parole „evangelisch“ und „katholisch“ ihre Schlachten schlagen? Da muß sich doch regen, wer immer über alle Meinungsunterschiede im einzelnen hinweg das große Ganze im Auge hat, wer die größten Güter des Volks nicht gefährden will in einer Zeit, welche welterschütternde Ereignisse, Kämpfe von unübersehbarer Gewalt vorzubereiten scheint, wo nicht ernst genug alles vermieden werden kann, was geeignet ist, die geistige Kraft unseres Volkes, den inneren Frieden dauernd zu stören!

Warum denn überhaupt diese Gesetzesvorlage? Ist denn das Bestehende auch dann werth, daß es zu Grunde gehe, wenn es seinen Dienst erfüllt, die besten Früchte gezeitigt hat? Die Höhe, auf der die deutsche Volksschule steht, ist errungen worden ohne jene gefährlichen Neuerungen, die jetzt getroffen werden sollen; man hat es oft genug betont, daß der Krieg von 1870/71 mit Hilfe des deutschen Schulmeisters, mit Hilfe unserer Volksbildung gewonnen worden sei - warum also in so grundstürzender Weise die Bedingungen ändern, unter denen das alles erlangt wurde, mögen sie auch nicht überall vollkommen sein?

Aber man sagt, für künftige Kämpfe reiche eben nicht mehr aus, was doch in den alten den Sieg befördert hat; der Reichskanzler hat erklärt, man brauche die Religion als das beste Mittel gegen den Umsturz aller wirthschaftlichen und staatlichen Verhältnisse, womit wir bedroht werden, und um dieses Mittel umfassender und fruchtbarer zu machen, soll die Freiheit des Gewissens in kirchlichen Zwang gelegt werden. Und das ist es, was das geplante Schulgesetz hineinstellt in einen allgemeinen Zusammenhang, zu einem Symptom unter vielen macht. Die Zeit, sagt man, ist krank, krank daran, „daß der Idealismus uns verloren geht“, krank an wilden Vorschlägen einer Volksbeglückung, die keine ist, und da wird nun dem Patienten eine Zwangskur verordnet, in der Religion das Allheilmittel sein soll. Wo immer ein Schaden aufbricht, da soll Religion staatlich zudiktiert werden, man ruft nach ihr wie sonst nach der Polizei. Und nicht sowohl die Religion selbst hat man dabei im Auge, als vielmehr Zwecke, die ihr fremd sein müssen, den Nutzen, den man aus ihr herauszubringen hofft für den Staat, dem angeblich andere Mittel nicht mehr recht dienlich sein wollen. So sucht man die Religion staatlich aufzudrängen, während sie doch nur als eine frei entstandene Ueberzeugung wirklich nützen könnte; wie man durch eine segensreiche Zwangsversicherung die Leute frei zu machen gesucht hat von der Noth in Unfällen, in Krankheit und Alter, so will man jetzt bei der Religion gegen alle Schäden eine Unfallversicherung für den Staat nehmen und beabsichtigt hier in geistigen, in den innerlichsten Dingen den gleichen Zwang wie dort auf materiellem Gebiet. Das ist eine Uniformierung der Geister, die nur verderblich wirken kann.

Es ist nicht unsere Aufgabe, im Namen der angerufenen Religion zu antworten, aber das darf ausgesprochen werden: gerade diejenigen die es ernst mit ihr meinen, müßten sich die Handlangerdienste verbitten, die sie mit der Religion leisten sollen, gerade sie müßten alle Rücksicht weit abweisen, welche die Religion auf politische Zwecke nehmen soll, da diese nun einmal keine Berechnung irgend welcher Art vertrage und sich also auch nicht als beliebig [184] zu multiplizierende Zahl im großen Einmaleins der Politik mißbrauchen lassen dürfe. Sie müßten den Staat daran erinnern, daß er, wenn er ein christlicher sein wolle, gerade keinerlei Gewissenszwang ausüben dürfe, ja daß dann unendlich viel andere Aufgaben ihm näher liegen würden als eine so zweifelhafte Neuordnung der Volksschule; ob etwa der Staat schon daran gedacht habe, ein christliches Recht zu entwerfen statt des geltenden, wesentlich aus römischen Einflüssen entstandenen, ob er etwa beabsichtige, christliche Grundsätze für das Verhalten der Politik in Frieden und Krieg maßgebend zu machen?

So müßten die berufenen Vertreter der Religion sprechen und sie haben zum Theil ähnlich gesprochen. Wir, die wir nicht ihre Sache zu führen haben, können doch das eine betonen: man wird vergeblich auf dem eingeschlagenen Wege das erstrebte Ziel erreichen wollen, man wird durch religiösen Zwang weder den Idealismus, wo er verloren ging, zurückgewinnen, noch dem Staate eine feste Stütze geben. Denn bloß der kann eine ideale Anschauung haben, der in den Stand gesetzt wird, selber zu suchen und fern von allem, was nach erzwungener Bevormundung aussieht, sich eine freie Ueberzeugung zu bilden; nur der wird ein loyaler Bürger sein und das Bestehende ohne Rückhalt anerkennen, der es als das Rechte zu erkennen vermag. Also freie Bahn, keine Schmälerung dessen, was wir an Gewissensfreiheit haben!

Gewiß, wenn jeder in letzter Linie auf die eigene Ueberzeugung verwiesen wird, so können auch Irrungen und Verwirrungen nicht ausbleiben. Aber dem wehrt man nicht durch die Entziehung der Freiheit, sondern dadurch, daß man auf ihrer Grundlage zu belehren und zu überzeugen sucht. Wie thöricht wäre es, einen Knaben deshalb wieder ans Gängelband binden zu wollen, weil er hie und da noch fällt – man lehre ihn, auf sich selber achten und er geht ungefährdet auf eigenen Füßen.

Gerade darum aber, weil man so deutlich eine falsche Straße gewählt hat, wird das geplante Schulgesetz keinen Bestand haben, auch wenn es siegt. Es giebt Siege, die besser nicht erfochten würden, weil sie die Nothwendigkeit eines Rückschlages in sich selber tragen. Der Strom der Völkerentwicklung wie der Völkerwanderung geht der Sonne, dem Lichte nach, und wer gegen diesen Strom schwimmen und seine Fluth ins Dunkel zurückdämmen möchte, der erlahmt nothwendig vor der stärkeren Gewalt. Jenes Gesetz, jene ganze Geistesrichtung, von der es nur ein einzelnes Symptom ist, sie werden nicht bestehen können, selbst wenn sie siegen. Und noch ist es nicht soweit, noch ist die Bewegung zur Abwehr im Wachsen. Mag man immerhin diese Bewegung eine künstliche nennen und die Geister des Widerstandes, die man doch selbst beschwor, nicht kennen wollen, mag man mit Schlagworten freigebig sein und eintheilen nach Christ und Atheist, nach rechts und links – durch Worte schafft man Thatsachen nicht aus der Welt und kann die klare Sachlage höchstens auf Augenblicke verwirren. Wie man jüngst das Ansinnen gestellt hat, gegen die Lehrfreiheit der Universitäten einzuschreiten, so soll nun im gleichen Geiste gegen die Volksschule vorgegangen werden; an Wurzel und Wipfel des Baumes deutscher Bildung will man die Axt legen. Allein der Schlag soll nicht gelingen. Was wir von unsern Vätern ererbt haben, die Freiheit des Denkens und der Ueberzeugung, die Einheit unserer Volksbildung, das müssen wir erwerben, indem wir es vertheidigen, das müssen wir weitergeben an die kommenden Geschlechter, unverfälscht und unverkümmert.

Wir stehen am Scheidewege: je entschlossener wir dem Ziele freier Wahrheit nachgehen, desto eher ist Aussicht, daß das Gesetz falle und zum besten des Vaterlandes eine wirkliche Scheidung, ein tieferer Kampf der Geister vermieden werde. Es sind nicht die Schlechtesten, die da in die Reihen treten für die innere Freiheit, Lessings Gestalt steht unter ihnen und mag sie mahnen mit dem Worte, das ihm ein Mann von gut deutscher Art in den Mund gelegt hat:

 „Ich stand allein, ihr seid vereint.
Da nehmt dies Schwert von mir, sein Nam’ ist Wahrheit!
Gradaus wie ich, haut durch und schaffet Klarheit!"




Die Influenza.

Von Dr. W. Heß.

Die räthselhafte Krankheit, die in der letzten Zeit zweimal hintereinander ganz Europa von einem Ende zum andern überzog, kann als beinahe erloschen gelten. Unbegreiflich ist sie verschwunden, wie sie unbegreiflich gekommen war. Plötzlich war sie da zu Beginn des Winters, ebenso plötzlich und zu derselben Jahreszeit wie 1889, und sie verschwand in diesem Jahre, genau so wie 1890, mit dem Monat Februar. Damals überfiel sie die europäische Menschheit wie der Feind, der mitten in der Nacht ein wehrloses Lager schlafender Krieger überfällt. Niemand war auf sie vorbereitet; seit mehr denn dreißig Jahren hatte man nichts von ihr gehört, man hatte sie vergessen und der größte Theil der lebenden Aerztegeneration hatte niemals ihre Bekanntschaft gemacht. In diesem Winter hingegen war man gerüstet; man empfing den Feind mit kräftiger Gegenwehr, man lernte seine Tücken kennen, man untersuchte seine Natur und fand eine Reihe von Waffen, mehr oder weniger wirksam, die man mit Geschick und Erfolg anzuwenden wußte. Die Aerzte schlossen sich zusammen und in den Laboratorien wurde das gesammte gewaltige Arsenal moderner Forschung aufgeboten, womit man den bacillären Infektionskrankheiten – als eine solche war die Influenza schon lange erkannt worden – heute auf den Leib rückt. Die Erfolge sind keine geringen gewesen, und als Ausdruck derselben sieht dieser Monat März zwei Erscheinungen ins Leben treten, welche die bisherige Forschung über die Influenza gewissermaßen zusammenfassen: die „Sammelforschung“ des Berliner „Vereins für innere Medizin“ und die „Influenza-Konferenz“, die in London zusammentreten wird.

Um das Dunkel zu lichten, das über der Krankheit lag, die man heute mit dem italienischen Namen „Influnenza“ bezeichnet und die früher „Grippe“ genannt wurde, erwählte der „Verein für innere Medizin“ zu Anfang des Jahres 1891 einen Ausschuß, um eine sogenannte Sammelforschung über die Seuche anzustellen. Eine „Sammelforschung“ nennt man eine Erhebung, die durch Fragebogen bewirkt wird; man schickt die sorgfältig ausgearbeiteten Fragebogen an alle Personen, von denen man voraussetzen darf, daß sie über die betreffende Sache etwas zu sagen wissen.

Der Umfrage des Berliner „Vereins für innere Medizin“ haben nicht weniger als 6000 Aerzte entsprochen! Man kann sich denken, welch’ eine Riesenarbeit es sein mußte, ein so ungeheures wissenschaftliches Material zu sichten und methodisch zu verarbeiten. Indessen ist diese Arbeit doch schon so weit gefördert, daß sie nahezu als abgeschlossen bezeichnet werden darf. Die Antworten der Aerzte beziehen sich naturgemäß in ihrer großen Mehrzahl auf die Epidemie von 1889/90; aber auch die diesjährige Epidemie konnte doch schon in gewissem Grade berücksichtigt werden. So wird die Publikation des Berliner Vereins den Verhandlungen des Londoner Kongresses eine breite Grundlage geben; Sache des Kongresses wird es sein, die Arbeit deutschen Forscher- und Sammelfleißes durch die Erfahrungen jüngsten Datums und die Beobachtungen aus anderen Ländern zu ergänzen.

Ein besonderer Werth wird dem Werke des „Vereins für innere Medizin“ verliehen durch die beigegebenen Karten. Es befindet sich darunter zunächst eine allgemeine Uebersichtskarte über die Ausbreitung der Influenza von 1889/90 über alle Erdtheile. Ergänzt wird diese Karte durch zwei andere: auf einer von ihnen sind für alle Länder die Zeiten dargestellt, in welchen die Epidemie geherrscht hat, auf der zweiten sind die Zeitpunkte des Auftretens der Seuche in den hauptsächlichsten Städten Europas zur Anschauung gebracht. In weiteren 22 Karten werden die Mit- und Nachkrankheiten der Influenza im Verhältniß zur Bevölkerung und zur Zahl der Erkrankten übersichtlich vorgeführt. Doch beziehen sich diese Karten nur auf Deutschland.

Ueber alle Fragen, die hinsichtlich der Influenza aufgetaucht [185] sind, bringt das Werk des „Vereins für innere Medizin“, das man wohl als epochemachend bezeichnen kann, umfassende, in einigen Punkten erschöpfende Aufklärung. Die Zeit ist vorbei, da die Aerzte der tückischen Krankheit als Neulinge gegenüberstanden. Auch die geschichtliche Forschung hat ihre Bearbeiter gefunden, und dabei hat es sich herausgestellt, daß die Influenza, weit entfernt, eine neue Krankheit zu sein, eine der ältesten ist, welche die Menschheit geplagt haben. – Schon in den überlieferten Schriften der Alten finden sich Hindeutungen auf eine Krankheit, die mit der Influenza identisch gewesen sein muß. Nach einer Beschreibung des Hippokrates, des Stammvaters der Aerzte, und einer späteren Erwähnung des römischen Historikers Livius muß im Jahre 412 v. Chr. eine Influenza-Epidemie in den Mittelmeerländern gewüthet haben. Ganz sicher festgestellt ist das Erscheinen der Influenza im Jahre 1387, seit welcher Zeit sie in regelmäßiger Wiederkehr aufgetreten ist, in mehr oder weniger ausgebreiteten Epidemien. Germain Sée, der berühmte Pariser Kliniker, veröffentlicht folgendes Dokument aus dem Jahre 1427, entnommen dem „Tagebuch eines Bürgers der Stadt Paris unter den Königen Karl VI und Karl VII“, also eines Zeitgenossen der Jungfran von Orleans:

Das Kolumbusdenkmal in Genua.


„Item, zu dieser Zeit, ungefähr fünfzehn Tage vor Sainct Rémy (d. h. um den 15. September, da Saint Rémy am 1. Oktober ist) war eine schlechte verdorbene Luft, welche eine sehr böse Krankheit herbeibrachte, genannt die ‚Dando‘, und es gab nicht einen einzigen Menschen, der sie nicht fühlte während der Zeit, da sie andauerte. Und so war die Art, wie sie verlief: sie begann in den Nieren und in den Schultern, und es war keiner, von dem sie Besitz ergriffen hatte, der nicht glaubte, blasenkrank zu sein, so grausame Schmerzen verursachte sie, und danach bekamen alle starke Fieberschauer, und es dauerte wohl 8 oder 10 oder 15 Tage, daß man weder trinken, noch essen, noch schlafen konnte, die einen mehr, die andern weniger; danach bekam jeder einen so bösen Husten, daß, wenn man in der Kirche war, man nicht hören konnte, was der Prediger sagte, wegen des großen Geräusches der Huster.

„Item, blieb sie von großer Heftigkeit wohl bis 15 Tage oder mehr über Toussains (Allerheiligen, 1. November). Und es wurde nicht mehr Mann oder Weib gefunden, so nicht Mund oder Nase mit schwerem Ausschlag bedeckt hatten, und wenn man sich begegnete, fragte einer den anderen: ‚Hast du noch nicht die Dando gehabt?‘ Wenn er nein sagte, antwortete man ihm alsbald: ‚So nimm dich wohl in acht, daß du sie nicht zu schmecken bekommst!‘ Und man lügt wahrhaftig nicht, daß es damals weder groß noch klein, weder Weib noch Kind gab, die nicht Entzündung oder Fieber oder langdauernden Husten hatten.“

Damals also hieß die Influenza „Dando“, wahrscheinlich ebenfalls ein italienischer Ausdruck. Das 16. Jahrhundert erlebte vier heftige Epidemien: 1510, 1557, 1580 und 1593; während der ersten von diesen starben z. B. in Rom 9000 Menschen. Mit der letzten aber erleidet die Influenza eine seltsame Veränderung geographischer Natur. Bis dahin wanderte sie nachweisbar von Westen nach Osten; seit dem 17. Jahrhundert jedoch sind alle Influenzaseuchen von Osten gekommen und haben sich westwärts verbreitet, so daß einige Forscher früher, allerdings irrthümlich, annahmen, der Herd der Krankheit sei in China zu suchen. Merkwürdig ist auch die Veränderung, die in der Geschwindigkeit ihres Laufes eingetreten ist. Die Epidemie brauchte 1780 mehr als sechs Monate, um von Petersburg nach Paris zu kommen; 1837 legte sie denselben Weg in weniger als sechs Wochen zurück; 1890 aber in drei Tagen. Wenn man noch 1857/58, in dem Jahre, wo Europa die letzte Grippe-Epidemie zu überstehen hatte, ein Jahr rechnete für die Zeit, welche die Krankheit brauchte, um sich über den ganzen Erdtheil auszubreiten, so haben die letzten Epidemien von 1889/90 und 1891/92 gezeigt, daß sie jetzt dazu nur weniger Wochen bedarf. Diese Beschleunigung hängt wahrscheinlich mit der Beschleunigung des Verkehrs zusammen. Die Eisenbahnzüge führen den Ansteckungsstoff an einem Tage über Hunderte von Meilen fort.

Um ein richtiges Verständniß von der Sache zu gewinnen, ist es erforderlich, daß man die Ausbreitungsweise, den Gang der Epidemie von 1889/90 kennenlernt. Man hat sie bis nach Buchara in Turan zurückverfolgt; dort trat sie schon im Mai 1889 auf. Von hier aus verbreitete sie sich in zwei Richtungen: nach dem Kaukasus und nach Sibirien. Von diesen beiden Seiten her überzog sie Rußland, in erster Reihe die großen Städte befallend.

[186] Nun schritt sie schnellen Ganges in westlicher Richtung weiter über ganz Europa, vornehmlich die mittleren und nördlichen Striche des Erdtheils überziehend, bog dann aber wieder nach Osten um und durcheilte Südeuropa, Afrika, Australien und Südasien. Zu gleicher Zeit durchwanderte sie Amerika von Norden nach Süden. Fast überall war die Epidemie in 6–8 Wochen abgelaufen, nachdem sie ihren Höhepunkt, der zugleich auch allerorten mit der größten Sterblichkeit zusammenfiel, Wochen nach dem ersten Auftreten erreicht hatte. In Berlin wurden die ersten Erkrankungen Ende November beobachtet. Anfangs erkrankten hauptsächlich solche Personen, deren Beruf sie fast beständig in frischer Luft hält: Soldaten, Arbeiter, Feuerwehrleute, Polizisten, Briefträger u. s. w. An anderen Orten wurde dieselbe Beobachtung gemacht. Später kamen andere Berufsarten hinzu, alsdann Frauen, Kinder und Greise. Zeitweise war die Ziffer der Erkrankten beunruhigend hoch. So fehlten am 7. Januar 1890, zu einer Zeit, wo der Höhepunkt der Seuche schon überschritten war, in den Berliner Gemeindeschulen von 170318 Kindern 11532 und von 3110 Lehrern 130. Nach dem Bericht des preußischen Kriegsministeriums waren in der deutschen Armee während dieser Epidemie im ganzen 55263 Mann erkrankt, d. i. nahezu 12%. Nirgends wurde die Influenza anfangs erkannt, dann aber als Modekrankheit vielfach bespöttelt. Als sie indessen allmählich ein ernsteres Gesicht zeigte, ja als gar erst einige Todesfälle bekannt wurden, da trat eine allgemeine Bestürzung ein. Die frühere Nichtachtung verwandelte sich in eine fast krankhafte Furcht vor der Influenza.

In diesem Winter ist die Influenza nicht so verbreitet und nicht so heftig gewesen als vor zwei Jahren. Wenn man allgemein eine entgegengesetzte Ansicht hegte, so war’s deswegen, weil einmal die Seuche gleich zu Anfang einen ernsteren Charakter aufwies, namentlich Lungenentzündungen und schwere nervöse Erscheinungen häufig waren, dann aber auch, weil in diesem Winter eine ganz besonders große Anzahl bekannter Männer von der Influenza hingerafft wurde. Es genügt, an die Souveräne Dom Pedro von Brasilien und Tewfik, den Khedive von Aegypten, an den englischen Thronerben, Herzog von Clarence, an die letzten Todesfälle im österreichischen Kaiserhause, an die Diplomaten Lytton und White, an die Kardinäle Manning und Simeoni, an die Gelehrten Janssen, Quatresages, Laveleye, Brücke, Lagarde, an den Maler Spangenberg zu erinnern, um verständlich zu machen, daß diese zahlreichen Todesfälle großes Aufsehen erregten und die Furcht vor der Influenza zur Panik steigerten. Die Mitte Januar veröffentlichte Statistik des kaiserlichen Reichsgesundheitsamtes beweist aber deutlich, daß, wie es dort heißt, „das neuerliche Auftreten der Influenza während der beiden letzten Monate des Jahres 1891 in den größeren Städten des Deutschen Reiches dem Auftreten der Seuche vor zwei Jahren weder an Ausdehnung (Extensität) noch – soweit die Sterblichkeit beeinflußt wurde – an Heftigkeit (Intensität) entsprach.“

Die diesmalige Seuche unterschied sich, gleichfalls nach der Statistik des Reichsgesundheitsamtes, vornehmlich dadurch von der vorangegangenen, daß sie ein sehr starkes Ansteigen der Sterbefälle für die höchsten Altersstufen von 60 Jahren und darüber aufwies. Daher die zahlreichen Todesfälle unter den bekannten Männern, die jene Altersgrenze zum großen Theile überschritten hatten.

Die Influenza ist ohne Zweifel unter Umständen ein höchst gefährliches Leiden. Ein unangenehmes Kältegefühl, oder selbst ein heftiger Schüttelfrost, oft verbunden mit einer bis zur förmlichen Ohnmacht sich steigernden Schwäche, leitet die Scene ein. Gleich am Anfang ist auch ein mehr oder weniger heftiges Fieber vorhanden, das indessen meist nur wenige Stunden oder Tage anhält. Wie sehr aber der ganze Körper in Mitleidenschaft gezogen wird, erkennt man an der ungewöhnlich langen Zeit, die der Betroffene auch nach leichteren Erkrankungen braucht, um seine früheren Kräfte wieder zu gewinnen. Ja dieser Umstand sichert häufig erst die Annahme, daß es sich im vorliegenden Falle wirklich um Influenza und nicht um eine gewöhnliche Erkältungskrankheit gehandelt hat. Die Genesenden schweben ferner noch lange Zeit in der steten Gefahr, von einem Rückfall oder einem neuen Anfall ergriffen zu werden, die namentlich dadurch gefahrvoll sind, daß sie in höherem Maße als die erste Erkrankung zu lebenbedrohenden Mit- und Nachkrankheiten führen.

Wie tritt nun die Influenza überhaupt in die Erscheinung? Man hat, um die verwirrende Mannigfaltigkeit des Bildes einigermaßen übersichtlich zu gestalten, drei Formen oder Gruppen dieser Krankheit aufgestellt, aber, wie gesagt, mehr, um mich so auszudrücken, aus Bequemlichkeitsgründen, da in der Wirklichkeit eine solche scharfe Trennung niemals beobachtet wird. Schließen auch wir uns aus gleicher Ursache dieser Eintheilung an. Danach unterscheidet man eine nervöse, eine katarrhalische und eine gastrische Form der Influenza, welcher Ausdrücke im weiteren auch wir uns bedienen wollen, weil sie, ist man sich über den Inhalt derselben klar geworden, diesen am kürzesten und schärfsten bezeichnen. Man versteht aber unter der ersten diejenige Form, bei der vorzugsweise das Nervensystem in Mitleidenschaft gezogen ist, die zweite bezieht sich in gleicher Weise auf die Athmungs-, die dritte auf die Verdauungsorgane. Meist kommen, wie gesagt, alle drei Formen miteinander vermischt zur Beobachtung. Doch gehen wir des besseren Verständnisses wegen dieselben im einzelnen durch!

Daß das Nervensystem vorwiegend angegriffen ist, äußert sich in erster Reihe in einer hochgradigen Mattigkeit und Hinfälligkeit, die häufig mit der Leichtigkeit der Erkrankung in gar keinem rechten Verhältniß steht. Es gesellen sich bald dazu Verstimmung, Muth- und Willenlosigkeit, Gleichgültigkeit gegen die Umgebung, Schlaflosigkeit oder auch Schlafsucht, mehr oder weniger heftige Kopfschmerzen, hin und wider ein kurzes Delirium, währenddessen der Kranke phantasiert und die Lage verkennt, und schließlich auch ein unüberwindliches Angstgefühl, als sei er nunmehr in eine langwierige und gefährliche Krankheit gefallen. Dazu kommen in vielen Fällen noch häufige Ohnmachten, Abnahme des Gehörs, Klingen oder Sausen in den Ohren, Lichtscheu und Augenschmerzen. Alle Influenzakranken leiden ferner an Schwindelgefühl und an oft höchst lästigen und schwächenden Schweißausbrüchen, zwei Plagen, die sich häufig noch bis weit in die Genesungszeit hinein hinziehen. Fast alle Influenzakranken werden zudem von ziehenden und reißenden oder blitzartig durchschießenden Schmerzen heimgesucht, und namentlich sind es die Kreuzschmerzen, auf die sich die meisten Klagen beziehen.

Sehr viele, ja die meisten der bisher erwähnten Krankheitszeichen finden sich nun auch bei den beiden anderen Formen der Influenza ein. Was zunächst die katarrhalische Form anbetrifft, so werden hier alle diejenigen Erkrankungen beobachtet, die auch sonst sich als Folgen von Erkältungen einzustellen pflegen, wie Schnupfen, Rachenkatarrh, Husten, Heiserkeit, Lungenkatarrh u. a. Auch die gastrische Form zeigt keine besonderen Merkmale. Wir finden eine stark belegte Zunge, Appetitlosigkeit, sich häufig steigernd bis zum gänzlichen Widerwillen gegen jede Nahrungsaufnahme, mehr oder weniger quälendes Durstgefühl, Uebelkeit, Brechneigung, öfteres Erbrechen, Durchfälle oder Stuhlverstopfung (jene öfter bei Kindern, diese öfter bei Erwachsenen). Nicht selten macht der Zustand ganz den Eindruck, als handle es sich um einen schweren Typhus. Verwechslungen in dieser Richtung sind vorgekommen und schließlich auch entschuldbar. Die gastrische Form der Influenza ist zwar die am seltensten vorkommende Art der Erkrankung, hingegen erholen sich die von ihr Betroffenen am allerlangsamsten; monatelang noch haben sie oft mit Magenbeschwerden aller Art zu kämpfen, selbst dann, wenn sie sich früher einer vollständig gesunden Verdauung zu erfreuen gehabt hatten.

Mit dem Ueberstehen aller dieser Krankheitserscheinungen ist indessen in vielen Fällen die Sache nicht abgethan. Die Influenza ist nicht nur ein vielseitiges, sondern auch ein tückisches Leiden, das, unter einer anscheinend harmlosen Außenseite verborgen, den Keim legt zu verderbenbringenden neuen Leiden. Das sind die Mit- und Nachkrankheiten, die „Komplikationen“ der Influenza. Die häufigste und zuglelch gefährlichste derselben ist die Lungenentzündung, ein um so unheimlicherer Feind, als er sich gerade, oder wenigstens mit großer Vorliebe, die lebenslustigsten Personen zu seinen Opfern auswählt. Der Vorgang spielt sich nicht selten mit erschreckender Schnelligkeit ab, und das „heute roth, morgen tot“ ist hier keine ungewöhnliche Erscheinung. Für alte oder schon früher lungenkrank gewesene oder sonstwie geschwächte Personen wird auch ein einfacher Lungenkatarrh gefährlich. Indessen sind nicht alle Komplikationen so ernster Natur, oder wenigstens handelt es sich bei den meisten nicht gleich um Leben und Tod. Oft beschränkt sich die Sache auf eine eitrige Entzündung der Nase und ihrer Nebenhöhlen oder führt auch wohl zu Entzündungen und Geschwürbildungen im Kehlkopf. In anderen Fällen entwickeln sich entzündliche Prozesse im Brustfell, im Herzbeutel oder im Herzen [187] selber, die, wenn auch nicht ganz harmlos, so doch keine unmittelbare Lebensgefahr in sich schließen. Andere Zustände sind mehr schmerzhaft oder unangenehm und die Lebensfreude störend, so die oft hartnäckigen Nervenschmerzen (Neuralgien), eine anhaltende, allen Mitteln Trotz bietende Schlaflosigkeit und die sogenannte „Nervosität“, die indessen, im Gegensatz zu der gewöhnlichen, leicht heilbar ist. Auch Lähmungen und Krämpfe sind keine seltenen Erscheinungen, ebenso Geistesstörungen, vorzugsweise hypochondrische und melancholische Zustände, die als letzte Nachzügler sich gewöhnlich erst während der Genesungsperiode einstellen. Von geringerer Bedeutung sind die Komplikationen von seiten der Augen und der Ohren, auch aus dem Grunde, weil sie im Verhältniß zu den anderen Nachkrankheiten selten auftreten. Mehr unschuldiger Natur sind die masern-, scharlach- und nesselfeuerartigen Hautausschläge, wie sie vereinzelt beobachtet und nicht selten für wirkliche Masern oder Scharlach gehalten worden sind; hier seien diese nur der Vollständigkeit wegen erwähnt.

Zu Anfang Januar dieses Jahres trat eine Entdeckung ans Licht, die geeignet erscheint, der Influenzaforschung eine exakte Grundlage zu verleihen. Man glaubt, den Erreger der Krankheit, den Influenza-Bacillus, gefunden zu haben. Von zwei verschiedenen Seiten war man dem Ruhestörer aller fünf Erdtheile auf den Leib gerückt, man faßte ihn gleichsam im Rücken und in der Front zu gleicher Zeit. Im Rücken, indem man ihm auf seinem Wege in den menschlichen Körper folgte, der durch Mund und Nasenhöhle führt, und die schleimigen Auswürfe der Kranken untersuchte; in der Front, indem man ihm entgegenging dort, wohin er endlich gelangen muß, wenn er das Innere der Lungen bis in die feinsten Verästelungen der Luftwege durchsetzt hat, nämlich im Blute der Patienten und, leider muß man in diesem Falle oft sagen, der Gestorbenen. Jene Angriffsstellung nahm man in dem bakteriologischen Institut Robert Kochs zu Berlin ein, des Hauptes der neuen Wissenschaft der Bakteriologie, der bekanntlich die feinsten Methoden erfunden hat, den winzigen Lebewesen auf die Spur zu kommen; diese Angriffsstellung nahm man ein in dem Berliner städtischen Krankenhaus Moabit, in der Abtheilung des Direktors Dr. Guttmann. Dort stieß Dr. Robert Pfeiffer, der Schwiegersohn Kochs, im Verein mit dem begabten japanischen Forscher Dr. Kitasato auf einen Bacillus, in dem er den Influenzaerreger erkannt zu haben glaubt; hier gelang dasselbe dem Dr. Canon. Geheimrath Koch selber unterzog sich der Mühe, die Identität der beiden gefundenen Bacillen festzustellen. In der Sitzung der Gesellschaft Berliner Charité-Aerzte vom 7. Januar machten beide Entdecker die erste offizielle Mittheilung von ihrem Funde.

Am 29. November 1891 wurden die ersten Influenzakranken dem Kochschen Institut eingeliefert und vom Leiter dem Dr. Pfeiffer zur Untersuchung überwiesen. Pfeiffer hatte nach etwa 14 Tagen den Bacillus im Sputum (Auswurf) der Patienten festgestellt. Die Suche war deswegen eine so schwierige, weil das Sputum erst vollkommen von den unzähligen Bacillen der Mundhöhle, die mit der Influenza nichts zu thun haben, gereinigt werden mußte. Zu diesem Behuf erfand Geheimrath Koch ein eigenes, ganz besonderes Verfahren, das er indeß noch nicht bekannt gegeben hat. Nach dem glücklichen Verlauf dieses Prozesses gelang es, den Bacillus zu erkennen und sogleich sah man, warum alle Versuche, die 1889/90 angestellt wurden, um ihn zu finden, vergeblich gewesen waren. Der Bacillus nämlich erwies sich von einer Kleinheit, die bisher auch in dem Reiche der unendlich Kleinen, im Reiche der Mikroorganismen, nicht erlebt worden war. Der kleinste bekannte Bacillus war bisher der Träger der Septicämie (fauligen Blutvergiftung). Der neu entdeckte Bacillus ist noch etwa dreimal kleiner als der Bacillus der Septicämie. Anfangs erschien er als Kugel, als Kokkus, nicht unähnlich dem Friedländerschen Pneumoniekokkus, dem Erreger der Lungenentzündung. Erst bei Anwendung der stärksten Vergrößerungen erkannte man seine echte Stäbchen-(Bacillen-) Natur. Da fand man, daß er etwa doppelt so lang wie breit sei und daß er an beiden Enden keulige Verdickungen trage (Hantelform), die sich auch lebhafter färbten als das schlanke Mittelstück. Neben den größeren Formen wurde diese kleine um so leichter übersehen, als ihre Kulturen nicht zusammenfließen, sondern isoliert bleiben.

Seit dem 15. Dezember züchtete Dr. Kitasato den Bacillus in Reinkulturen auf Agar-Agar, einem sehr brauchbaren Präparat aus ostindischer Meeresalge, die, beiläufig gesagt, auch zur Appretur und zum Leimen des Papiers verwandt wird. Kitasato erhielt bis zehn Generationen. Die Kontrolversuche an Thieren, die Pfeiffer anstellte, hatten ziemlich günstige Ergebnisse. Er impfte Reinkulturen auf Kaninchen, Ratten, Tauben, Meerschweinchen und Affen über; es reagierten allerdings nur Kaninchen und Affen; bei ihnen aber stellten sich Anzeichen der Influenza ein. Pfeiffer fand den Bacillus beim Menschen massenhaft in den Bronchien und im Speichelauswurf, und zwar nur, wenn Influenza vorhanden war, sonst nicht – nicht bei einfachen Katarrhen, nicht bei Lungenentzündungen, nicht bei Tuberkulose.

Unabhängig von Koch, Pfeiffer und Kitasato arbeitete Canon im Moabiter Krankenhause. Er untersuchte das Blut von Patienten, die sehr schwer an Influenza leidend oder an Influenza gestorben waren. Er fand denselben Bacillus und hat ihn auch aus dem Blute gezüchtet. Der Bacillus ist ein andrer als der, den Kirchener fand und für den Influenza-Bacillus hielt.

Mit der Entdeckung der Krankheits-Ursache wäre ein großer Schritt vorwärts geschehen. Zwar ist ein Heilmittel damit noch nicht gefunden, aber es ist dann eher Aussicht vorhanden, ein Spezifikum zu entdecken. Außerdem aber giebt die Erkenntniß der Ursache prophylaktische (vorbeugende) Fingerzeige. Der Bacillus kommt zu Milliarden im Schleimauswurf Kranker vor und es ist die Ansicht Pfeiffers, daß die Influenza vorzugsweise durch diese im Schleimauswurf enthaltenen Bacillen verbreitet wird. Sowie der Schleim austrocknet, bleibt der bacillenhaltige Rest als Staub übrig, den jeder Luftzug emporwirbelt und davonführt. Es ist also vor allem geboten, daß man den Auswurf von Influenzakranken in verschlossenen Glasgefäßen sammelt.

Die Kleinheit und Massenhaftigkeit dieses Bacillus würde sowohl die große Verbreitung der Krankheit als auch einen andern höchst merkwürdigen Umstand erklären. Sowie nämlich irgendwo eine Indluenzaseuche ausbricht, treten die anderen ansteckenden Krankheiten, selbst wenn sie zu Epidemien ausgeartet wären, zurück. Masern, Scharlach, Diphtheritis, selbst akute rheumatische Erkrankungen weichen. Es ist, als ob die Influenzabacillen mit den anderen Mikroben einen Kampf auf Leben und Tod führten und vermöge ihrer Ueberzahl den Sieg davontrügen. Freilich heißt das für die leidende Menschheit, den Teufel durch Beelzebub austreiben. Gesellt sich Influenza zu anderen Krankheiten, so werden diese arg verschlimmert. Die Influenza beraubt den Körper der Widerstandskraft, die er gegen die Krankheit noch besaß; so verschlimmern sich namentlich Herz- und Lungenleiden, auch Geistesstörungen. Auch auf Operationswunden wirkt die Influenza ungünstig ein. Tritt sie hinzu, so entstehen zuweilen Fälle von Blutvergiftung, die aller Antiseptik spotten.

Es ist festgestellt, daß das einmalige Ueberstehen der Influenza keine Gewähr leistet, von ihr fernerhin verschont zu bleiben, wie es bei Masern, Scharlach, Blattern und ähnlichen Leiden der Fall ist. Dagegen läßt sich jetzt noch nicht mit Sicherheit entscheiden, ob die Influenza auf miasmatischem Wege, d. h. durch Keime, die in der Luft schweben, sich verbreitet, oder durch Ansteckung von Person zu Person. Die Versuche von Pfeiffer sprechen für letzteres, doch auch das erstere ist nicht ausgeschlossen. Ja, man ist sich noch nicht einmal klar darüber, ob die neue Epidemie selbständig war oder nur das Aufflackern der noch nicht ganz erloschenen vorigen. In Bezug auf die Behandlung dagegen sind einige Fortschritte zu verzeichnen. Namentlich scheint das neueste Mittel, das Salipyrin, sich zu bewähren; es wird jetzt allgemein den früheren Mitteln, Chinin, Jodkalium, Naphthol, Salol, Antipyrin, vorgezogen. Im allgemeinen muß man sich heute noch auf eine rein symptomatische Behandlung beschränken, d. h. auf eine solche, welche die hervorstechendsten Krankheitserscheinungen bekämpft. Am besten ist es wohl, dem Influenzabacillus tüchtig einzuheizen. Er hat die gute Eigenschaft, schnell zu degenerieren, zu entarten. Diese Neigung unterstütze man, indem man sich möglichst warm und bei Kräften erhält. Man vermeide die Wechselfälle der freien Luft, bleibe in einem wohlgeheizten und wohlgelüfteten Zimmer, man wechsle häufig Strümpfe und Unterkleider, vermeide kalte Getränke, aber auch ein Uebermaß von warmen alkoholischen, halte gute Diät und bleibe womöglich im Bett, bis der böse Feind degeneriert ist und uns in Ruhe läßt.

Es ist nicht unmöglich, daß die Influenza nach zwei bis drei Jahren wiederkehrt. Man wird sie dann hoffentlich noch besser gerüstet empfangen können. Die Londoner Konferenz wird sich mit dieser Möglichkeit zu beschäftigen haben.




[188]

Der Zeitgeist im Hausstande.

Bilder aus dem Familienleben.
Von R. Artaria.
(5. Fortsetzung.)


Der Empfang in Eschenlohe entsprach den landesüblichen Verhältnissen. Trotz des schönen, Gäste verheißenden Sonntags hatte sich die Wirthin auf solche nicht eingerichtet und schoß nun, da sie in hellen Haufen einrückten, voll rathloser Verzweiflung in ihrer Küche herum. „Jesses, Jesses, wo kommen nur all’ die Leut’ her! Wann’s mer nur draußen blieben, i hab ja nix z’essen dersür!“ –

Emmy fand sich in Anbetracht dieser Verhältnisse veranlaßt, eine Schürze umzubinden und sofort in Thätigkeit zu treten. Ihrer geschäftigen Diplomatie gelang es denn auch in kurzer Zeit, die gänzlich Niedergeschlagene wiederaufzurichten und ein Mittagessen anzubahnen, das so ungefähr den Namen verdiente. Die jungen Mädchen kommandierte sie zur Unterstützung in die Küche, die jungen Herren mußten Bänke und Tische in den Grasgarten schleppen, und alles das ging unter großem Geschrei und Gelächter vor sich. Man stellte das Rechenexempel an, wie achtzehn Gabeln unter fünfundzwanzig Personen so zu vertheilen seien, daß jede eine bekomme; Frida bedeckte, schalkhaft den Tisch umhüpfend, jeden alten Sauceflecken des gebrauchten Tuches mit ein paar Blüthen, und solchen Anfängen entsprechend, ging dann das Mahl selbst vor sich. Der Braten, einem unbekannten Thiere entstammend, wie Frau von Düring seufzte, war zäh, auch das Salatöl sehr betrübend, allein der Berg goldgelber Pfannkuchen, von Emmys Meisterhänden bereitet, wurde mit Begeisterung aufgenommen, und das Eschenloher Bier erwies sich als bedeutend besser denn sein Ruf. Das Beste von allem aber war der Sitz auf dem Rasen unter dem Blüthengitter der Obstbäume in der herrlichen Luft, mit dem Ausblick auf den nahen Bergstrom und den junggrünen Wald. Eine steigende Heiterkeit bemächtigte sich der Gesellschaft, und am unteren Tischende ließ bereits ein unternehmender Fähnrich die Damen leben!

Frida wurde groß in gewagten Behauptungen, sogar das schüchterne Helenchen Hoffmann fing an, Schulerinnerungen zu erzählen, die anderen thaten ebenfalls das Ihrige zur Unterhaltung. Nur Paula saß still, die Augen niedergeschlagen oder über den Strom hinweg verloren ins Weite gerichtet. Thormann beobachtete längere Zeit diese eigenthümlich ernsten braunen Augen, er versuchte auch, über den Tisch hinüber ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen; sie gab eine ganz freundliche, aber kurze Antwort, so daß sich keine Fortsetzung finden wollte.

Das sah Vilma, die ihm gerade gegenüber saß, und das Teufelchen in ihr fing sofort an, sich zu rühren. Eigentlich hatte sie gedacht, heute die Stille und Sinnige zu spielen; wenn er sie zu Tische führte, wollte sie sich ganz ihm allein widmen. Da hatte er, obgleich sie im rechten Augenblick dicht bei ihm stand, der alten Malerin den Arm geboten, und nun brachte sie es, mit Francis ihm gegenüber sitzend, nicht fertig, ruhig ihre Zeit zu erwarten. Sie wurde aufgeregt lustig, suchte mit allerhand Paradoxen seine Aufmerksamkeit zu fesseln, blickte ihn dazwischen mit dem eigenthümlich fragenden, beziehungsreichen Augenaufschlag an, der zu ihren wirksamsten Mitteln gehörte, und suchte, wenn er mit Linchen sprach, durch fleißiges Kokettieren mit dem liebesseligen Francis seine Eifersucht zu reizen. Lachend und flüsternd bog sie sich zu diesem hin, dann bekam er einmal einen Fächerstreich auf die allzu kühn nach ihren Blumen greifenden Finger, und alles das stets mit dem fragenden Blicke nach dem Maler. Siehst du wohl? – und er sah! . . .

Aber auch andere waren nicht blind.

„Ist das ein empörendes Geschöpf!“ flüsterte Frau Hoffmann sehr vernehmlich Emmy beim Aufstehen zu. „So etwas von schamlosem Augenmachen habe ich doch noch nicht gesehen. Wie kommen Sie nur zu der Familie, beste Frau? Das ist doch kein Umgang für unsere Töchter!“

Paula, die hinter ihrem Rücken stand wurde blaß bis in die Lippen. Sie wandte sich schnell seitwärts, von der in Gruppen plaudernden Gesellschaft weg, einem nach dem Walde ansteigenden Wege zu, und war bald zwischen den Bäumen verschwunden. Bitter, bitter bereute sie ihr Mitgehen heute. Die Sehnsucht nach der Natur, nach dem Walde, den sie so lange nicht mehr gesehen, hatte sie verlockt, einmal ihrer Gewohnheit des Zurückbleibens untreu zu werden. Dafür war ihr das ganze gewohnte Elend nachgefolgt . . . Sie konnte es drunten nicht länger aushalten – dort oben winkten die stillen Wipfel; eine Stunde wenigstens wollte sie in ihrem Frieden allein sein, vermißt wurde sie ja wohl von niemand.

Und das war richtig; die Spiele, welche nach Tisch begannen, während die Mütter Siesta hielten, nahmen die einzelnen vollauf in Anspruch. Walter und Thormann saßen rauchend und zusehend in der schattigen Kegelbahn, bei ihnen Linchen, die das Laster des Mittagschlafs nicht kannte.

Auch Vilma kam heran; sie hatte sich nun hinlänglich als graziöse Läuferin gezeigt und wollte doch nicht allzu oft von Francis’ offenen Armen aufgefangen werden, sondern Thormann wieder in den Kreis ziehen. So unterstützte sie nach Kräften Fridas lebhafte Bitte, die Herrschaften möchten sich jetzt an einem hübschen „sitzenden“ Ratespiel betheiligen, und Linchen entgegnete resigniert:

„Thun wir ihnen den Gefallen! Wir haben uns nun einmal zu ihren Hütern hergegeben, also in Gottes Namen vorwärts!“

Aber es kam schlimmer, als sie geglaubt hatte. Unerhörte Dinge, die sich zur Zeit auf der Küste Koromandel, am Turban des Sultans von Marokko oder gar in den Gedanken der Anwesenden befanden, sollten errathen werden. Infolgedessen regnete es Pfänder, und trotz lebhaften Widerspruchs setzte die poetische Frida es durch, daß deren Auslosung vermittelst eines improvisierten Verses auf das Thema „Frühling und Liebe“ erfolgen sollte.

„O, ich kann sehr gut machen Verse in Deutsch,“ rief der zuerst vom Schicksal ereilte Francis und begann sofort mit einem Feuerblick auf Vilma:

„Der Frühling und die Liebe,
Ich alle beide liebe!“

Sein Erfolg war ein durchschlagender; angefeuert davon erhob sich der dicke Moritz:

„Der Frühling ist ein schönes Gedicht,
Aber Kirschen giebt’s noch nicht!“

Nach solchen Beispielen fanden dann die bisher Zaghaften das Versemachen nicht mehr so schwer, und bald strömten ebenbürtige Leistungen von allen Seiten. Ueber bescheidene Anleihen schloß man duldsam die Augen, nur als ein Unvorsichtiger begann:

„Da kommt der Lenz, der schöne Junge,
Den alles lieben muß –“

verfiel er dem Hohngelächter der Töchterschülerinnen. [Ein Unvor-] sichtiger aber, der tiefer griff:

„Süß ist, fröhlicher Lenz, deiner Begeisterung Hauch,
Wenn die Flur dich gebiert, wenn sich dein Odem sanft
In der Jünglinge Herzen
Und die Herzen der Mädchen gießt –“

er erntete großen Beifall für sein dichterisches Können. [Abe]r Linchen, die altmodische Dichterfreundin, hatte das Gefühl, daß ihr das so merkwürdig bekannt sei! ...

Jetzt mußte Walter dran –

„Jährlich wieder kommt der Mai,
Doch mit dem Lieben ist’s bald vorbei –“

sprach er schnöde. Und die ehefeindliche Malerin überbot ihn noch und rief durch ihren Vers: apoem> „Der Frühling ist allein Genuß, Das Lieben ist vom Ueberfluß!“</poem> starke Entrüstung unter der männlichen Jugend hervor. Was aber wird Vilma sagen? Sie hob ihr eigenes Pfand, ein goldnes Herzchen in die Höhe, sah darunter weg mit einem Blicke unverhülltester Hingabe zu Thormann hinüber ud rezitierte dann lächelnd:

„Soll Dir ein Herz von Liebe sagen –
Mußt danach im Maien fragen!“

„Donnerwetter, das war deutlich!“ dachte Walter überrascht. „Was er jetzt nur sagen wird? Denn ich wette, die schlaue Hexe fischt sofort sein eignes Pfand.“

[189] Und richtig, schon hielt sie dasselbe hoch: einen Siegelring mit grünem Steine, den er vorhin unter lachendem Protest vom kleinen Finger gezogen hatte, während der schmale Reif am vierten unberührt blieb.

„Nun, Herr Thormann?“ Es klang lockend und verheißend.

Er nahm die Cigarre aus dem Munde. „Ich sagte Ihnen vorhin schon, daß ich in Gesellschaft keine Verse machen kann,“ erwiderte er langsam und behaglich. „Geben Sie nur so her!“

„Warum nicht gar! Einen Vers müssen Sie machen, und wenn das in Gesellschaft nicht geht, so denken Sie dort unter den Bäumen nach!“

„Unmöglich, ich brauche zu jedem Worte eine Stunde.“

„Dann schreiben Sie den Vers zu Hause auf!“

„Und wenn ich das auch nicht kann?“

„Und wenn ich dann Ihren Ring nicht herausgebe?“

„So müssen Sie ihn in Ewigkeit behalten!“ sagte er scherzend. Aber Vilma jubelte innerlich über das Wort – sie hielt den Stein vor Augen, ein Amor als Löwenbändiger war hineingeschnitten – günstiges Vorzeichen! Dann steckte sie ihn langsam an den Goldfinger und sagte mit feierlicher Verneigung:

„Also ohne Auslösung keine Wiedergabe. Sie haben es alle gehört.“

„Dazu hast Du gar kein Recht, Vilma,“ rief die geärgerte Frida mit ihrer grellen Stimme. „Der Ring darf nur hier ausgelöst werden. . .“

Allein Vilma beachtete sie nicht mehr, als wenn ein Heimchen gezirpt hätte, lächelnd rief sie das nächste Pfand aus, und Frida mußte wie schon so oft ihre gerechte Empörung in sich verwinden.

Ferne von dieser Erregung wandelte mittlerweile Paula droben am Waldrande dahin bis zu einer Aussichtsbank, wo sie sich niederließ und mit entzücktem Blicke das ernste Landschaftsbild umfaßte: den Strom, der zwischen den scharf eingerissenen Ufern eilig in grünen Wellen dahinschoß, die weiten Tannenwälder darüber, endlos ausgedehnt, bis wo die blaue Kette des Hochgebirgs den Horizont abschloß. Es ruhte sich gut hier in der tiefen Einsamkeit, wo nur die flüsternde Luft in den Zweigen oder ein ferner Vogelruf die Stille unterbrach. Die verwundete junge Seele entfaltete langsam wieder ihre Schwingen, und diese trugen sie bald weit weg in das Land ihrer Träume, wo die Gemeinheit ihr nichts mehr anhaben konnte, wo Wahrheit und Freiheit endlich die Grundlagen ihres Lebens sein durften! Ihr ernstes Gesicht verklärte sich mehr und mehr, ein Ausdruck freudiger Zuversicht trat darauf und verlieh den dunkeln Augen plötzlich eine ganz neue lebhafte Schönheit - sie hätten jetzt den Vergleich mit denen Vilmas nicht zu scheuen gehabt.

Anton Rubinstein.
Nach einer Silhouette von Elisabeth Bem.


Das sagte sich mit Verwunderung der stille Beobachter Thormann, der, von Paula unbemerkt, seitwärts unter den Bäumen stand. Er hatte sich unten vorsichtig entfernt, von demselben Wunsche nach Ruhe und Stille geleitet wie das junge Mädchen das er hier so unerwartet als eine ganz Verwandelte vor sich sah.

War es wohl der Gedanke an den jungen, blonden Lehrer, der ein so glückliches Lächeln auf ihre Lippen zauberte? Thormann fühlte sich plötzlich sehr versucht, dieser Sache, die ihn gar nichts anging, etwas auf den Grund zu kommen, er trat also unter den Bäumen hervor und sagte, als sie eine Bewegung zum hastigen Aufstehen machte:

„Wollen Sie mir erlauben, hier ein wenig bei Ihnen zu rasten, gnädiges Fräulein?“

„Ich habe hier weder zu erlauben, noch zu verbieten,“ sagte sie kühl. Der Glanz auf ihrem Gesicht war erloschen, es lag wieder die alte resignierte Stille darüber.

Diese Wahrnehmung dämpfte seinen Unternehmungsgeist, er brachte es nur zu einer Bemerkung über die schöne Aussicht, während er sich auf das andere Ende der Bank niederließ. Die Erwiderung fiel höflich, aber kurz aus, dann trat wieder Schweigen ein. Ein paarmal ruhte Thormanns Blick prüfend auf dem halb vom Hute verdeckten, feingezeichneten Profil, dann sagte er ganz unvermittelt in seiner gemüthsruhigen Offenherzigkeit:

„Das alte Gleichniß vom Leben als einer Reise ist doch ganz richtig! Es giebt auch hier Passagiere, die eine nähere Bekanntschaft mit ihren Mitreisenden ein für allemal ablehnen.“

Nun lächelte sie doch ein wenig. „Vielleicht im Bewußtsein,“ sagte sie, „der erwarteten Unterhaltung nicht genügen zu können!“

„Oder aus übermäßigem Stolze, der es verschmäht, sich zu geringeren Geistern herabzulassen!“

Das traf. Sie fuhr rasch herum und wandte ihm ein Paar flehender Augen zu. „O sagen Sie das nicht,“ rief sie lebhaft, „Sie ahnen nicht, wie wehe Sie mir damit thun! Niemand kann von seinem Geiste bescheidener denken als ich – ich habe ja alle Ursache dazu. Es ist nur ...“ sie hielt einen Augenblick inne ... „nur eine schlechte Angewohnheit von mir, gern still und allein zu sein.“ Ihre Hände schlossen sich fest, krampfhaft in einander – nur diesem gegenüber schweigen, nur nicht auch nach seiner persönlichen Theilnahme zu haschen scheinen! Der bloße Gedanke daran war ihr schon unerträglich.

„Hm,“ sagte er mittlerweile und blickte sie mit seinen hellen Augen freundlich an, „eine schlechte Gewohnheit ist das nicht, aber wohl eine befremdliche für ein so junges Mädchen.“ Und nach einer Pause setzte er, einem aufsteigenden Gedanken nachgebend, hinzu: „Darf ich einmal offen reden, mein liebes Fräulein? Ich bin so ein Mensch, der keine langen Umschweife machen kann, das müssen Sie mir zu gute halten. Sie sind gern einsam, weil Sie sich nicht glücklich fühlen, das ist nicht schwer zu sehen. Sie möchten ein Ziel erreichen, vielleicht mehr als eins ... gut. Ich habe Sympathie für Ihren Muth und [190] Ihre Thatkraft, ich weiß auch ungefähr, mit welchen Schwierigkeiten Sie zu kämpfen haben – betrachten Sie mich als Ihren Freund! Darf ich Ihnen nicht eine Hilfe zur Erreichung Ihres Zieles bieten? Ich thäte es von Herzen gerne!“

Er bot ihr ein Almosen an! Sie fuhr empor wie von einem unerwarteten Schlage getroffen, rang nach Worten und stammelte endlich, heiße Röthe auf den Wangen, in völliger Fassungslosigkeit: „Um Gotteswillen – nein – wie können Sie so etwas denken! Was habe ich gethan, um das zu verdienen?“

„Ich bitte sehr um Entschuldigung, Fräulein,“ sagte er, über ihre Aufregung bestürzt, „meine Worte sollten Sie nicht verletzen. Ich hoffte Ihnen Vertrauen einzuflößen und wünschte –“

„Nichts – nichts!“ rief sie mit einer Schroffheit, die wie Entrüstung klang. „Ich bedarf keiner Hilfe, würde keine annehmen – am wenigsten von Ihnen. Lassen Sie mich!“ wehrte sie seine Erklärungsversuche ab, „es ist Zeit, ich muß jetzt wieder hinunter.“ Sie raffte ihre Sachen zusammen und enteilte mit kurzem Gruße, den völlig Verblüfften auf seiner Bank allein zurücklassend.

„Eine liebenswürdige Familie!“ brach er endlich in hellem Aerger los. „Unnatur und Scheinwesen auf allen Seiten! Aber nun habe ich’s genug, nun wollen wir ein gründliches Ende machen!“

Und er eilte mit wuchtigen Schritten den Abhang hinunter, um sich unter einem Vorwand jetzt schon bei der Gesellschaft zu verabschieden. Aber er traf diese selbst bereits in vollem Aufbruch; der Himmel hatte sich seit einer halben Stunde stark umzogen, es waren bedeutend mehr Köpfe als Regenschirme vorhanden, die besorgten Mütter drangen auf Heimkehr.

So bewegte sich denn bald schon die schmale bunte Menschenreihe aus Busch und Wiese heraus und auf dem kürzesten Wege der Station zu. Der Aerger über das dumme Wetter war allgemein, nur eine betrachtete, immer weiter zurückbleibend, mit geheimer Hoffnung den dunkler werdenden Wolkenvorhang – sie hatte einen Schirm! Was ihre Mutter da vorne ohne einen solchen anfing, kümmerte sie wenig; sie erwartete, von einem Busch gedeckt, den gleichfalls schirmlosen Thormann, der einzeln als Nachzügler kam. Als die ersten Tropfen fielen, stand sie vor ihm, sah ihn lächelnd an und sagte: „Wollen Sie mit mir darunter gehen?“

Er spannte schweigend den Schirm auf, sie nahm seinen Arm und stützte sich im Gehen leicht darauf. Ach, so als seine Braut in der nächsten Viertelstunde die Gesellschaft einholen und überraschen zu können – welcher Erfolg! Das Verlangen wurde übermächtig in ihr, und günstiger konnte der Augenblick wahrlich nicht kommen!

Sie knüpfte, als sei es ihr heiß, den Hut vom Kopfe, hing ihn an den Arm und sagte, das blüthenfrische Gesichtchen mit den tiefglänzenden Augen zu ihm emporhebend, in süßen Lauten:

„Welch’ ein wundervoller Tag war das heute! Ich habe mich so glücklich gefühlt, wie seit lange nicht. Sie auch, lieber Freund?“

„Man sah es Ihnen an,“ erwiderte er, ohne scheinbar die letzte Frage zu beachten, etwas sarkastisch.

„Sie sind mir böse! Nein – leugnen Sie es nicht, ich fühle es deutlich an Ihrem veränderten Wesen. Was habe ich denn verbrochen, um Ihren Zorn zu reizen?“

Sie hoffte auf Vorwürfe und nachfolgende Erörterungen, statt dessen sagte er kalt:

„Welches Recht hätte ich, Ihnen zu zürnen, gnädiges Fräulein?“

„O – sagen Sie das nicht! Sie haben ein Recht ... ich ... ich habe Ihnen unbesonnen genug gezeigt, welche Macht Sie über mich haben. Und auch andere haben es bemerkt“ – hier kamen die Thränen – „o Gott, ich fühle mich ja so furchtbar unglücklich ... und wenn ich dann, um sie zu täuschen, mit anderen Scherz mache, dann glauben Sie selbst, es sei Ernst und werden kalt gegen mich! Das ertrage ich nicht, denn – – ach! ich kann das Letzte nicht auch noch heraussagen!“

Sie wandte, wie gegen sich selbst Schutz suchend, das blonde duftige Haupt nach seiner Brust – es hätte von seiner Seite nur einer Bewegung bedurft und er hätte sie ganz in seinen Armen gehalten. Statt dessen löste er sich von ihr und trat, immer noch den Schirm über sie haltend, etwas zurück unter einen Baum, dessen breites Blätterdach den Regen völlig auffing.

„Nein,“ sagte er sehr ernsthaft, „Sie können es nicht aussprechen, das unwahre Wort, daß Sie mich lieben; so wird es Ihnen also auch nicht wehe thun, wenn ich Ihnen sage, daß Sie völlig im Irrthum sind. Ich bin ein ganz einfacher Mensch – ich brauche, wenn es überhaupt soweit kommt, ein Herz, das mich selbst liebt, nicht meine Stellung. Und diese allein ist es doch, die mich Ihnen begehrenswerth machte.“

„O, Sie haben mich getäuscht,“ rief sie mit heftigen Zornesthränen, „Sie ließen mich glauben, daß Sie mich liebten –“

„Ich war eine Zeit lang von Ihnen bezaubert und – doch, Fräulein Vilma, ich will Ihnen keine Vorwürfe machen. Nur das kann ich sagen: hätten Sie sich mir, mir allein aufrichtig zugewandt, es wäre wohl anders gekommen. Aber Ihr stetes doppeltes Spiel, das durchschaute ich bald, ich sah, daß kein wahres Gefühl, sondern ein kühl ausgerechneter Plan Ihre Handlungen regierte –“

„Das ist nicht wahr!" fuhr sie auf. „Ich bin nicht die Natur, die Pläne schmiedet. Ich war arglos, viel zu arglos in meiner Unbefangenheit, die nun so mißdeutet wird. O, es ist schändlich, schändlich!"

Er griff derweil ungläubig lächelnd in seinen Rock, holte eine Brieftasche hervor und entnahm ihrem tiefsten Grunde ein zusammengefaltetes Blatt. Dann sagte er, es ihr überreichend:

„Ich soll noch meinen Ring durch ein Gedicht auslösen. Gestatten Sie, daß ich es hier und mit diesem thue!“

Sie warf einen Blick auf das Papier, es war das Bazargedicht. „Abscheulich!“ schrie sie auf. „Es war ein Zufall, ein reiner Zufall, ich schwöre es Ihnen!“

„Daß Sie gleich verstehen, was ich meine, ist der beste Beweis für die Richtigkeit meiner Annahme. Darf ich jetzt um den Ring bitten?“

Sie riß ihn vom Finger und schleuderte ihn ihm zu. Ihr Gesicht war vom Zorne entstellt, wie es sonst nur ihre nächste Familie zu sehen bekam. „Gehen Sie!“ zischte sie außer sich. „Bis jetzt waren Sie mir gleichgültig – aber jetzt – jetzt hasse ich Sie!“

„Ich habe es nicht anders erwartet,“ erwiderte er ruhig. „Von meiner Gegenwart darf ich Sie befreien, weil dort vorn Mister Weston sichtbar wird, offenbar auf der Snche nach Ihnen. Ich werde ihm entgegengehen.“ Vilma stand abgewandt, ihre Augen hastig trocknend. Thormann schritt dem Amerikaner entgegen. „Holla, Herr Weston, dort ruht Fräulein von Düring etwas aus. Nehmen Sie die Dame unter Ihren Schirm, ich eile einstweilen mit diesem zu den anderen Damen.“

Als Francis herantrabte, sah er zwei heiter blickende Augen, und ein lächelnder Mund ries ihm zu:

„Aber Mister Francis, wie können Sie mich denn die ganze Zeit mit dem steifen Menschen allein lassen? Sie wissen doch, daß ich ihn nicht ausstehen kann!“




11.

„Höre, Emmy, langweilig ist Dein Dörfchen aber doch ganz gehörig,“ sagte, vom Buche aufsehend, der Gerichtsrath Walter in einer Laube, durch deren Blätter das Sonnengold spielte und die nahe Seefläche flimmernd hereinleuchtete.

Mein Dörfchen!“ erwiderte sie entrüstet und hielt im Ordnen des Kaffeegeschirres inne. „Habe ich es allein ausgesucht? Schien nicht auch Dir diese Billigkeit bei soviel Schönheit –“

„Ja, ja, ich weiß. Aber die Zeit steht hier förmlich still. Wir sind nun acht Tage da und sie kommen mir vor wie ein Jahrhundert.“

„Sei doch nicht so ungenügsam! Sieh dorthin“ – sie wies nach dem Grasgarten, wo Maja, berauscht vom Glücksgefühl des Barfußlaufens, mit der kleinen Fischerlisel über die Heuhaufen purzelte, während Elisabeth und Moritz auf der Hausbank im Schatten saßen und Seifenblasen machten. Ein tiefblauer Augusthimmel stand über dem friedlichen Häuschen mit den weißen Wänden und grünen Fensterläden, gesättigte Wärme durchströmte wie ein wohliges Bad den Baumschatten, in welchem die Laube stand.

„Was kann man mehr wünschen?“ fuhr Emmy fort. [191] „Haben wir hier nicht alles, was einen Landaufenthalt schön macht?“

„O ja – Betten mit Hühnerfedern gestopft, alle drei Tage frische Semmeln, Kalbfleisch sechsmal die Woche –“

„Und die herrlichen Waldwege, das Bad im See, die Glückseligkeit der Kinder, ist das nichts?“

„Na, ich sage ja nichts weiter. Es wird schon eine Weile auszuhalten sein. – Gestern abend fand ich übrigens drüben im Wirthshaus den alten Professor Mayer. Das ist, bei Licht betrachtet, ein ganz interessanter Mensch, mit dem könnte man verkehren.“

„Ist er auch zum Ferienaufenthalt hier?“

„Bewahre, der haust als richtiger Eremit bis tief in den Herbst hinein und vom ersten Frühjahr an dort oben in dem kleinen Häuschen am Waldrande. Er sagt, das Stadtleben widere ihn von Jahr zu Jahr mehr an. Wir können gegen Abend einmal hinaufgehen, er hat mich dazu aufgefordert.“

„Gern, Hugo,“ sagte Emmy erleichtert. Sie fing bereits an, sich wegen „ihres“ Dörfchens schuldig zu fühlen. Und doch war es ihr so wohl in dessen Stille, fern von Toilettesorgen und Gesellschaftspflichten. Die Kinder genossen ungeahnte Wonnen in Haselstrauch und Erdbeerschlag. Fritz, von welchem vorausgesetzt wurde, daß er sich mit Ernst und Eifer auf das drohende „Nachexamen“ im Herbst vorbereite, schien, vom Papa unbemerkt, in Francis’ Segelboot einen hervorragend geeigneten Platz für diese Beschäftigung gefunden zu haben. Dieser selbst, im gestreiften Trikotanzug, bloßarmig und krebsroth im Gesicht, lag mit unerschütterlicher Ausdauer den ganzen Tag auf dem Wasser draußen. Er war etwas melancholisch, der gute Francis, da kamen ihm die langen Stunden der Windstille eben recht, um im Schatten des Segels vor sich hinzuträumen oder aber ein Briefchen hervorzuholen, ein oftgelesenes, und es nochmals zu studieren.

„Theurer Francis!“ fing es an und war geschrieben nach einer bedeutsamen Unterredung, in der er seinen feurigsten Liebesschwüren das nothgedrungene Eingeständniß hatte hinzufügen müssen, daß er eben doch vorläufig ganz und gar von seinen Eltern abhänge. Er hätte noch mehr sagen können, denn seine kluge Mutter, durch Emmy benachrichtigt, hatte ihm kürzlich ein sehr nachdrückliches väterliches Veto mit Androhung gänzlichen Handabziehens übermittelt. Aber das ließ er bei Seite und betheuerte nur in glühenden Ausdrücken seinen Entschluß, nicht nachzulassen, bis die Eltern ihre Zustimmung geben würden. Damit hatte Vilma genug gehört. Der Abschied in jener Stunde war sehr gerührt gewesen, dann kam das duftende Briefchen, worin Francis aufgefordert wurde, zu kämpfen und zu siegen, während die Schreiberin leider, leider! diesen Sommer nicht, wie sie gehofft hatte, zu dem guten Onkel Professor nach dem reizenden Allersbach durfte, sondern eine reiche Tante, welche Gesellschaft wünschte, nach Kissingen begleiten mußte.

Es gab harte Verhängnisse auf dieser Welt und der arme Francis seufzte von Herzen darüber. Aber seinem Appetit schadete es vorläufig noch nicht, er vertilgte um die Wette mit den anderen die massenhaften, wohlschmeckenden Fischgerichte, welche den sonst etwas eintönigen Küchenzettel aufs anmuthigste belebten. Die Herstellerin derselben, die feine Köchin Wally mit den gebrannten Stirnlöckchen kam auch bereits von ihrer anfänglich tiefen Verachtung gegen das „elende Bauerndorf“ zurück; sie fand die drei stämmigen Haussöhne einer näheren Beachtung nicht unwürdig, das besserte ihre Laune bedeutend, und somit ließ sich der Landaufenthalt zu Emmys großer Erleichterung ganz gut an. Selbst der Hauptunzufriedene, Walter, begann im weiteren Verlauf den Weltwinkel ohne Ereignisse erträglich zu finden. Die Bekanntschaft im Waldhäuschen, der alte Professor, zog ihn bald lebhaft an, auch Emmy ging sehr gerne abends mit ihm über die Wiese hinaus bis zu der Bank im Buchenschatten, wo der alte Herr gewöhnlich in stiller Betrachtung saß, einen Band Goethe in der Hand, das Gesicht den im Sonnenuntergang leuchtenden Bergen über dem Seespiegel zugekehrt.

„Es ist so friedlich hier bei Ihnen“ sagte Emmy einmal, „so weltentrückt! Man hat immer das Gefühl, daß Sie ein wohlangewandtes Leben voll Befriedigung überdenken.“

„Das ist zuviel gesagt,“ erwiderte er bescheiden. „Mein Leben war nicht ärmer an Thorheiten und Irrthümern als das anderer Leute auch. Aber ich bedaure sie nicht, denn sie mit ihren Folgen sind es, die uns endlich das theure Gut der Selbsterkenntniß und dadurch den inneren Fortschritt vermitteln.“

„Wir heutigen“ meinte Walter kopfschüttelnd, „kommen nicht mehr zur ruhigen Selbstprüfung. Das Leben umgiebt uns rastlos, ewig fordernd; der einzelne muß heute unendlich mehr sein als vor fünfzig Jahren –“

„Erlauben Sie,“ fiel ihm der Alte humoristisch dazwischen, „mir scheint, der einzelne bildet sich das vielfach nur ein. Wenn ich um mich schaue, bemerke ich durchaus keine Steigerung der Geisteskraft bei meinen Mitbürgern, im Gegentheil! Eigenartiges Denken und unabhängiges Urtheil sind sehr selten geworden in unserer Zeit der ‚Bildung für alle‘!“

„Weil sich jeder schon in seinem Berufe aufreiben muß, ganz abgesehen von allem andern, das auf den heutigen Menschen einstürmt und ihn an der ruhigen Vertiefung hindert.“

„Ich glaube nicht, daß der Beruf als solcher soviel größere Anforderungen stellt. Was die Leute körperlich und geistig abhetzt, das ist der Wahn, alles mitmachen, alles wenigstens zur Kenntniß nehmen zu müssen, was, wenn auch noch so entfernt, unter den geistigen Gesichtswinkel fällt; oberflächlich natürlich und flüchtig, aber doch so, daß man davon reden kann. Und mit diesem unfruchtbaren Sammelsurium wird die Zeit verthan, in welcher allmählich jeder sich ganz ruhig eine solide, fruchtbringende Bildung aneignen könnte. Welche Spur bleibt denn zurück von den massenhaft verschlungenen Zeitungsartikeln mit ihren Aufregungen, die heute geschürt und morgen wieder besänftigt werden, von den Berichten über Ausstellungen, die man nicht sieht, über Virtuosenleistungen, die man nicht hört? Ja was bleibt selbst von den vielen neuen und neuesten Büchern, die man ‚gelesen haben muß‘ – oder wenigstens die Kritik darüber in dem Tageblatt, auf das man schwört? Das alles und wie viel mehr noch muß täglich durch das müde Menschengehirn gepreßt werden, zu keinem andern Zwecke, als daß man in seinen und anderer Augen möglichst ‚bedeutend‘ erscheint. Dieses Unglückswort ist eigentlich die Wurzel des ganzen Uebels. Es ist eine Art von Größenwahn unter die Leute gefahren, der sie beunruhigt und ihre Gehirnkraft über Verhältniß abnutzt. Die Kraftvollen verfallen im Unmuth über das Mißverhältniß zwischen Anspruch und Erfolg dem Pessimismus, die Schwächsten – in welch großer Zahl! – dem Irrenhaus. Und aus der breiten Mittelschicht ersteht scharenweise statt des früher einfach Unwissenden aber Harmlosen das unerfreuliche Herdengeschöpf, der Bildungsphilister, der sich auf der Höhe jeder Situation fühlt, mit fremden Augen sieht und mit geborgten Schlagwörtern kurzweg verurtheilz, was er nie fähig wäre, selbst zu beurtheilen. Eine Bereicherung unseres nationalen Lebens wird man ihn schwerlich nennen können!“

„Das nicht, aber einen vielleicht unvermeidlichen Auswuchs, welchen wir für unseren großen nationalen Aufschwung und Erfolg gerne mit in Kauf nehmen wollen.“

„Gerne? Nein! Wir haben früher in demüthiger Bescheidenheit etwas zu viel geleistet, nun sind wir ins Gegentheil übergesprungen, und das steht uns schlecht zu Gesicht. Wohlgemerkt, unsere Unbescheidenheit gilt nur dem äußeren Erfolg, dem Glanze und raschen Emporkommen. Was den Grad der Leistung betrifft, da bescheiden wir uns ungeheuer. Was für Leute erfreuen sich heute eines berühmten Namens! Ja, wie fühlt sich bereits jeder grüne Anfänger! Er bombardiert die Meister des Faches mit seinen unfähigen Produkten und ist hoch empört über eine Abweisung. Wie ein Märchen kommt es einem vor, zu hören, daß der junge Schubert sich jahrelang nicht getraute, Beethoven zu besuchen, obgleich es sein glühendster Wunsch war und beide in derselben Stadt wohnten, aber die tief bescheidenen Worte zu lesen, mit welchen Lessing sich für ‚keinen Dichter‘ erklärt! Derlei Dinge sollte man von Zeit zu Zeit dem vom Größenwahn gestachelten Menschen vorhalten und hinterher sagen: Plage dich nicht so unnöthig, Lieber! Wo alle sich auszeichnen wollen, zeichnet sich zuletzt niemand aus, auch gilt niemand auf die Dauer für bedeutender, als er ist. Das geheime Gefühl davon nagt an dir und macht dich nervös. Thue es ab und begnüge dich, in Bescheidenheit als gewöhnlicher Mensch deine Schuldigkeit zu thun! Der erste in der Klasse ist immer nur einer.“

„Das könnte vielen gut thun“ sagte Emmy lachend. Ihrer gesunden und wahrhaftigen Natur leuchtete das alles vollkommen ein.

[192] Hugo aber, der sich von manchem Wörtlein der ganz harmlos gesprochenen Rede im geheimen getroffen fühlen mochte, sagte nach einem kurzen Nachdenken:

„Und wer soll da ändern und bessern? Die Schule, die heute schon ohnehin mit allen möglichen Aufgaben überlastet ist?“

„Das Haus!“ sagte der alte Herr mit starker Stimme, „die Familie, für die wir Deutsche, mögen wir sonst noch so viel Fehler besitzen, Eigenschaften haben wie kein andres Volk. Auch sie ist ja vom Streberthum nicht unberührt geblieben, sie muß erst wieder aus einer Assekuranz für Lebensgenuß und gegenseitige Beweihräucherung zur Stätte der Pflichttreue und Bescheidenheit werden. Die wohlhabenden Eltern sollen aus Weisheit ihren Kindern die Beschränkungen auferlegen, die früher unsere größere Armuth erheischte. Beschränkung ist Glück, und der Mensch erhebt sich nicht ungestraft aus ihr ins Maßlose! Soll er später die wahren Güter des Lebens erwerben und genießen, so muß seine Jugend nicht im Getriebe von Vergnügen und Aufregungen verflossen sein. Wer seine Kinder in Wald und Feld führt, in ihnen die Liebe zur Natur, zur Thier- und Pflanzenwelt erweckt, ihre fleißige Arbeit mit einfachen Freuden lohnt, ihren Blick auf große Vorbilder richtet, der erzieht tüchtige und bescheidene Menschen statt der kleinen Ehrsüchtigen, die zur Pistole greifen, wenn das Klassenexamen nicht günstig ausfiel.“

„Er hat gut reden,“ dachte Walter. „Sie haben keine Familie gehabt!“ fügte er dann in einem vielsagenden Tone hinzu.

„Leider! Ich habe mir wohl da und dort Ersatz dafür zu schaffen gesucht, allein was will das heißen gegen das Glück, ein paar Söhne zu erziehen, sich an ein paar rosigen Töchterchen zu erfreuen, wie das Ihnen jetzt beschieden ist!“

„Ja,“ sagte Emmy, „Sie dürfen uns glücklich preisen, die Kinder machen uns viele Freude.“

„Und allerhand Sorgen,“ setzte ihr Gatte hinzu.

„Das ist ja natürlich. Aber offenbar gehen Sie mit ihnen den richtigen Weg. Sie haben sie nicht in eine elegante Sommerfrische gebracht –“

„Wir wissen, warum!“ dachte Emmy.

„– sondern in dieses einfache Fischerdorf, wo sie unter Ihren Augen spielen, lernen und bei jedem Gange in den Wald ihren Anschauungskreis erweitern.“

     Felddiaconen.

Uebung einer freiwilligen Sanitätskolonne.
Zeichnung von O. Gerlach.

Walter fühlte sich entschieden uberschätzt. Im Walde war er mit seinen Söhnen noch nicht gewesen, sie liefen gewöhnlich allein. Es fiel ihm jetzt auch ein, daß er eigentlich Fritz in der letzten Woche, außer bei den Mahlzeiten, kaum zu Gesicht bekommen hatte, er nahm sich vor, heute abend einmal gründlich nach seinen Aufgaben zu sehen.

Während sie so sprachen, war unten am Strande das Dampfboot gelandet. Jetzt sah man zwei Damen langsam über die Wiese heraufsteigen, eine kurze, dicke am Arme einer schlanken und großen.

„Ist das nicht –“ fragte Professor Mayer mit einem gewissen Schauder.

„Ihre Nichte, Frau von Düring, ja, so scheint es mir auch,“ antwortete Walter. „Mit Paula allein! Wo mag die reizende Vilma sein?“

„Ich glaubte sie alle in Kissingen,“ versetzte der Professor merklich niedergeschlagen. „Nun – da heißt es also, sie begrüßen!“ Er erhob sich, das Ehepaar ebenfalls. „Wollen Sie nicht noch etwas bleiben?“

„Nein, wir begleiten Sie bis zu den Damen und gehen dann vollends hinunter und heim,“ sagte Emmy.

Die Ankömmlinge waren bald erreicht. „Guten Abend, lieber Onkel,“ rief Frau von Düring, das Taschentuch schwenkend, mit dem sie sich das erhitzte Gesicht getrocknet hatte, „guten Abend! Nicht wahr, das heißt eine Ueberraschung? Kannst Du uns brauchen in Deinem Häuschen? Das ist es ja wohl dort oben – Gott, wie bescheiden! Guten Abend, meine Herrschaften! Er ist ein Philosoph – nicht wahr? Der reine Philosoph. ich sage es immer! Aber fürchte nur nichts, Onkelchen, wir sind genügsam und werden uns einrichten!“

„Ihr seid mir willkommen,“ sagte er, beiden die Hand bietend. „Meine alte Fanny wird es Euch so bequem als möglich zu machen suchen. Vorlieb nehmen müßt Ihr freilich. Paula, mein liebes Kind, ich freue mich sehr, Dich zu sehen. Was treibst Du?“

„Was wird sie treiben? Ihrer Mama das Leben sauer machen!“ erwiderte, ehe Paula zum Wort kommen konnte, Frau von Düring gereizt. „Deshalb komme ich ja eben, Du mußt ihr den Kopf einmal gründlich zurecht setzen. Ich bin ganz fertig mit meinen Nerven, ganz kaput – oh!“ Sie stöhnte mit halbgeschlossenen Augen, fuhr aber gleich darauf lebhaft gegen Emmy herum.

„Ihre Freundin Wiesner läßt Sie grüßen, sie will nächstens einmal herauf kommen.“

„Ist Fräulein Vilmas Bild fertig?“

„Ja, deliciös, sage ich Ihnen! Das heißt, ein gewisses Etwas, den feinsten Charme hat sie nicht ganz herausgebracht, aber der ist eben auch unerreichbar bei Vilma. – Wenn nur der Rahmen nicht so theuer wäre!“

[193]

Eine Massenspeisung von Soldaten auf der Leipziger Internationalen Ausstellung für das Rothe Kreuz.
Zeichnung von O. Gerlach.

[194] „Und was macht Thormann?“ konnte der Gerichtsrath sich nicht enthalten, zum Abschied zu fragen. „Ist er noch in der Stadt.“

Sie zuckte halb verächtlich, halb geärgert die Achseln. „Was weiß ich! Seit jener Landpartie, wo er es nicht der Mühe werth fand, sich auch nur zu verabschieden, habe ich diesen Herrn nicht mehr gesehen. Man thut doch immer besser, sich mit Leuten von so geringer gesellschaftlicher Bildung nicht einzulassen!“ –

„Also abgefallen! Schade!“ sagte Walter im Herabsteigen. „Na, wenn der alte Herr über die nicht nervös wird, dann hat er wirklich Anspruch auf den Titel eines Philosophen.“

„Die arme Paula!“ erwiderte Emmy.

In ihrer Laube unter den Bäumen am See fanden sie ein fröhliches Leben. Das Abendgold lag noch über den Wipfeln; Elisabeth deckte den Tisch und brachte die einfachen Gerichte herbei; frische Butter, Sauermilch, kaltes Fleisch; Maja schleppte den mächtigen schwarzen Brotlaib und Moritz kam triumphierend mit einer Schüssel selbstgepflückter Erdbeeren an. „Sie sind gewaschen!“ bemerkte er dazu. Francis hatte die langen Beine auf der Bank ausgestreckt, eine Zeitung vor sich und war gewissenhaft in den deutschen Selbstunterricht vertieft. Walter griff ebenfalls nach seinem Theile von Briefen und Zeitungen, die abendliche Poststunde war ihm die angenehmste des Tages.

„Bitte, Herr Gerichtsrath,“ unterbrach plötzlich der Amerikaner das Schweigen, „wollen Sie mir erklären, warum der Papst nicht kann leiden die Katzen?“

„Thut er das?“ fragte Walter zweifelnd. „Davon habe ich nie etwas gehört.“

„Ja, es steht hier ausdrücklich.“

„Nun, der Papst ist ein alter Herr und wird seine Eigenthümlichkeiten haben. Möglich, daß er die Katzen nicht mag.“

„Gewiß nicht. Er verflucht sie sogar. Aber nur die männlichen. Das ist, was ich nicht verstehe!“

„O Francis, Sie sprechen von den Ketzern,“ lachte die eben herantretende Emmy, und diesmal mußte der unglückliche Liebhaber des Deutschen selbst in die allgemeine Heiterkeit mit einstimmen.

Der Gerichtsrath sah sich suchend um. „Wo ist denn Fritz? Arbeitet er noch?“

„Der und arbeiten!“ versetzte Moritz, noch immer lachend, „der ist ja heute gleich nach dem Mittagessen mit dem Riederseppl nach Oberhausen gegangen!“

„Ohne Erlaubniß? Emmy!“ Stirnrunzelnd wandte sich der Gatte nach ihr hin.

„Er hat mir auch nichts gesagt,“ brachte sie erschrocken heraus. „Es ist heute Kirchweih dort, vielleicht hat ihn das gelockt –“

„Ich will ihm die Lockungen austreiben, wenn er heimkommt,“ entgegnete Walter grimmig.

Allein Fritz kam nicht heim. Das Essen war vorbei, die Dämmerung wurde tiefer, hinter den Baumwipfeln stieg, einer großen rothen Scheibe gleich, der Vollmond empor und beschien das am Ufer hinlaufende Stück Straße. Aber nichts regte sich darauf. Eine heftige Unruhe erfaßte die Eltern, sie gingen Fritz ein großes Stück weit entgegen, umsonst – keine Antwort kam auf ihr Rufen, schweigend und finster lag der Wald. Endlich mußten sie’s aufgeben und kamen, Emmy in strömenden Thränen, zum Hause zurück. Dort fanden sie alle in großer Aufregung vor der Thüre versammelt. Wally hatte nach ihrem Weggehen im Bubenzimmer die Betten abgedeckt und dabei einen Brief auf dem Tische gefunden, „An Papa und Mama“ überschrieben.

„Gott!“ schrie Emmy auf, „er wird sich doch kein Leid angethan haben! Ins Haus, ein Licht! O, nur schnell, schnell!“

„Sei doch vernünftig!“ sagte Walter, allein seine Hände zitterten. In der Eßstube, wohin alles nachdrängte, las er einen Augenblick später:

 „Liebe Eltern!

Es thut mir leid, Euch zu betrüben, aber mein Schicksal will es so! Durchs Nachexamen komme ich auch wieder nicht, das sehe ich jetzt schon. Der Papa würde gewiß wüthend werden, ich kann aber nichts dafür und deshalb gehe ich, denn Steine klopfen – das mag ich nicht, da kann ich noch ganz andere Dinge thun. Aengstigt Euch nicht, mein Freund Joseph steht mir zur Seite, wir gehen nicht nach Oberhausen, sondern haben jede Spur hinter uns vertilgt! Unser Endziel heißt: Kamerun! Dort ist Freiheit! Von dort wird einstens als ein großer und berühmter Mann zu Euch zurückkehren

Euer Sohn Fritz.“ 

„Nonsense!“ sagte Francis.

Die Eltern sahen sich sprachlos an, Elisabeth schluchzte, die gefühlvolle Wally gleichfalls, nur die stattliche Hausbäuerin sagte empört. „Mit dem Riedersepp, mit dem Lumpenbuabn! I hab’s ja immer g’sagt, es taugt nix, daß die Zwoa so viel beianander san!“

„Das hätten Sie besser mir gesagt,“ fuhr Walter auf, schwieg jedoch gleich wieder – er fühlte, an wem die Verschuldung lag, wenn er nichts von seinem Sohne wußte. „Was thun, Emmy?“ fragte er dann mit ungewohnter Sanftmuth.

„Ich gehe gleich, ihn suchen!“ rief Francis.

„Heunt abend könnens nix mehr machen,“ sagte die Wirthin im Abgehen. „Und weit sans ja no net. Werden ja dengerscht nit die Nacht durchlaufn!“

„Sprich mit dem Professor!“ rief Emmy plötzlich. „Er kennt die Gegend genau, er kann gewiß am besten rathen, was hier geschehen muß.“

„Du hast recht!“ sagte Walter. „Ich gehe gleich zu ihm, es ist kaum halb neun Uhr. Sie bleiben ruhig, Francis, bis ich wiederkomme! Ich bin bald wieder bei Dir, Emmy!“ Er schloß sie heftig in die Arme und küßte sie wiederholt. „Armes Weib!“

Dann eilte er die Wiese hinauf und stand bald vor dem Häuschen, bescheiden an der unteren Thüre klopfend. Er wurde nicht gehört, dagegen drangen erregte Stimmen aus der offenen Balkonthür über ihm.

„Nein,“ schrie Frau von Düring zornig, „es fällt mir gar nicht ein. Paula kann nicht verlangen, daß ich mich für sie aufopfere. Sie ist ein undankbares, unzufriedenes Geschöpf –“

„Das ist nicht wahr!“ erklang jetzt die strenge Mannesstimme. „Paula leidet Unerträgliches unter Deiner Schwäche und Vilmas lügenhaftem, verdorbenem Charakter. Aber nun ist es genug. Ich sehe ganz klar. Du hast die Mittel, die ich Dir für Paula anwies, verausgabt, um Vilma auf Abenteuer nach Kissingen zu schicken. Sie wird auch von dort wieder unverlobt zurückkommen – indessen, das kümmert mich nicht. Es handelt sich um Paula, die nicht länger in Eurer Atmosphäre bleiben darf. Ich gebe ihr also dieselbe Summe noch einmal, ihr allein, wohlverstanden! Und Paula geht diesen Herbst nach Zürich, wie es ihr Wunsch und Wille ist. Andernfalls –“

Walter mochte nicht mehr hören. Er ging leise ein Stückchen zurück und rief dann, wie eben erst kommend, aus einiger Entfernung:

„Herr Professor!“

Unmittelbar darauf erschien dieser auf dem Balkon. „Wer ruft?“

Walter nannte sich, der alte Herr kam herunter, schloß die Thüre auf und führte den späten Gast in sein Schlafzimmer zu ebener Erde. Dort erzählte ihm dieser mit fliegenden Worten sein Anliegen.

„Hm!“ sagte der alte Mann, „das ist ja fatal. Aber seien Sie nicht so bekümmert – wir fangen den Ausreißer bald genug! Am besten, Sie nehmen morgen mit dem Frühesten den Einspänner des Wirths, und wenn es Ihnen recht ist, begleite ich Sie als Wegekundiger. Es giebt nur zwei Richtungen, nach der einen telegraphieren wir, die zweite, nach Oberhausen und weiter, nehmen wir selbst. Daß der junge Diplomat gerade diese in Abrede stellt, macht sehr wahrscheinlich, daß die beiden die Kirchweihe auf dem Wege nach Kamerun noch mitnehmen wollten.“

Walter drückte dankbar die Hand des freundlichen Trösters und schied nach kurzer Weile mit erleichtertem Herzen.

(Schluß folgt.)




[195] ----

BLÄTTER UND BLÜTHEN

Fürs Rothe Kreuz. (Zu den Bildern S. 192 u. 193.) Zu den Anziehungspunkten der Ausstellung für das Rothe Kreuz, Armeebedarf etc., welche in den Tagen vom 4. bis 12. Februar dieses Jahres in Leipzig stattfand, zählte vor allen: die Ausstellung des „Landesvereins zur Pflege im Felde verwundeter und erkrankter Krieger im Königreich Sachsen“; denn dieser Verein führte nicht nur Krankenbaracken, Krankenwagen und Lazarethgeräthschaften vor, sondern beschickte auch die Abtheilung für das Rothe Kreuz mit einer Kolonne von Felddiakonen in kriegsmäßiger Ausrüstung.

Das Felddiakonenwesen bildet eine der wichtigsten Abtheilungen in der vielgestaltigen Organisation der freiwilligen Krankenpflege im Kriege. Während die Kolonnen der freiwilligen Krankenträger sich zumeist aus Mitgliedern der Kriegervereine und Feuerwehren zusammensetzen, aus ernsten verheiratheten Männern, die in der Schule der Armee Gehorsam gelernt haben, bilden die freiwilligen Krankenpfleger ein besonderes Glied des Lazarethpersonals. Diakonen der evangelischen „Brüderanstalten“, barmherzige Brüder der katholischen Krankenpflegerorden und gut empfohlene Civilkrankenwärter liefern einen berufsmäßig ausgebildeten Stamm, der jedoch für die Bedürfnisse des Krieges durchaus nicht ausreichen würde. Es haben sich darum in verschiedenen Landestheilen Deutschlands Genossenschaften für freiwillige Krankenpflege im Kriege gebildet, deren Mitglieder den Namen „Felddiakonen“ führen. Der erste Versuch mit denselben wurde im Jahre 1870/71 gemacht, und da er sich sehr gut bewährte, so wurde die Ausbildung von freiwilligen Krankenpflegern dieser Art seit dem Jahre 1886 von den deutschen Vereinen vom Rothen Kreuz zur ständigen Einrichtung erhoben. Der Eintritt in einen solchen Verein ist an gewisse Bedingungen geknüpft: der Bewerber muß christlichen Sinnes und Wandels, militärfrei und so gestellt sein, daß er ohne Entgelt den Ausbildungskursus, der mit dem Lazarethdienst etwa 10 Wochen dauert, durchmachen und dann alljährlich an einem Wiederholungskursus theilnehmen kann. Die außerordentlichen Mitglieder, die sich aus allen Ständen rekrutieren, werden im Kriege als Delegierte, Vorstände, Verwalter und Kolonnenführer verwendet; den ordentlichen Mitgliedern liegt die Ausübung der eigentlichen Krankenpflege ob, sie bestehen zumeist aus Lehrern, Handwerkern und Studenten.

Sobald das Personal der freiwilligen Krankenpflege den Kriegsschauplatz betritt, muß es eine vorschriftsmäßige Uniform anlegen. Die Orden der Johanniter, Malteser und Georgsritter erscheinen in ihrer Ordenstracht: die Delegierten, d. h. die oberen Beamten des Rothen Kreuzes, tragen schwarzen Rock mit goldenen Achseltressen, schwarzen Paletot mit Kapuze, Degen und weiße Mütze mit schwarzem rothgeränderten Randstreifen. Die Uniform der Krankenträger und Krankenpfleger wird durch unsere Abbildung auf S. 192 veranschaulicht. Sie besteht in grauer Joppe mit Nickelknöpfen, grauem Mantel mit Kapuze, grauem Beinkleid in Kniestiefeln, weißer Leinwandmütze mit schwarzem rothgeränderten Randstreifen und Sturmriemen, über der Landeskokarde ein rothes Kreuz; die durch die Genfer Konvention vorgeschriebene weiße Binde mit rothem Kreuze muß am linken Oberarm getragen werden.

Die Ausrüstung des freiwilligen Personals ist je nach dessen Bestimmung eine verschiedene: Instrumenten- oder Verbandtaschen, Reinigungstaschen, Beile, Sägen, Zangen, Hämmer, Nägel zur Herstellung improvisierter Feldbettstellen, Labeflasche und Brotbeutel, Tornister mit verschiedenen Verband- und Stärkungsmitteln – bilden die wichtigsten Bestandtheile dieser sorgfältig erwogenen Ausrüstung.

Die hier folgende Abbildung zeigt einen Theil der Uebungen, welche auf dem Ausstellungsplatz vorgenommen wurden: das Befördern einer Tragbahre in den Wagen eines Lazarethzuges. –

Aus früheren Ausstellungen für Volksernährung und Kochkunst sind die Massenspeisungen der Truppen weiteren Kreisen bekannt. Die meisten Ausstellungsbesucher stellen sich in der Nähe der gedeckten Tische auf und sehen mit Freude zu, wie das Bataillon mit gutem Appetit die vollen Schüsseln leert. Unser Zeichner führt uns auf seinem Bilde S. 193 in die Räume, in welchen die Köche schwitzen und in denen höhere Offiziere und Militärärzte sich die Feldkochapparate erklären lassen und das Essen auf seine Güte prüfen. Am lebhaftesten wird hier das Treiben, wenn unerwartet die Meldung kommt, eine Kompagnie rücke heran und solle in kürzester Frist abgespeist werden. Die Leistungen der Aussteller fielen auch diesmal bei allen Proben glänzend aus. Auf zu harte Probe wurde die Ausstellung nur einmal gestellt, als zugleich ein besonderer Kochapparat zur Verwendung vorgeschrieben wurde, der erst vorgewärmt werden mußte und beim Eintreffen der Meldung nicht vorgewärmt war; da wurde das Essen allerdings nicht zur rechten Zeit fertig.

Im großen und ganzen zählte jedoch die Gruppe für den Armeebedarf zu den bestbeschickten und bewies, daß unsere Industrie große Fortschritte gemacht hat und im Nothfalle die Truppenverpflegung von ihr aufs kräftigste gefördert werden wird.
*     

Spätgothischer Kelch aus der Kirche
von Mediasch in Siebenbürgen.

Kelch aus der Kirche von Mediasch. (Mit Abbildung.) Es ist nicht bloß landsmannschaftliche Antheilnahme, mit welcher wir Deutsche die jahrhundertelange Geschichte der Siebenbürger Sachsen betrachten. Es bleibt unter allen Umständen eine der geschichtlich merkwürdigsten Erscheinungen, wie dieser von der Heimath weit hinweg verpflanzte Volkstheil, umgeben von fremden, oft widerstrebenden Kräften, sich seine nationale Eigenart wahrt und trotz der erschwerenden Umstände in den Werken der Kultur nicht hinter den Brüdern in der alten Heimath zurückbleibt, sondern in allen Stücken mit ihnen gleichen Schritt hält.

Unsere Abbildung ist ein Beleg dafür. Sie zeigt einen durch Feinheit der Arbeit und Schönheit des Aufbaus ausgezeichneten spätgothischen Kelch aus der evangelischen Kirche zu Mediasch, Komitat Groß-Kokelburg. Das Kunstwerk ist ungefähr 29 Centimeter hoch, oben am Rande 11 Centimeter weit, aus leicht vergoldetem Silber, stellenweise mit Granaten geschmückt.

Nach den freundlichen Mittheilungen des Herrn Stadtpfarrers Johann Oberth zu Mediasch wurde dieser Kelch laut Ausweis eines alten Stiftungsverzeichnisses im Jahre 1677 von den Erben eines Andreas Seidner, welcher von 1660 bis 1666 Bürgermeister der Stadt Mediasch war, zum ehrenden Angedenken an den Verstorbenen der Kirche zum Gebrauch beim Abendmahl gewidmet. Auf der inwendigen Seite des Fußes befindet sich die Inschrift „Andr. Seid.“ Danach darf man wohl annehmen, daß niemand anders als eben jener Andreas Seidner selbst der Verfertiger des Kelches gewesen ist; denn Andreas gehörte, wie noch andere Bürgermeister vor und nach ihm, der zu jener Zeit hoch in Blüthe stehenden Zunft der Goldschmiede von Mediasch an. Wir erhalten dadurch auch eine ziemlich genaue Zeitbestimmung für das schöne Werk, und mit Wehmuth erinnern wir uns daran, daß um dieselbe Zeit im deutschen Stammland, welches eben von den Schrecken und dem Elend des Dreißigjährigen Krieges aufzuathmen begann, wohl wenig Sinn für ein derartiges Werk vorhanden sein mochte. =     

Eine Neuerung in der Glasfabrikation. In dem altehrwürdigen Gewerbe der Glasmacher spielte der mühsame und ungesunde Blasprozeß eine bedeutende Rolle. Das soll nun anders werden! Früher wurden Glasscheiben in der Weise hergestellt, daß große hohle Cylinder geblasen wurden, die man nachher aufschnitt und preßte. Der Glasfabrikant Simon hat nun ein Verfahren erfunden, nach dem das zähe Glas durch Rollen gewalzt wird und so seine flache und glatte Gestalt erhält, und zwar in jeder beliebigen Länge und Breite. Das so behandelte Glas ist gleichartig und fest, zäh und klar; seine Oberfläche besitzt einen Glanz, der an den des besten geschnittenen Glases erinnert. Der Haupttheil des neuen Systems besteht in dem Gebrauche hohler Metallwalzen, die von innen her mit Dampf oder Gas geheizt werden. Diese Walzen nehmen das flüssige Glas unmittelbar aus den Schmelzöfen heraus und dehnen es in große Tafeln aus. Durch die neue Behandlungsweise werden die Kräfte und die Gesundheit der Arbeiter viel mehr geschont und das Publikum kommt billiger in den Besitz eines vielbegehrten Artikels. F. K.     

Anton Rubinstein. (Zu dem Bilde S. 189.) Noch vor nicht allzu langer Zeit hieß es, Anton Rubinstein, wohl der berühmteste unter den gegenwärtigen Meistern des Klaviers, habe dem öffentlichen Auftreten in Konzerten ganz entsagt, um sich ausschließlich seinem Beruf als Komponist zu widmen. Nun hat er doch seinen Entschluß geändert, geändert aber in einer so hochherzigen Weise, daß ihm die Anerkennung der Besten nicht fehlen wird. Er hat nämlich nach einander in Wien und Berlin Konzerte veranstaltet, deren Ertrag ausschließlich wohlthätigen Zwecken zufloß. Das Berliner Konzert z. B. hat mit der Hauptprobe zusammen nicht weniger als 16854 Mark abgeworfen, welche bis auf 2000 Mark an Berliner gemeinnützige Anstalten aufgetheilt wurden. Jene 2000 Mark aber kamen den nothleidenden russischen Kolonien zugute.

Unsere Silhouette stammt aus Privatbesitz. Sie zeigt das kräftige Profil des Meisters vor dem Instrument, dem er den Haupttheil seines Ruhms und dem nun viele Arme und Nothleidende willkommene Hilfe verdanken.

Ein Gesundheitsbuch für Eltern und Erzieher. An Büchern über die Gesundheitspflege der Kinder von der Wiege bis in das schulpflichtige Alter haben wir in der volksthümlichen Litteratur keinen Mangel. Die Zahl derselben wird durch ein neues vermehrt, das aber mit dem gewöhnlichen Maße nicht gemessen werden darf; denn in ihm tritt als volksthümlicher Lehrer einer der berühmtesten deutschen Forscher auf. Das Buch „Wie behütet man Leben und Gesundheit seiner Kinder?“ (Wien, Braumüller) hat den ehemaligen Professor der Physiologie an der Wiener Universität, Dr. Ernst Brücke, zum Verfasser.

Man unterscheidet in der medizinischen Welt Praktiker und Theoretiker. Ernst Brücke war kein Praktiker, seine Lebensaufgabe bestand darin, im wissenschaftlichen Laboratorium die Gesetze zu erforschen, nach denen der gesunde menschliche Organismus lebt und webt. Das Werk aber, das jetzt nach seinem jüngst erfolgten Tode erscheint, verfolgt durchaus praktische Ziele. Auf den ersten Blick könnte es befremdlich erscheinen, daß ein Mann von so hohem wissenschaftlichen Rufe sein eigenstes Wissensgebiet verläßt und ein ihm ferner liegendes popularisiert. [196] In Wirklichkeit jedoch ist es als ein Glücksumstand zu betrachten, denn die Anschauungen der Aerzte gehen in vielen Fragen der praktischen Hygieine noch weit auseinander, und wenn man auf Grund derselben Verhaltungsmaßregeln für weite Schichten des Volkes aufstellen will, so muß man sich vor Einseitigkeit hüten und mit weitem Blicke die goldene Mitte einzuhalten wissen. Ernst Brücke war eine der Leuchten der medizinischen Wissenschaft und war somit mehr als irgend ein andrer befähigt, aus den vielen Errungenschaften der Neuzeit das herauszugreifen, was wirklich gut ist, und so bietet er auch in seinem volksthümlichen Buche den Eltern und Erziehern wirklich das Beste!

Auf dem Gebiet der Gesundheitspflege der Kinder gerathen zwei Ansichten ziemlich hart aneinander; die erste verficht die Interessen des Staates und will ein kräftiges und gesundes Geschlecht heranziehen; sie tritt aber dabei für Abhärtungsmaßregeln ein, welche von schwächeren Kindern nicht gut vertragen werden, und geräth dadurch mit der Ansicht der Eltern in Widerstreit, welche ihre schwächere Nachkommenschaft schützen möchten und nicht auf Kosten der Lebenswahrscheinlichkeit erziehen wollen. Ernst Brücke steht völlig auf der Seite der Eltern, und damit ist der hohe Werth seiner Belehrungen für das Haus genügend gekennzeichnet. Die Art aber, in welcher er, aus seinem reichen Wissensschatze schöpfend, die Fragen der Ernährung, der Abhärtung, der Wohnung, der Leibesübungen und der Behütung vor ansteckenden Krankheiten behandelt, machen das Buch zu einem Lehrbuch der Hygieine, in welchem die Eltern die besten Winke nicht nur für die Erziehung ihrer Kinder, sondern auch für ihre eigne Lebensführung erhalten.

Ein Werk Ernst Brückes bedarf keiner Empfehlung; der Zweck dieser Zeilen ist nur der, unsere Leser darauf aufmerksam zu machen, daß einer der Altmeister der medizinischen Forschung für sie das Werk: „Wie behütet man Leben und Gesundheit seiner Kinder?“ geschrieben hat. *     

Die Perlenfischerei in Sachsen. Eine Eigenthümlichkeit des Königreichs Sachsen, welche sich über zweieinhalb Jahrhunderte lang erhalten und auf die man einst einen sehr großen Werth gelegt hat, die königliche Perlenfischerei, wird allem Anschein nach bald ganz verschwinden, da die Ausbeute von Jahr zu Jahr geringer wird. Namentlich sind es die Weiße Elster in der Gegend von Bad Elster im Voigtlande bis zu dem Städtchen Elsterberg, sowie deren Nebenbäche, wie der Mühlhäuser Bach, der Görnitzbach und der Trieblerbach, welche Flußperlenmuscheln (Unio margaritifer) führen, in deren Gehäusen die kostbaren Perlen gefunden werden. Neuere Untersuchungen haben ergeben, daß auch in dem durch die Industrie stark verunreinigten Wasser des Chemnitzflusses bei Chemnitz solche Schalthiere vorkommen. Die Perlenfischerei in Sachsen reicht bis zum Ausgang des 16. Jahrhunderts zurück und wurde vermuthlich zuerst von venezianischen Kaufleuten betrieben. Im Jahre 1621 wurde sie für landesherrliches Recht erklärt; Pflege und Fischerei waren seither einzig der Oelsnitzer Familie Schmerler übergeben, deren Ahne, Moritz Schmerler, zuerst den Kurfürst Johann Georg I. auf diesen Schatz auf merksam gemacht hatte und dafür mit einem Gehalt von 30 Gulden als Perlenfischer angestellt worden war. Die Glanzperiode der Perlenfischerei ist aber längst dahin.

Vor Zeiten, da die Perlen noch weit höher im Preise standen als jetzt und die Ausbeute eine reichere war, stellten die sächsischen Fürsten die Perlenfischerei noch über den Silberbergbau des Erzgebirges. Von 1811 bis 1836 betrug der Gesammtertrag 15393 Perlen, aus denen 130552/3 Thaler gelöst wurden; von 1837 bis 1846 fand man 1041 Perlen, 1865 noch 185, 1866 nur noch 143 Stück, und so nimmt die Zahl immer mehr ab. Das Jahr 1888 war das erste, in welchem die königliche Perlenfischerei nicht betrieben wurde. Im Jahre 1890 nahm man sie wieder auf, allein man fand im ganzen nur 71 Perlen, darunter 9 helle und 25 halbhelle, die übrigen waren verdorben oder Sandperlen. Die Perlenfischer schreiben den fortwährend starken Rückgang der Ausbeute dem Umstand zu, daß die Muscheln von den Fabriken zu leiden hätten. Auf einer sonst sehr ergiebigen Strecke sind 1890 sämmtliche Muscheln tot aufgefunden worden, so daß 4815 Stück ausgeschlachtet und an die Perlmutterfabriken des Voigtlandes verkauft werden mußten. So wird die alte Einrichtung vermuthlich bald ganz verschwinden, wenigstens hat dem Vernehmen nach das sächsische Ministerium des Innern vorläufig davon abgesehen, die Stelle des vor zwei Jahren mit Tode abgegangenen Perlenfischers wieder zu besetzen.



Auflösung des Quadraträthsels auf S. 164:

Die fettgedruckten Buchstaben ergeben den Namen:
„Friedrich Rückert.“


Auflösung der Schachaufgabe Nr. 2 auf S. 164:
1. L d 7 – e 8 S g 3 – e 4 † 1. ......... K d 5 – c4, c5
2. D h 7 – e 4: † K beliebig 2. D h 7 – c 7 † K beliebig
3. L e 8 – c 6 oder D d 4, c5 matt. 3. D c 7 – c 6, e 3 matt.
0
1. ........ S g 3 – e 2 (f 5) 1. ......... beliebig
2. D h 7 – f 5 (:) † K beliebig 2. D h 7 – d 7 † beliebig
3. D f 5 – e 5, b 5 matt. 3. D d 7 – d4, b 5, c 6 matt.


Auflösung der Skataufgabe Nr. 2 auf S. 164:

Im Skat lag: gW, sD. Die Sitzung war so:

Mittelhand: eZ, e9, e8, rK, r9, sK, sO, s9, s8, s7.
Hinterhand: rW, eD, gD, gZ, gK, gO, g9, g8, g7, r8

und nimmt das Spiel folgenden Verlauf:

1. eW, c8, rW.[2]
2. sW, cZ,[3] eD,
3. eK, e9, r8,
4. eO, s7, g7.
5. rD, r9, g8.
6. rZ, rK, g9.

wonach der Spieler, da sD im Skat liegt, auch die übrigen Stiche bekommt und mit Schwarz gewinnt.


  1. Wir entnehmen dieses Kärtchen dem Werke „Christoph Kolumbus“ von Sophus Ruge, einem der vortrefflichsten Kenner des Zeitalters der Entdeckungen. Die Schrift ist als vierter Band der von Dr. Anton Bettelheim herausgegebenen Sammlung von Biographien „Führende Geister“ soeben im Verlag von L. Ehlermann in Dresden erschienen.
  2. Um Trumpfdaus zu retten, falls gW in Mittelhand steht.
  3. Mittelhand hofft, daß Hinterhand den gW hat, und nimmt an, daß die Trumpfzehn ohnehin fallen müßte, falls der Spieler noch gW oder 3D besitzt.


Auflösung des Bilderräthsels: „Deutsche Kaiserkrone“ auf S. 164:

Werden statt der in der Kronenfelderfassung befindlichen Perlen, nach Maßgabe ihrer Anzahl von einer Pause zur andern, die untenbezeichneten einer gewissen Perlenzahl entsprechenden Lettern gesetzt, wobei mit dem Lesen von links unten in der Richtung des Pfeiles die ganze Einfassung entlang vorzugehen ist, so geben die gefundenen Lettern in dieser Reihenfolge die Worte: Kaiser Barbarossa.


Auflösung des Homonyms auf S. 164:0 Trommelfell.
Auflösung des Räthsels auf S. 164:0 Sparta, Tarasp.
Auflösung des Silbenräthsels auf S. 164:0 Geldkatze.
Auflösung des Logogriphs auf S. 164:0 Rubel – Rudel.
Auflösung des Scherzräthsels auf S. 164:0 Oberst.
Auflösung des Citatenräthsels auf S. 164:
In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne.
 Schiller, „Die Piccolomini“ II, 6.




[ Verlagswerbung Ernst Keil's Nachfolger für W. Heimburg's Schriften ]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.