Die Gartenlaube (1892)/Heft 8
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Halbheft 8. | 1892. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahrgang 1892. Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf. alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.
Frühling im Bergwald! Er kennt die Blumen nicht, die der Lenz über die Wiesen des Thales streut, die lauen, linden Lüfte nicht, welche spielend durch die blühenden Hecken streichen, und nicht das liebliche Gezwitscher der heimgekehrten Schwalben, die unter gastlichem Dach ihre Nester bauen. Frühling im Bergwald — das ist Brausen und Sausen, Toben und Donnern, Sturm und Tod. Ueber dem Bergwald liegt der Winter wie ein grauenhafter Riese, und der Frühling, der ihn scheuchen will, muß kommen als ein gewaltiger Held, welcher töten und zerstören muß, bevor er bauen kann und neues Leben wecken aus eisigem Schlaf.
Hoch in dem steilen Gefels krachen ohne Unterlaß die stürzenden Lawinen, über die Halden fährt der stürmende Föhn mit dumpfem Sausen, mit seinem heißen Athem schnaubt er über den schwindenden Schnee, im Walde packt er die alten mächtigen Fichten und rüttelt sie, daß sie erbeben in ihrem Mark. Und was sie nur tragen an faulem und morschem Gezweig, das bricht er ab und führt es davon in jagendem Wirbel. Ein Nieseln und Gurgeln immer und überall, aus jedem Hange bildet sich ein springendes Bächlein, über alle Felsen plätschern die Wasser, zu denen der Schnee zerschmolzen ist, alle Wurzeln umspülen sie und sammeln sich in jedem Gerinn, in jeder Schlucht, und wachsen an zum tobenden, schäumenden Gießbach, der den Bergwald säubert von allem Unrath und Moder, jeden kranken schwachen Baum zerschmettert und nur bestehen läßt, was stark ist und gesund. Ueberall auch ein Rollen und Poltern die Felsblöcke, die der Frost des Winters von den Steinwänden abgesprengt hat und die gebettet lagen im Schnee, sie kommen ins Wanken und Wandern, wenn der Schnee zerrinnt, sie stürzen und sausen nieder durch den Bergwald in dröhnenden Sprüngen mit Krachen und Schmettern, und wo sie im Sturze die Erde treffen, da pflügen und wühlen sie den Grund, damit der überwinterte Same, den der Lenzwind ausweht, im Boden die frische Narbe finde…
Und in all diesem Stürmen, Rauschen und Brausen, inmitten dieses Kampfes, den der Frühling mit dem Winter führt, ein einsamer Mensch!
Rüstigen Ganges, mit halblauter Stimme ein Liedchen singend, schreitet er dahin über den vom Schnee schon halb entblößten Almenhang, eine schlanke, sehnige Gestalt — ein junges Antlitz mit kühn blitzenden Augen und einem lachenden Munde, um den sich der erste Flaum des blonden Bartes kräuselt. In schweren, eisenbeschlagenen Bundschuhen stecken die nackten Füße; Strümpfe aus ungegerbtem Rehfell, die Haare nach innen gewendet, umschließen die Waden, aus der kurzen verwitterten Lederhose ragen die nackten Kniee hervor, welche nicht aus Fleisch und Bein gebildet, sondern aus braunem Erz gegossen scheinen — rascher als die Sonne bräunt ja der Wiederglanz der weißen Schneefelder. Ein grobes Leinenhemd und ein aus zottigem Loden roh geschnittenes Wams umhüllen den straffen Körper. Ueber dem krausen Blondhaar trägt er die pelzverbrämte Lederkappe mit der Adlerfeder, am Gürtel ein kurzes Weidmesser und den kleinen Bolzenköcher, auf dem Rücken die plumpe schmucklose Armbrust mit fingerdicker Sehne und in den Händen führt er den langen, mit scharfem
[230] Stachel versehenen Bergstock. Es ist Haymo, der Klosterjäger, der dem Propste Heinrich[1] von Berchtesgaden[2] die Hirsche, Gemsen und Steinböcke[3] hütet.
Vor Wochen schon, da der Schnee noch tief lag und im Marsche kaum zu überwinden war, hatte Haymo die Jägerhütte bezogen, hoch über dem grünen Bartholomäus-See[4], in einem weiten Felsenthal, das von den rothen Marmorwänden, die es rings umschließen, seinen Namen erhalten: „In der Röth’“.
Alltäglich, vom frühen Morgen bis zum späten Abend, machte Haymo seinen Hegergang; das war für ihn eine harte Zeit, er durfte keine Stunde rasten und mußte die Augen offen halten den ganzen langen Tag. Denn der strenge Winter hat das Wild vertraut und zahm gemacht, und die Raubschützen haben leichte Arbeit; in großen Rudeln ziehen die Hirsche schon früh am Abend auf die offenen Almen und erst am späten Morgen wieder zu Holz; die Gemsen stehen tief unten im Bergwald und sogar die scheuen Steinböcke trieb der Winter aus ihren unwegsamen Felsrevieren hernieder in die Nähe der verlassenen Almhütten. Da galt es, unermüdlich Wache zu halten, denn gerade dieses seltene, edelste Wild war von den Raubschützen am meisten bedroht.
Ein „Stainpokh“ war ja die wandelnde Apotheke; die gerippten Hörner, die Hornschalen der Füße, das getrocknete Blut, welches im Volksmund „Schweißbluh’“ genannt wurde, und besonders die „Herzkhreizl“, jene kleinen, knochenähnlichen Gebilde, die im Herzen des erlegten Thieres gefunden werden, alles an ihm war wunderbar heilsam wirkende Arzenei, welche von Herren und Bauern mit theurem Gelde bezahlt wurde. Wohl standen schwere Strafen auf der Erlegung solch eines Wildes, Kerker und Peitsche, Verlust der rechten Hand, sogar der Tod – denn der Raubschütze war vogelfrei, und der Jäger durfte ihm, wenn er ihn auf frischer That ertappen konnte, allen Rechtes den Bolz in die Kehle jagen. Aber alle Bolzen treffen nicht, dachten die Raubschützen, der hohe Gewinn verlockte sie, und so kam es, daß Haymo schon in der ersten Woche seiner Hegezeit den Abgang zweier Steinböcke vermerken mußte. Als unwiderlegbare Zeugen des geschehenen Raubes hatte er im Schnee die Schweißfährten der erlegten Thiere und die Fußspuren des Räubers gefunden, die sich im tieferen, schneefreien Bergwald verloren. Als am Ende der Woche ein Laufbube des Klosters dem Jäger frischen Mundvorrath gebracht hatte, schickte Haymo mit dem Buben diese schlimme Nachricht hinunter ins Thal, in banger Sorge, wie Propst Heinrich, der an seinem Weidgehege und besonders an dem edlen Steinwild eine ritterliche Freude hatte, diese Botschaft aufnehmen würde.
Und die ganze folgende Woche hindurch gönnte er sich keine Ruhe mehr, in der Nacht kaum einen kurzen Schlaf, und es war ihm nicht zu verdenken, daß ein zornflammendes Wort von seinen Lippen flog, so oft er nur in seinem öden Bergrevier die Fährte eines menschlichen Fußes spürte. Nur eine Gesundheit, so jugendfrisch und eisern wie die seine, konnte diese aufreibenden Strapazen überdauern. Wenn er nach tagelangem Marsche heimkehrte in seine Blockhütte, dann lag ihm wohl die bleierne Müdigkeit in allen Gliedern; aber er brauchte sich nur auf sein Lager zu werfen, und es fiel auch schon ein fester, traumloser Schlaf über seine jungen Augen, der ihn erquickte, wenn er auch nur wenige Stunden währte und immer wieder unterbrochen wurde. Denn Haymo hatte sich, um in diesem schweren Schlummer das erste Grauen des Morgens nicht zü verschlafen, einen Wecker erfunden. Er band sich mit einer Lederschnur einen schweren Stein an den Arm und legte, wenn er sich auf die Wolfsdecke streckte, diesen Stein so lose auf die Holzkante seines Lagers, daß er bei der leisesten Erschütterung zu Boden gleiten mußte. So oft dann Haymo im Schlummer sich bewegte, weckte ihn der fallende Stein. Lag in der Hütte, wenn er erwachte, noch die finstere Nacht, dann stellte Haymo den Wecker wieder zurecht und schlummerte weiter. Doch wenn er sah, daß draußen vor dem kleinen Fenster die Sterne zu erblassen begannen, dann sprang er auf, wusch sich am rinnenden Quell, dessen eiskaltes Wasser vor der Hütte plätscherte, nahm sein karges Frühmahl ein und wanderte hinaus in den vom Föhn durchrauschten Frühlingsmorgen. Noch waren die Nächte kalt, und es währte immer eine Weile, bis Haymo das Frösteln aus seinen Gliedern brachte; aber der rasche Gang auf beschwerlichem Wege machte gar bald sein Blut lebendig, frische Röthe färbte wieder seine jungen Wangen, und seine Augen blitzten hell wie Wasser, in das die Sonne scheint.
Je wilder ihn der Frühlingssturm umrauschte, desto freier und wohler wurde ihm zu Muthe. Und wenn sich der Morgen, an dem er das zu Holze ziehende Wild nicht stören und scheuchen durfte, zum vollen Tage wandelte, sang er wohl, um der in seinem Innern stürmisch treibenden Lebenskraft einen Ausweg zu schaffen, mit hallender Stimme ein Lied in den Saus und Braus, der ihn umgab, der steigenden Sonne entgegen, die mit ihrem funkelnden Gold die schneebedeckten Kuppen der Berge überschmolz. Dann freilich, wenn die Jägersorge, die ihn all diese Tage her bedrückt hatte, wieder sein Herz beschlich, wurde er gar stille, stieg lautlos empor von Höhe zu Höhe und schickte die spähenden Augen in die Runde.
Da hatte er nun wieder einen schweren Tag hinter sich. Auf dem Heimweg zur Hütte begann er die Ermüdung hart zu spüren; in all diesem tobenden Sturm, in all diesem Schnee und rinnenden Gewässer war es ja kein Marsch zu nennen, den er gemacht, vielmehr ein Kampf um jeden Schritt. Wohl dämmerte schon der Abend, aber solange noch ein Schimmer von Licht über den Halden schwebte, durfte er nicht an die Heimkehr in seine Hütte denken. Auf der hohen Bergrippe, zu welcher er just emporstieg, wollte er den Anbruch der Nacht erwarten
Als er die Höhe betrat, winkte ihm, scharf abgehoben vom rothglühenden Abendhimmel, ein mächtiges Kreuz entgegen; ein Dächlein war darüber gespannt, in den Querhölzern steckten die Nägel, aber das Bild des gekreuzigten Erlösers fehlte; die frommen Almbauern hatten es wohl im späten Herbste vom Kreuz genommen, damit es nicht leiden möchte von der Unbill des Winters, von Schneedruck und Lawinen.
Haymo zog die Kappe und sprach ein kurzes Gebet. Dann ließ er sich zu Füßen des Kreuzes nieder, lehnte sich an den Stamm, verschlang die Hände hinter dem Haupte und blickte still umher mit müden Augen, die sich schon dem Schlummer entgegensehnten. In kurzen Stößen, bald sich dämpfend, bald wieder anbrausend mit verstärkter Macht, sauste der Föhn über ihn hinweg. Die Zweige der Krüppelföhren, mit denen die Höhe bewachsen war, duckten sich in gleichmäßiger Welle vor jedem anrauschenden Windstoß und hoben sich, wie aufathmend, langsam wieder empor. Gegen die steil aufragenden Felswände hinan zog ein mehr als hundertjähriger von Stürmen und Lawinen stark gelichteter Lärchenwald, dem die Nähe des Kreuzes seinen Namen gegeben … er hieß „der Kreuzwald“. An so manchem Morgen war Haymo schon zu diesem Wald emporgestiegen, um den ersten Balzruf eines Auerhahns zu erlauschen. Aber der stolze, einsiedlerische Vogel, dieser gefiederte Liebessänger der Berge, mochte wohl den Frühlingsmorgen noch zu frostig finden, um den Sang seiner heißen Liebe zu beginnen.
Zur Linken der Kreuzhöhe breitete sich das weite Felsenthal aus, an dessen jenseitiger Grenze, von einzeln stehenden Fichten überschattet, die Blockhütte des Jägers stand und daneben das größere Balkenhaus, in welchem Herr Heinrich und der Klostervogt zu nächtigen pflegten, wenn sie pirschen kamen. Zur Rechten der Kreuzhöhe lag ebenfalls ein weites Thal, in welchem dichte Gruppen der Zwergföhre mit wirrem Geröll und grasbewachsenen Stellen wechselten, zu deren schüchtern sprossendem Grün das Steinwild um diese frühe Jahreszeit gerne auf Aesung zog. Der Kreuzhöhe zu Füßen dehnte sich der mächtige Bergwald, der das vom Schnee schon völlig entblößte Almenland umschloß und dann, umschleiert schon vom dunklen Abendschatten, sich niedersenkte in die Tiefe, in welcher der See gebettet lag.
Haymo konnte von der Stelle aus, an welcher er saß, den See nicht gewahren, auch nicht das weite Klosterland im Thal. Die tiefer liegenden Bergrücken wehrten seinem Auge den Niederblick. [231] Aber rings umher in weiter Runde bot sich ihm ein Bild von unnennbarer Schönheit. Uebergossen von der rothen Gluth der sinkenden Sonne ragten die gewaltigen Schneeberge empor über das dunkle Meer der Wälder; dem Jäger zur Linken die wilden Tauern und die beiden Riesenzacken des Watzmann, zur Rechten der stolze, unwegsame Göhl, und in der Ferne, von bläulichem Schattenduft umwoben, stiegen die scharfgezahnten Lattenwände und die plumpen Massen des Unterberges in den golddurchleuchteten Abendhimmel. Denn wenn auch der Föhn mit Brausen alle Lüfte füllte, so trübte doch kein Wölklein den frühlingsklaren Himmel, um die Zinnen der Berge flatterte keine Nebelflocke, und ohne Dunst und Schleier lag das tiefere Gelände.
Unter langen Athemzügen hob sich Haymos Brust. Bei all dem stillen Schauen, mitten in Sturm und Wehen, befiel es ihn wie träumender Halbschlummer. Dann jählings erwachte er und fuhr betroffen auf, beinahe berührt von abergläubischem Schreck.
Ein junges Mädchen stand vor ihm, ihn betrachtend mit großen, staunenden Augen.
Er hatte den Hall ihrer nahenden Schritte nicht vernommen, er hatte sie nicht emportauchen sehen über den Rand der Höhe … plötzlich stand sie vor ihm, als wäre sie aus den Lüften getreten. Und in ihrem schlanken zarten Wuchse, mit dem blassen feingeschnittenen Gesichtchen und den tiefen Räthselaugen, umflattert von den schwarzen Strähnen des gelösten Haares, und in dem dünnen rothen Röcklein, das der Sturmwind peitschte, war sie wohl einer jener Elfen zu vergleichen, die in den Tiefen der Berge hausen und zuweilen an das Licht der Erde steigen, um ein Menschenkind zu beglücken mit ihren Gaben.
Und sie trug ja auch ein Körbchen in der kleinen Hand! Was dieses Körbchen wohl bergen mochte? Funkelndes Geschmeide, Perlen, edle Steine?
Haymo fühlte, wie ein heißer Schauer ihn durchrann. Nun aber mußte er lächeln. Denn des Mädchens plumpe Schuhe und die ärmlichen Lappen des Gewandes hatten in Wahrheit doch wenig Elfenhaftes. Haymo erhob sich.
„Dirn’? Was willst Du hier?“
Sie schwieg und betrachtete ihn noch immer mit einem halb scheuen, halb traulichen Blick.
„Dirn’! Rede doch! Woher kommst Du?“
„Von dort!“ sagte sie mit einer leisen weichen Stimme und deutete nach der steilen Schneehalde, welche sich hoch über dem Kreuzwald gegen die starrenden Felswände emporzog.
„Von dort?“ wiederholte Haymo und überflog mit einem ungläubigen Blick die zarte Gestalt des Mädcheus. Dort oben war es ein mühsames und gefährliches Gehen. Ein falscher unsicherer Tritt auf dem von Thauwasser und Föhnwind glattgewaschenen Schnee, und es ging bergab in sausender Fahrt – wohin? Das blutige Bild, welches Haymo auf diese stumme Frage vor seinen Augen auftauchen sah, weckte ein seltsam bedrückendes Gefühl in seiner Brust, und er sagte mit hastender Stimme. „Dirn’! Das war ein böser Weg! Sei froh, daß Du heil zurück bist.“
Sie schüttelte das Köpfchen und lachte – ein rechtes, hellklingendes Kinderlachen.
„Aber was hast Du nur dort oben gesucht?“
„Schneerosen,“ erwiderte sie und lüftete den Deckel an ihrem Körbchen, welches zur Hälfte angefüllt war mit jenen zarten, weißen Blüthen, die so schön und auch so kalt sind wie ein Wintermorgen. Dann wieder blickte das Mädchen lächelnd zu dem Jäger auf. „Es war eine rechte Plage. Seit dem Morgen bin ich auf den Füßen und habe doch kaum so viele Blumen gefunden, daß sie reichen für ein kleines Kränzlein. Wir sind ja schon spät im Jahr, die meisten Stöcklein haben schon verblüht.“
„Und für wen sind diese Rosen?“
„Für das heilige Grab unseres lieben Herrn. Uebermorgen ist Charfreitag.“
Eine Weile schwiegen sie. Haymo blickte zu dem leeren Kreuz empor; dann wieder sah er in die Augen des Mädchens und fragte:
„Wer bist Du?“
„Ich bin die Gittli[5]! Und Du?“
„Der Klosterjäger!“
„Der neue?“
„Ja! Und wo bist Du zu Hause, Dirn’?“
„Drunten – im Klosterdorf.“
Haymo erschrak. „Aber Dirn’! Wie willst Du den Heimweg finden? Heute noch? Das ist ein Weg, den Deine Füße nicht wandern in fünf Stunden. Und es wird eine finstere Nacht.“
„Ich weiß eine Sennhütte, von hier ein halbes Stündlein, dort will ich nächtigen.“
„Du wirst frieren! Die Nächte sind kalt.“
„Frieren?“ lachte sie. „Das Heu macht warm!“
Und da sie sich schon zum Gehen wenden wollte, nahm sie rasch ein paar Schneerosen aus dem Körbchen und schob sie zwischen die beiden eisernen Nägel, welche im Fußbalken des Kreuzes staken. Einen stummen Gruß nickte sie dem Jäger noch zu, dann fing sie mit der Hand das flatternde Haar, wand es um den Hals und huschte davon. Ein paar Schritte nur, und sie war in die Thalsenkung niedergetaucht
Haymo stand und wartete; es währte lange – dann sah er sie weit drüben im Steinthal zwischen den Büschen wieder zum Vorschein kommen; ihr rothes Röcklein schimmerte noch hell aus dem sinkenden Dunkel. Nun blieb sie stehen und schaute zurück, so glaubte Haymo. Aber es dämmerte wohl schon zu sehr, als daß er auf diese weite Strecke ihr Thun noch hätte genau unterscheiden können. Jetzt war sie schon so klein wie ein rothes Käferchen in dunklem Buschwerk … und nun verschwand sie.
Doch Haymo stand noch immer und blickte den Weg entlang, den sie gegangen. Dann athmete er tief auf, und sein Blick fiel auf die weißschimmernden Blüthen am Kreuze.
Schneerose! Du echte Blume der Berge! Nicht minder schön und lieblich als die rothglühende Almenrose des Sommers und noch geheimnißvoller als der Sammetstern des Edelweiß. Schneerose! Wenn der Winter seinen weißen Mantel über alle Berge wirft, wenn alles Blühen erstirbt und alles Wachsthum entschlummert, dann regt sich die keimende Kraft in den tiefgesenkten Wurzeln dieser einzigen Pflanze, als wäre sie bestellt zur Hüterin des Lebens, damit es nicht ganz erlösche in der toten Zeit zwischen Herbst und Frühling. In frostiger Oede sprossen ihre Blätter, und zwischen Schnee und Eis entfalten sich ihre weißen Blüthen. Und wenn zur Winterszeit der Tod durch die verschneiten Hochlandsthäler wandert und ein unschuldig Kind berührt mit seiner kalten Hand, dann klimmt die weinende Mutter empor zu den schimmernden Schneehalden und windet ihrem entschlafenen Liebling die weißen Rosen zum Kranze, als Sinnbild des ewigen Lebens.
Schneerose! Das ist Leben und Tod zugleich! Denn die Wurzeln dieser Pflanze bergen einen geheimnißvollen Saft, der kranke Herzen gesunden läßt und bleiche Wangen wieder färbt. Für jenen aber, der diese Arzenei zu gierig genießt, wird sie zum tödlich wirkenden Gifte.
„Zwei Tröpflein machen roth,
zehn Tropfen machen tot!“
So sagt der Volksmund – und während das sinkende Dunkel den weißen Rosenschimmer am Kreuze zu verschleiern begann, murmelte Haymo dieses Sprüchlein vor sich hin, als überkäme ihn die Ahnung, daß die Zeit nicht fern wäre, in welcher ihm „zwei Tröpflein“ gar nöthig würden.
Ueber allen Bergen war der rothe Schein erloschen; ein grauvioletter Duft ließ Himmel und Erde ineinanderschwimmen. Zu Haymos Häupten dunkelte schon die Nacht; nur fern im Westen zog sich über den Horizont noch ein grünlichgelber Lichtstreif, in den der gezackte Grat der Lattenwand sich schwarz hineinzeichnete.
Der Bergwald und die Gießbäche rauschten, dumpf sauste der Föhn, und durch die wirbelnde Luft hernieder funkelten mit unruhigem Glanz die erwachenden Sterne.
Wohl eine Stunde hatte Haymo in der Nacht zu wandern um seine Hütte zu erreichen. Als er dem Blockhaus näherkam, gewahrte er staunend, daß durch die halb offene Thür und das kleine Fenster der röthliche Schein eines Herdfeuers leuchtete. Wer war zu Gast gekommen? Er beschleunigte seine Schritte. [232] Vor der Thür stellte er den Bergstock ab, dann trat er in das Blockhaus.
Es war ein kleiner Raum, den er betrat. Die Balkenmauern des Hauses waren auch die Wände der Stube; mit dürrem Moose waren die Ritzen zwischen den Balken verstopft. Neben der Thür durchbrach ein kleines Fenster die Blockwand. Der niedere, aus Felsbrocken roh gemauerte Feuerherd nahm fast den vierten Theil des Raumes ein; an der Wand neben dem Herde stand das plump gezimmerte Bett, angefüllt mit Heu, darüber eine Wolfsdecke, ein Kissen aus Rehfell und ein großes, rauhhaariges Stück Loden; rings an den freien Wänden entlang lief eine Balkenbank, in der Ecke neben dem Fenster stand der klotzige Tisch. An der Wand noch ein kleiner Schrein zur Aufbewahrung des Mundvorrathes, über dem Herde zwei gekreuzte Stangen zum Trocknen der durchnäßten Kleider, neben der Thür zwei Holzzapfen für die Armbrust und das Wehrgehäng, ein Brett mit mancherlei Geschirr, in der Ecke über dem Tisch ein Kreuz, dessen welker Blumenschmuck ebenso gebräunt war wie alles Gebälk; denn der Rauch des Herdfeuers hatte immer ein langes Weilen in der Stube, bis er durch die Ritzen der Blockwand und des Daches seinen Weg ins Freie fand.
Vor dem Herde, auf welchem ein helles, heftig knisterndes Feuer flackerte, stand, mit der dampfenden Pfanne beschäftigt, der Laufbube des Klosters, ein etwa fünfzehnjähriger Bursch, hager und sehnig, mit einem verschmitzten stulpnasigen Gesicht, die braunen Haare kurz geschoren; er war mit einem rauhhaarigen Wams bekleidet, das in Schnitt und Länge fast einer Kutte glich.
Als Haymo unter die Thür trat, grüßte ihn der Bube nur mit einem Nicken des Kopfes und einem blinzelnden Blick. Vom Heubett aber erhob sich eine rundliche Gestalt, ein Mönch in der schwarzen Ordenstracht der Augustiner, das wohlgenährte Bäuchlein umschlungen von breitem Ledergurt; die genagelten Bundschuhe, welche schon am Feuer zum Trocknen standen, hatte er durch Strohpantoffel ersetzt. Er trat auf Haymo zu, die Fäuste in die Hüften gestemmt; seine kleinen Augen zwinkerten, der Mund bewegte sich wie kauend, und über der knopfigen Nase und den kugeligen Backen lag eine Purpurgluth, welche nicht allein vom Wiederschein des Feuers herrührte.
„Willkommen, ehrwürdiger Vater!“ grüßte Haymo und zog die Kappe.
Walti, der Laufbub, kicherte zu diesem Gruße; der Mönch aber lachte aus vollem Halse: „Also Du bist der Haymo, unser neuer Jäger?“
„Ja.“
„Glaub’ ich nicht! Glaub’ ich nicht!“
„Ja doch, ich bin es!“ stotterte Haymo verlegen.
„Du? Du willst ein Jäger sein? Ui jei![6] Mit Dir hat Herr Heinrich was Schönes aufgegabelt. Du willst ein Jäger sein? Ein Jäger muß Augen haben! Verstehst Du? Du aber hast Augen wie eine Blindmaus! Da – schau her!“ Lachend beugte der Mönch das Haupt und zeigte den Scheitel, der mit struppigen Haarbüscheln bewachsen war und keinen Schimmer einer Tonsur gewahren ließ.
Nun lachte auch Haymo; und Walti, den fettglänzenden Eisenlöffel schwingend, schrie dem Jäger ins Ohr, als hätte er einen Tauben vor sich: „Das ist ja nur der Frater Severin, unser Gärtner!“
O Spott des Namens! Severinus, das heißt zu deutsch „der Strenge“, „der Ernsthafte“ – und dieses Gesicht dazu und dieses Bäuchlein, welches vor Lachen wackelte, daß Frater Severin sich auf die Holzbank niederlassen mußte, um Athem zu finden!
„So? So? Ihr seid ein Frater?“ sagte Haymo, sein Wehrgehäng von der Hüfte schnallend. „Nun, dann seid mir doppelt willkommen!“ Und lächelnd streckte er seine Rechte hin.
Severin faßte sie mit der einen Hand, während er die andere schalkhaft drohend erhob. „Du! Du! Wenn ich das dem Guardian verrathe, daß Dir ein Pater die halbe und ein Frater die doppelte Freude macht, dann setzt es was!“ Er wollte weiter sprechen; doch aus der Pfanne, die über dem Feuer hing, stieg plötzlich ein zischender Dampf. „Walti, Du Rabenthier!“ schrie er erschrocken und stürzte dem Herde zu. „Richtig! Laßt der Kerl uns das Futter anbrennen, als wär’s eine Seel’, die der Teufel schmort! Her mit dem Löffel!“ Er riß dem Buben den eisernen Zinken aus der Hand und begann die rauchende Speise mit einem Eifer umzuwenden und durcheinander zu stoßen, daß ihm bald die hellen Schweißtröpflein über die dicken Backen rannen.
Haymo sah ihm eine Weile zu, dann nahm er die Armbrust von der Schulter und rieb mit einem Lederlappen die von der feuchten Luft erweichte Sehne solange, bis sie warm und trocken wurde. Als er die Waffe über den Holznagel hängte, trug Frater Severin die dampfende Pfanne zum Tische.
„So, Ihr Knospen, her zum Futter!“
Sie reihten sich um den Tisch, dem das Herdfeuer genügende Helle gab, und sprachen ein kurzes Gebet. Und wirklich – Frater Severins schmunzelndes Gesicht wurde ernst für eine Minute. Kaum aber hatte er das Amen von den Lippen, da strahlte er schon wieder, und sein Löffel war der erste in der Schüssel.
Einige Bissen hatten sie gegessen, da legte Severin hastig den Löffel nieder und hielt den beiden anderen die Hände fest. „Halt! Wir haben das Beste vergessen! Walti! Her mit der Güte Gottes!“
Der Bub sprang auf und holte aus einem Zwerchsack eine bauchige Thonflasche herbei. Bedächtig löste Frater Severin den Rindenpfropf und schob dem Jäger die Flasche hin. „Sollst den ersten Schluck haben – Klosterbier!“ Und er schnalzte mit der Zunge.
Haymo that einen langen Zug. „Ja, Frater, da merkt man die Güte Gottes!“
Walti kicherte und Frater Severin lachte. „Hörst Du, was er gesagt hat! Güte Gottes!“ Er gab dem Buben einen Puff in die Seite und vertiefte sich in die Flasche. Dann wieder zu Haymo gewendet, rief er: „Ich will Dir’s verrathen! Weißt Du, ich bin kein böser Mensch. Wenn ich in meinem Chorstuhl kniee und zu dem da droben bete, dann schlag’ ich an meine Brust und fühle, daß ich ein armer Sünder bin. Aber dann in Garten, Keller und Küche, da redet man auch gern wieder von irdischen Dingen. Dem Pater Guardian, aber gefällt das nicht. Und darum haben wir uns eine Sprache erfunden – weißt Du – ein fester Brotlaib, der heißt bei uns ‚eine gute Seele‘, solch ein Krug, das ist die ‚Güte Gottes‘, und eine alte Flasche Wein, das ist ‚des Himmels höchste Huld‘. Und weißt Du, was die ‚wahre Andacht‘ ist? Eine gebackene Forelle! Und das ‚Labsal der Betrübten‘? Ein gesulzter Hecht! Ui jei! Du solltest nur einmal den Pater Guardian sehen, wie zufrieden er lächelt, wenn er uns von so frommen Dingen reden hört – wenn ich etwa sage: ‚Ach, heut’ wurde mir des Himmels höchste Huld zutheil!‘ oder: ‚Ach, wie bin ich erfüllt von wahrer Andacht!‘“
So plauderten und lachten sie weiter, ließen die Flasche kreisen und thaten sich gütlich an ihrem bescheidenen Mahl. Als Walti dann den Tisch räumte, sagte Frater Severin zu Haymo: „Neugierig bist Du aber gar nicht; fragst nicht einmal, weshalb wir gekommen sind!“
„Ich freue mich, daß Ihr da seid! Was kümmert mich alles andre?“
„Du sollst morgen hinunter ins Kloster und Deiner Christen Pflicht genügen!“
„Das thät’ ich gerne! Wer aber hütet, bis ich wieder komme, meine Gemsen und Steinböcke?“
„Ich!“
„Ihr?“ lachte Haymo lustig auf.
„Ja, ich – was sagst Du?“ jammerte Frater Severin. „Herr Heinrich meinte, der faule Winter hätte mir zu wohl angeschlagen. Nun soll ich mir ein paar gute Pfündlein aus der Kutte laufen! Das wird eine böse Sache werden!“ In banger Sorge befühlte er die Stelle seines Gurtes. „Aber Du, Du kannst Dich auch freuen, wenn Du morgen hinunterkommst. Neulich, als der Walti mit Deiner Botschaft herunterkam, da gab es ein Donnerwetter – ui jei! Weißt Du … Herr Heinrich ist ein frommer, seelenguter Mann, aber wenn es sich um verlorene Seelen und Steinböcke handelt, dann kann er schelten wie ein rechter Türke! Weißt Du, was er sagte? Er sagte: ‚Zwei Böcke in einer Woche … wenn das so fortgeht, steck’ ich den Burschen unter die Klosterknechte und schick’ einen andern, der wachsamere Augen hat und sich besser versteht auf die Hut des Gewildes.‘ Ja, das sagte er.“
[233]
[234] Haymo erblaßte. Das hatte ihn ins Herz getroffen, denn er hing am Weidwerk und an den schönen freien Bergen wie ein Blatt am Baum, welches welken und sterben muß, wenn es der Wind vom Aste reißt. Er brachte kein Wort hervor; nur die Fäuste stieß er auf den Tisch und biß die Lippen übereinander.
Als Frater Severin gewahrte, was er angerichtet hatte, streichelte er dem Jäger die zitternde Faust und sagte begütigend: „Nun, nun, so schlimm wird es ja nicht gleich werden, den Herrn Heinrich brauchst Du nicht zu fürchten. Wenn er auch manchmal ein wenig aufbraust … Worte, Haymo, Worte! Komm’ Du morgen nur hinunter, stelle Dich fest auf Deine Füße, schau ihm frei ins Auge – und alles ist gut! Und wenn Herr Schluttemann, der Klostervogt, ein Hagelwetter losläßt, so nimm es nicht ernst und schüttle den Pelz! Weißt, der speit halt Feuer, weil ihm Frau Cäcilia gehörig einheizt. In seiner Vogtstube hängt ein Bild – hast es gesehen? Der heilige Georg, der den Drachen ersticht! Ich mein’, da sollte eher ein Bild hängen: der Drache, der den heiligen Georg ersticht, doch nicht mit der Lanze, sondern mit einer Blutwurst!“
Er wollte weiter sprechen. Aber vom Herde her klang die Stimme des Buben „Frater Severin!“
„He?“
„Wißt Ihr, wen ich heute gesehen hab’ in aller Gottesfrüh’?“
„Wen?“
„Den Schwarzen! Drunten am See, unter einer Fichte saß er und flickte an einem Netz, als wär’ er nicht der Pater Fischmeister, sondern ein höriger Knecht! Und als ich vorüberging, machte er Augen gegen mich wie Feuer, richtig zum Fürchten! Das ist einer!“
„Das ist freilich einer!“ wiederholte Frater Severin. Und um den Jäger von seinen trüben Gedanken loszureißen, fragte er ihn: „Hast Du ihn nie gesehen – drunten am See?“
Haymo schüttelte den Kopf.
„Heuer um die Weihnachtszeit haben sie uns den hergeschickt von Passau. Warum? Ich weiß es nicht! So ’was erfährt ja unsereiner nie! Er soll aus fürstlichem Geblüt sein. Aber da drinnen …“ er pochte auf seine Brust, „da muß es gar finster ausschauen bei dem! Ganze Tage lang ist er im verschneiten Klostergarten auf und ab gewandert wie ein Gespenst. Und jetzt im Frühjahr, da haben sie ihn zum Pater Fischmeister gemacht und an den See geschickt. Drunten, weißt Du, wo es herausgeht über den Wildbach, in dem öden Winkel zwischen Felsen und See, da haust er in seiner Klause … und könnt’ es so gut haben in seiner Klosterstube! Mutterseelenallein! Freilich, umsonst heißt er nicht Pater Desertus, der ‚Einsam‘! Meinst Du, er duldet einen Knecht in seiner Nähe? Draußen im Seedorf müssen sie sitzen und dürfen nur kommen, wenn er sie ruft mit seiner Glocke.“
Haymo hörte nur mit halbem Ohr. Als Frater Severin das merkte, rüttelte er den Jäger am Arme. „Aber so rede doch auch ein Wort! Das ist ja langweilig, so stumm zu hocken wie eine Raupe im Kohl! Komm’ her! Trink’ einen Schluck! Und dann erzähl’ mir! Wo bist Du denn eigentlich her?“
„Aus Sankt Benedikti Buren!“[7]
„Wo Herr Heinrich vor Wochen zu Gast war?“
„Ja! Er fand Gefallen an mir und nahm mich mit.“
„Da hat er recht gehabt! Ich hätt’ es auch so gemacht! Sag’, sind Deine Eltern Klosterleute?“
Haymo senkte das Haupt, und seine Stimme zitterte. „Mein Vater war Senn; bei einem bösen Wetter hat ihn der Blitz erschlagen, und meine Mutter ist drüber gestorben aus Gram.“
„Armer Teufel!“ murmelte Frater Severin und wollte des Jägers Hände fassen.
Haymo aber erhob sich und verließ die Stube. Draußen umfing ihn die finstere Nacht. Lange stand er an den Stamm einer Fichte gelehnt, die unter dem stoßenden Föhn erzitterte bis in die Wurzeln. Er blickte empor zu den Sternen. Aber er sah ihr Funkeln und Leuchten nicht; die Bilder der Vergangenheit, traurig und froh, zogen an seinem Auge vorüber: die stürmische Nacht, da man den Vater brachte als einen stillen Mann; der Morgen, an welchem man die Mutter tot auf ihrem Lager fand; der schöne Abend, da ein Klosterknecht den zehn jährigen Buben zum Pater Wildmeister in das Jachenthal brachte; die erste Bergfahrt, der erste Schuß in die Scheibe und der erste in das Herz eines stattlichen Hirsches; und dann die frohen Jahre hoch oben im freien Revier der Berge, mit all ihren Jägersorgen und Jägerfreuden … bis zu diesem letzten Abend, an welchem das Mädchen mit den Schneerosen so plötzlich vor seinen Augen stand, selbst einer Schneerose vergleichbar, schlank und schön wie eine Elfe.
„Gittli!“
Weich und leise kam der Name von Haymos Lippen. Seine Blicke bohrten sich in die Nacht. Aber dort unten, wo der rauschende Bergwald den Almenhang und jene Hütte umschloß, in welcher das Mädchen Schutz gesucht für diese Nacht … dort unten war alles schwarze Finsterniß.
Schlief sie schon? Und ob sie wohl träumte? Und fror sie nicht im Schlummer? Sennhütten sind ja nur gebaut für den warmen Sommer; handbreite Lücken klaffen oft in den roh gefügten Balkenwänden, und es fährt der Sturm hindurch, zudringlich und kalt. Da wäre wohl der Schläferin ein wärmendes Fell, eine schützende Decke gar willkommen.
Haymo eilte in die Hütte. Das Feuer auf dem Herde war fast erloschen; nur ein dünnes Flämmlein schlug noch aus den zerfallenden Kohlen. Im Herdwinkel hatte sich Walti auf die warmen Steine gestreckt, und im Heubett schnarchte Frater Severin auf dem Wolfsfell und hielt die Lodendecke bis an das Kinn gezogen. Was der gute Frater wohl sagen mochte, wenn Haymo ihn weckte und zu ihm spräche. „Gieb das Fell her und die Decke, die kleine Gittli friert!“
Haymo seufzte, und leise, um die beiden anderen nicht zu wecken, ließ er sich auf den Herdrand nieder. Da sah er, daß der Laufbub die Augen noch offen hatte.
„Walti!“ sprach er ihn flüsternd an. „Nicht wahr, Du kennst alle Leut’ im Klosterdorf?“
„Ja!“ gähnte der Bub.
„Kennst Du eine junge Dirn’ mit Namen Gittli?“
„Wohl wohl,[8] das ist die Müllerstochter am Seebach drunten, ein festes Weibsbild mit blonden Zöpfen, dick wie mein Arm.“
„Nein, die mein’ ich nicht … eine andere!“
„Halt! Ja! Die Krämerdirn’! Haymo, die hat Batzen und kriegt ein Haus. Aber schielen thut sie und einen Buckel hat sie auch! Pfui Teufel!“
„Die mein’ ich auch nicht … eine andere!“
„Eine andere? Gittli? Ich weiß keine mehr!“
„Besinne Dich!“
„Wie soll sie denn ausschauen?“
Haymo neigte sich über den Herd; seine Augen leuchteten, und von seinen Wangen strahlte die Gluth der Kohlen zurück. „Schlank und fein wie ein junges Lärchenstämmlein, flink wie ein Reh, ein Gesichtlein, so weiß wie die Schneerose, und Augen, so schön und tief wie der See.“
Walti glotzte den Jäger an und schüttelte den Kopf. „Nein, die kenn’ ich nicht! So eine giebt’s gar nicht bei uns im Dorf. Die müßt Ihr draußen in Salzburg suchen oder im reichen Hall, in den Herrenhäusern!“ Er ließ sich gähnend zurücksinken in den Winkel, richtete sich aber gleich wieder auf. „Halt! Eine fällt mir noch ein! Ja, die heißt auch Gittli. Aber das ist ja noch gar keine Dirn’! Die ist ja mit mir in die Klosterschul’ gegangen! Ein kleberes[9] Ding! Hat Augen wie eine Wildkatz’ und Haare so schwarz wie des Teufels Großmutter! Die könnt Ihr nicht meinen.“
Haymo lächelte. „Nein, die mein’ ich freilich nicht! Wer ist denn ihr Vater?“
„Sie hat keinen; bei ihrem Bruder haust sie! Das ist einer! Dem geh’ ich aus dem Weg! Neulich, wie die Glocke zum Essen läutete, hab’ ich sein Kind umgerannt. Da hat er mir die Ohren schier aus dem Kopfe gerissen! Der Teufel, der ungute! Es mag ihn aber auch keiner im Dorf. Er ist ein Auswärtiger. Vor zehn Jahren ist er zu uns gekommen, weiß nicht, woher. Drunten im Salzhaus ist er Sudmann, und sein Häusl ist ein Klosterlehen … jaaa!“ Laut gähnend drehte sich Walti auf die Seite.
[235] Haymo lehnte sich gegen die Blockwand, flocht die Hände um das emporgezogene Knie und träumte mit offenen Augen.
Auf dem Herde erlosch die Gluth, Frater Severin schnarchte, und draußen stürmte der Föhn um das kleine Balkenhaus, daß es oft erzitterte in allen Fugen.
Es war nach den schweren Mühen des Tages keine bequeme Rast, welche Haymo auf dem Herdrand hielt. Und dennoch schlief er tief und fest. Nach stillen Stunden weckte ihn ein Windstoß, der gegen die Hütte fuhr, als wollte er sie hinwegtragen in die Lüfte. Auch Walti erwachte; sogar Frater Severin stellte das Schnarchen ein und warf sich auf die Seite.
Haymo verließ die Hütte, um sich an der Quelle zu waschen; der Stand der Sterne zeigte die zweite Morgenstunde. Als er zurückkehrte, hatte Walti ein Feuer entzündet. Frater Severin aber schnurrte schon wieder im Schlaf wie die Säge in einer dürren Fichte.
Heute brauchte Haymo kein Frühmahl, denn er mußte nüchtern bleiben für den Tisch des Herrn. Er schnallte das Wehrgehäng um die Hüfte, warf die Armbrust auf den Rücken und drückte die Kappe über das krause Gelock. Aus dem Schreine nahm er eine ältere Armbrust hervor und einen Bolzenköcher und reichte beides dem Buben, dessen Augen aufblitzten, als er nach der Waffe griff.
„Kannst Du schießen?“
„Auf hundert Schritte treff’ ich wohl einen Baum!“ sprudelte es über Waltis Lippen.
„Gut! Laß den Frater schlafen! Du aber geh, wenn der Morgen graut, und übernimm die Hut!“
„Welchen Weg soll ich machen?“
„Hinüber zur Kreuzhöh’, dann hinauf durch den Wald bis unter die Wände und immer an den Wänden fort … aber nimm Dich in acht vor den Lahnen[10] und spring’ nicht thalwärts, wenn Du sie rollen hörst über Dir, sondern drück’ Dich an die Wand! Zu Mittag such’ Dir einen Platz in der Sonne und raste. Dann hinunter zum Seegrat und durch den Almenwald herauf. Um Pirschzeit mußt Du wieder oben sein beim Kreuz; dort warte, bis es finster wird. Und wenn Du einen Steinbock siehst oder ein Rudel Gemsen, dann halte Dich still und scheuche mir das Wild nicht! Hörst Du? Und wenn Dir einer begegnet, der nichts hier oben zu schaffen hat, dann zeige, daß Du ein richtiger Bub’ bist, und ruf’ ihn an! Es ist Klostergut, das Du hütest!“
Walti nickte nur; aber sein Gesicht brannte, und fester schlossen sich seine Hände um die Armbrust.
„Und nun behüt’ Dich Gott! Und grüß’ mir den Frater Severin!“
Leise, um den Schlafenden nicht zu wecken, verließ Haymo die Hütte. Draußen lag noch die tiefe Nacht mit ihrem Sturm und ihren Sternen. Rüstigen Ganges folgte er durch das rauhe Steinfeld dem thalwärts führenden Jägersteig. Nach einer Stunde erreichte er den dumpf rauschenden Almenwald. Er wanderte durch die Finsterniß, die ihn zwischen den Bäumen umgab, so sicher dahin, als wär’ es heller Tag. Manchmal hörte er flüchtendes Hochwild brechen und Steine kollern. Auf einer Blöße zog ein Uhu mit rauschendem Flügelschlag über ihn hinweg.
Nun theilte sich der Weg; der eine Pfad führte über die bewaldeten Wände steil hinunter zum See, der andre quer durch den Wald, auf einem Umweg bei den Sennhütten vorüber, und dann nach weiten Windungen beim Seedorf in das Klosterthal.
Bei den Sennhütten vorüber! Haymo fühlte, wie es ihn zog und zog. Er hätte so gerne gewußt, ob Gittli die stürmische Nacht auch fahrlos überstanden. Um sich loszureißen mußte er des Zweckes gedenken, der ihn heute hinunterrief ins Kloster.
Mit doppelter Eile folgte er dem immer abschüssiger werdenden Pfade. Das erste Morgengrauen erleichterte ihm den Niederstieg. Die Sterne erblaßten, lichter und lichter wurde der Himmel, und über den Spitzen der Berge erwachte das Frühroth. Ein rosiger Schimmer erfüllte den weiten Felsenkessel, in dessen Tiefe der See mit weißen Wellen schwankte. Als Haymo das steile Ufer erreichte, wurde drüben über dem See, in der Bartholomäusklause,[11] das Glöcklein geläutet. Er zog die Kappe und sprach ein Gebet. Dann stieß er den Einbaum, der zwischen wirrem Gestrüpp an das Ufer gezogen lag, in das Wasser, sprang mit raschem Satz in das schwankende Fahrzeug und griff zum Ruder. Wohl hatte der wehende Föhn zwischen den tiefgesenkten Felswänden nur halbe Macht; Haymo mußte aber doch seine ganze Kraft zusammennehmen, um bei den häufigen Wirbelwinden, die ihn überfielen, den plumpen Kahn auf den rasch sich überstürzenden Wellen in gerader Fahrt zu halten.
Es war heller Tag geworden, als er nahe dem Seedorf in einer vor dem Sturme geschützten Bucht den Einbaum wieder ans Land zog. Zwischen den rauschenden Fichten stieg er den sanftgeneigten Waldhang empor. Nun verhielt er betroffen die Schritte. Vor ihm auf einem moosigen Steine saß ein Mönch. Netzwerk und Angelschnüre lagen zu seinen Füßen; er hielt die Arme auf die Knie gestützt und das Antlitz in den Händen vergraben. Die Kapuze war zurückgesunken und enthüllte ein edel geformtes Haupt mit kurzgeschorenem, tiefschwarzem Haar; dicht und lang aber quoll der schwarze Bart unter den Händen hervor bis auf die Brust.
In Haymo erwachte die Erinnerung. Dieser Mönch vor ihm, das war wohl „der Schwarze“, von welchem Walti geplaudert hatte, der neue „Pater Fischmeister“, den „sie von Passau hergeschickt“ und von dem Frater Severin erzählt hatte, daß er ganze Tage lang stumm und einsam im beschneiten Klostergarten auf und nieder gewandert wäre „wie ein Gespenst“? Einen Schritt trat Haymo näher, sein eisenbeschlagener Schuh streifte dabei eine Felsplatte, da richtete der Mönch hastig sein gebeugtes Haupt empor und erhob sich. Diese stolze, edle Gestalt hätte wohl eher in den Harnisch gepaßt als in die Kutte; das Gesicht aber, welches der schwarze Bart umrahmte, war bleich wie Schnee; Gram und Seelenpein hatten die Züge verschärft und tiefe Furchen in die weiße Stirn gegraben; um die schmalen Lippen zuckte der Schmerz, und die tiefliegenden Augen brannten wie Feuer – das waren Augen, welche wohl lange schon die Wohlthat der Thränen nicht mehr kannten. Haymo fühlte sein Herz berührt vom Anblick dieses Priesters; er zog verwirrt die Kappe und stammelte:
„Hochwürdiger Vater! Was fehlt Euch? Seid Ihr krank?“
Der Mönch wandte sich wortlos ab, hob die Fischnetze und Angelschnüre auf seinen Arm und wollte gehen.
Doch Haymo vertrat ihm den Weg. „Ich bitt’ Euch, redet doch ein Wort zu mir! Vielleicht kann ich Euch etwas zuliebe thun? Sagt mir … was bedrückt Euch?“
„Das Leben!“ glitt es leise von den Lippen des Mönches, als hätte er dieses Wort für sich allein gesprochen und nicht als Antwort auf die herzliche Frage des Jägers. Dann neigte er das Haupt – es war ein Gruß und eine Abweisung zugleich – und schritt dem Pfade zu, der von der Berghöhe niederführte gegen das Seedorf.
Betroffen blickte Haymo ihm nach; nun aber hob er lauschend den Kopf; eine hellklingende Stimme tönte von einer höheren Stelle des Pfades durch den Wald hernieder. Haymo erkannte diese Stimme, und heiß schoß ihm das Blut in die Wangen. Jetzt sah er auch zwischen den Bäumen schon das rothe Röcklein schimmern. Gittli war es, und sie sang ein Lied, welches Haymo selbst wohl zu hundertmalen schon gesungen:
„Auf steiler Höh’,
Tief unterm Schnee,
Da blüht ein Blümlein grün und weiß.
Es gräbt in Stein
Die Würzlein ein
Und streckt sein Köpflein aus dem Eis,
Schneeweiß!
Die Winterszeit,
Wenn’s eist und schneit,
Das ist sein Lenz auf weißer Hald’!
Doch bringt der Föhn
Den Frühling schön,
Dann siecht es hin und welket bald,
Schneekalt!
Im Herzen tief
Ein Blümlein schlief,
Gar lieblich und an Schönheit reich!
Es blühte roth,
Da kam der Tod
Und trug’s hinunter in sein Reich,
Schneebleich!“
Wie Lerchengesang hob Gittlis Stimme sich über den wehenden Sturm und das dumpfe Rauschen des Waldes. Aber sie sang das Lied nicht zu Ende. Denn kaum, daß sie die letzte Strophe [236] begonnen hatte, da brach ihre Stimme jählings ab, und Haymo sah, wie Gittli auf dem schmalen Pfad erschrocken stehen blieb, die scheuen Blicke auf den Pater Fischmeister gerichtet. Dieser stand vor ihr, mit erstarrtem Antlitz und mit Augen so voll Entsetzen, als wäre das Mädchen vor ihm nicht das lieblichste Bild des Lebens, sondern ein dem dunkelsten Schoße der Erde entstiegenes Gespenst. Die Knie drohten ihm zu brechen, Netze und Schnüre fielen von seinem Arm, taumelnd griff er nach einer Stütze, und von seinen zuckenden Lippen klang es mit heiserem Laut:
„Wer bist Du?“
„Ich bin die Gittli,“ stammelte das Mädchen mit beinahe versagender Stimme.
„Wer ist Dein Vater?“
„Mein Vater ist lange tot und meine Mutter auch. Ich hause bei meinem Bruder, der heißt Wolfrat und ist Sudmann im Salzhaus des Klosters.“
Das hatte Gittli scheu und ängstlich heruntergestottert wie ein Kind die Litanei in der Schule, wenn der Kaplan die Haselruthe schwingt. Nun stand sie schweigend und zitternd, das Körbchen mit den Schneerosen an ihren jungen Busen drückend, ein Bild so hold und rührend, daß Haymo von diesem Anblick sein Herz zum Springen schwellen fühlte. Es zuckte in seinen Fäusten und es war ihm zu Muth, als müßte er auf den unheimlichen Wegelagerer losstürzen und ihm zuschreien: Was willst du von diesem Kind? Laß dieses Kind in Ruhe oder du hast es mit mir zu thun!
Unverwandt waren die Blicke des Mönches auf das Mädchen gerichtet. Brennende Röthe und fahle Blässe wechselten auf seinen Wangen, seine Augen waren wie zwei Flammen, heiß und verzehrend … er ging nicht, er taumelte ihr entgegen. „Wer gab Dir dieses Gesicht?“ so brach es, fast wie ein Schrei, von seinen Lippen – nun streckte er die Arme aus, als wollte er sie fassen, umschlingen … und da wich Gittli erblassend vor ihm zurück; einen Augenblick stand sie rathlos, dann schwang sie sich mit einem herzhaften Sprung über den steilen Rand des Pfades herab auf den moosigen Waldboden und flog mit flatterndem Röcklein an Haymo vorüber, um zwischen den Bäumen zu verschwinden.
Wie man lange nach der dunklen Stelle des Himmels starrt, an welcher ein fallendes Sternlein erloschen ist, so starrte Haymo in den Waldschatten, in welchem die Gestalt des Mädchens sich verloren hatte. Langsam wandte er nun das Gesicht und blickte wieder zum Pfad hinauf. Dort oben stand noch immer der Mönch mit gestreckten Armen, als wollte er die Luft umschlingen, in der das Mädchen geathmet. Jetzt kam ein Zittern über ihn, seine Arme fielen, stöhnend sank er auf einen Stein und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen.
Haymo wußte nicht, wie ihm geschah. Er hätte so gern diesem Priester gezürnt und dennoch fühlte er, wie das Mitleid sein ganzes Herz gefangen nahm. Eine Weile noch stand er wie gebannt; dann schlich er davon, und je weiter er sich entfernte, desto rascher wurde sein Schritt. Vielleicht gelang es ihm noch, das Mädchen einzuholen! In seinem Geleit wäre Gittli sicher und hätte einen gefahrlosen Heimweg, meinte er und begann zu laufen.
Aber was war das? Diese zornige Stimme, welche von der offenen Seelände her durch die Lichtung der Bäume klang, war das nicht Gittlis Stimme? Ja! und nun verstand er auch ihre Worte: „So laßt mich doch! Was wollt Ihr denn von mir? Was hab’ ich Euch denn gethan? Laßt mich doch in Ruhe! Laßt mich!“
Haymo hatte den Waldsaum erreicht; draußen lag eine breite Wiese, halb überspült von dem weißen Sande, den der schäumende See über das Ufer warf; an Stangen hingen Fischnetze zum Trocknen aufgespannt; unter weitästigen, im Föhnwind rauschenden Linden zu Füßen eines Hügels standen die beiden Hütten der dem Kloster hörigen Fischerknechte. Zwei dieser struppigen, an Gesicht und Kleidung derb verwitterten Gesellen hatten inmitten der Wiese das Mädchen mit einem Stück Netz umfangen, und der eine rief lachend:
„Hilft Dir nichts! Wer ein so feines Fischlein im Garn hat, der hält es fest!“
„Aber so laßt mich doch, laßt mich …“ flehte Gittli und suchte sich dem Netze zu entwinden.
„Zapple nur!“ lachte der andre. „Und weißt Du, was einem Ferch[12] geschieht, wenn er ins Netz gegangen ist? Wir geben ihm eins auf den Schnabel!“
Gittli kreischte, und während sie mit dem einen Arm ihr Körbchen in die Höhe hielt, schlug sie mit dem andern zornig um sich.
„Geh’, hab’ keine Sorg’!“ tröstete der jüngere der beiden Knechte. „Wir machen’s bei Dir nicht gar zu grob! Komm her … wirst sehen, es thut nicht weh!“ Er faßte mit derber Hand ihr Kinn und wollte sie küssen. Da flog er recht unsanft zur Seite. Haymo hatte ihn beim Kragen gepackt und der Griff hatte ausgegeben – ein Dutzend Schritte von der Stelle saß der Bursch im Gras und machte ein dummes Gesicht. Dem andern versetzte Haymo mit dem Bergstock eins über die Hand, daß er das Netz gutwillig fallen ließ. Gittli, die sich so plötzlich befreit sah, warf dem Jäger einen dankbaren Blick zu, streifte hurtig das Netz von den Füßen und huschte kichernd davon.
Der ins Gras Gesetzte hatte sich inzwischen erhoben. Blasend und mit kirschrothem Gesicht kam er auf den Jäger zugestürmt.
Haymo griff nach keiner Waffe; er machte nur eine Faust und hob sie ein klein wenig. „Komm nur!“ sagte er lächelnd.
Da war der Zorn des Burschen mit einmal verraucht. Und der andre, der noch immer seine Hand rieb, brummte: „So ein Wildling! Gleich zuhauen! Da schau, ganz blau sind alle Finger!“ Und scheltend ging er dem Ufer zu und steckte die Hand ins kalte Wasser.
Lachend schulterte Haymo den Bergstock und folgte gemächlichen Schrittes der Straße. Er wäre wohl gern rascher gegangen; aber das wollte er den beiden Gesellen nicht zuliebe thun; die hätten ihm sonst wohl nachgerufen. „Schau nur, wie er sich tummelt, daß er vom Flecke kommt!“ Als er dann um eine Ecke lenkte und den Blicken der beiden entschwand, beschleunigte er wohl seinen Gang, aber von Gittli war nichts mehr zu sehen und zu hören.
Auf schmaler, von den Rädern der Bauernkarren übel zerrissener Straße schritt Haymo dahin durch das frühlingsblühende Thal. Denn wenn auch droben auf den Bergen der Lenz noch eine harte zähe Schlacht gegen den Winter schlug, so hatte er doch im Thal sich schon häuslich eingerichtet. Auf den Wiesen lag es schon wie grüner Sammet, in dem sich die zahllos blühenden Primeln ausnahmen wie goldene Stickerei. Veilchenduft wehte aus den Hecken, in denen die kleinen Meisen zwitscherten. Aus den Zweigen der Fichten spitzten die jungen Triebe, und über den Buchen und Ahornbäumen lag’s von den sprossenden Blättchen wie lichtgrüner Schimmer. Die wilde Kraft des Föhns, der droben auf den Bergen den Grund der Felsen zittern machte und die donnernden Lawinen löste, war hier im Thal verwandelt in ein lustiges Wehen, das in alle Büsche griff, in alle Wipfel der Bäume, als wollte es ihnen immer und immer wieder sagen: nur frisch, nur munter! Jetzt nach dem Winterschlaf kein Gähnen mehr! Jetzt heißt es wachsen, treiben, blühen, Früchte tragen und für Samen sorgen! Die schöne Zeit ist kurz! Und eh’ ihr’s euch verseht, ist wieder der Winter da! Munter! Munter!
Nun stieg die Morgensonne hinter den Bergen empor, Wald und Feld überspinnend mit ihrem Gold. Ein Funkeln und Leuchten überall! Sogar der Schatten, den Haymo vor sich hin auf die Straße warf, war Schimmer und Farbe.
Blaue Rauchsäulen stiegen aus den hölzernen Bauernhäusern, welche zerstreut lagen zwischen kleinen Gehölzen, zwischen Wiesen und brachen Feldern; in den umhegten Gärten weidete das Vieh mit läutenden Glocken, und in steinigem Bette rauschte die dem See entströmende Albe ihr eintöniges Lied.
Die Straße begann zu steigen; nun trat sie unter den Bäumen hervor, und Haymo sah zu oberst auf der sonnigen Höhe des Weges das Mädchen schreiten.
Gittli! Gittli! rief er mit hallender Stimme.
Sie hörte ihn, blieb stehen, wandte das Gesicht, schwang wie zum Gruß ihr Körbchen und lief davon, in der Senkung der Straße verschwindend.
Haymo seufzte zuerst, dann aber lachte er und wanderte weiter. Ein halbes Stündlein noch und er hatte das Klosterdorf erreicht. An beiden Ufern der Albe reihte sich Häuschen [237]
an Häuschen und von der Höhe nieder winkte der schlanke
Kirchthurm und der mächtige, weit ausgedehnte Bau des
Klosters mit hundert funkelnden Fenstern. Haymo überschritt
auf hölzerner Brücke die Albe und gelangte zu einem riesigen
Holzgebäude. Es war das Salzhaus, die Goldschmiede des
Klosters, welche die Dukaten in so schöner Menge lieferte, daß
in kaum zweihundert Jahren die arme Martinsklause zu Berchtesgaden
das reichste Kloster weit und breit geworden war. Alle
Fürsten zankten sich um die Hoheitsrechte über die reiche Propstei,
und die Erzbischöfe zu Salzburg machten scheele Augen.
In langer Reihe standen die Frachtwagen und Saumpferde aus aller Herren Ländern vor dem Salzhaus, und ein Frater in geschürzter Kutte verzeichnete auf einem Täfelchen jeden Sack, der von den Knechten zum Verladen herbeigetragen wurde. Auf einem Seilzug, der über die Albe gespannt war, kamen die in Rollen laufenden Kufen mit dem Rohsalz knarrend einhergezogen. Dort drüben lag der Salzberg, in dessen tiefen Schachten das Steinsalz von den Klosterknappen gefördert wurde. Dann kam es in die Pochmühle, aus der Mühle in die Solwannen, und aus der gesättigten Sole wurde das reine Salz in mächtigen Pfannen wieder ausgekocht. Sogar in der Charwoche durften die Feuer nicht erlöschen. Wie fleißig der Sud betrieben wurde, das verrieth der weiße Dampf, der in dichten Wolken aus allen Luken des Daches, aus jedem Thor und allen Fenstern des Salzhauses qualmte.
Da drinnen in der brütenden Hitze mochte kein gutes Weilen sein: das meinte Haymo dem Sudmann anzusehen, welcher eben, triefend von Schweiß, aus einem der Thore trat, um frische Luft zu schöpfen; er war nur mit einer blauen Leinenhose bekleidet, Oberkörper und Arme waren nackt und von der Hitze geröthet wie ein Krebs, der aus dem siedenden Wasser auf die Tafel kommt. Eine wuchtige Gestalt, Muskeln und Arme wie aus Bronze gegossen, ein Stiernacken, ein klobiges Haupt mit kurz geschnittenem, röthlich braunem Haar; der struppige Bart hatte die Wangen fast bis zu den Augen überwachsen; dadurch bekam das Gesicht einen wilden, finsteren Ausdruck, der durch den verdrossenen Blick der grauen Augen noch verschärft wurde.
„Wolfrat!“ rief eine herrische Stimme im Innern des Salzhauses, und der Sudmann verschwand im Thor.
Wolfrat? … Dieser Mensch sollte Gittlis Bruder sein? Haymo schüttelte lächelnd den Kopf; er stellte die beiden im Geiste nebeneinander. Das waren zwei Geschwister, von denen eins zum andern paßte wie der Eichbaum zur Heckenrose, wie der Bär zum Reh, oder … der Volksmund pflegt zu sagen: wie die Faust aufs Auge!
Als Haymo durch die Pforte der Klostermauer trat, scholl vom Kirchplatz herab ein lautes Knattern und Gepolter. Das waren die hölzernen „Ratschen“, welche zur Messe riefen; während der Passionstage dürfen ja die Glocken nicht geläutet werden, denn ihre klingenden Seelen, so geht die Sage, ziehen nach Rom, um vom heiligen Vater gesegnet zu werden; und erst in der Osternacht kehren sie zurück in ihre ehernen Leiber, um schwebenden Schalles die Auferstehung des Erlösers zu verkünden.
Ueber Felsstufen und gewundene Wege stieg Haymo den Hang des Hügels empor, auf dessen Kuppe das Kloster stand. Das ganze Gehänge, einst mit Felsklötzen besät und von wirrem Gestrüpp überwuchert, war in einen herrlichen Garten verwaindelt, mit zahlreichen Blumenbeeten, Baumgruppen und säuberlich gehaltenen Pfaden. Wohl war der Garten um diese frühe Jahreszeit noch arm an Grün und Blüthen, aber was mußte das im Sommer für eine Pracht und Freude sein! Frater Severin, der Gärtner, verstand seine Kunst; das mußte auch der Neid bekennen!
[238] Auf schwankendem Stege überschritt Haymo den tiefen Hirschgraben, in dem ein Rudel Hochwild friedlich äste. Die Thiere sahen elend und verkümmert aus; ein Hirsch, auf dessen Haupt schon das neue Geweih zu sprossen begann, war bis zum Rande des Grabens emporgestiegen und drückte die Stirne gegen das hölzerne Gitter – er sah durch die Lücken der Stäbe in der Ferne den freien Bergwald blauen. Haymo wandte sich ab, bewegt von Erbarmen; es dünkte ihm ein hartes Unrecht, solch ein edles Thier gefangen zu halten in traurigem Kerker, nur zu müßiger Augenweide.
Als der Jäger an der Klosterpforte den Hammer rührte, sagte ihm der Pförtner, daß Haymo nach der Messe in der Amtsstube des Klostervogtes sich einzufinden hätte; doch solle er neben Dienst und Pflicht auch seines irdischen Leibes gedenken und den Umweg über die Küche nicht scheuen. „Freu’ Dich, Junge, heut’ ist großer Fasttag!“ flüsterte der Pförtner und schnalzte mit der Zunge.
Haymo gab die Armbrust und den Bergstock in Verwahrung und schritt der Kirche zu, durch deren offenes Thor der Weihrauch duftete und die brennenden Kerzen flimmerten. Stehend, die Kappe zwischen den verschlungenen Händen hörte er die Messe. Im Beichtstuhl hatte er ein schweres Viertelstündlein; er besann und besann sich, aber es fiel ihm keine Sünde ein, die er etwa begangen hätte! Das ganze Jahr hindurch mit sich allein in Berg und Wald, nichts anderes im Herzen als die stille Freude an der schönen Gotteswelt, nichts anderes im Sinn als die Jägersorgen, die der Morgen weckte und der Schlaf vergessen machte – wie soll man da zu einer Sünde kommen? Es macht ja kein Gebet, kein Glaube die Menschen frömmer als die Einsamkeit des rauschenden Waldes, als die freie Himmelsnähe auf den Gipfeln der Berge. Aber sündigen muß doch der Mensch – wozu wäre sonst die Beichte da! Haymo sann und sann … der Pater im Beichtstuhl wurde schon ungeduldig … und Haymo, dem der Angstschweiß auf die Stirn trat, stotterte: „Hochwürdiger Vater, ich bitt’ Euch, habt nur ein Weilchen noch Geduld, es wird mir gewiß noch eine Sünde einfallen!“ Und richtig … der heiße Zorn, der ihm stets über die Lippen strömte, so oft er droben in seinem Revier die verdächtige Spur eines Menschen fand, das war doch Sünde! Und der Wunsch, daß er Flügel haben mochte, um die entflohenen Raubschützen verfolgen und fassen zu können? Wieder eine Sünde! Denn dieser Wunsch war so viel wie ein versteckter Zweifel an der Weisheit Gottes, der die Menschen nun einmal ohne Flügel erschaffen hatte! Haymo athmete erleichtert auf; der Anfang war ja nun gemacht, und da ging es prächtig weiter, so daß er schließlich ein ganz gewichtiges Päcklein Sünden zusammenbrachte. Der Pater lächelte, als er diesem so schwer beladenen Beichtkind die Absolution ertheilte; Haymo aber war völlig zerknirscht und hielt die kleine Buße, die er zu beten bekam, für unverdiente Milde. In wahrer, tiefer Andacht genoß er den Leib des Herrn und verließ die Kirche, er meinte wahrhaftig: besser, als er sie betreten hatte.
Beim Pförtner holte er seine Armbrust; der öffnete ihm das Thor des Klosters, zwinkerte ihm freundlich zu und sagte. „Geh’ nur! In der Küche wissen sie schon, daß Du kommst! Geh’ nur!“ Haymos eisenbeschlagene Schuhe klapperten auf den Steinfliesen des langen Kreuzganges, den er zu durchschreiten hatte. Durch hohe Bogenfenster fiel das goldene Sonnenlicht und machte die Farben der frommen Bildnisse leuchten, mit denen die weißen Wände geziert waren. Aus einer Thür hörte er summende Stimmen, dazu ein lautes Klappern und Klirren. Er öffnete und betrat die Klosterküche. Feuchte Hitze umfing ihn und angenehme Düfte quollen ihm entgegen. Ein großmächtiger Raum mit sechs hohen und breiten Fenstern; die Wände schneeweiß getüncht, der Boden mit rothen, spiegelblanken Marmorplatten belegt. Ueberall weißgescheuerte Tische, Kasten, Schreine und Truhen; alle Wände funkelten von kupfernen Pfannen und zinnernen Schüsseln; an den Fensterpfeilern hingen die aus Blech getriebenen Kuchenformen in Gestalt von Sternen, Herzen, Blumen und allerlei Gethier. In der Mitte des Raumes stand der riesige Herd, dessen Inneres, nach den vielen Kupferthürchen zu schließen, ein wahres Labyrinth von Feuerhöhlen und Bratröhren enthalten mußte; die Platte des Herdes war dicht bestellt mit dampfenden Pfannen und Kesseln, und über offenem Kohlenfeuer wurde am langen Spieß ein Seeferch gebraten, der wohl an die dreißig Pfund wiegen mochte.
Und welch ein emsiges Leben in all diesem Dampf und Duft! Rings um den Herd und um die Zurichttische standen und gingen die Küchenbrüder, mit nackten Armen, mit weißen Schürzen über den schwarzen Kutten, jeder betraut mit einem hochwichtigen Amte. Hier wurden Hechte, Forellen und Saiblinge gereinigt, dort knetete einer mit derben Fäusten an einer ellenlangen Teigstulle, hier wurden Zwiebeln geschnitten und Citronenschalen gewürfelt, dort schlug einer mit langer Birkenruthe einen ganzen Teich von Eiweiß zu schneeigem Schaum, Mehl wurde abgewogen und Gewürz sortiert, und zwischen den Brüdern tummelten sich die Laufbuben, Holz tragend, das Feuer schürend, die gebrauchten Kessel scheuernd und das zinnerne Geschirr spülend. Hohe Stöße von Tellern wurden durch einen Schalter hinausgeschoben, durch den man das weite Refektorium mit seinen blüthenweiß gedeckten Tischen gewahrte. und in all diesem Klappern, Klirren, Zischen und Brodeln ein ununterbrochenes Rufen, Plaudern und Lachen und alle Gesichter rothbrennend von Hitze.
Die Fäuste in die Hüften gestemmt, mit gebieterischer Ruhe wie ein Feldherr, schritt Frater Friedrich, der Küchenmeister, auf und nieder, alles überblickend, alles überwachend. Breit lag ihm das Doppelkinn auf der Brust, die kleinen Aeuglein versanken fast in den Fettpolstern der Backen, und bei seinem Umfang mochten fünfzehn Ellen Tuch wohl kaum genügen für die Kutte! Ja, das Fasten! Das Fasten!
Als Haymo die Küche betrat, weckte sein Erscheinen einen ganzen Aufruhr. „Der Jäger! Der Jäger!“ rief es auf allen Seiten, die Brüder kamen auf ihn zu, die Laufbuben stellten ab, was sie in den Händen hielten und rannten ihm entgegen. Mit glotzender Neugier umstanden sie ihn, der eine griff nach Haymos Weidmesser, der andere streichelte die Armbrust, der dritte griff in den Bolzenköcher und prüfte die Schärfe einer Bolzenspitze am Finger. Und so viele Fragen gab es auf einmal, daß der Jäger sie in einer Stunde nicht hätte beantworten konnen. Haymo wurde verlegen, ihm war zu Muth wie der Wildtaube im Hühnersteig. Da kam der Frater Küchenmeister … herbeigegangen? … nein, herbeigerollt wie eine Tonne. „So? Bist Du da? Hast Deine Seel’ gestärkt? Brav, mein Sohn, brav! Das ist Christenpflicht! Jetzt aber komm und stärke Deinen Leib!“ Er nahm den Jäger unter dem Arm und führte ihn in eine kleine Stube, welche neben der Küche lag und halb einer Mönchszelle, halb einer Speisekammer glich. Im Erker war ein Tischlein säuberlich gedeckt, und neben dem Zinnteller stand eine Holzkanne, bis zum Rande gefüllt mit schäumender „Güte Gottes“.
Die beiden setzten sich und ein Laufbube trug auf; Schüssel um Schüssel kam; Haymo machte immer größere Augen. Er hatte noch niemals im Leben so herrenmäßig … nein, das will zu wenig sagen, so klosterwürdig getafelt; der Frater Küchenmeister schien den schmucken Jäger ins Herz geschlossen zu haben; er hatte die Arme breit über den Tisch gelegt und schaute dem Schmausenden mit zufriedenem Lächeln zu.
Da gab es zuerst eine Erbsensuppe mit gerösteten Schnitten, dann kamen Pastetchen, mit Forellenbacken gefüllt; es folgte ein gesottener Hecht, der sich, wie der Frater scherzte, aus Freude darüber, daß er gar so schön blau gerathen, in den eigenen Schwanz biß; er hatte zwei grüne Rosmarinzweiglein in den Nasenlöchern stecken und ein paar absonderlicher Augen: aus gelber Citronenschale geschnitten und in der Mitte ein Pfefferkorn; und rings um den Rand des Tellers lag ein Kranz von Zwiebelscheibchen, darin der geputzte Fisch so prächtig anzusehen war, daß Haymo erst nach langem Zureden das Herz hatte, diese Pracht zu zerstören. Dann folgten gedünstete Froschschenkel in kostlicher Tunke mit gebackenen Krapfen. Und nun kam gar ein richtiger Braten – ein Braten am Fasttag!
Haymo blickte verlegen auf den Frater. „Darf ich denn das essen?“
Der Küchenmeister lachte lustig auf und tätschelte die Hand des Jägers. „Iß nur, Bub, iß nur! Glaubst Du denn, ich möchte Deine frisch gescheuerte Seel’ mit einer Sünde beflecken! Iß nur! Das ist Fastenspeise, wie Fisch und Frosch!“
Zögernd kostete Haymo; doch gleich wieder legte er die Gabel nieder und schob den Teller kopfschüttelnd von sich. „Nein, Herr, das ist Fleisch!“
„Freilich Fleisch!“ lachte der Frater, „aber Fleisch von einem Biber!“
[239] „Biber? Aber das ist doch ein Thier mit Haar und Füßen?“
„Frißt aber Fische! Verstehst Du? Das ist Philosophie der Klosterküche! Biber, Otter und Wildente – ob Pelz oder Federn – was Fische frißt, wird wieder als Fisch gegessen. Und ganz mit Recht! Denn die Nahrung macht das Wachsthum und bildet aus ihrem Stoffe den Körper. Somit verzehrst Du in diesem Braten kein richtig’ Fleisch, sondern ein Theilchen von jedem Hecht und Karpfen, von jeder Grundel und Schleie, die der Biber schmauste.“[13]
„So?“ lächelte Haymo. „Dann, Frater Küchenmeister, wundert mich nur eines!“
„Was, mein Junge?“
„Daß Ihr am Fasttag nicht auch eine Hirschkeule auf die Tafel setzt!“
In hellem Entsetzen klatschte der Frater die Hände ineinander. „Haymo! Haymo! Du gottverlorener Mensch!“
„Warum? Die Hirsche äsen Gras und Kräuter. also muß ihr Fleisch ein Gemüse sein wie Kohl und Rüben. Und das ist doch Fastenspeise!“
Der Küchenmeister machte ein verdutztes Gesicht. dann schlug er lachend die Faust auf den Tisch. „Schade, schade, Haymo, daß Du kein Klerikus geworden! In Dir steckt ein Kirchenlicht! Und das soll nicht umsonst geleuchtet haben! Im nächsten Kapitel mach’ ich den Vorschlag, daß man alles Wildpret als Fastenspeise erklären soll.“ Nachdenklich schwieg er und schüttelte den Kopf. „Nein! Ich thu’s doch lieber nicht. Am Ende drehen sie den Spieß um und sagen: wie der Hirschbraten kein Gemüse ist, so ist der Biberschwanz kein Fisch, obgleich er Schuppen hat. Und Biberschwanz eß’ ich für mein Leben gern! Gieb her ein Bröcklein!“ Und aus dem „Bröcklein“ wurde mit Kosten und Kosten der halbe Braten. „Gelt, Du? Das rutscht wie Butter!“
„Ja, Frater, ein feiner Braten! Der kommt wohl von weit her?“
„Von der Donau, dort leben die Biber zu Hunderten in ihren Wasserdörfern. Von Straubing bis weit hinunter gegen Wels hat der Passauer Bischof das Jagdrecht. Mit dem letzten Salzkarren hat er uns ein halb Dutzend geschickt, wickelfette Kerle!“
„Von Passau? Ist das von dorther, von wo der neue Pater Fischmeister gekommen ist?“
„Warum fragst Du?“
Haymo wurde roth. „Ich mein’ nur so … ich hab’ ihn gesehen, heute früh, am See!“
Des Fraters Augen leuchteten. „Den soll der liebe Gott unserm Kloster erhalten! So viel hat noch keiner von See und Fisch verstanden wie der! Hast Du den Ferch draußen am Spieß gesehen? Den hat er mit eigener Hand gefangen. Ich laß aber auch nichts auf ihn kommen! Ich halt’ es mit ihm! Da mögen sie im Kloster reden, was sie wollen!“
„Was reden sie von ihm?“ fragte Haymo, wobei er sich alle Mühe gab, seine Spannung zu verbergen.
„Ach, dummes Zeug! Bevor er hinauszog in die Seeklause, haben sie ihn in der Nacht oft schreien hören in seiner Zelle, daß es jedem, der es hörte, durch Mark und Bein ging. Und wenn sie dann zu ihm hineinrannten, fanden sie ihn am Boden mit zerrauftem Haar und blutigen Fingernägeln. Nun schwatzen sie, daß der Teufel Macht habe über ihn, weil furchtbare Sünden auf seinem Gewissen liegen, und sagen, der Teufel komme in der Nacht und raufe mit ihm um seine Seele.“
Haymo saß mit erblaßtem Gesicht und stammelte: „Soll das wahr sein können?“
„Glaub’ mir, Haymo, dem Teufel laufen die Seelen so scharenweise zu, daß er gemüthlich warten kann, bis sie kommen. Der braucht sich nicht zu raufen um das, was sein ist. Und bei einer Seel’, die dem lieben Herrgott gehört, da hilft ihm auch das Raufen nichts.“
„So?“ Haymos Stimme klang seltsam gereizt, denn wieder sah er den Pater Fischmeister vor Gittli stehen mit verlangend ausgestreckten Armen, mit begehrlich funkelnden Augen. „Und Ihr meint wohl, der Pater hätte solch eine fromme Seele, die nirgends hin will als nur hinauf in den Himmel?“
„Was weiß ich! Kein Meusch hat ein Guckloch vor dem Herzen, daß man hineinschauen könnte, wie’s aussieht drinnen. Auf jeder Pfanne liegt ein Deckel. Nun errath’s, was drinnen kocht! Mit der Nase riecht man auch nicht alles! Und wer immer auf den Knieen rutsckt, ist auch noch lange kein Heiliger. Es kann auch einer in den Himmel kommen, der steife Beine hat. Und dann, was geht’s mich an – er ist der beste Fischer, das ist mir genug! Freilich, was Besonderes muß es schon gewesen sein, was den ins Kloster verschlagen hat. Wenn ich zurückdenke die zwanzig Jahre …“
„Ihr habt ihn gekannt?“ fiel Haymo hastig ein.
„Gekannt? Nein! Aber gesehen hab’ ich ihn einmal. Und hab’ ihn auch nimmer wieder vergessen. Es war zu Regensburg. König Ludwig … jetzt ist er lange schon Kaiser, und Gott mag ihn erhalten, denn er ist ein guter Herr … der sollte damals zu Gast kommen zu Bischof Adalbert. Und da holten sie mich aus dem Kloster, damit ich das Mahl rüste. Ja, mein Junge, ich hab’ allezeit was gegolten! Ein Koch wie ich … lassen wir’s, denn stolz sein ist eine Sünde. Ich kam also, und ich sage Dir, Wunder hab’ ich gewirkt, Wunder! Was ein Auerhahn für ein Vieh ist, das weißt Du doch?“
„Keine schönere Jagd, Frater!“
„Jagen? Meinetwegen! Aber essen? Ich danke! Was aber will ich machen? ‚Bruder Küchenmeister,‘ sagte Herr Adalbert zu mir, ‚ich will Dir nur kund und zu wissen thun, daß Herrn Ludwigs Lieblingsgericht der Auerhahn ist!‘ Auch ein Geschmack, denk’ ich mir! Dazu gehört ein gut bayerischer Magen! Und Zähne! Die hat er freilich – das haben seine Feinde gespürt, mit denen er ins Beißen kam! Also, ein Auerhahn! Ja, aber wie! Ich sage Dir, Haymo, die ganze Nacht hab’ ich kein Auge zugethan. Und mir ward Erleuchtung. Ich habe damals eine Beize erfunden … eine Beize! Und der Auerhahn kam auf die Tafel! Und wie! Butter, Haymo, Butter!“
„Aber der Pater Fischmeister?“ drängte Haymo.
„Ja, richtig! Es war ein wunderschöner Maitag, als Herr Ludwig einzog im Hofe der Bischofsburg. Alles glitzerte von Sonne. Der Himmel gut bayerisch: blau mit silbernen Schäflein! Als sie kamen … ich sage Dir, Haymo, das war ein Glanz und eine Pracht von all dem funkelnden Gold und Eisen! Vom Küchenfenster sah ich’s mit an. Und ein Jubel und eine Freude! Herr Ludwig ritt auf einem schneeweißen Pferd …“
„Die Krone auf dem Haupte und das Scepter in der Hand?“
„Dummer Jung’!“ lachte der Frater. „Da kennst Du unsern Kaiser schlecht! Nein! Im schlichten Jägerkleid, nicht schlechter wohl, aber auch fast nicht besser als der Kittel, den Du am Leibe trägst. Sein Gefolg’ aber! Du, das schaute sich an, als wären die Schatzkammern der Untersberger Zwerge lebendig geworden. Und unter all den Fürsten und Rittern war einer …“
„Der Pater Fischmeister?“ platzte Haymo heraus.
„Errathen! Freilich, damals hieß er noch nicht Pater Desertus … sondern Dietwald, Burggraf zu Falkenberg[14]!“
„Ein Graf!“ rief der Jäger mit offenem Munde.
„Hast Du schon den heiligen Georg auf seinem Rosse gesehen?“
„Ja, auf dem Bilde, das im Zimmer des Vogtes hängt.“
„So sah er aus! Stolz und schön! Unter dem blitzenden Helme ringelten sich die schwarzen Locken hervor. Auf den Lippen sproßte ihm der erste Flaum, ein lachendes Gesicht wie Milch und Blut … aber eine Gestalt und Glieder und eine Kraft! Sein Roß schnaufte nur so unter ihm! Und als wär’s ein Birkenblatt, so trug er den schweren Schild, der einen weißen Falk auf blauem Grunde zeigte. Andern Tages beim Turnier, da brauchte er nur so zu machen“ – der Frater Küchenmeister tippte den Zeigefinger auf Haymos Brust – „und die Herren Ritter purzelten in den Sand und streckten alle Viere in die Luft. Und die Weibsleute! Wie verrückt waren sie. Die Augen guckten sie sich aus nach ihm. Er aber … Was giebt’s?“
Ein Laufbube war in die Stube herein gestürmt: der Klostervogt hätte nach dem Jäger fragen lassen.
[240] Erschrocken sprang Haymo auf; so rasch aber kam er nicht zur Thür hinaus. Der Frater Küchenmeister hatte noch allerlei Anliegen; er zählte dem Jäger an den Fingern die würzigen Wald- und Almenkräuter her, welche Haymo in die Küche liefern sollte, sobald der Frühling sie erweckt hätte zum Blühen. Auch die Bärenschinken wären aufgeknappert bis auf den letzten Knochen. Ob nicht Aussicht wäre auf neuen Vorrath. Nicht nur wegen der Schinken! „Gesulzte Bärentatzen!“ Der Frater verdrehte die Augen und schlug mit der Zunge einen Triller zwischen den Lippen.
„Vergangene Woche hab’ ich einen Bär gespürt, hoch oben im Schnee,“ sagte Haymo, „aber die Fährte verlor sich im aaberen[15] Wald.“
„Pack’ ihn, Haymo, pack’ ihn. Und noch eines! Hat die Schneerose schon verblüht?“
Ein träumerisches Lächeln glitt über die Züge des Jägers. „Ich hoffe, noch lange nicht!“
„Ich aber hoffe, bald!“ Auf das behäbig freundliche Antlitz des Fraters legte sich ein wehmüthiger Schatten. „Weißt Du, Haymo, das viele Kosten von allen Schüsseln, das thut nicht gut auf die Dauer. Manchmal in der Nacht, da spür’ ich’s … hier am Herzen … daß ich meine, ich muß ersticken. Dafür hilft die Wurzel der Schneerose, die Nieswurz. Aber sie muß gegraben werden, wenn das letzte Stöcklein verblüht hat. Dann ist ihr Saft am stärksten; er macht das dicke Blut wieder flüssig und das schläfrige Herz lebendig!“
„Ja, Frater, Ihr sollt eine Wurz’ haben, an die noch kein Wurm und der Zahn keiner Maus gerührt hat. Aber seid vorsichtig! Ihr wißt:
Zwei Tröpflein machen roth,
Zehn Tropfen machen tot.“
„Sei ohne Sorge!“ lächelte der Frater und klopfte dem Jäger herzlich auf die Schulter. „Bist ein guter Bursch! Schick’ mir die Wurzel durch den Walti! Und komm nur wieder einmal! Für Dich hab’ ich immer ein gutes Bröcklein im Kasten. Aber jetzt mach’ weiter, sonst brummt der Vogt! Gelobt sei Jesus Christus!“
„Amen!“
Eine Erinnerung an Gottfried Kinkel.
Es sind jetzt nahe an zehn Jahre, daß Gottfried Kinkel dahin geschieden ist, zehn Jahre genau, daß ich zum letzten Male eine Nacht mit ihm verleben durfte. Eine Erinnerung an ihn und an diese merkwürdige Nacht, sie wird gerade den Lesern der „Gartenlaube“, welcher Kinkel seinerzeit so manchen Beitrag geliefert, die an seinen Schicksalen stets einen so regen Antheil genommen hat, willkommen sein, und ich halte das Mitzutheilende auch deshalb eines Plätzchens für würdig, weil die „Gartenlaube“, wenn auch nur mittelbar, damit in Verbindung steht. Denn meine Bekanntschaft und spätere Freundschaft mit dem Dichter entstand durch dieses Blatt.
Kinkel hatte in der „Gartenlaube“ seine Aufsätze „Meine Kindheit“ (1872) und „Meine Schuljahre“ (1873) mitgetheilt, in derselben Zeit, als ich ebenda über das „Steindenkmal in Nassau“ und anderes schrieb und den ersten Aufruf für das „National-Denkmal“ auf dem Niederwald veröffentlichte. Ihn interessierten diese Aufsätze, wie auch ein andrer, den ich früher (1868) dem Blatte geliefert hatte, über das Grab des deutschen Volkskämpfers von Itzstein. Denn Kinkel nahm stets innigen Antheil an allem, was in litterarischer Beziehung den Rhein auch nur streifte.
Hatte nun auch Freund Rittershaus einen schriftlichen Verkehr schon zwischen uns angebahnt, eine Annäherung geschah doch zunächst nur brieflich, als Kinkel mich über einige rheinische Dinge befragte, die ihm infolge seiner langen Abwesenheit fremd geblieben waren; aber die Gelegenheit zum persönlichen Verkehr fand sich bald, als ich in der Lage war, ihn als Redner nach Wiesbaden einzuladen. Er hielt denn auch im dortigen Kurhaus verschiedene Vorträge, über Venedig, über Franz Grillparzer, über William Hogarth, und aus dieser fast geschäftlichen litterarischen Verbindung entwickelte sich ein Briefwechsel, der mit der Zeit an aufrichtiger Wärme beiderseitig zunahm.
Ein paar Jahre war es ihm unmöglich, meinen Einladungen zu wiederholten Vorträgen zu folgen. Da erhielt ich plötzlich und unvermuthet im Jahre 1881 ein Schreiben von ihm folgenden Inhaltes:
„Mein lieber Freund! Wiesbaden gehört zu den vier Städten, denen ich noch einen versprochenen Vortrag schuldig bin, ich stelle mich hiermit zu Ihrer Verfügung. Dahinter halte ich keine Vorträge mehr in Deutschland!! (Er sollte leider recht behalten.) Wollen Sie mich? – – – Auf das Schöppchen mit Ihnen freue ich mich ganz besonders, auch darauf, einen heiteren Abend mit Ihnen zuzubringen. Ihr alter G. K.“
Gleichzeitig sandte er mir die letzte Photographie, die er von sich noch besaß. Es ist später keine mehr von ihm gemacht worden. Ich schrieb ihm sofort zu, und er kam. Ich fand ihn weicher gestimmt als jemals, auch stärker gebleicht als früher, sonst aber frisch. Greises Haar war ihm übrigens schon lange eigen, im Widerspruch mit seiner wohlig frischen Gesichtsfarbe. Kinkel sprach über „Christopher Marlowe, den Rivalen Shakespeares und frühesten Theaterdichter des Faust“ mit einem außergewöhnlichen Beifall, trotz des manchem Zuhörer etwas ferne liegenden Themas. Friedrich Bodenstedt wohnte dem Vortrag bis zum Schlusse in Begleitung seiner liebenswürdigen ältesten Tochter bei. Kinkel hatte sich wie immer im „Adler“ einquartiert; „ich wohne am liebsten im Untergeschoß nach dem Hofe zu,“ schrieb er mir; „die Fontäne und (wenn’s Wetter sie möglich macht) die Hyacinthen im Beetchen are so very sweet.[16] – – Lieber Bruder in Apollo, lachen Sie mich wegen meiner Anhänglichkeit an kleine Lebensfreuden aus, soviel Sie wollen, aber bleiben Sie gut Ihrem alten G. K.“
Nach dem Vortrag war ein Stelldichein im „Adler“ bald verabredet, und Kinkel, Bodenstedt, dessen Tochter und ich bildeten das Quartett, welches in anregender Unterhaltung einige Stunden zusammen verbrachte, um so anregender, als Bodenstedt selbst früher schon über Christopher Marlowe eine größere Arbeit geliefert hatte. Es gab mithin der Anknüpfungspunkte an diesem Abend für die beiden Poeten genug.
Es war kurz vor ein Uhr, als Bodenstedt, in Rücksicht auf seine damals etwas leidende Tochter, an den Heimweg dachte. Kinkel, dem ich eine gewisse Weichheit während des ganzen Abends schon angemerkt hatte, wollte zurückhalten, fügte sich aber, als Bodenstedt durchaus auf der Heimkehr bestand, und sagte dann: „Na, so laßt mir den noch hier, ich habe noch allerhand mit ihm zu reden, und wer weiß, ob wir uns sobald oder überhaupt noch einmal wiedersehen! Denn Vorträge in Deutschland halte ich nicht mehr. Ihr müßtet dann zu mir in mein Exil – nach Zürich kommen, und das thut Ihr ja doch nicht!“
Und so blieben wir zwei allein zurück. Der trauliche Saal des „Adler“ hatte sich schon vollständig geleert; die Winterkurgäste pflegen nicht bis ein Uhr sitzen zu bleiben. Einige Kellner harrten noch unserer Wünsche. „Geht schlafen,“ rief ihnen Kinkel zu, „setzt uns noch ein paar Flaschen her und laßt mir ein Licht hier. Mein Zimmer finde ich selbst. Wegen mir sollt Ihr um Euren Schlaf nicht kommen.“
Die Leute entfernten sich bis auf einen Jüngling, der bald in einer „schummerigen Ecke“ des Saales sanft entschlief. Die Lichter im Raume waren bis aus einen Lüster in unserer nächsten Nähe gelöscht. Der treffliche Wein des Hauses schien Kinkel gut zu munden. Das schone volle weiße Haupt auf die Hand gestützt, so saß er da mit seinem lichtsilbernen Prophetenbart – eine prächtige Erscheinung.
Er begann damit, mir für eine Gefälligkeit zu danken, die ich einem seiner Kinder zu erweisen im Begriff stand. Dies
[241]brachte ihn auf das viele Ungemach, das ihm im Leben schon widerfahren, und die Erinnerung daran stimmte ihn sehr weich. Ich will hier diese traurigen Erfahrungen des Poeten nicht wiederholen[17] – kurz, eines fügte sich zum andern, und plötzlich waren wir bei der ereignißvollsten Zeit seines Lebens, bei seiner Flucht aus Spandau, angekommen.
„Ich spreche niemals über die Sache, wenn ich es vermeiden kann. Aber heute ist’s mir zu Muthe, als müsse ich mich einmal so recht von Herzen auslassen, ein Rheinländer zum andern, und ich wüßte kaum, wem gegenüber ich mehr die Neigung fühlen könnte, mir einmal Erleichterung zu verschaffen. Ich bin am Rhein – ein Glas aus unseren herrlichen Strom! – ich bin am Rhein – o, wenn man wüßte wie ich an seinen grünen Fluthen hänge, wenn man wüßte, was man dem ,Alten‘ für eine Freude hätte bereiten können, wenn man ihn heimberufen, ihn wieder zum ,Deutschen‘ hätte werden lassen mit Deutschen! Wohl danke ich der Schweiz, daß sie mir, – wie vordem England – ein Heim, eine Ruhestätte geboten hat, aber, Freund, ich leide, und zwar [242] an zwei Uebeln: am Heimweh und am Fluche der politischen Berühmtheit!“
Ich war überrascht, den alten gemüthreichen, freundlichen Poeten so ernst reden zu hören über Verhältnisse und Anschauungen, die ich in der That nicht sofort begriff.
„Mag’s Ihnen als ein Vermächtniß erscheinen, wenn ich diese mitternächtige Stunde dazu benutze, mich meiner tiefsten Schmerzen einmal zu entladen. Wer weiß, mein Freund, ob wir uns jemals wiedersehen,[18] bleiben Sie mir gut und treu und denken Sie manchmal des ‚Alten‘ und dessen, was wir heute plauschen.“
Ich leugne nicht, daß ich noch nicht ganz verstand, wie diese Stimmung auf einmal über den Dichter kommen konnte, aber schon fuhr er fort: „Glauben Sie nicht, daß ich durch unser Gespräch vorhin, durch den Vortrag oder ein Glas Wein mehr erregt bin als sonst. Im Gegentheil! Ich fühle sehr ruhig und ernst in diesem Augenblick und möchte nicht verkannt sein, am wenigsten von Ihnen. Ich will Ihnen gerne gestehen, ich war wohl oft hart zurückweisend, wo ich hätte nachgiebiger sein müssen. Ich habe vielleicht selbst den Weg zurück nicht recht gefunden, aber das Unglück verbittert. Sehen Sie Karl Schurz an, er traf es besser mit dem Geschick denn ich. Sie haben, wenn auch jünger als ich, doch auch einen Eindruck aus dem Jahre meiner Schicksalswendung, aus dem achtundvierziger Jahre! Was haben wir denn andres gewollt, als was Ihr jetzt erreicht habt? Auf anderm Wege, ja! Ihr vielleicht auch auf richtigerem, und ich – wie herzlich fühle ich mit Euch – und doch, ich darf es kaum laut werden lassen!“
„Und weshalb nicht?“ wandte ich ein.
„Weil ich sonst mehr als jeder andre mit meiner Vergangenheit breche. Halten Sie das meinethalb für zu weit gehend, nennen Sie die Ansicht verschroben: aber ich und Spandau, wir sind so eng in der Meinung des Volkes verknüpft, daß, wenn ich heute zugestehe, damals geirrt zu haben, ich ein Leben lang umsonst Märtyrer meiner Ueberzeugung war, daß ich eine lange Zeit hindurch umsonst von meinem Volke als Opfer meiner politischen Anschauungen gefeiert, daß ich umsonst und zwecklos von ihm glorificiert worden bin. Das klingt Ihnen überraschend. Aber ich, ich fühle so und ich möchte das den Fluch der politischen Berühmtheit nennen. Ich mußte bleiben, was ich war, der Spandauer Verurtheilte und Geflohene, der seiner damaligen Ansicht Getreue, sonst wurde ich meinem politischen Namen und Ruf – mir selbst untreu. Verstehen Sie, was ich damit meine und wie ich gelitten habe? Könnte in der That jemand annehmen, daß ich nicht so tief wie andere an unseren letzten Siegen theilgenommen, daß nicht auch ich gleich meinen Brüdern die Heimgewinnung von Elsaß und Lothringen freudig begrüßt hätte? Aber – ich will’s nicht verschweigen, ich war trotzig und eigensinnig, ich vermochte kein öffentliches Bekenntniß mir abzuringen. Denn man amnestierte, man tolerierte, aber man sah in keinem einen so schlimmen Missethäter als in mir. Ich habe dem nie öffentlich Worte gegeben. Was hätte es auch genutzt? Aber manchmal tritt mir die Erwägung nahe: wäre es nicht vielleicht besser gewesen, wenn ich mein Schicksal in Spandau erwartet hätte? – Nehmen Sie Schurz! Er ward gleich mir verurtheilt! Ich sehe ihn eben lebendig vor mir mit seinen offenen Augen, seinem blonden Haare – hat er nicht in der Verbannung drüben über dem Ocean seinen Weg gemacht, sein Berufsfeld gefunden? Ist er nicht glücklicher geworden als ich? Behüte Gott, daß ich ihm das mißgönnte! Es hat mir nie im Leben ein Mensch größere Freundschaft und Anhänglichkeit bewiesen als er. Und trotzdem, ich werde den Gedanken nicht los, daß man mich bis zum Lebensende straft. Hier Schurz als Gast Bismarcks, der Revolutionär und der Junker – so müssen wir den bedeutenden Mann doch nennen – ich im Exil! Habe ich mich denn an meinem Vaterland so sehr vergangen? Wie steht sie vor mir, die Nacht des 6. November 1850 in Spandau! Und als ich an jenem 17. November von Warnemünde, dank der Liebe und Treue echter Freunde, auf der „Anna“ dahin schwamm und noch im Bereich meiner Verfolger war, schon damals wußte ich nicht, sollte ich mich freuen ob der Rettung, oder sollte ich trauern, daß ich wie ein Verbrecher, ein Ausgestoßener das Vaterland, die Heimath meiden mußte!“
Er schwieg, und das Wenige, was ich ihm erwidern konnte, schien für ihn ungehört zu verhallen. Er blickte starr vor sich hin, wie in die Vergangenheit versenkt.
„Jener Tag – 1858 in London – war es nicht eine Strafe, die mich durch den Tod meiner Johanna traf, härter als den schlimmsten Sünder je eine getroffen? Nicht, daß das Geschick nicht auch wieder Linderung für mich gehabt hätte! Aber wäre ich in Bonn geblieben, mein Londoner Geschick wäre in dieser Form nicht über mich gekommen. Und was that ich denn in jenem ernsten Jahre 1848? Wäre ich damals von der Bewegung zurückgetreten, als man mich warnte und zurückhalten wollte – würde es dadurch im allgemeinen anders, besser geworden sein? Hätte ein weniger mild Denkender als ich nicht schlimmere Wendungen herbeiführen können?“
Nach einer kleinen Weile setzte er wieder ein: „Ja, Freund, ich will nicht verhehlen, daß ich damals auch genügend persönliche Feinde hatte, daß ich durch sogenannte Preßvergehen mich bereits kompromittiert glaubte. Aber – haben wir uns damals auch in den Mitteln geirrt, so haben wir doch wie andere das Beste gewollt. Hier wie überall richtet der Erfolg. Haben wir gefehlt – ich habe schwer genug gebüßt! Und habe ich die Buße nicht auf mich genommen?“
Bei den letzten Worten versagte ihm fast die Stimme, so sehr überwältigte ihn die Erinnerung.
Eine große Pause trat ein. Ich wagte nicht, sie zu unterbrechen. Plötzlich sprang er auf, als wolle er die Erinnerung verscheuchen, und stand hochaufgerichtet vor mir.
„Denken Sie an meinen ‚Otto der Schütz‘ – als ich ihn veröffentlichte, wie jubelte da noch die Schaffensfreudigkeit in mir, wie freundlich nahm ihn das Volk auf, wie daseinsfroh stimmte mich selbst der Sang und sein Erfolg. Und nun? Ich habe wohl Besseres nach dem gedacht und geschrieben, aber – ich habe gleichen Erfolg nicht mehr erreicht. Mein politisches Schicksal, die Märtyrerrolle, das eigenthümliche Relief, welches mir das Geschick verlieh, das alles hat meine späteren Leistungen litterarisch in den Schatten gestellt! Durch den früheren Ruhm ist mein Alter weniger bedeutungsvoll geworden, als ich erstrebt und verdient hatte. Ja, man hat den ‚Alten‘ vielfach geliebt, und gar mancher hat ihn hochgestellt“ – er reichte mir die Hand über den Tisch – „aber man hat ihn viel zu früh zum Alten gemacht, und das Schicksal hat dazu redlich geholfen.
Komme ich jetzt im wirklichen Alter zum Rhein – o, ich mache keine Ausnahme, ich bin ein Menschenkind wie andere, habe Fleisch und Blut wie sie – dann taucht die Jugendzeit mächtig vor mir auf, dann seh’ ich den kleinen Pfarrgarten in Oberkassel allüberall vor meinem geistigen Auge – dann möchte ich manchmal nicht der sein, der ich bin, sondern der Kinkel jener Tage. Warum hat man mich nicht heimgerufen? Konnte ich mein Lehramt nicht im Vaterland üben? Ich weiß, nicht die Pfalz allein, nicht Siegburg, Bonn und Köln bloß, auch meine amerikanische Reise wurde mir verargt. Aber für erstere Unthaten hatte man mich doch freigesprochen! Und Amerika? – Kennt jemand die Sorgen und Mühen, die es kostet, im fremden Lande Weib und Kind zu erhalten? Mußte ich nicht doppelt für alles büßen? Ich las seinerzeit den Aufruf, den Sie mit Rittershaus’ Gedicht für unser nationales Denkmal in der ‚Gartenlaube‘ veröffentlichten. Wie soll ich Ihnen schildern, was ich damals bei der Durchsicht desselben empfand! Hätte ich mich öffentlich dazu geäußert, mein Freund, hätte das nicht ausgesehen wie ein pater peccavi, wie eine Abbitte! Stolz und Ueberzeugung kämpften in mir. Ja, ja, ich war trotzig mein lebenlang, und das steckt uns rheinischen Jungen wohl so im Blute – ich wiederhole – ich vermochte vielleicht den Rückweg nicht zu finden! Ich litt unter dem Banne der politischen Berühmtheit!
Aber – wie ich damals in Köln meinen Anklägern zurief so denke ich noch: Wenn Preußen eine starke und kühne Politik verfolgt, wenn es ihm gelingt, Deutschland in eins zu schmieden und groß und geachtet vor allen Nationen hinzustellen, wenn es ihm gelingt, innere Freiheit zu sichern, Handel und Wandel zu beleben, den Armen im Volke Brot zu schaffen, dann – bei meinem Eide, die Ehre und Größe meines Vaterlandes stehen mir höher als meine Ideale von Staat – – und weltlichen Einrichtungen!“
[243] Erschöpft setzte sich Kinkel und sah abermals eine Zeit lang vor sich hin. Mit seinen weichsten Tönen begann er dann wieder:
„Aber man hat es wohl vergessen, daß ich damals schon sagte: ‚Wenn das alles erreicht wird, und mein Volk erwiese mir nochmals die Ehre, mich zu seinem Vertreter zu wählen, ich würde einer der ersten Abgeordneten sein, die frohen Herzens riefen: ‚Es lebe das deutsche Kaiserthum, es lebe das Kaiserthum Hohenzollern!‘ Und jetzt ist es erfüllt, der ‚Alte‘ geht wohl bald zur Ruhe, sein Vaterlaud aber hat seiner nicht mehr bedurft! Es hat ihn beiseite stehen lassen, weil – weil er mit anderen Mitteln das erstrebte, was andere mit Blut und Eisen erreicht haben. Aber ich fühle mich deshalb nicht weniger Patriot als diese, ich habe gebüßt, weil ich vielleicht zu früh erstrebte, was bis heute das Ideal der ganzen Nation war.
Und nun, mein Freund, ein Glas auf unsern Rhein, auf Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze, auf ihn, der uns jetzt erst gewonnen ist für immer!“
Nochmals erhob er sich leuchtenden Auges, und hell stießen die Gläser zusammen.
„Habe ich mich doch einmal ausgesprochen – zürnen Sie mir nicht ob der Reminiscenzen eines alten Dichterkopfes!“ sagte er nun wieder mit seiner gewinnenden heiteren Miene. „Aber es giebt stille Stunden, vielleicht vorzugsweise im Alter, wo man die Welt anders anschaut als im vollen Lebensgetriebe. So eine Stunde ist heute über mich gekommen. Belächeln Sie mich nicht, beurtheilen Sie mich nicht falsch! Als ich gestern über den Rhein fuhr, streifte mein ganzes Leben an mir vorüber – – war’s ein verlorenes? – Und nun, Freund, gute Nacht! Gedenken Sie immer mit Liebe Ihres ‚Alten‘, der heute vielleicht zu redselig war! Gute Nacht!“ – –
Wir schieden! Ich habe ihn nicht wiedergesehen, denn er starb kaum sechs Monate darauf. Ich aber – voll des Eindrucks dieser merkwürdigen Stunde, fand, als ich um vier Uhr heimgekehrt war, den Schlaf nicht. Meiner Gewohnheit folgend, setzte ich mich an den Schreibtisch, und da fand mich noch der helle Tag – ich bannte fest auf das Papier, was ich soeben erlebt und erfahren. Schon früher, bald nach Kinkels Tode, wollte ich die wundersame Nacht in der „Gartenlaube“ schildern. Ich hielt es damals nicht für angebracht. Heute, nach vollen zehn Jahren und nachdem ich mit Freunden und Geistesgenossen des Dichters mich darüber ausgesprochen, mögen diese Mittheilungen eine klärende Erinnerung bieten an den Dichter, dessen Schicksal so tragisch zwischen ihm und seinem heißgeliebten Volke stand.
Was uns der Garten lehrt.
Man hat Karl den Großen den ersten Kunstgärtner Deutschlands
genannt: mit vollstem Rechte, denn was vor ihm in
Germanien an Gärten zu sehen war, das erhob sich nicht über
die niedrige, auf alle Barbarenvölker zutreffende Stufe. Karl der
Große war überhanpt der Kulturträger des Nordens, und noch
bis heute ist manche seiner Einrichtungen in Kraft geblieben.
Wenn wir das Mittagessen, die Hauptmahlzeit, im Gegensatz zu
vielen anderen Völkern um 12 Uhr einnehmen, so ist das eine
Sitte, welche auf die Verordnungen Karls des Großen zurückzuführen
ist. Was der deutsche Garten jahrhundertelang trug, was
an Kindern der Flora noch heute in Bauerngärten alten Schlages
gezogen wird, entspricht durchaus den Vorschriften des ersten
deutschen Kunstgärtners. In seinen Verfügungen über den
Betrieb der königlichen Meiereien findet man eine ganze Anzahl
von Blumen, Arzneipflanzen, Küchenkräutern, Gemüse- und Obstarten genannt, welche in seinen Gärten gepflegt werden sollten.
Da werden bereits die beiden Königinnen der mittelalterlichen
Gärten, Rosen und Lilien, erwähnt, da lesen wir von Rosmarin,
Liebstöckl, Mohn, Eibisch, Brunnenkresse, von Anis, Salbei, Schnittlauch, von dicken Bohnen und Kohl, von Apfel-, Birnen-, Kirsch-
und Pflaumenbäumen, von Kastanien, Quitten und Mispeln, ja
sogar von Mandel-, Lorbeer- und Feigenbäumen.
Kaiser Karl war aber ein durchaus praktischer Mann, und man würde irren, wenn man glauben wollte, daß er die duftenden Blumen nur der Augenweide und des Wohlgeruchs wegen hätte pflanzen lassen. Zu jener Zeit, da die Gewürze und Spezereien der fernen Welttheile noch selten waren, mußten die heutigen Schmuckpflanzen zu Heilzwecken und Leckereien verarbeitet werden. Da wurde der Lilie mannigfache heilende Kraft zugeschrieben, da hieß es im späteren Mittelalter vom Zuckerrosat, d. h. von dem mit Zucker angemachten Rosensaft: „Er überhebt dich viel pfenning in der apoteken“, da wurden zu ähnlichen Zwecken auch Violsirupe und Violöl bereitet. Durch die Klöster wurden die Anregungen Karls des Großen weiter verbreitet, und so entstanden überall Würzgärten für heilkräftige Kräuter und Gewürze, Krautgärten für Gemüse sowie Obstgärten und Weinberge. Viele Landapotheker im Anfang unsres Jahrhunderts haben noch ihre Gärten genau nach den Vorschriften des Gründers des heiligen römischen Reichs gehalten. Mancherlei Blumen und Kräuter wurden vom deutschen Wald und Feld in den Garten verpflanzt, viele aber, die jetzt zu den allgemein bekannten Gewächsen zählen, sind erst im Zeitalter Karls des Großen über die Alpen zu uns gekommen. Von diesen ältesten Pflanzeneinwanderern nennen wir nur Gurken und Kürbisse, Lavendel, Rosmarin und Raute, die Lilie, Levkoje und Gartennelke.
Als dann der Wohlstaud zunahm und die Sitten sich verfeinerten, da begnügte man sich nicht mehr mit Nutzgärten, sondern
schuf auch Ziergärten, welche die Höfe der Fürsten, die Burgen der Ritter und die Landhäuser der Patrizier umgaben. Die Lustgärten des Orients dienten dabei zum Vorbild, und der Orient versorgte auch die ersten Blumenliebhaber mit neuen Pftanzen. Es ist interessant, weiter zu verfolgen, wie der Gartenstil sich dem Kunstgeschmack anpaßte, wie die Renaissance lange Zeit herrschte und wie dann der gebundene Gartenstil später durch die freien englischen Parkanlagen, eine Nachahmung der chinesischen Gärten, ersetzt wurde.
Ein Gärtnerspruch lautet:
„Gärten sind Visitenkarten:
Wie der Herr, so der Garteb“,
und so ist in der That in der Enwicklungsgeschichte des deutschen Gartens ein Stück Kulturgeschichte enthalten. Ein von dem als Aesthetiker und Kunsthistoriker bekannten Dr. [[Alexander Kaufmann]] herausgegebenes Buch „Der Gartenbau im Mittelalter und während der Periode der Renaissance“ bietet sehr hübsche Einblicke in die Wechselbeziehungen zwischen dem Volksleben und dem Garten, und wir können es aus diesem Grunde jedem Gartenfreund empfehlen.
Zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts begann der große Eroberungszug des europäischeu Handels über weite Länder und Meere. Durch ihn wurde im Laufe der Jahre eine ungeheure Einwanderung fremder Pflanzen nach Europa bewirkt, und diese wiederum veränderte das Aussehen unserer Gärten.
„Wenn plötzlich, während wir hier versammelt sind, eine Gigantenhand über unsre Stadt führe und mit einem Schlage von Pflanzen alles entfernte, was nicht schon seit Menschengedenken von selbst bei uns gewachsen ist, da würden wir dann hinaustreten in eine abschreckende Wildniß. Leer würden nicht bloß die Blumentische reicher Leute, fort wären auch alle die bescheidenen Töpfe von den Fenstern der kleinen Wohnungen, weg wären aus den Vorgärten und Promenaden Sträucher und Bäume, ja stundenweit könnten in der Landschaft große pflanzenleere Lücken entstanden sein. Denn fast alles, was der Mensch zu seiner Freude, vieles, was er zum Nutzen von Gewächsen in seine nächste Umgebung und eigenhändige Pflege genommen, das hat er aus fremden Welttheilen, zumal aus Asien und Amerika, erst heimgebracht.“
Mit diesen Worten eröffnete Professor G. Kraus einen Vortrag „Ueber die Bevölkerung Europas mit fremden Pflanzen“[19], und es ist in der That keine Uebertreibung, wenn man sagt, im Pflanzenreich habe sich gewissermaßen der umgekehrte Prozeß wie in der Menschenwelt vollzogen, Europa sei von den Wilden erobert worden.
Die Gärten, namentlich die seit der Errichtung des Pflanzengartens
[244] bei der Universität Padua (1545) üblich gewordenen botanischen Gärten, waren die ersten Pflanzstätten der Fremdlinge, und aus ihren Annalen läßt sich auch die Geschichte der Pflanzeneinwanderung zusammenstellen. Schon um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts tauchen in denselben einige amerikanische Gäste auf, die man ursprünglich indische oder spanische Pflanzen nannte. Ohne eine Ahnung ihrer zukünftigen Bestimmung zog man damals unter dem Namen „Papas Peruanorum“ eine Zierpflanze an Stäben – es war nichts andres als unsre heutige Volkerernährerin, die Kartoffel – und der amerikanische Lebensbaum, der statt der südlichen Cypresse unseren Friedhöfen ernste Stimmung verleiht, war schon bei uns heimisch geworden.
Stets aber wurden unter den Fremdlingen einzelne Pflanzen den anderen vorgezogen; als ausgesprochene Lieblinge der Massen drückten sie dem Gartenbau ein besonderes Gepräge aus. So gilt als eine wichtige Periode der Pflanzeneinfuhr die der orientalischen Blumenzwiebeln; dann kamen die kanadischen Pflanzen an die Reihe. Noch heute steht im Pariser Jardin des Plantes die uralte, als erste ihrer Art auf europäischem Boden im Jahre 1636 von Jean Robin gepflanzte Akazie, die eine zahlreiche Schar von überseeischen Landsleuten in Europa aufblühen sah; denn um jene Zeit hat in Paris zum ersten Male der Wilde Wein sein Laub herbstlich geröthet, haben die hohen amerikanischen Astern geblüht, und von dort entsprang eine kanadische Pflanze ins Freie, die jetzt überall an Eisenbahndämmen zu sehen ist – die Nachtkerze.
Bald daraus kamen die Pflanzen vom Kap der Guten Hoffnung nach Europa und fanden in den Glashäusern Hollands willige Aufnahme. Da sah man zuerst die scharlachroten Pelargonien, die Dracänen, zierliche Heiden und viele andere, die noch heute ausgesprochene Lieblinge der Blumenfreunde sind.
Als später der freie Gartenstil siegreich vordrang, als die Parkanlagen sich mehrten, da kamen zu uns neue Gestalten: die amerikanische Eiche, Ahorn, Pappeln, Kastanien und Nußbäume und die kleinfruchtigen Aepfelsorten und blühenden Sträucher Sibiriens. Adlig im Wuchse, glühend in ihrer herbstlichen Färbung oder unübertroffen in ihrem frühen Blüthenschmuck, sind sie heute unentbehrlich in allen größeren Parkanlagen.
Mit der Verbesserung der Verkehrsmittel wurde die Einfuhr erweitert. Neu-Holland sandte uns den Fieberbaum (Eucalyptus globulus) und andere Pflanzen von sonderbarer Gestalt. Solche Bäume und Sträucher hatten in grauer Vorzeit, in der Tertiärzeit, in Europa geblüht und gegrünt, nun streckten sie wieder ihre Blätter unter dem Schutze des Menschen der alten Sonne entgegen.
Der Dampf beherrscht heute die Welt, der „Pflanzenjäger“ stellt seine Glaskästen auf dem Decke des Dampfers auf und dank der kurzen Fahrzeit kann er selbst die zartesten Kinder der Tropen wohlbehalten in die mustergültigen Glashäuser Europas bringen. So wandern wir im Norden unter Palmen, so sehen wir die prachtvollsten Orchideen des tropischen Urwalds bei uns erblühen, und so sehen wir die riesigen Bananen, die Musenarten, als Sommergewächse unsre Rasenplätze schmücken.
In England wachsen etwa 1500 Pflanzenarten wild, die Zahl der eingeführten aber betrug bereits im Jahre 1830 nicht weniger als 32000! In dem berühmten Garten von Kew bei London wurden im August 1891 gegen 19800 Arten und Formen gezogen, im Berliner botanischen Garten im Jahre 1890 gegen 19000 und in St. Petersburg 25000 Arten und Abarten in 71850 Exemplaren.
Aber diese Fremden haben uns nicht allein durch den Schmuck, den sie unseren Gärten und Wohnungen verleihen, erfreut, sie haben auch den Forschern Gelegenheit gegeben, tiefer in die Geheimnisse des Pflanzenlebens einzudringen.
Und was der botanische Garten für den Forscher ist, das kann der kleine Hausgarten für jeden Naturfreund werden, denn er bildet für sich eine Welt, in der es viel zu beobachten und viel zu lernen giebt. Man kann in ihm über die Räthsel der Pflanzennatur sinnen, kann den mannigfachen Beziehungen der Blumen zu dem Heere der Insekten nachgehen, kann des Lebens Erwachen, das Blühen und Reifen, das Welken und Vergehen im Herbste und die Winterruhe verfolgen. Wie wenige wissen leider, welche merkwürdigen Schätze in ihrem Garten ruhen!
Namentlich die reifere Jugend könnte im Garten viel, viel lernen und ihren Wissenskreis durch Anschauung erweitern. Manchmal verspürt sie auch die Lust dazu und stellt Fragen auf Fragen, aber leider sind oft die Eltern selbst nicht imstande, sie zu beantworten. Ich habe solche junge Leute, die ihren Wissensdurst nicht befriedigen können, stets bedauert, um so mehr, als es für die Jugend keine bessere und edlere Erholung geben kann, als die Beschäftigung mit der Natur, welche sie ins Freie hinauslockt und ihre Sinne schärft.
Die Botanik hat man einst die „liebenswürdige Wissenschaft“, die „scientia amabilis“ genannt; leider ist sie jahrelang in den Schulen durch das Vorkehren der Systematik zu einer dürren und langweiligen geworden. Das Thierleben wurde durch Brehm so populär, weil der Altmeister nicht tote Systematik, sondern das volle Leben der Thiere seinen Lesern schilderte; auch für die Pflanzenwelt schlägt dieselbe Stunde.
Unter den Neuigkeiten des Buchhandels finde ich ein hübsch ausgestattetes Buch, „Durch des Gartens kleine Wunderwelt. Naturfreundliche Streifzüge“ von Heinrich Freiherr Schilling von Canstatt (Frankfurt a. d. O., Trowitzsch u. Sohn). Es ist ein ausgezeichneter Führer für die reifere Jugend und den Gartenliebhaber durch das Stückchen Natur, das man sein eigen zu nennen pflegt. Das schlichte Werkchen kann als eine Vorstufe zu tiefer angelegten Schriften, wie z. B. dem „Pflanzenleben“ von Anton Kerner von Marilaun, betrachtet werden.
Der Garten besitzt eine hohe ethische Bedeutung im Volksleben; aber seine veredelnde Wirkung auf das Gemüth des Menschen kann nur dann sich bethätigen, wenn die Blumen, die in ihm blühen, die Bäume, die in ihm Schatten spenden, dem sorgsamen Pfleger auch ihre Lebensschicksale, ihre weiten Fahrten, ihre Lust und ihr Leid verrathen. Die Bedeutung des Gartens in dem Volksleben hat auch Ernst Keil vorgeschwebt, als er sein neugegründetes Blatt, in dem jedermann nach des Tages Last und Mühe Erholung und Erhebung finden sollte, die „Gartenlaube“ nannte.
(7. Fortsetzung.)
Bevor Bettina am folgenden Morgen Rott über das Ergebniß der Unterredung mit ihrem Manne unterrichten konnte, traf derselbe bereits mit Ewald an der Gartenpforte zusammen. Rott, der, den Hut lüftend, am Hausherrn vorübergehen wollte, wurde von diesem in barschem Tone angeredet: „Wenn Sie heute frühstücken wollen, so müssen Sie sich ins Gasthaus bemühen; in meinem Hause erhalten Sie nichts mehr als die Wohnung. Verstanden?“
Der Künstler erwiderte höflich: „Sie waren deutlich genug, und ich habe selbst das verstanden, was Sie nicht ausgesprochen haben: es wäre Ihnen lieb, wenn ich Ihr Haus recht bald verließe. Das soll so rasch als irgend thunlich geschehen. Doch da Sie die Feindseligkeiten begonnen haben, so lassen Sie uns wie ehrliche Gegner handeln und offen bekennen, was einer von dem andern zu erwarten hat.“
„Was Sie von mir zu erwarten haben, das will ich Ihnen gleich sagen. Wenn Sie es noch einmal wagen, meiner Frau von Liebe zu reden, dann fliegen Sie zur Thür hinaus – Sie sammt Ihrem Geigenkasten, aber nicht so heil, wie Sie hereingekommen sind!“
Ueber Rotts Gesicht ging eine jähe Gluth. Er nahm den breitrandigen Hut ab und ließ sich den Morgenwind durchs Haar streichen, dann sah er Monk furchtlos mit den stahlgrauen Augen an und erwiderte: „Sie wollen also rücksichtslos auf das Recht des Stärkeren pochen und mit Gewalt eine Frau unglücklich machen, die Ihnen ihr Leben anvertraut hat?“
Der Lotse geriet bei dieser Frage in Verlegenheit. Er zog seine kurze Pfeife aus der Tasche, klopfte die Asche aus, stotterte einige unverständliche Worte und fuhr zuletzt grob heraus:
[245] „Was zum Henker geht Sie meine Frau an?“
„Sehr viel, denn ich achte Bettina; das ist etwas, was Sie nie gethan haben.“
„Wer sagt Ihnen das?“
„Sie selber, Herr Monk. Wer eine Frau achtet, macht sie nicht zur Sklavin, die alle Launen und Mißhandlungen des Mannes schweigend ertragen muß. Hat die Frau die gleichen Pflichten, so hat sie auch das gleiche Recht mit dem Manne.“
„Das mag bei Euch Großstädtern gelten, die Ihr weder nach Brauch und Sitte noch nach Gott und Teufel fragt, auf dem Lande aber ist die Frau dem Manne unterthan und hat ihm zu gehorchen – denn so steht es in der Schrift.“
„So wollen Sie uns zum Aeußersten treiben? Bettina liebt mich und wird mir folgen.“
Ewald nahm hastig die Pfeife aus dem Munde, sein Gesicht wurde dunkelroth und seine Augen funkelten vor Zorn. „Hüte Dich,“ rief er mit geballter Faust, „hüte Dich, Musikant, mein Weib zu einem leichtsinnigen Schritte zu verleiten, das könntest Du mit Deinem Leben bezahlen müssen!“
Rott erschrak beim Anbltck der entstellten Züge und der wüthenden Gebärde des Mannes. Er zitterte nicht für sein, sondern für Bettinas Leben. In Ewalds ungezügelter Natur lag etwas Gefährliches; gewiß, der Lotse scheute im Nothfall auch nicht vor einem Verbrechen zurück. Es galt also, sehr klug zu handeln, um Bettina seiner Wuth zu entziehen.
Ruhig und schweigend wandte sich Rott daher von seinem Gegner ab und schritt dem Gasthof zu. Hier schrieb er sofort an die Gräfin Lindström und fragte an, ob er nun doch im Laufe der nächsten Tage ihre Gastfreundschaft in Anspruch nehmen dürfe. Den Brief sandte er durch einen besondern Boten ab. –
Am Nachmittag desselben Tages, während sich Ewald mit
seinem Vater auf dem Felde befand, um Roggen zu schneiden, sammelte sich die Jugend des Dorfes um die gräfliche Kutsche, welche von
der Klause zum Gehöft des Lotsenkommandanten hinüberfuhr.
Mutter Monk hatte gerade mit der Lehrersfrau ihre Ansichten
über die Kartoffelernte ausgetauscht, als der Wagen in Sicht
kam. – Beim Anblick ihres Schwiegersohnes, welcher stolz die
Kutsche lenkte, gerieth sie ist neugierige Aufregung. „Na, Jehann,“
rief sie und lief zu dem Wagen hin, „wo geiht et? Wo hast
Du Dine Gnädige?“
„Afladen – vor Ewalds Klause.“
Die Alte schlug vor Verwunderung die Hände zusammen, dann forschte sie nach, was wohl die Frau Gräfin im Hause ihres Sohnes zu suchen habe.
Ueber das dicke Gesicht des Kutschers breitete sich ein überlegenes Lächeln. Er brachte sein Gespann stolzer Apfelschimmel zum Stehen und antwortete dann in gespreiztem Tone: „So’ne hochen Heschaften hebben absonderliche Kapriolen.“ Er erklärte sich außer stande, über die wahren Absichten seiner Herrin Aufschluß zu geben, neigte indessen der Ansicht zu, daß es sich um einen Besuch beim Musikanten handle. Wahrscheinlich wolle ihn die Gräfin mit sich aufs Schloß nehmen, damit er ihr etwas vorspiele.
Frau Monk schüttelte den Kopf und murmelte: „Dat is ja ganz unmäuglich, dat uns’ gnä’ge Gräfin mit so’n Fiedler Umständ’ mackt.“
„Je, je, hoche Heschaften sünd tauweilen wunnerlick.“
Nach diesem Ausspruch erhob der Kutscher die Peitsche und fuhr dem Wagenschuppen zu, der sich ans Landhaus des Kommandanten anschloß. Frau Monk aber eilte zur Klause, sie mußte sofort ergründen, was die Gräfin, welche als Besitzerin einer großen Herrschaft und mehrerer Millionen ein wahrhaft fürstliches Ansehen in Massow genoß, unter dem Dache ihres Sohnes zu schaffen habe. Eine Begegnung mit Kathrein Bräuning, der sie in aller Eile über die wunderbare Begebenheit Bericht erstatten mußte, verzögerte die Erreichung ihres Ziels. Die Nachbarin legte ein ebenso großes Interesse für den hohen Besuch an den Tag wie Frau Monk und schloß sich dieser an, um das Neueste gleich aus erster Quelle zu erfahren.
Der Respekt vor der Gräfin verbot den beiden Weibern mit der Thür ins Haus zu fallen; sie umschlichen daher vom Garten her die Klause, und als sie nach einer Weile Musik vernahmen, zogen sie die Holzschuhe von den Füßen und stiegen leise und vorsichtig zur Veranda hinauf, von der sie durchs offene Fenster vorsichtig ins Innere des Salons blicken konnten.
Das Bild, welches sich ihnen bot, war überraschend freundlich und anmuthig. Bettina saß am Flügel und spielte die Begleitung zu einem Stücke, welches Rott auf der Geige vortrug. [246] Die Gräfin saß in einem Lehnsessel, auf dessen Rand ihr hübscher Kopf ruhte. Sie schaute mit einer Miene zur Zimmerdecke auf, als schlürfe sie die Musik gleich einem wonnigen Trank. Nachdem die letzten Töne verhallt waren, sagte sie, ohne ihre Lage zu verändern: „O, wie schön! Wissen Sie, Rott, daß ich nicht mehr an Ihre Armlähmung glaube? Sie haben Ihrem Instrument nie zuvor Töne von solcher Weichheit und soviel Reiz entlockt wie jetzt. Es liegt eine seltsame Weihe in Ihrem Spiele.“
Rotts Blicke suchten bei diesem Lobe Bettinas erglühendes Gesicht und er sagte leise: „Diese Weihe hat mein Spiel erst in jüngster Zeit empfangen.“
Die lauschenden Weiber auf der Veranda verstanden nicht die Bedeutung der Worte, aber sie bemerkten wohl, daß Rott und Bettina sich voll Zärtlichkeit anschauten und einander mit glücklichem Lächeln zunickten. „Wie twee Liebeslüt,“ bemerkte Kathrein lakonisch.
Die Gräfin erhob sich jetzt, warf einen Blick auf die Wanduhr und sagte: „Mich freut’s, daß Sie mich begleiten werden, und ich wünschte nur, ich könnte auch Sie entführen, liebe Frau Monk. Nun muß ich aber noch beim Kommandanten vorsprechen. In einer halben Stunde fährt mein Wagen vor, also halten Sie sich bereit, mein Freund!“
Die Lauscherinnen glitten von der Veranda herab und schlüpften hinter eine Laube. Von diesem Versteck aus sahen sie nach einer Weile, daß Rott und Bettina die Gräfin bis zur Gartenthür begleiteten. Da sich hier aber ein lebhafter Streit über ein musikalisches Thema entspann, so folgten die beiden dem Gaste bis zum Landhaus des Kommandanten, wo sie durch Lieutenant von Ellernbrück, welcher die Gräfin erwartet hatte, noch eine halbe Stunde im Garten festgehalten wurden.
Unterdessen waren die alte Monk und Kathrein nach lebhaftem Gedankenaustausch zu der Ueberzeugung gelangt, daß vor dem Flügel ein Frevel begangen worden sei, zu dessen Sühne man sofort Ewald herbeirufen müsse. Schnurstracks liefen sie durch die Niederung zum Kornfeld hin, wo die Schnitter ihre Arbeit beendigt hatten und nun bei einem tüchtigen Trunke Branntwein zusammensaßen. Ewald hörte den Bericht der beiden Weiber, die sich gegenseitig zu Uebertreibungen anfeuerten, mit grimmigem Lächeln an, und als beide endlich schwiegen und erwartungsvoll zu ihm aufschauten, sagte er in entschlossenem Tone: „Dem Musikswindel möten wi wohl ’n End maken.“
Zehn Minuten später vertauschte er in der Scheune der Klause seine Sense mit der Holzaxt, eilte ins Musikzimmer und zertrümmerte den herrlichen Flügel Bettinas mit wüthenden Hieben. Die beiden Anstifterinnen hatten an dieser That das innigste Vergnügen und begleiteten jeden Streich mit hellem Auflachen. Der Lärm lockte einige Fischer, die vorbeigingen, auf die Veranda; diese riefen dem alten Monk, der mit seinem Sohne heimgegangen war, erschreckt zu, ob Ewald verrückt geworden sei.
„Nee,“ erwiderte der Alte hohnlachend, „he will Ordnung maken in sin Hus.“
„Na, dat is ’ne ganz nimodsche Art.“
Krachend sank der Flügel endlich in Trümmer. Zum Glück war Rotts Geige im starken Lederkasten verschlossen. Ewald hatte auf diesen, als er bereits zu ermüden anfing, zwei Streiche geführt, die aber die schützende Hülle nicht zersplitterten. Als dann die Axt seinen Händen entsank, glaubte er, aus einem wüsten Rausche zu erwachen. Seine Mutter hatte durch ihre Anklagen gegen Bettina das Gefühl der Eifersucht in seinem Innern zur wildesten Leidenschaft angefacht. Mit pochenden Schläfen und glühender Rachlust war er hergestürmt, ohne Besinnung. Wären ihm in diesem Zustand der Raserei Bettina und Rott begegnet, er hätte sie erschlagen. Jetzt, da die That vollbracht war, folgte die Ernüchterung.
Und eben in diesem Augenblick trat Bettina ins Zimmer, begleitet von Rott. Beim Anblick des zertrümmerten Instruments hielt sie entsetzt an und rief. „Wer hat das gethan?“
„Ich,“ entgegnete Ewald trotzig, wich aber Bettinas Blicken aus.
„Warum?“
„Weil ich nicht will, daß Du mit dem da Musik machst.“ Er deutete dabei auf Rott.
„Ihre Frau gab nur den dringenden Bitten der Gräfin Lindström nach, welche gekommen ist, um mich abzuholen,“ sagte dieser und nahm seinen Geigenkasten auf. Er war so bleich geworden wie Bettina und seine Hände bebten, als er den Kasten öffnete, um sein Instrument herauszunehmen. Ein Blick überzeugte ihn, daß es unversehrt war. Erleichtert athmete er auf. „Sie können von Glück sagen,“ rief er Ewald zu, „daß es Ihnen nicht gelungen ist, den Geigenkasten zu durchhauen.“
„Na, an Ihrer Fiedel wäre auch nicht viel verloren gewesen,“ bemerkte Ewald grob.
„Vielleicht mehr, als Sie in diesem Augenblick hätten bezahlen können. Die ‚Fiedel‘ ist gegen eine Summe von neuntausend Mark versichert, und die Versicherungsgesellschaft hätte diesen Betrag rücksichtslos eingetrieben, wenn Ihre Absicht, das Instrument zu zerstören, gelungen wäre.“
„Nindusend Mark – so’n lütt Ding?“ schrie die alte Monk und schlug vor Verwunderung die Hände zusammen. „Wie is denn dat minschenmänglich? So viel kost’ ja nich mal en grotes Schip.“
„Und soviel kostet selbst der Flügel nicht, den Ihr Sohn zertrümmert hat; gleichwohl muß der, welcher einen Werthgegenstand von fünftausend Mark vernichtet, entweder sehr reich oder sehr verblendet sein.“
„Fivedusend Mark?“ Dieser Ausruf des Erschreckens kam von den Lippen der gespannt horchenden Dorfbewohner; Ewald stierte den Sprecher fassungslos an. Nach einer Weile erst stotterte er: „Das ist ja Unsinn; kein vernünftiger Mensch wlrd einen Klimperkasten so hoch bezahlen.“
„Mag der ‚Klimperkasten‘ kosten, was er will,“ rief nun Bettina in höchster Entrüstung, „ein Mann, der in so sinnloser Wuth zerstört, was die Freude anderer ist, verdient nur Verachtung.“
Ihre Mienen drückten die tiefste Empörung aus; ohne Ewald noch eines Blickes zu würdigen, wandte sie sich ab und verließ an Rotts Seite das Zimmer.
Ewald blieb in einem Zustand geistiger Ohnmacht zurück. Eines nur war ihm klar, daß er wie ein wildes Thier gehandelt und vor Bettina eine häßliche Rolle gespielt habe. In diesem dumpfen Gefühl der Beschämung war es ihm, als verfinstere sich die Welt, als lege sich auf seine Seele ein lähmendes Dunkel. Er war unfähig zu denken und tastete sich nach einem Stuhle hin, auf den er niedersank.
Von draußen wurde ein Geräusch vernehmbar. „Die gräfliche Kutsche!“ rief einer der Fischer auf der Veranda. Nun kam Bewegung in die erstarrte Gruppe. Kathrein und die alten Monks liefen zum Fenster hin, um zu beobachten, was sich ereigne.
Ewald vermochte sich nicht aus der Betäubung aufzuraffen, die Stimmen der am Fenster Stehenden trafen sein Ohr nur wie ein wirres Geräusch. Plötzlich aber wurde laut Bettinas Name genannt, und der Gedanke blitzte durch sein Hirn: sie verläßt mit ihm das Haus, um niemals zurückzukehren. Nun schnellte er in die Höhe und lief zum Fenster; mit einer kräftigen Armbewegung schob er Kathrein und die Mutter zur Seite, daß beide taumelten, und blickte hinaus. Eben setzte sich der Wagen in Bewegung. Auf dem hinteren Sitz saß die Gräfin mit Rott, auf dem schmalen Vordersitz aber stand der Geigenkasten. Den Reisekoffer des Gastes hatte der Kutscher neben sich auf das Trittbrett gestellt. Ewalds Blicke glitten vom Wagen zur Gartenpforte. Dort stand Bettina; ihr Haar flimmerte in der Abendsonne wie rothes Gold. Sie bewegte die Hand zum Abschiedsgruß, und ihre Blicke mußten wohl denen Rotts begegnet sein, denn in den Augen und Mienen des Künstlers leuchtete ein helles Licht und der Ruf „Auf Wiedersehen!“ kam von seinen Lippen.
In wenigen Augenblicken verschwand der Wagen in der Niederung hinter einer Staubwolke, Bettina aber kehrte langsam in den Garten zurück.
Nun trat auch Ewald vom Fenster weg, seiner Brust entrang sich ein Stöhnen.
„Na, een wahres Glück, dat wi den Schnorranten los sind,“ bemerkte die alte Monk. „Nu möt Du awer Dine Tine den Dumen gehörig up dat Auge drücken, Ewald.“
„Zuerst will ich Dir was sagen, Mutter,“ antwortete ihr Sohn und seine Augen funkelten. „Wer sich untersteht, noch ein Wort in unsere häuslichen Angelegenheiten hineinzureden, den werfe ich zum Hause hinaus, gleichviel ob er zur Familie gehört oder nicht. Merkt Euch das!“ – – –
[247] Zu Anfang des Monats September traf Bettina heimlich Anstalten, um Massow für immer zu verlassen. Sie gedachte, nichts mit sich zu nehmen, als Kleider und Wäsche und einige Andenken an die glückliche Zeit ihrer Jugend. Diese Dinge fanden in einem Koffer Platze, ihre ganze übrige Habe wollte sie Ewald zurücklassen. An dem Morgen, an welchem sie ein Billet von Rott empfangen hatte mit der Aufforderung, sich für den nächsten Tag zur Flucht bereit zu halten, brütete die Sonne heiß über Land und Meer. Die Luft war schwül und unbewegt, am Himmel zeigte sich kein Wölkchen. Bettina rang nach Athem, als sie aus ihrem Zimmer trat, um Ewald aufzusuchen Sie hatte während der letzten Zeit kein Wort mit ihm gewechselt. Nun pochte ihr das Herz, als sie seinen kurzgeschorenen Kopf auf der Veranda sah. Er saß vor einem Bogen Papier und schrieb. Die ungewohnte Arbeit mochte ihm wohl sauer geworden sein, denn als er Bettinas ansichtig wurde, legte er seufzend die Feder nieder und wischte sich mit dem Handrücken die Schweißtropfen von der Stirne.
„Ewald,“ sagte Bettina, und ihre Stimme klang mild und flehend, „ich komme noch einmal zu Dir mit der Bitte: gieb mich frei! Laß uns in Frieden scheiden!“
Er blickte in ihr edles, blasses Gesicht, und bei dem Gedanken, daß dies Weib ihn verlassen wolle, krampfte sich sein Herz zusammen. Es dauerte eine Weile, bevor er sich zur Antwort aufraffte. „Laß uns ins Zimmer treten,“ sagte er endlich und erhob sich, „es braucht niemand zu erfahren, was zwischen uns vorgeht.“
Als sie sich in dem schattigen Raume gegenüberstanden, deutete Ewald auf die Stelle, die einst der Flügel eingenommen hatte, und bemerkte: „Ich wollte Dir das da ersetzen – der Schulmeister meinte, man könne in Berlin billige Klaviere auf Abzahlung erhalten, und er verschaffte mir die Adresse eines Fabrikanten. Ich wollte eben an den Mann schreiben ...“
„Bemühe Dich nicht, Ewald! Es freut mich, daß Du in versöhnlicher Stimmung bist, allein Dein Entschluß, die letzte der mir zugefügten Kränkungen zu sühnen, kommt zu spät. Wie ich Dir schon einmal sagte, gehöre ich nicht mehr mir selber an und ich maß elend zu Grunde gehen, wenn Du mich zwingst, hier in Massow auszuharren.“
„In Massow auszuharren?“ wiederholte der Lotse, und seine Hoffnung flackerte neu auf, „dazu will ich Dich nicht zwingen. Wenn Dir der Ort zu einsam oder meine Verwandtschaft zu unbequem ist, so verkaufen wir das Haus und ziehen weg, um anderswo ein neues Leben zu beginnen.“
„Auch dazu ist es leider zu spät,“ entgegnete sie unsicher; sie gehörte zu den weichen Naturen, welche einer Bitte schwer widerstehen können und ihre volle Kraft nur ungerechter Kränkung gegenüber finden. „Sieh, Ewald,“ fuhr sie in gepreßtem Tone fort, „Du hättest es leicht gehabt, mich mit unzerreißbaren Banden an Dich zu fesseln – ein wenig Güte, nur halb soviel Rücksicht auf meine Wünsche und Neigungen, als ich den Deinigen erwies, und was ich während unsrer Verlobungszeit für Dich empfand, hätte zur unbesieglichen Liebe werden müssen. Du hast auf meine Gefühle nicht geachtet, hast mir gezeigt, daß Du Deine Befriedigung außer dem Hause finden könnest, hast mich um leidiger Vorurtheile willen Eltern und Nachbarn gegenüber preisgegeben. Ich sage das ohne jeden Groll, Ewald, sage es nur, weil ich gezwungen bin, mich zu vertheidigen. Ich will Dich nicht kränken ...“
„Ich weiß das,“ entgegnete Ewald, und ein Abglanz jener Treuherzigkeit, welche Bettina während der ersten Begegnungen mit ihm so sehr bestochen hatte, lag wieder auf seinen Zügen. „Du bist gut, das hab’ ich stets gewußt; ich sehe auch ein, daß Deine Klagen berechtigt sind. Und doch hatte ich den redlichen Willen, Dich glücklich zu machen – weiß der Henker, was alles dazwischen kam, um es zu hindern. Jetzt, wo ich zurückblicke, scheint es mir fast, als hätten böse Geister ihren Spuk mit uns getrieben. Denn wenn zwei Menschen sich gut sind und sie kommen trotzdem nicht zu Fried’ und Eintracht, so muß man wohl annehmen, die Geschichte geht nicht mit rechten Dingen zu.“
Ueber Bettinas Gesicht flog ein mattes Lächeln, dann erwiderte sie herzlicher: „Die Hindernisse lagen in der Verschiedenheit unsres Charakters, unsrer Bildung und unsrer Lebensanschauung. Ich beging den schweren Fehler, das zu übersehen.“
„Mag sein, mag sein!“ entgegnete Ewald und rieb sich die Stirne, als wollte er die wirren Gedanken ordnen. „Aber jetzt, da wir das alles wissen und einsehen, könnten wir ...“ das Wort erstarb ihm auf der Lippe und er warf im Gefühl seiner Hilflosigkeit einen bittenden Blick auf Bettina.
Diese rang in peinlicher Erregung die Hände. „Zu spät, zu spät! Ich bin nicht mehr mein eigen,“ rief sie. „Du weißt es, wie heftig ich mich gegen die Aufnahme von Rott sträubte, denn die Ahnung von dem, was kommen würde, fiel in meine Seele. Du hörtest nicht auf mich, hattest nur den Vortheil im Auge. Da glaubte ich mich von Dir aufgegeben und in mir erwachte die brennende Sehnsucht nach geistigem Leben, nach einem warmfühlenden Menschenherzen. Und Rott verstand meine Wünsche, errieth meine Gedanken, als ob er mein Inneres durchschauen könne ... Dazu kam die Musik – Du ahnst nicht, Ewald, welche Gewalt in den Tönen liegt. So überraschte uns die Liebe wie die Frühlingssonne die schlafende Erde, sie war da, bevor mein Gewissen sich regte, sie verwandelte diesen öden Fleck Erde in einen Zaubergarten, sie durchglühte und entflammte mein ganzes Wesen. Vergebens sträubte sich meine Vernunft gegen ihre Gewalt, vergebens klammerte ich mich an die Pflicht – das Gefühl in meinem Herzen war übermächtig. Und so kam’s, daß – –“
„Daß die Leute im Dorfe heute von mir wie von einem Gebrandmarkten reden,“ warf Ewald mit großer Bitterkeit ein. „Daß Euer Glück meine Schande werden müsse, daran habt Ihr nicht gedacht. Was ist Euch feinen Leuten auch an einem armen Teufel von Seemann gelegen!“
„Ewald, Du hast kein Recht, so niedrig von mir zu denken!“ rief Bettina und ihre blassen Wangen rötheten sich, ihre Augen flammten. „Ich kann Dir frei in die Augen sehen, meine Ehre ist rein. Boshafter Verläumdung kann freilich niemand entgehen. Noch einmal bitte ich Dich, laß mich meines Weges ziehen!“
Des Lotsen Blicke hafteten auf ihrer rührenden Gestalt und ein wilder Aufruhr durchtobte sein Inneres, daß er sie einem andern lassen sollte. Mit rauher Stimme und heftig abwehrender Gebärde antwortete er: „Ich kann es nicht – kann es nicht!“
„So zwingst Du mich, Dich heimlich zu verlassen?“
„Wenn Du das wagst, dann mag er sich in acht nehmen, Dein Musikant! Ich verfolge und finde ihn, und dann – geht einer von uns beiden aus der Welt, er oder ich.“
Bettina starrte den Gatten mit großen, erschrockenen Augen an, dann wandte sie sich von ihm ab und schritt langsam dem Ausgang zu. Noch hatte sie die Schwelle nicht erreicht, da rang sich ein Schrei der Verzweiflung aus ihrer Brust. Hastig umkehrend, warf sie sich vor Ewald nieder und umfaßte dessen Knie. Die Thränen, welche sie bisher gewaltsam zurückgehalten hatte, flutheten jetzt heiß über ihre Wangen. „O, sei nicht so wild, so grausam! Ich habe an Dich geglaubt, Ewald, an Dein gutes Herz, habe Dir jahrelang gedient mit der ganzen Hingebung des Weibes ... Du kannst mich nicht vernichten wollen! Und ich müßte verzweifeln, wenn einer von Euch beiden den andern mordete um meinetwillen. – Ewald, sieh, ich hatte die redliche Absicht, Dich zu beglücken, aber das Glück floh unsre Schwelle – es war nicht meine Schuld. So sei menschlich um der Liebe willen, die Du einst zu mir empfunden hast, treibe mich nicht zum Wahnsinn und laß mich frei!“
Ihre Klagen verstummten, aber ihre Thränen versiegten nicht und ihr Körper bebte wie im Fieber. Und in Ewalds Brust verwandelte sich der Zorn in Mitleid. Dem Gefühl des Erbarmens nachgebend, beugte er sich zu ihr nieder und stotterte: „Nicht so ... steh’ auf, Betty! Ich bin kein Unmensch, wahrhaftig nicht. Unglücklich sollst Du bei mir nicht werden – geh’, wohin Dein Herz Dich treibt! Ich will Dir’s nicht nachtragen, daß Du mich verlassen hast. Geh’!“
Er half ihr in einen Sessel, und als sie die thränenfeuchten Blicke auf ihn richtete und einige Worte des Dankes stammelte, drohte ihn die innere Bewegung zu übermannen; rasch verließ er das Haus und ging zum Strande hinunter.
Meer und Luft waren unbewegt, die fernen Ufer des Festlands umsäumte ein bläulicher Dunst. Die Schwüle des Tages lastete schwer auf Ewald; er wußte nicht, was in ihm vorging, er fühlte nur das Bedürfniß, in heulendem Sturme und tosender Brandung allein zu sein auf dem Meere und sein Leben in die
[248][249] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [250] Schanze zu schlagen. Lange wanderte er planlos am flimmernden Strande hin, endlich thaten ihm die Augen weh von dem Glitzern des Sandes, seine Füße ermüdeten und mechanisch wandte er sich dem Dorfe und den schattigen Lauben des Gasthauses zu. Er fand dort seinen Vater und Pischel beim Kartenspiel sitzen, der Wirth schlummerte in einer Ecke der Laube. Von der Kegelbahn her ließ sich von Zeit zu Zeit ein dumpfes Rollen hören.
„He, hollah!“. rief Ewald und schlug mit der Faust auf den Tisch, „heut’ scheint ja ganz Massow im Schlafe zu liegen, das Nest ist wie ausgestorben. Zum Henker, Wirth, ist zum Schlafen die Nacht da oder der Tag? Hol’ ne Flasche Rothen, ich verdurste!“
Der Wirth rieb sich gähnend die Augen und sagte: „Ah, Du bist’s, Ewald? Gleich, gleich!“ Er reckte die Arme und gähnte nochmals. „Wir armen Gastwirthe müssen am Tage nachholen, was wir des Nachts versäumen – und dann – die Hitze! Mir liegt’s wie Blei in den Gliedern.“
„Je, je, min Söhneken,“ meinte der alte Monk über die Karten hin zu Ewald, „wie kreg hüt noch ’n Gewitter – dat liegt mi so in die Knaken.“
„Und mir im Blute!“ murmelte Ewald, warf die Mütze auf die Bank und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Eine Weile starrte er wie geistesabwesend in die dunkelste Ecke der Laube, dann, als der Wirth den Wein gebracht hatte, rief er seinem Vater und Pischel zu: „Laßt das verdammte Kartenspiel und trinkt ein Glas Wein mit mir!“
„Gliek, min Sohn, gliek sünd wie tau End mit die Partie,“ entgegnete der alte Monk, und fünf Minuten später strich er den Gewinn ein und rückte lachend zu Ewald hin, während Pischel, gelinde fluchend, das gefüllte Glas ergriff.
„Hm, so ’n feinen Stoff läßt Du upfahren, Ewald, wat is denn hüt los?“ Der alte Monk blickte bei dieser Frage forschend von der Flasche zu seinem Sohne hinüber; der goß, ohne zu antworten, den Rest des Weins in sein Glas und bestellte eine zweite Flasche. Er fühlte, daß jetzt der Augenblick gekommen sei, wo er dem Vater und den Freunden das Geständniß von der Lösung seiner Ehe machen müsse, und doch verschloß ihm der Stolz den Mund.
Daß eine Frau den Gatten verließ, war in Massow unerhört. So lange auf dieser Halbinsel ein Haus gestanden, hatte das Schicksal des Weibes in der Hand des Hausherrn gelegen, hatte die Frau dem Manne angehört, bis der Tod sie von ihm trennte. Und nun sollte er der erste sein, den seine Frau verließ, nun sollte gerade ihm, dem Gefürchteten und Beneideten, das Unerhörte, das Schmachvolle geschehen!
Der Wirth entkorkte die zweite Flasche. Ewald füllte die Gläser und sagte mit erzwungenem Gleichmuth: „Heut’ hab’ ich einen großen Entschluß gefaßt, ich trenne mich von meiner Frau.“
„I, da sei Gott vor!“ riefen Pischel und der Wirth wie aus einem Munde, der alte Monk aber schielte mißtrauisch zu seinem Sohne hinüber und stellte die Frage: „Is sie mit dem Kirl, dem Musikanten, davonloopen?“
„Vater!“ schrie Ewald zornig auf und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, daß Flaschen und Gläser tanzten. „Du solltest wahrhaftig der allerletzte sein, der Betty Schlechtes nachsagt, denn Dir hat sie hundertmal bewiesen, wie gut und brav sie ist. Wir haben uns ruhig und friedlich besprochen und sind zu der Einsicht gekommen, daß wir nicht zu einander passen und daß jedes von uns beiden glücklicher wird, wenn es seine eigenen Wege einschlägt.“
Die drei Männer schüttelten nachdenklich den Kopf. Pischel meinte, er habe es gleich geahnt, daß die Sache schief gehen werde; der Wirth bemerkte, wer über seinen Stand hinausgehe, riskiere einen tiefen Fall; der alte Monk aber murmelte: „Is dat erhört, is dat erhört! Was wird min Olle dortan seggen!“
Ewalds Gesicht glühte vor Zorn und Scham. In hastig hervorgesprudelten abgerissenen Sätzen suchte er darzuthun, daß jeder verständige Mensch seinen Entschluß billigen müsse. Er rühmte Bettinas Verhalten in der Ehe und ihre Großmuth. Sie wolle das Haus verlassen, wie sie gehe und stehe, ihren ganzen Besitz lasse sie ihm zurück. Warum ihre Ehe keine zufriedene geworden sei, könne er sich nicht erklären; es müsse wohl ein Fluch darauf gelastet haben. Was er unternommen, sei fehlgeschlagen. Und darum sei es besser, daß sie sich trennten.
„Nee, min Sohn, dat geiht nich, dat is gegen den Bruk. Sall dat ganze Dorf mit Fingern up Di wiesen? Een Kirl, dem die Fru wegloopen is, wird in Massow nich mehr als Mann ästimiert.“
„So hol’ der Henker den Brauch und ganz Massow dazu!“ schrie Ewald. „Für mich ist dies Nest nicht die Welt. Noch eh’ der Winter kommt, verklopf’ ich Haus und Hof und geh’ wieder zur See. Hier, Wirth, mach’ Dich bezahlt!“ – Er warf ein Goldstück auf den Tisch, daß es klirrte, und trat vor die Laube. Ein starker Luftzug kühlte ihm die heiße Stirn; der Himmel hatte sich mit Wolken bedeckt, ein heftiger Wind wühlte die See auf. Offenbar war Sturm im Anzug.
Der Wirth, welcher Ewald einige Silbermünzen herausgab, und der alte Monk suchten den Wüthenden zu besänftigen, aber er schüttelte beide mit einem Rucke von sich ab und lief zum Höwt hinauf. Er wollte die Natur im Aufruhr sehen. Nur der Sturmwind konnte sein heißes Blut kühlen, nur das Rauschen der Wogen und das Grollen des Donners die wirren Stimmen in seinem Innern übertönen. Er umging den „Utkiek“, weil er nicht von dem wachthabenden Kameraden bemerkt sein wollte, drang jenseit der Mulde durch die Brombeer- und Ginsterbüsche und stellte sich an den Rand des steil abfallenden Berges. Vom Schloß Lindström her zog das Gewitter herauf. Die dunklen Wolkenmassen schienen auf dem Thurme und der flatternden Fahne zu ruhen, bei jedem Aufleuchten des Blitzes glitt ein greller Feuerschein über die Mauern des breit hingelagerten Gebäudes. Dort wohnte jetzt der Mann, welcher ihm Bettinas Herz geraubt hatte – o, wenn doch ein Blitzstrahl ihn zermalmte, ihn, den er haßte und fürchtete! Aber würde mit dem Untergang des Verhaßten auch Bettinas Liebe zu Ende sein? Sie hatte jenem ihr Bestes zugewendet, und kein Sturm, keine Macht dieser Erde war imstande, sie in Ewalds Arme zurück zuführen; sie war für ihn verloren, unwiederbringlich verloren.
Mit diesem Bewußtsein zog ein Wehegefühl durch sein Inneres, das ihn völlig niederwarf; in rauhen Stammellauten verfluchte er sein Schicksal, um im nächsten Augenblick wieder weicheren Regungen nachzugeben. Der Tumult in den Lüften rüttelte ihn endlich auf. Das Gewitter stand jetzt über dem Höwt, die dunklen Wolken ballten sich unheilschwanger zusammen, der Wind heulte und peitschte die Wogen; von Zeit zu Zeit erschütterte mächtiger Donnerhall die Luft. Vor dieser majestätischen Sprache der Natur schämte sich Ewald seiner kindischen Verzweiflung. Ein wilder Gedanke zuckte durch sein Gehirn, das der Wein umnebelt hatte: da ich ohne sie nicht leben mag, so werde ich aus der Welt gehen – über Ewald Monk soll keiner spotten in diesem gottverfluchten Neste. Und Betty soll sehen, daß mit mir nicht zu spaßen ist, mein Tod wird ihr den Liebestrank verbittern …
Noch einen Blick warf er über das schäumende Meer, dann war sein Plan fertig. Im Segelboot wollte er hinaussteuern – mochten dann Wind und Wellen das schwache Fahrzeug zum Kentern bringen. Ihn verlangte danach, in den Wogen, die er so lange beherrscht hatte, unterzugehen. Da draußen auf der einsamen See, wo er nichts unter den Füßen hatte als das schwanke Brett, wo tobender Sturm und Gischt ihn einhüllten, da konnte er noch einmal all den Zorn, all die Empörung und all den Jammer, die sein Herz erfüllten, zum Himmel hinaufschreien. Und dann mochten ihn die Elemente verschlingen, was war daran gelegen! Seine Rache hatte er dann genommen, das Glück der Treulosen vergällt.
Mit wilder Hast schritt er zur Ausführung; je näher er der Klause kam, desto mehr beschleunigte er seine Schritte; der volle Ausbruch des Gewitters sollte ihn auf hoher See finden. – – Bettina stand eben im Begriff, das Mansardenfenster an der Hinterseite der Klause vor dem Gewitter zu verschließen, als sie Ewald durch die kleine Gartenpforte treten und auf die Scheune zueilen sah. Der Wind hatte ihm den Hut entführt, und es war etwas in seiner Erscheinung und seinem hastigen Gebahren, das sie erschreckte. In banger Erwartung blieb sie am Fenster stehen und bemerkte, daß ihr Gatte mit dem Segel über dem Arme die Scheune schon wieder verließ und mit raschen Schritten den Abhang hinunterlief zu der Stelle, wo eben die Brandung mit dem angeketteten Boot ein wildes Spiel trieb.
Die Frage durchzuckte Bettina: will er aufs Meer? und ein kalter Schauer ging ihr über den Rücken; einige Sekunden lang war sie wie gelähmt. Dann jedoch raffte sie sich gewaltsam auf – sie mußte Ewalds Absicht erfahren. Von schrecklichen Vorstellungen gepeinigt, sprang sie die Treppe hinab und trat vors Haus. Sie [251] sah, daß er das Boot auf den Sand gezogen hatte, und athmete auf. Gleich darauf aber bemerkte sie auch, daß er den Mast aufrichtete und das Segel hißte. Nun hielt sie sich nicht länger, wie ein gescheuchtes Reh flog sie den Abhang hinunter. Eben wollte Ewald das Boot in die Brandung schieben, da stellte sich ihm Bettina in den Weg.
„Was hast Du vor?“ fragte sie hochaufathmend.
„Geh’ ins Haus, vor dem Höwt kann’s Arbeit geben für beherzte Männer,“ antwortete er dumpf.
„Es ist kein Schiff in Sicht, sonst würde die Nothglocke läuten. Was also suchst Du jetzt auf dem Meer?“
„Wenn Du es denn wissen willst – den Tod. Ich bin Dir im Wege, und hier ist eine Gelegenheit, Dir ohne Aufsehen Platz zu machen. Man wird glauben, ich sei draußen vom Wetter überrascht worden, und Du hast als ehrbare Witwe keinerlei Nachrede zu befürchten. Leb’ wohl!“
Mit einer raschen Bewegung schob er die zitternde Frau zur Seite und gab dem Boote einen Stoß, daß es mit den gerade zurückfluthenden Wellen ins Wasser glitt. Mit einem Sprunge wollte er sich in das Fahrzeug schwingen – da umklammerten ihn Bettinas Arme; vergebens suchte er sich aus der Umschlingung frei zu machen, die Verzweiflung erhöhte ihre Kraft. Keuchend rief sie: „Du darfst nicht sterben, Ewald, komm zu Dir! Laß mit Dir reden, ich –“
Sie konnte nicht enden. Ein Schwall von Wasser rauschte über sie hin.
„Laß mich frei!“ rief Ewald in rauhem Tone. „Wann ich sterbe, kann Dir doch gleich sein, denn fort muß ich! Die Schmach, die Du mir anthun willst, überleb’ ich nicht.“
Er machte neue, aber vergebliche Anstrengungen, Bettina von sich abzuschütteln.
Krachend fuhren die Blitze nieder und beleuchteten mit fahlem Lichte das ringende Paar. Endlich ließ Bettina ermattet die Arme sinken; Ewald, freigeworden, schwang sich ins Boot und machte sich fertig, abzustoßen.
Und da, in diesem Augenblick, der über Leben und Tod ihres Gatten entscheiden mußte, schwiegen in Bettina mit einem Male alle Wünsche nach eigenem Glücke. War Ewald nicht der Hochherzigere? Sie wollte ihrer Liebe nicht entsagen und er gab sein Leben hin, um sie frei zu machen; um ihre leidenschaftlichen Wünsche zu befriedigen, ging er in den Tod! Daß er sterbend zugleich seine Rache an ihrer Zukunft nehmen wollte, machte sie sich nicht klar. Sie fühlte nur, daß er ihretwegen gehen wollte – das sollte, das durfte nicht sein – Opfer gegen Opfer!
Eine eisige Kälte ging ihr durchs Blut, ihre Zähne schlugen wie im Fieber aufeinander, aber mit verzweifelter Entschlossenheit bezwang sie sich und rief durch den brausenden Sturm: „Halt ein, Ewald – ich bleibe.“
„Wie?“ schrie er auf, und seine Augen starrten sie zweifelnd an. „Du – Du willst -“
„Ja – ja!“
„Betty!“ – er sprang aus dem Boote und eilte auf sie zu mit ausgestreckter Hand. „Du sollst sehen, Betty, daß ich von dieser Stunde an ein anderer bin, ein Besserer, und es wird noch alles ins rechte Geleise kommen.“ Er wollte sie an seine Brust ziehen, sie aber wich scheu zurück. „Laß uns das Boot bergen, die Brandung zerschlägt es sonst!“
„Hast recht, mein Herz, hast recht, aber das kann ich allein. Geh’ Du voraus ins Haus und wechsle die Kleider – Du wirst Dich sonst erkälten.“
Sie stieg langsam mit zitternden Knieen zum Hause hinauf. Oben angelangt, wandte sie sich mit gerungenen Händen Schloß Lindström zu. „Liebster,“ flüsterte sie, und heiße Thränen quollen unter ihren Wimpern hervor, „vergieb mir, ich konnte nicht anders. Mit dem Gefühl, den Gatten in den Tod getrieben zu haben, hätte ich nicht weiter leben können – mögest Du das Glück finden auch ohne mich! Leb’ wohl!“
In der Nacht fand Bettina trotz ihrer Erschöpfung keinen Schlaf. Der Gedanke: was wirst du Rott sagen? ließ sie nicht zur Ruhe kommen, fiebernd erwartete sie den Morgen. Sobald der erste Schimmer dämmerte, erhob sie sich und verließ leise die Klause. Sie wandte sich zu jener Stelle am Rande des Höwts, wo sie einst in Todesgefahr geschwebt hatte. Unter der Buche, vor der ihr Rott seine Liebe gestanden, sollte sie in der Frühe mit ihm zusammentreffen; dort ließ sie sich nieder.
Bleich, mit starrem Blicke, saß sie da; über ihr rauschte der Wipfel im Morgenwind; das Meer, von leichtem Duft überzogen, dehnte sich endlos vor ihren Augen. Müde lehnte sie sich zurück an den Stamm des Baumes und versank in dumpfes Brüten; als sie sich endlich gewaltsam aufrüttelte, erstrahlte schon die Sonne im Osten, und unten in der Mulde erblickte sie die Gestalt Rotts, der rasch zur Höhe stieg. Er kam, um sie zur Freiheit zu führen, und sie durfte ihm nicht folgen!
Mit raschen Schritten näherte sich Rott und von weitem schon rief er ihr fröhlich entgegen: „Bettina, Liebste, bist Du bereit?“ Als er aber vor ihr stand, verflog der heitere Glanz seines Gesichts.
„Mein Gott, wie siehst Du aus? Bist Du krank geworden?“ Er erfaßte ihre Hände und sah ihr mit zärtlicher Besorgniß in das bleiche regungslose Gesicht.
„Mir ist so wirr,“ entgegnete sie matt, „ich habe in der Nacht nicht geschlafen. Meine Kraft ist wie gelähmt.“
„Aber was ist geschehen? Hat er Dich durch Drohungen eingeschüchtert, oder hat sich der Elende soweit vergessen – – ?“
„Nein, nein, Franz! Nicht gegen mich hat er die Hand erhoben, aber gegen sich. Ich könnte mein Glück nur mit Ewalds Leben erkaufen und das – vermag ich nicht. Um diesen Preis könnten wir beide nur elend werden; darum laß uns verzichten!“
„Verzichten? Da wolltest verzichten? Ich will nicht mein zerstörtes Glück, nicht mein künftiges Elend in die Wagschale werfen – aber denk’ an Dich selbst, an Deine Zukunft. Deine Lage hier muß entsetzlich werden. Wie kannst Du weiter leben an der Seite eines Mannes, der Deiner unwürdig ist, dessen Drohung, sich töten zu wollen doch nur eine feige List war.“
Er hatte die Worte in größter Erregung, mit leidenschaftlicher Ueberzeugung hervorgestoßen, nun hing sein Blick erwartend an Bettinas Angesicht. Diese aber schüttelte nur stumm den Kopf. „Es war sein Ernst,“ erwiderte sie dann dumpf und schilderte den Vorgang während des Gewitters. „Sieh, Franz,“ schloß sie bewegt, „in jener entsetzlichen Stunde gestern habe ich mir gelobt, meinem Mann, der sein Leben in meine Hand gelegt hat, eine feste Stütze, ein guter Kamerad zu sein. Mein Gewissen zwingt mich, das Gelöbniß zu halten, wie es mich zwang, dasselbe auszusprechen. Oder wolltest Du wirklich, daß ich anders gehandelt hätte, daß ich ihn hätte in den Tod gehen lassen? Könntest Du mir Dein ganzes Herz, Dein volles Vertrauen entgegenbringen, wenn ich mit diesem Verbrechen auf der Seele zu Dir gekommen wäre? – Du schweigst, Du antwortest nicht, aber in Deinen Augen lese ich einen stummen Vorwurf, einen Zweifel an meiner Liebe zu Dir. Muß ich Dir versichern, daß sie hoch über allem steht, was uns trennt, rein und unvergänglich, daß meine Gefühle für Dich so fest sind wie mein Glaube an Deinen Edelmuth? Eben darum aber kannst Du das Unwürdige nicht von mir verlangen, mußt Du meinen Entschluß billigen.“
„Ich meine, das Unwürdige sei für Dich, an diesen Mann gefesselt zu sein, den Du nicht liebst, der gestern in kindischem Trotze gedroht hat, sich das Leben zu nehmen, und heute wahrscheinlich ganz kühl denkt über einen Verlust, der für ihn im Grunde keiner ist.“
„Du sprichst gegen Dein besseres Wissen, Franz, vertheidigst die Selbstsucht, die doch Deinem innersten Wesen fremd ist. Wollte ich so egoistisch handeln, wie Du jetzt im ersten Schmerze verlangst, ich hätte vor Dir, vor mir selbst keinen Anspruch auf Achtung mehr. Und darum laß uns scheiden, nicht – vergessen!“
Sie erhob sich mit einer hastigen Bewegung, schlang die Arme um seinen Hals und preßte einen Kuß auf seinen Mund. „Leb’ wohl, Liebster,“ sagte sie mit bebender Stimme, und ihre Augen füllten sich mit Thränen. „Dir wird der Weg durchs Leben leichter werden als mir, denn eine wunderbare Trösterin begleitet Dich, Deine Kunst. Ich aber muß einsam ausharren auf dem Posten, auf den ich mich in freier Entschließung gestellt habe. Und nun, leb’ wohl für immer, leb’ wohl!“
Ehe Rott antworten konnte, hatte sie sich losgerissen und eilte, als fürchte sie, ihre Willenskraft könnte erliegen, den Weg uach der Klause hinab. Noch einmal stand sie still und sandte, [252] rückwärts gewendet, einen stummen Gruß herüber, dann war sie verschwunden.
Mit feuchten Augen hatte Rott ihr nachgeblickt, ohne einen Versuch zu machen, sie zu halten oder zurückzurufen; jetzt, als ihre Gestalt seinen Augen entschwunden war, schickte er sich an, den Ort zu verlassen, wo seine Träume von Glück begonnen und geendet hatten. Langsam schritt er den Hügel hinab, ein trostloser Mann. Das Einzige, was er klar empfand, war der Gedanke, daß er fort müsse, hinaus in die Welt, gleichviel wohin!
Ewald fand seine Frau an diesem Tage erfreulich verwandelt. Zwar war ihr Gesicht bleich, aber es lag ein freundliches Lächeln darauf; während des Frühstücks sprach sie in herzlichem Tone mit ihm. „Nun mag alles, was hinter uns liegt, vergeben und vergessen sein,“ sagte sie, als sie sich vom Tische erhoben, „wir wollen fortan als gute Kameraden durchs Leben wandern.“
Und Bettina berieth mit ihrem Manne, was zu geschehen habe, um ihr Leben in eine andre Bahn zu lenken. Sie war der Ansicht, daß es für Ewald das Beste sei, wenn er seine frühere Stellung als Lotse wieder einnehme. Er stimmte ihr lebhaft bei, bezweifelte jedoch, ob der Kommandant ihn jemals wieder anstellen werde.
„So will ich den Versuch wagen, ihn milder zu stimmen,“ rief Bettina und erhob sich.
„O, wenn Du das wolltest, Betty!" Ewald sprang auf, erfaßte ihre Hand und schüttelte sie kräftig. „Seit ich den Dienst verlassen habe, war mir wie dem Fische zu Muthe, den die Welle auf den Strand geworfen hat. Und darum habe ich lauter Dummheiten gemacht.“
Bettina mußte über sein eifriges Bekenntniß unwillkürlich lächeln. „Gut also,“ sagte sie dann, „ich will gleich zur Frau des Kommandanten gehen und ihr meine Dienste als Musiklehrerin anbieten. Wie ich höre, möchte sie ihre beiden Töchterchen im Klavierspiel unterrichten lassen. Vielleicht nimmt man mich drüben gut auf und ich kann gelegentlich für Dich sprechen.“
Das Glück war Bettina günstig. Der Kommandant befand sich vor einer leidigen Entscheidung: entweder mußte er eine Erzieherin für seine beiden jüngsten Kinder nach Massow kommen lassen oder diese zu den Großeltern senden. Eben besprach er, im Garten auf und ab gehend, mit seiner Frau, welcher von beiden Fällen noch der erträglichere sei, als Bettina in bescheidener Haltung eintrat. Der Kommandant zog die Stirn kraus und flüsterte seiner Frau zu: „Was sucht denn die hier? Wenn sie hofft, daß ich mich in ihre zerfahrenen häuslichen Angelegenheiten mische, dann irrt sie sich; sie war gewarnt – –“
Bettinas Gruß fand eine höfliche aber kühle Erwiderung: „Sie wünschen, Frau Monk?“
„Ihnen einen Vorschlag zu machen, Herr Kommandant. Vom Schullehrer hörte ich, daß Sie eine Erzieherin für Ihre jüngsten Kinder suchen, um diese vorzugsweise im Klavierspiel unterrichten zu lassen. Ich traue mir die Fähigkeit zu, Kinder in der Musik zu unterweisen, auch in anderen Fächern. Wollten Sie es mit mir versuchen – gewiß, ich würde mir redlich Mühe geben, Ihr Vertrauen zu rechtfertigen.“
Die Gesichter des Ehepaars hellten sich bei diesem Vorschlag merklich auf und ihre Zurückhaltung machte einem freundlichen Entgegenkommen Platz. „Das trifft sich gut,“ versetzte die Hausfrau, „das ist ein Vorschlag, der uns aus einer gewissen Verlegenheit befreien könnte, nicht wahr, lieber Mann? Wir besprachen soeben diese Sache und waren allerdings halb und halb entschlossen, uns nach einer Erzieherin umzusehen ... Aber wie ist mir denn? Es kamen uns Gerüchte zu Ohren, als hätten Sie die Absicht, Massow zu verlassen? Herr Rott – – “
Bettina schlug die Augen nieder und sagte: „Ich bleibe hier. Herr Rott verläßt Schloß Lindstrom oder hat es schon verlassen.“
„Verzeihen Sie,“ fiel der Kommandant mit einem verweisenden Blicke auf seine Gattin ein, „daß wir Dinge beruhrten, welche im Grunde nichts mit unsrer Angelegenheit zu thun haben.“
„O doch, Herr Kommandant; ich begreife, daß eine Mutter genau wissen will, wem sie ihre Kleinen anvertraut. Aber hätte ich mein Gewissen mit einer Schuld belastet, so würde ich nie gewagt haben, Ihre Schwelle zu überschreiten, um Ihnen mein Anerbieten zu machen.“
„Das wir mit Freuden annehmen,“ sagte die Hausfrau und streckte Bettina beide Hände entgegen. Man verabredete nun die näheren Bedingungen, unter welchen der Unterricht stattfinden sollte, und ließ die Kinder kommen, um die Lehrerin zu begrüßen. Schon am nächsten Tage sollte für Bettina die neue Thätigkeit beginnen.
Der Chauvinismus.
Auf der alten Welt lastet am Ende des neunzehnten Jahrhunderts die Erwartung zweier Ereignisse wie ein lähmender Alp: die Furcht vor dem sozialen Umsturz und die Furcht vor dem nächsten Kriege. Beide Ereignisse erscheinen allen europäischen Völkern als furchtbare Katastrophen, die eine Geschichtsentwicklung von Jahrtausenden abschließen und ihre Schöpfungen vernichten würden. Diejenigen, welche die Verwirklichung des sozialdemokratischen Ideals für möglich und erstrebenswerth halten, erwarten zum großen Theile vom nächsten Kriege die Erfüllung ihrer Hoffnungen. Und doch beben sie vor dem Gedanken dieses europäischen Völkerbrandes und vor dem unsäglichen Unglück zurück, das ihm folgen muß. Auch sie predigen den Frieden, wie viel mehr alle anderen Schichten des Volkes! Von den Thronen der Fürsten und den Kanzeln der Kirchen, von den Rednerbühnen der Parlamente, aus den Tempeln der Wissenschaft und Kunst und aus den Werkstätten der industriellen Arbeit steigt kein inbrünstigeres Gebet zum Himmel empor als das um Frieden.
Woher kommt es nun, daß durch die Einmüthigkeit dieser Friedenssehnsucht die Furcht vor dem Kriege nicht erstickt wird? Woher kommt es, daß der einzelne an der Erfüllung eines Wunsches zweifelt, von dem er weiß, daß er alle beseelt? Krieg oder Frieden – fließen sie nicht aus dem freien Entschluß der Völker und ihrer Fürsten? Sind wir machtlos gegen irgendwelche dunkle Schicksalsmächte, welche unabhängig von uns die Räder der Weltgeschichte treiben, und wird der Wille der ganzen Menschheit unter ihrem eisernen Drucke zermalmt?
Ich kann mich zu einer so traurigen Geschichtsauffassung nicht bekennen. Wäre dem so, dann wäre kein Fortschritt ein Verdienst und kein Rückschritt eine Schuld, der Fatalismus würde seine dunkle Fahne längst weit hinausgetragen haben über die Grenzen des ottomanischen Reiches, und dumpf und thatlos würden die Völker in ihrem Schatten dahinleben.
Nein, der Wille der Menschheit bestimmt ihre Schicksale. Ich will damit natürlich nicht behaupten, daß die Weltgeschichte von Majoritäten gemacht werde. Wenn irgendeiner, so muß der Forscher, der die Ursachen der Ereignisse sucht, die Stimmen wägen und nicht bloß zählen, und der Einfluß des Einzelwillens hängt von der Macht des Wollenden ab. Wenn aber ein Wunsch so einmüthig von Mächtigen und Ohnmächtigen gehegt wird wie der Wunsch nach der Erhaltung des Friedens, dann muß dieser Wunsch auch in Erfüllung gehen. Die Furcht vor dem Kriege kann deshalb in unsrer Friedenssehnsüchtigen Zeit nur in dem Gedanken ihren Grund haben, daß irgendwelche Leidenschaften, Bestrebungen, Pläne und Gelüste in mächtigen Einzelwesen oder größeren Massen irgend eines Volkes entstehen könnten, welche den Wunsch nach Frieden in ihnen ertöten und den Wunsch nach Krieg entflammen. Nicht dunkle Mächte sind es, die von außen her in die Geschicke der Menschheit eingreifen, sondern die Gefühle der Völkerherzen – wenn ich diesen Sammelausdruck gebrauchen darf – sind die Kräfte, welche ihre Schicksale bestimmen. Und wer nun unter dem Eindruck dieses Gedankens einen Blick in die Seelen der Völker wirft, der wird die Kriegsfurcht [253] für berechtigt halten, welche, der Allgemeinheit der Friedenssehnsucht zum Trotze, bald mehr oder weniger drückend auf den Nationen Europas lastet. –
Von allen den Leidenschaften, Plänen und Gelüsten der Menschenbrust, die trotz der Friedenssehnsucht nicht aufhören, Unfrieden zu säen, ist die gefährlichste der Chauvinismus. Mehr oder weniger ist dieses Unkraut in allen europäischen Staaten emporgewuchert, und neuerdings hat es sogar in Amerika Bürgerrecht erworben. Nirgends aber hat es üppigere Blüthen getrieben als in Frankreich. Es ist kein Zufall, daß däs Wort „Chauvinismus“ französischen Ursprungs ist. Bei unseren westlichen Nachbarn entstand zuerst das Bedürfniß, für eine Charaktereigenschaft ein besonderes Wort zu bilden, zu deren Bezeichnung der Ausdruck „Nationalstolz“ nicht mehr auszureichen schien.
Die Satire, jene mächtige Waffe, die sich meist erst erhebt, wenn der Schaden, den sie bekämpfen soll, sehr tief empfunden wird, hat das Wort „Chauvinismus“ geschaffen. In dem Lustspiel von Scribe „Le soldat laboureur“ ist der Held ein Soldat der Armee Napoleons I., dessen Bewunderung für den Kaiser keine Grenzen kennt und dessen Nationalstolz alle guten Eigenschaften seines Volkes ins Ungemessene übertreibt und für alle schlechten Eigenschaften seiner Landsleute blind ist. Diese nicht eben sehr originelle Bühnengestalt, die schon in der Komödie des griechischen und römischen Alterthums ihr Vorbild hat, konnte nur deshalb in Frankreich so großen Eindruck machen, weil sie eine zur nationalen Eigenschaft gewordene Schwäche geißelte. Der Name des Scribeschen Lustspielhelden ist Chauvin – ein übrigens in Frankreich sehr verbreiteter Name – und nachdem sein Träger im Volksbewußtsein zum Symbol der Eigenschaft geworden war, die er geißeln wollte, wurde aus dem Namen selbst die sprachliche Bezeichnung dieser Eigenschaft abgeleitet.
Es ist durchaus kein Wunder, daß die verderbliche Eigenschaft, die nun überall mit dem Worte Chauvinismus bezeichnet wird, gerade in Frankreich ein so hervorragender Bestandtheil des Nationalcharakters geworden ist. Kein einziges Volk hat jemals einen so tief in alle Lebensverhältnisse eindringenden Welteinfluß ausgeübt wie das französische. Die Siege Ludwigs XIV. begründeten nicht nur für ein ganzes Jahrhnndert Frankreichs politisches Uebergewicht in Europa; sie trugen auch in alle Länder französische Sitte, französische Kunst, französischen Geschmack. Und mehr als das politische Uebergewicht empfindet der einzelne den Einfluß einer fremden Nation auf diesen Gebieten, weil er sich in allen seinen täglichen Lebensgewohnheiten und in allem, was ihn umgiebt, geltend macht. Und wieder waren es französische Siege, welche die Gedanken der Freiheit und der Menschenrechte über den Rhein und über die Alpen trugen; alle inneren Bewegungen europäischer Staaten in diesem Jahrhundert sind Wellen, die der Sturm der französischen Revolution erzeugt hat.
Nicht immer segensreich ist dieser Einfluß gewesen. Aber er ist unleugbar und nur mit dem Welteinfluß des alten Rom zu vergleichen. Wir begegnen noch heute seinen Spuren in den Rechtsbüchern von ganz Europa und wir empfinden ihn nach in einer noch immer nicht ganz überwundenen Abhängigkeit vom französischen Geschmack. Es ist nur natürlich, daß sich in einem Volke, welches mit so großem Erfolg und so lange Zeit hindurch in alle Verhältnisse anderer Nationen entscheidend eingegriffen hat, das Bewußtsein der Ueberlegenheit unausrottbar befestigt; es ist auch natürlich, daß es für dieses Bewußtsein immer wieder neue Nahrung verlangt, daß es seine Regierungen drängt, beständig Beweise seiner Ueberlegenheit zu geben, und, wenn diese dazu nicht imstande sind, nach Menschen sucht, denen es jene Fähigkeit zutraut, und daß es, wenn dies Bewußtsein durch Thatsachen, durch Niederlagen erschüttert wird, sich selbst belügt und mit Eifer danach strebt, es wieder fest und sicher aufzurichten.
Wer ihm dieses Bewußtsein stärkt, der wird nicht geehrt und gefeiert, nein, der wird vergöttert und angebetet, wie der geniale Feldherr Bonaparte, wie der Dichter Viktor Hugo, wie der redegewaltige Parlamentarier Gambetta. Und aus solchen Gefühlen ist auch die Legende erwachsen, die den General Boulanger länger als ein Jahr hindurch zum gefeiertsten Manne Frankreichs machte. Nur ist diese Legende für die Blindheit des französischen Chauvinismus um so vieles bezeichnender als alle früheren Sagenbildungen, die der erhitzten Phantasie des französischen Volkes entsprangen, weil es nie eine Ueberschätzung gegeben hat, die sich einer nichtigeren, unbedeutenderen Persönlichkeit zuwandte.
Die Geschichte seiner maßlosen Popularität ist nicht zu verstehen, wenn man nicht die Zustände kennt, die im Augenblick seines öffentlichen Auftretens in Frankreich herrschten. An der Spitze des Landes stand Präsident Grevy, der zu schwach war, um zu verhindern, daß sein eignes Haus zum Tummelplatz niedrigsten Streberthums und erbärmlichsten Eigennutzes gemacht wurde. Ein Ministerium leitete die Geschäfte, das in den inneren Kämpfen seine ganze Männlichkeit eingebüßt hatte, weil es sich verpflichtet glaubte, allen Fraktionen der republikanischen Partei genug zu thun. In der Verwaltung herrschte dieselbe Schwäche wie in der Politik. Eine sehr natürliche Unzufriedenheit mit dieser Mißwirthschaft fing an, sich im Lande zu regen, und eine allgemeine Auflehnung des Volkes bereitete sich vor.
Da begann der General Boulanger zuerst die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Und es ist nun sehr merkwürdig, wie das Wachsen seines Ansehens gerade durch dieselbe [254] Mißwirtschaft möglich wurde, die er bekämpfen sollte. Das mit Blindheit geschlagene französische Volk bemerkte gar nicht, daß sein Abgott seine Lebenskraft aus derselben trüben Quelle schöpfte, deren Verschüttung es von ihm erwartete. Er war damals – 1882 – Direktor der Abtheilung für die Infanterie im Kriegsministerium. Von seiner Vergangenheit wußte man wenig. Als Sohn eines Advokaten in Rennes im Jahre 1837 geboren, war er 1855 als Unterlieutenant in die Armee eingetreten, hatte in Afrika gegen die Kabylen, in Italien gegen die Oesterreicher gekämpft, war dann als Hauptmann den Kolonialtruppen nach Cochinchina gegangen und dort durch einen Lanzenstich verwundet worden. Im Kriege von 1870 kommandiert er das 114. Linienregiment bei der Vertheidigung von Paris. 1880 wird ihm die Führung der vierzehnten Kavalleriebrigabe übertragen. Im Jahre 1881 geht er als Chef der militärischen Gesandtschaft, welche die französische Regierung zur Jahrhundertfeier der amerikanischen Unabhängigkeit an die Vereinigten Staaten schickt, nach Amerika und tritt bei seiner Rückkehr in das Kriegsministerium ein. Es ist eine ziemlich schnelle, aber nicht ungewöhnliche Laufbahn, die hinter ihm liegt. Er hat sich überall tapfer und tüchtig gezeigt, wo er Gelegenheit dazu fand, aber sich vor anderen nicht in dem Maße als Stratege, Soldat oder Verwaltungsbeamter ausgezeichnet, daß seine Fähigkeiten zu großen Hoffnungen berechtigt hätten.
Als Direktor im Kriegsministerium begann er zuerst, die große Kunst zu üben, der er fast alle seine Erfolge verdankt, die Kunst, sich Freunde, sich Anhänger in allen Parteien zu verschaffen. Er benutzte den Einfluß seiner Stellung zu unerhörten Gunstbezeigungen; ihn hat niemand, selbst der Verdienstloseste nicht, vergebens um seine Huld gebeten. Nur unter einer so schwachen und selbst so zugänglichen Regierung war ein solches Treiben möglich. Als er im Jahre 1884 Divisionsgeneral in Tunis wurde, ließ er in Paris schon eine stattliche Schar von Bewunderern zurück, die ganz besondere Talente in ihm entdeckt zu haben glaubten, weil er ihnen nützlich gewesen war.
In Tunis nun fand er endlich die lang gesuchte Gelegenheit, von sich reden zu machen. Er reichte seinen Abschied ein, weil er dem Civilgouverneur unterstellt werden sollte. Und nun begannen die Freunde in Paris die Glocken für ihn zu läuten, an ihrer Spitze sein Duzfreund Clemenceau mit seinen radikalen Myrmidonen. So wurde er mit einem Male eine politische Persönlichkeit, weil sein Abschiedsgesuch den Kampf um ein politisches Prinzip entfesselt hatte.
In Deutschland ist die Ansicht ziemlich allgemein verbreitet, daß Boulanger seine Berufung ins Ministerium seinem Deutschenhaß, seiner Revanchesehnsucht, dem Chauvinismus der Franzosen verdanke. Diese Ansicht ist unrichtig. Boulanger wurde ins Ministerium berufen, weil man in ihm endlich einen demokratischen Kriegsminister gefunden zu haben meinte. Und auch der Ursprung seiner Volksbeliebtheit lag im Glauben an seine demokratische Gesinnung. Der Chauvinismus hat jene nur zu ihrer späteren Riesengröße angeschwellt. Als er im Januar des Jahres 1886 in das Ministerium Freycinet eintrat, begrüßten ihn die meisten republikanischen Blätter mit Sympathie, die radikalen aber mit einem wahren Triumphgeschrei. Nur das „Journal des Débats“ war empört, daß man das Portefeuille des Kriegsministers einem Radikalen ausgeliefert habe.
Die ersten Maßregeln, die Boulanger als Kriegsminister ergriff und über die soviel gespottet wurde, hatten alle ein demokratisches Gepräge. Wenn er den Soldaten erlaubte, einen Vollbart zu tragen, so ging er dabei von dem Gedanken aus, daß es eines freien Bürgers unwürdig sei, sich Vorschriften über die äußere Erscheinung machen zu lassen. Wenn er den Kasernen, die bisher die Namen Napoleon und Prinz Eugen getragen hatten, die Namen Bayard und Vauban beilegte, dann wollte er damit laut und deutlich seine republikanische Gesinnung bekunden. Wenn er den Unteroffizieren, Korporalen und Soldaten bis ein Uhr nachts Urlaub ertheilen ließ, so wollte er zeigen, daß die Offiziere in der Armee nichts vor ihren Untergebenen voraus haben sollten. Mit so großem Rechte sich auch die konservativen Blätter über diese Maßregeln lustig machten, ihre Wirkung war durch keinen Spott zu beeinträchtigen. Der demokratische General gewann sich durch sie die Herzen der Republikaner; denn man war der langweiligen Kriegsminister müde, die sich nur immer mit der Ausbildung und Organisation der Armee beschäftigten und dem republikanischen Geiste keine Huldigung darbrachten; man war froh, endlich einmal einen „politischen Kopf“ zum Kriegsminister zu haben. Und als nun in der Kammersitzung vom 13. März 1886 bei der Interpellation über das Verhalten der Soldaten gegen die aufständischen Kohlenarbeiter in Décazeville der General die denkwürdigen Worte sprach: „Vielleicht theilt jeder Soldat zur Stunde seine Suppe und sein Kommißbrot mit einem Bergmann,“ da konnte er schon auf eine ziemlich starke Partei im Lande zählen. Seine Rede in St. Cyr, wo er den Kadetten zurief: „Oeffnet Eure Herzen weit den Ideen Eures Jahrhunderts, laßt den Hauch des Fortschritts eindringen, der Eure Generation so hoch und so weit zu führen beginnt,“ seine Ansprachen bei Schützen- und Turnerfesten in Nantes und Limoges, in Romans und in Bourg, sie alle enthalten politische Anspielungen, wie man sie von Kriegsministern nicht zu hören gewohnt war. Und den Triumphen, die er an all diesen Orten feiert, weiß er meisterhaft durch die Presse ein weithallendes Echo zu geben. Schon wird seine Popularität den Republikanern bedenklich, und Ranc zuerst erhebt im „Matin“ seine warnende Stimme. „Die ganze republikanische Partei ohne Unterschied," so schreibt er am 16. Juli 1886, „wird nie einen General als Präsidenten der Republik noch als Ministerpräsidenten annehmen.“
Madier de Montjau dagegen, der greise Radikale mit dem jugendlichen Herzen, ruft in Valence bei einer Rede auf den auch dort gefeierten Kriegsminister unter stürmischem Beifall aus: „Nur der wird wirklich ein Volksheer schaffen, der auf der Tribüne gesagt hat, daß der Soldat sein Kommißbrot mit dem Arbeiter theilen würde.“
Nie hat ein Volk sich schwächlicher durch die Phrase und durch die Schmeichelei gefangen nehmen lassen als das französische durch Boulangers demokratische Allüren.
Schon ist seine Macht so groß geworden, daß er es ungestraft wagen kann, so hervorragenden Offizieren wie dem General Gallifet, dem Führer der todeskühnen Kavallerieattacke von Sedan, und dem General Saussier, dem Befehlshaber von Paris, öffentliche Verweise zu ertheilen. Ja er läßt diese Verweise – und dabei rechnete er auf den Eindruck, den alles Ungewöhnliche auf seine Landsleute zu machen pflegt – durch die offizielle Telegraphenagentur verbreiten und nun weiß er durch sein äußeres Auftreten der Begeisterung des Volkes immer neue Nahrung zu geben. Er ist ein guter, eleganter Reiter und erscheint bei der Parade in Longchamp auf einem herrlichen Rappen, dem so berühmt gewordenen Pferde, dem er, wie seine Gegner hehaupten, alle seine Erfolge verdankt. Man vergißt über diesem prächtigen Kriegsminister, der in der kleidsamen Generalsuniform so stattlich auf dem feurigen Araber die Front entlang sprengt, den unscheinbaren Grévy in seiner Präsidentenloge. Der eigentliche Vertreter der Republik an diesem Ehrentage ist der demokratische General. Und als er zurückkehrt vom Paradefeld, da umtobt ihn der tausendstimmige Jubel des Volkes. Nicht wie ein General, der eine Heerschau abgehalten hat, sondern wie ein Feldherr, der aus siegreichen Schlachten heimkehrt, reitet er durch den Triumphbogen in Paris ein. Diese Stimmung weiß er auszunutzen. Am 16. Juli weiht er den „Cercle militaire“ ein, einen Klub der Offiziere, der sich in der Bevölkerung einer größeren Beliebtheit erfreut als im Heere, und vor dem am Opernplatz gelegenen Gebäude läßt er Soldaten mit Fackeln vorbeiziehen. Der Pöbel von Paris dankt ihm für dieses Schauspiel mit einer jubelnden Huldigung. Am 17. Juli vergleicht der „Figaro“ schon die Stimmung der Bevölkerung mit der Begeisterung, die Louis Napoleon Bonaparte im Jahre 1850 entfesselt hatte, der „Soleil“ nennt die Huldigung vor dem Cercle militaire sogar die „Apotheose Boulangers“, und Delafosse schreibt in einem unter dem Titel „Vive Boulanger“ im „Matin“ erscheinenden Artikel, daß das Land in seinem Durste nach Abwechslung dem General volle Freiheit gebe, zwischen Brumaire und Fructidor[20] [255] zu wählen. Das Schreckgespenst des Staatsstreichs ist an die Wand gemalt.
So sieghaften Erfolgen erwächst nun ein mächtiger Verbündeter in der Person des Liedersängers Paulus, des Lieblings der Pariser, des Königs der Cafés chantants.
Es ist fast unglaublich, welche Macht der Popularisierung dieser französische Liedersänger besitzt. Er ist imstande, die blödsinnigsten Gassenhauer mit der größten Schnelligkeit von einem Ende Frankreichs zum andern zu verbreiten, so daß sie jede Magd in der Küche singt, jeder Gassenjunge auf der Straße pfeift. Aber noch niemals hat er mit einem Liede solchen Erfolg erzielt wie mit dem weltberühmten „En revenant de la revue“. Ein dümmeres Lied ist kaum je gedichtet worden, und auch die Melodie hat keinen andern Vorzug als den, daß man gut nach ihr marschieren kann. Sein Erfolg war nicht mehr dem demokratischen Gedanken allein zu danken – hier beginnt die Wirkung des Chauvinismus, der bis jetzt nur geheimnißvoll an der boulangistischen Legende mitgewirkt hatte, an die Oberfläche der Bewegung zu treten. Es war natürlich, daß es so kommen mußte.
Der Demokrat, welcher Kriegsminister geworden war, war zugleich Soldat, und weckt schon der Anblick jeder Fahne, jeder Uniform im leichterregbaren Herzen des Franzosen kriegerische Gelüste, wieviel mehr eine Uniform, die getragen wird von einem mit Begeisterung verehrten Manne, von dem man auch die innere Heilung der Republik erwartet. Der Jubel, mit dem allabendlich in der „Scala“ das Marschlied des Paulus begrüßt wurde, hat keinen poliaschen Charakter mehr, sondern entspringt rein patriotischen Gefühlen. Trotzdem das Lied keine einzige Anspielung auf die „große Rache“ enthält, die dem französischen Patrioten als leuchtendes Bild der Zukunft vor der Seele schwebt, schlummert doch die Revancheidee unter dieser Verherrlichung der Armee und ihres obersten Befehlshabers, und so kam es, daß der alberne Vers:
„Ma tendre épouse bat les mains
Ma bell’ mère pouss’ des cris
En voyant v’nir les Saint-Ciriens;
En regardant les spahis:
Moi je n’fais qu’ admirer
Le brav’ général Boulanger.“
von der Galerie der „Scala“ oft mit einem „à bas la Prusse“, „Nieder mit Preußen“, beantwortet werden konnte.
Vom Café chantant aus schreitet nun der Chauvinismus schon durch die Spalten der Zeitungen, die Gestalt Boulangers mächtig vergrößernd, seine kärglichen kriegerischen Verdienste ins Ungemessene übertreibend. Wie eine große Heldenthat preisen die Blätter des Generals – und eine große Anzahl in Paris und in der Provinz stehen ihm schon zur Verfügung – das lächerliche und ergebnißlose Duell zwischen ihm und Lareinty, welches die Folge jener Interpellation über die Ausweisung der Prinzen im Senat war. Schon zehn Tage nach der Komödie auf dem schwarzen Pferde schreibt Ph. de Grandlieu im „Figaro“ unter dem Titel „Boulanger c’est la guerre“ einen Artikel, in welchem folgende Worte vorkommen: „Man braucht nicht lange nachzudenken, um zu begreifen, daß der einzige General, der imstande ist, Frankreich endgültig zu meistern, derjenige ist, welcher dem trauernden Patriotismus die Genugthuung für Metz und Sedan verschaffen wird. Und das ist der Gedanke, der sich unter diesem Parade-Enthusiasmus verbirgt. Ja, dieser General will den Krieg, und, um ein Wort zu wiederholen, das, wie man mir versichert, ausgesprocheu worden sein soll, der neue Fructidor wird nur das Vorspiel sein zu einem zweiten Marengo.“[22]
In derselben Zeit erscheint eine Karikatur, die darstellt, wie Raben mit Pickelhauben auf den Köpfen von der französischen Grenze stieben, wo Boulanger als Vogelscheuche aufgestellt ist. Darunter stehen die Worte:
„Les vieux corbeaux Teutons semblent glacés d’effroi
Au moindre vent soufflant de Lorraine et d’Alsace;
Boulanger, ombre en chair, au ventre leur fait froid
Et c’est avec terreur qu’ils évitent la place.“
Ein Organ schafft sich der Chauvinismus im „Etendard“, der in blau-weiß-rothem Umschlag erscheint und gleichsam als Motto unter dem Titel „Le général Revanche“ ein im patriotischen Delirium geschriebenes Gedicht veröffentlicht. Ich will davon hier nur die letzten Strophen anführen:
„Tire nous de l’abîme ou notre orgueil se traine,
Conduis nos légions au glorieux chemin;
Rends nous l’honneur! Rends nous l’Alsace et Lorraine,
Reviens en ramenant les deux soeurs par la main.
Alors tu seras tout, tu seras l’aube blache
Que le pays attend sur le vieux RHin en feu;
Tu seras plus qu’un roi, tu seras plus qu’un Dieu,
Car tu seras la France, o général Revanche!“
Dieses Gedicht erschien ungefähr gegen Ende des Jahres 1886. Die Bewegung war auf ihrer Höhe angelangt. In der „Scala“ sang jetzt Marius Richard ein Lied, das allabendlich Stürme von Beifall entfesselte. In diesen Verseu feiert der Chauvinismus Orgien. „Ich will Deinen Namen nicht wissen,“ so heißt es darin, „wir nennen Dich Hoffnung, die Bräute bringen Dir ihre Verlobten, die Mütter ihre Söhne, die Matrosen kommen aus der Tiefe des Atlantischen Oceans und schwellen die Fluthen der Ostsee mit preußischem Blute.“ Die Soldaten schreien ihm „Vorwärts!“ zu und die Toten von 1870 versprechen ihm, ihn zum Gotte zu machen. Elsaß-Lothringen bittet ihn, es dem Vaterlande wiederzugeben. „Mit einem Blitze Deines Säbels,“ so heißt es zum Schlusse, „erwecke die Morgenröthe! Zeige unseren Fahnen den Weg zum Rheine! Erscheine! Wir erwarten Dich, General der Rache!“
Um dieselbe Zeit wird auf den Boulevards ein „Almanach du général Boulanger“ ausgerufen der einen Lebenslauf des Kriegsministers enthält, in welchem folgende Stelle bezeichnend ist: „Der General ist erfüllt von seiner Sendung, er fühlt, daß er die Keime unsres Schicksals und unsres zukünftigen Ruhms in der Hand hält, daß die Fahne, die man ihm anvertraut hat, noch die Spuren unserer Thränen trägt, und daß ein Tag kommen wird, an dem dies Symbol des zerrissenen Vaterlandes wieder aufleben wird in einer verheißenen Rache. Dazu müssen wir bereit sein; dazu müssen wir – und das weiß der Minister – ohne Rast arbeiten und schließlich aus allen Bürgern Männer, aus allen Männern Soldaten, aus allen Soldaten Helden machen.“
Nur die auffallendsten Auslassungen des chauvinistischen Boulangismus habe ich hier zusammengestellt. Die Zahl der in Zeitungen, Flugblättern, Broschüren erschienenen Ausgeburten des patriotischen Paroxysmus um die Wende des Jahres 1886 ist unübersehbar. Die boulangistische Partei war zu einer gefährlichen Masse angeschwollen, und schon konnte Rochefort, als die Stellung des Kriegsministers im Januar 1887 durch die Haltung des Parlaments gegenüber den ungeheuren Forderungen für die Armee erschüttert war, in seinem „Intransigeant“ mit der Revolution drohen. „An dem Tage, an welchem Boulanger gestürzt wird“ – so heißt es in einem Leitartikel des sozialistischen Blattes – „wird der Aufruhr durch Paris toben und die Armee wird nicht auf der Seite der Regierung stehen.“
In diesen ersten Monaten des Jahres 1887 unternimmt nun auch der Boulangismus seinen Flug in die hohe Politik. In boulangistischen Blättern zuerst wird der Gedanke eines Bündnisses mit Rußland ausgesprochen, der mit unbegreiflicher Macht das ganze Land begeisterte. Einen wie großen Einfluß auf die [256] Verbreitung dieses Gedankens man dem Kriegsminister zuschrieb, beweist jene Abordnung russischer Patrioten, die im Februar 1887 in Paris erschien. Sie überreichte dem General einen Ehrensäbel, auf dessen Klinge die Worte eingraviert waren: „Qui vive? La France et Boulanger!“ Auf der andern Seite der Klinge stand in russischer Sprache: „Wag’s! Gott schützt die Kühnen“; auf dem Bügel: „Au plus digne 1887 la Russie“, „Dem Würdigsten 1887 Rußland“. Was Wunder, daß man bei solchen Vorkommnissen im In- und Auslande die Nachricht eines antiboulangistischen Blattes glaubte, das behauptete, Boulanger habe einen Brief an den Czaren geschrieben?
Die wirksamste Unterstützung fand diese Idee des russisch-französischen Bündnisses bei der Patriotenliga. Diese Patriotenliga war[25] ein bald nach dem Kriege von 1870 entstandener, über ganz Frankreich verbreiteter Verein, der es sich zur Aufgabe machte, den Durst nach Rache für Sedan und die Sehnsucht nach den „geraubten Provinzen“ im französischen Volke aufrecht zu erhalten. An ihrer Spitze stand eine der seltsamsten Erscheinungen des modernen Frankreich, der Dichter Paul Deroulède. Es ist keine Uebertreibung, wenn man ihn die Verkörperung des französischen Chauvinismus nennt. Durch seine im Jahre 1872 erschienenen „Soldatenlieder“, die in zehn Jahren einundneunzig Auflagen erlebten, hatte er sich in Frankreich bekannt gemacht. Diese Lieder zeugen von einem nicht gewöhnlichen Talent, athmen glühende Vaterlandsliebe und fanatischen Preußenhaß und bringen jene maßlose Selbstüberschätzung zum Ausdruck, welche die unfehlbare Begleiterscheinung des Chauvinismus ist. Keine Persönlichkeit schien geeigneter, an der Spitze einer Vereinigung zu stehen, die sich für berufen hielt, dem Chauvinismus immer neue Nahrung zuzuführen.
Trotzdem hab’ ich mich nie einer gewissen Rührung enthalten können, wenn ich am französischen Nationalfest diesen Apostel der Revanche in seinem langen grünen Ueberzieher, mit dem langen, ganz altmodischen Cylinder auf dem Kopfe und in den langen Armen – alles ist lang an diesem Menschen – einen Riesenkranz haltend, an der Spitze der Liga über die Boulevards schreiten sah, als ob er mit einem Trauergefolge hinter einem Leichenwagen herschritte. Es lag so viel ehrlicher Schmerz in seinem Gesicht, in seiner ganzen Haltung, daß die Sympathie für die Persönlichkeit fast die Verwerflichkeit seiner Bestrebungen für Augenblicke vergessen ließ. Stumm legte er dann – da die Regierung jede Rede streng untersagte – seinen Kranz vor der mit Flor umhüllten Statue von Straßburg auf dem Eintrachtsplatz nieder, und Kränze häuften sich auf Kränze, bis das Postament der Statue aussah wie ein geschmücktes Grab.
Es war natürlich, daß eine so beschaffene Vereinigung mit solchem Führer zum Bundesgenossen des Boulangismus werden mußte. In ungeheurer Verblendung über die strategischen Fähigkeiten des Generals hatte Deroulède in einer Sitzung der Liga die bezeichnenden Worte ausgesprochen: „Mit einem solchen General an der Spitze wird unsere Armee siegreich ohne Bündnisse gegen die ganze Welt kämpfen.“ Dennoch wurde er der eifrigste Agitator für das unnatürlichste Bündniß, das je zwischen zwei Mächten zustande gekommen ist.
Trotzdem damals die Wogen des Boulangismus, vom Sturme der Revanche-Idee bewegt, so hoch gingen, darf man nicht glauben, daß die Bevölkerung des ganzen Landes steuerlos auf ihnen trieb. In Deutschland hatte man natürlich das Anwachsen der chauvinistischen Bewegung mit wachsamen Blicken verfolgt. Und als im Januar 1887 der Streit um das Septennat entbrannte und ein Wahlkampf von beispielloser Heftigkeit durch das ganze Reich tobte, da konnte es nicht ausbleiben, daß der General Boulanger in den Reden und Schriften der Septennatsfreunde eine wichtige Rolle spielte.
Die Rückwirkung dieser deutschen Agitation auf die Stimmung in Frankreich äußerte sich nach zwei verschiedenen Richtungen hin. Die besonnenen Republikaner wurden immer mehr zu der Ueberzeugung gedrängt, daß Boulanger die größten Gefahren für das Land heraufbeschwören würde, und ein wahrer Sturm der republikanischen Blätter gemäßigter Richtung erhob sich gerade in diesen Monaten gegen den Kriegsminister. In keinem Lande ist dieser General durch Zeitungsartikel, durch Karikaturen und durch Flugblätter so lächerlich gemacht, mit so grimmigem Spotte überhäuft worden wie in seinem eignen.
Die andre Wirkung der deutschen Agitation war aber die, daß die Radikalen ein Mittel gewannen, den so hart angegriffenen General als ein Opfer des Fürsten Bismarck hinzustellen.
Je heftiger jedoch die Sprache der radikalen Blätter wurde, desto heftiger wurden auch die Angriffe der monarchistischen und der gemäßigten Presse. Als die Boulangisten die Wahlen im Elsaß vom 21. Februar 1887, aus denen die Protestler als Sieger hervorgingen, mit Jubel begrüßten und die Statue von Straßburg mit Flaggen schmückten, verurtheilte die gesammte gemäßigte Presse dieses hetzerische gefährliche Treiben; und als endlich am 20. Mai das Ministerium Goblet gestürzt wurde, gab es in Paris einundzwanzig Blätter, die für, und zweiundzwanzig, die gegen das Verbleiben Boulangers im Ministerium eintraten. Bis in die Reihen der Patriotenliga hinein übte der Boulangismus seine zersetzende Macht. Am Ende des Juli spaltete sich diese, und die Gemäßigteren ernannten Delmans zu ihrem Präsidenten.
So hatte die wahnsinnige Uebertreibung des Chauvinismus eine Reaktion hervorgerufen, die der Giftpflanze des Boulangismus bald ein Ende bereitete. Der tolle Abschied, welchen 25 000 Pariser dem General bei seiner Abreise nach Clermont-Ferrand – er sollte dort das dreizehnte Armeecorps kommandieren – auf dem Lyoner Bahnhof bereiteten, war das Grabgeläute für alles das, was chauvinistisch an dieser Bewegung war. Die traurige Rolle, die der gestürzte Kriegsminister dann später als entlassener General und Politiker spielte, hat nur noch sehr wenig mit dem Chauvinismus zu thun. Boulanger hat vielmehr in allen den zahlreichen Reden und Kundgebungen, mit welchen er sein Vaterland noch anderthalb Jahre lang beunruhigte, fast nie versäumt, zu versichern, daß er den Frieden wolle. Mit richtigem Instinkt hat er herausgefühlt, daß ohne diese Versicherungen irgend welche Wahlerfolge in den industriellen Bezirken des Departements Nord und den ackerbautreibenden Distrikten des südlichen Frankreichs gleich unmöglich sein würden. Denn er wußte, daß die große Masse des französischen Volkes wohl gern einmal den Säbel rasseln hört, aber doch zu verständig ist, um ihn im Rausche der patriotischen Phrase zu ziehen. Die Wahlsiege Boulangers sind der Ausdruck der Unzufriedenheit gewesen, die weit im Lande verbreitet war und in den Enthüllungen der Presse über den Ordensschacherer General Cassarel und Wilson, den Schwiegersohn des Präsidenten Grévy, eine triftige Begründung zu finden schien. Es liegt deshalb außerhalb der Grenzen unsres Themas, dem General Boulanger nach Clermont-Ferrand zu folgen und ihn bei seinen politischen Umtrieben zu beobachten. Es ist bekannt, wie er, wegen Disciplinlosigkeit gemaßregelt und endlich aus der Armee gestoßen, sich als Kandidat bei allen Ersatzwahlen mit einem Programm aufstellen ließ, in welchem die Reform der Verfassung der Angelpunkt war, eine Reform, welche die Wiedergeburt des Cäsarismus ohne Zweifel zur Folge gehabt hätte, wenn sie hätte verwirklicht werden können. Seine schmähliche Flucht aus Paris in dem Augenblick, wo sich ihm die Gelegenheit geboten hätte, zum Märtyrer seiner Ueberzeugung zu werden, hatte schon die meisten seiner ehemaligen Verehrer darüber aufgeklärt, daß in der Brust dieses Mannes nicht die heilige Flamme der Begeisterung
[257][258] lohte, die allein Großes zu wirken vermag, sondern daß die alleinigen Beweggründe seines Handelns ein sehr kurzsichtiger Ehrgeiz und eine unersättliche Genußsucht waren.
Und dieser Ueberzeugung hat er durch den Tod, den er sich gab, selbst die Bestätigung verliehen. Wer das Scheitern aller seiner politischen Hoffnungen und Lebenspläne leichter ertragen kann als den Tod seiner Geliebten, wer seine Ehre und die Achtung seines Volkes wohl, aber nicht seine Maitresse überleben kann, der ist nicht aus dem Holze gemacht, aus welchem die Helden revolutionärer Bewegungen geschnitzt werden. –
Wir haben an dem Beispiel des Generals Boulanger den Chauvinismus bis zu jener Linie verfolgt, wo er in frevelhaftem Wahne mit dem Feuer zu spielen und zu einer schweren Gefahr für ein Volk, nein, für eine ganze Völkergruppe zu werden beginnt. Wir Deutsche dürfen uns, ohne den Vorwurf pharisäischer Selbstgerechtigkeit fürchten zu müssen, das Zeugniß ausstellen, daß uns der Chauvinismus in dieser höchsten Steigerung bis heute fremd geblieben ist. Wohl sind auch auf deutschem Boden vereinzelte Erscheinungen zu Tage getreten, welche den Stempel des Chauvinismus tragen. Aber niemals hat dieser Geist fast das ganze Volk mit solch schrankenloser Macht in seinen Dienst zu zwingen, niemals die Regungen der Vernunft und des Gewissens so tyrannisch niederzutoben vermocht, wie es bei unserem westlichen Nachbar der Fall war. Im Gegentheil: es wäre unsern deutschen Landsleuten zu wünschen, daß jener gute Geist, welcher im Chauvinismus nur verzerrt erscheint, daß der Nationalstolz noch mehr, als es bisher geschah, all ihr Thun und Lassen durchdringe, jener echte Nationalstolz, der ebenso fern ist von feiger Demuth wie von thörichter Selbstüberhebung, der nur die Herzen erfüllt mit dankbarer Begeisterung für das hohe Gut, das uns geworden: ein großes starkes Vaterland!
Blätter & Blüthen.
Allerlei Weisen und Märlein. Ein liebenswürdiges Dichtergemüth, das ein Stück Eichendorffscher Naturschwärmerei mit Anklängen an Scheffels sinnenfrohe Art verbindet, tritt uns entgegen aus den Dichtungen Josef Bendels, welche uns unter dem eingangs genannten Titel, von Ernst Juch mit hübschen Zeichnungen versehen, gesammelt vorliegen (Wien, R. v. Waldheim). Der Poet verfügt über mannigfaltige Töne: das stimmungsvolle Lied, die kräftigeren Klänge der politischen Lyrik, die munter und behaglich daherfließende gereimte Erzählung, das alles finden wir in seinen „Weisen und Märlein“, und man darf sich durch den Titel nicht irre führen lassen, in ihnen nur Verse für Kinder zu suchen. Als eine Probe von Josef Bendels dichterischer Art diene das folgende Gedicht:
Ostermorgen.
Ein Jubel tönt durch helle Lüfte,
Ein tausendstimmiger Freudenruf,
Es wallt empor wie Weihrauchdüfte
Aus Flur und Wald, und rings erschuf
Auf der erstorb’nen freudeleeren Erde
Ein neues Leben das allmächt’ge „Werde“.
Die Sonne steigt in hell’rem Glanze
Am wolkenlosen Himmel auf
Und bricht des Winters letzte Schanze
In unhemmbarem Siegeslauf,
Es keimt und knospet, treibt und sprießt, entfaltet
Die Erstlingsblüthen, grünet und gestaltet.
Ein sel’ger Auferstehungsmorgen!
O tritt hinaus, wo alles lebt,
Daß es den schweren Stein der Sorgen
Vom Grabe deiner Freuden hebt.
Ist Glaube, Hoffnung, selbst die Lieb’ erstorben,
O tritt hinaus – und neu sind sie erworben.
Vermißten-Liste. (Fortsetzung aus Halbheft 7 des Jahrg. 1891.)
239) Ein Vater sucht seinen einzigen Sohn, den Steuermann Johann Carl Gustav Halem, geb. am 10. Mai 1859 zu Sülten bei Schwerin in Mecklenburg. Die letzte Kunde von dem Vermißten traf im Jahre 1887 von der Halbinsel Florida in Nordamerika ein.
240) Emil Hermann Schmerbach, Kellner, geb. am 6. Februar 1872 zu Aschersleben, verließ im Mai 1888 seine Vaterstadt. Mitte desselben Jahres erbat er sich von Göttingen aus Geld, das ihm auch, wie gewünscht, postlagernd gesandt wurde. Seitdem fehlt jede Nachricht über Schmerbach, obschon er das Geld seinerzeit in Göttingen noch erhoben hat.
241) Von seinem Bruder wird gesucht der Schneidergeselle Wilhelm Kaufmann, welcher im Jahre 1843 zu Skaisgirren bei Margen geboren ist und noch im Jahre 1886 aus Tilsit schrieb.
242) Von dem Glasmachergehilfen Heinrich August Bruno Schiller, welcher zu Weffalla den 26. August 1870 geboren wurde, erhielten die Angehörigen den letzten Brief aus Gerlebock bei Gröbzig in Anhalt.
243) Wilhelm Preißler, Glasspinner, geb. am 30. Jan. 1871 zu Reichenau bei Gablonz, entfernte sich am 20. Mai 1889 von seinem Geburtsorte, und drei Tage danach erhielt der Vater desselben als letztes Lebenszeichen seines Sohnes eine Postkarte aus Zittau in Sachsen.
244) „Deine tiefbetrübten, schon hochbetagten Eltern haben das herzliche Verlangen, Dich vor ihrem Abscheiden noch einmal zu sehen!“ Diese ergreifenden Worte gelten dem Tischlergesellen Gustav Louis Beyer, welcher am 8. Apr. 1867 zu Hermsdorf in Sachsen-Altenburg geboren und seit dem Jahre 1889 verschollen ist.
245) Eine bejahrte Mutter sucht ihren einzigen Sohn, den am 6. Febr. 1864 zu Torgau geborenen Carl Otto Franz Reichenbach. Er begab sich im Mai 1882 nach Hamburg, um sich dem Seedienste zu widmen, und soll von da nach Brasilien gefahren sein. Am 4. Febr. 1883 aber schrieb er bereits wieder aus Hamburg; das darauf an ihn abgesandte Antwortschreiben seiner Angehörigen erhielt er nicht mehr, da er schon am 6. Febr. wieder auf See gegangen war. Im Jahre 1884 kam noch einmal Kunde von dem Verschollenen, indem er sich, der Inhaber des Berechtigungsscheins zum einjährig-freiwilligen Dienst war, von Hamburg aus sein Taufzeugniß erbat und zwar behufs Zurückstellung im Militärdienste.
246) Der Geschäftsreisende Gotthelf Kempinski, welcher zu Kreuzburg (Oberschlesien) am 7. Juni 1865 geboren ist, ersuchte in einem Schreiben aus Box Hill in Australien im Jahre 1888 nur Antwort unter der Adresse „postlagernd Ballarat in Australien“. Die an den Verschollenen unter dieser Adresse gerichteten Briefe sind als unbestellbar zurückgekommen.
247) Von dem am 8. März 1854 zu Blumberg, Kreis Niederbarnim, geborenen Carl Grothe, welcher im Januar 1878 von seinem Heimathsort nach Amerika auswanderte, ist seit Februar 1878 keine Nachricht mehr gekommen. Seines Standes war Grothe Sattler.
248) Tobias Stöhser (Ahles), geb. am 3. März 1833 zu Schornbach bei Schorndorf in Württemberg, wird von seinen Angehörigen gesucht.
249) Der am 15. November 1874 zu Gröbern bei Meißen in Sachsen geborene Handlungslehrling Ernst Toepfer wird seit dem 28. Oktober 1889 abends vermißt. Er war zu Magdeburg in Stellung.
250) Vier Brüder Namens Martens werden von ihren hochbetagten Eltern gesucht, nämlich Johannes Friedrich Julius, genannt „John“, welcher am 30. November 1845 zu Neuenrade geboren ist, in Braunschweig und Itzehoe als Weinküper thätig war und die letzte Nachricht aus dem Staate Illinois gab, Andreas Christian August, geb. am 24. November 1849 ebenda, Maschinenbauer, zuletzt in Californien, Ernst August Ehrenreich, geb. am 19. Juli 1858 ebenda, Gärtner, zuletzt in London, Friedrich Ernst Nikolaus, geb. am 14. März 1863 ebenda, Seemann auf der Brigg „Edith“, zuletzt in Portland, Maine.
Das Schuhausziehen. (Zu dem Bilde S. 237.) Es ist am Morgen des Ostermontags. Noch ist es nicht Zeit zum Beginn des Gottesdienstes. Da hat das Mädchen auf dem Lande wie überall so auch in England noch allerlei zu besorgen, und nicht immer ist es ihr möglich, dies innerhalb der schützenden Hecke zu thun, die Haus und Garten umschließt. Vorsichtig lauscht sie durch die hohe Gatterthür, ob sich wohl draußen etwas regt. Sie hört nichts; es gilt nur einen kurzen Sprung zur Nachbarin; sie schlüpft hinaus. Aber noch ist sie keine zwanzig Schritte weit, da kommen aus dem nächsten Hofe vier junge Bürschlein von höchstens fünfzehn Jahren auf sie zugestürzt und umringen sie mit dem Geschrei: „Löse Deine Schuhe aus! Löse Deine Schuhe aus!“ Und ehe sie sich’s versieht, hat man ihr den einen und sofort auch den andern Schuh geraubt. Lachend stürmen die Knaben fort, um ihre Beute in Sicherheit zu bringen, und sie, die keinen Penny bei sich hat, kehrt in Strümpfen oder barfuß ins Haus zurück, ärgerlich, daß sie sich hat überlisten lassen, und noch ärgerlicher, daß drüben aus dem Giebelfenster einer schmunzelnd herausschaut und sich an ihrer Verlegenheit weidet. Wehe ihm, daß er ihr nicht geholfen hat – er soll es heute abend büßen! Und wenn sie morgen seinen neuen Hut erwischt, so fliegt derselbe unfehlbar ins Feuer, der Ungetreue mag ihr bieten, was er will!
Noch ist sie kaum zur Hausthür gelangt, da tönt wieder lautes Halloh! Die losen Buben haben ein zweites Opfer erwischt. Andere fahren also auch nicht besser – ein schlechter Trost, allein immerhin ein Trost! Vielleicht verbrennt sie morgen seinen Hut doch nicht und thut nur so, um ihn eine Weile zappeln und bitten zu lassen. Aber vor vier Wochen bekommt er ihn bestimmt nicht zurück – er müßte denn grade ... Aber er kann mit ihr doch unmöglich ohne Hut zum Tanze gehen! – – Vielleicht läßt sie noch einmal Gnade für Recht ergehen.
Indessen die Schuhe? Wie die Schuhe wieder bekommen? Sie kann doch unmöglich ihre besten Schuhe im Haus anziehen. Betrübt tritt sie [259] in die Küche. Da pocht’s ans Fenster. Draußen steht so ein loser Strick, hält ihr die Schuhe dicht ans Gitter und ruft: „Löse Deine Schuhe aus!“ Schweren Herzens reicht sie ihm einige Pence hinaus und erhält – einen Schuh zurück. Den andern muß sie mit einem neuen Opfer auslösen.
Es ist eine eigenthümliche englische Sitte, die wir hier unseren Lesern
vorgeführt haben, und es ist schwer, für sie eine vollwichtige Erklärung zu finden. Jedenfalls steht sie im Zusammenhang mit einer Reihe anderer Osterbräuche, in denen ebenfalls jener Zug der Gegenseitigkeit, des Schlags und Gegenschlags, des Neckens und Vergeltens zutage tritt. A. T.
Fünfundzwanzig Jahre Frauenarbeit. Kürzlich hat eine der angesehensten Gesellschaften Oesterreichs, der „Wiener Frauen-Erwerb-Verein“, das erste Vierteljahrhundert ihres wie an Arbeit so auch an außerordentlichen Erfolgen reichen Daseins vollendet. Ihre Gründung
fiel in die Zeit, in der sich auch in Oesterreich die Frauenbewegung Geltung zu schaffen begann. Sie wandte sich von vornherein an die Mädchen und Frauen der besseren Stände, deren Erwerbsfähigkeit sie zu dem Zwecke zu fördern gedachte, um ihrer Erwerbsthätigkeit neue Quellen des Verdienstes zu erschließen. Dabei sollte, allen den Adel der Arbeit leugnenden Vorurtheilen zum Trotze, der natürliche Beruf und die sociale Stellung des Weibes gewahrt und die Gefahr, statt treue Gehilfinnen entschiedene Konkurrentinnen und Gegnerinnen der Männer heranzubilden, nach Möglichkeit vermieden werden. Theils dieses allen übertriebenen Emanzipationsbestrebungen gegenüber streng umgrenzte Programm, theils die patriotische Begeisterung, welche nach den Tagen des Jahres 1866 die Frauen Oesterreichs ergriffen hatte, half dem neu gegründeten Verein über alle Schwierigkeiten des Anfangs hinweg. Zuerst wurde eine Nähstube eröffnet, bald darauf eine Handelsschule, eine gewerbliche Zeichenschule, eine höhere Arbeits- und eine höhere Bildungschule, welch letztere, mit einem dem Programm der Realgymnasien verwandten Lehrplan ausgerüstet, aus dem sich immer mehr fühlbar machenden Bedürfnisse nach erweiterter schulgerechter Bildung des weiblichen Geschlechtes hervorgegangen war.
Inzwischen hatte der Verein der Staatsdruckerei eine Anzahl von Mädchen, über welche eine eigene Kommission die Oberaufsicht führte, für die Kouvertfabrikation zur Verfügung gestellt und mit der Ausbildung von Telegraphistinnen dem weiblichen Geschlecht einen für dasselbe außerordentlich geeigneten Erwerbszweig erschlossen, dem heute Hunderte von Frauen in Oesterreich eine gesicherte Stellung zu verdanken haben. Der Wohlthätigkeitssinn der „Ersten österreichischen Sparkasse“ und der besten Gesellschaftskreise Wiens setzte den Verein schon Ende 1874 in den Besitz eines eigenen Hauses, womit das letzte Hinderniß für die großartige Entwicklung seiner Schulen gefallen war. Zur Handelsschule gesellte sich ein Uebungskomptoir, die Bildungsschule wurde um zwei Jahrgänge erweitert, und in rascher Aufeinanderfolge entstanden eine Maschinenstrickerei-, eine Kunststickerei- und Feinwäschereischule, ein Frisier- und ein Spitzenkurs, Ateliers für kunstgewerbliche Maltechniken und für Musterzeichnen, neben denen sich die älteren Lehranstalten des Vereins, die Sprachschulen, die Schneidereischule etc., dauernd behaupteten.
Sein Jubiläum hat der „Wiener Frauen-Erwerb-Verein“ so ernst und würdig begangen, als es seinen Bestrebungen nur immer entsprechen mag. Er veranstaltete eine Schulausstellung, welche einen vollständigen Ueberblick über seine bisherige Thätigkeit bot. Die dabei zu Tage tretenden Erfolge fanden ihre Erklärung darin, daß der „Wiener Frauen-Erwerb-Verein“ stets in der Zeit für die Zeit geschaffen und niemals über der Gegenwart die Zukunft vergessen hat! R. v. E.
Kampf zwischen Schweden und Tataren. (Zu dem Bilde S. 241.)
Im Verlaufe des siebzehnten Jahrhunderts führten die Schwedenkönige
Karl IX. und Gustav Adolf langjährige Kriege mit Polen. Auch Karl X.,
der Nachfolger von Gustav Adolfs Tochter Christine, war noch 1654 in
einen solchen verwickelt. Das Bild Werner Schuchs stellt eine Kampfscene aus diesen Feldzügen dar, bei welchen es zwischen den Schweden und den mit Polen verbündeten Tataren zu häufigen Scharmützeln kam. Der schwedische Reitersmann durchbohrt den einen Tataren mit seiner Lanze, während der andere mit hochgeschwungenem Schwerte dem Gegner das Haupt zu spalten droht. Die kämpfenden Reiter und die sich bäumenden Rosse bilden eine lebensvolle Gruppe.
Der Name „Tataren“ hat eine schwankende Bedeutung. Ursprünglich
nannte man so die Mongolen, dann die stammverwandten und von ihnen
unterworfenen Völker. Gegenwärtig bezeichnet man damit in der Regel
jene aus einer Vermischung der Mongolen mit türkischen Bestandtheilen
hervorgegangene Völkerschaften, die ihrer Körperbildung nach mehr zur
mongolischen Rasse, ihrer Sprache nach aber zur türkischen Völkerfamilie
gehören. Dem russischen Reiche einverleibt, wohnen sie im Süden desselben, im Kaukasus, am Ural, an der Wolga und helfen stets die leichte
Reiterei des Czarenreichs bilden. Zur Zeit jener Kriege mit den Schweden
führten sie nicht nur das Schwert, sondern auch Pfeil und Bogen: der
mehr im Hintergrunde des Bildes befindliche heransprengende Reiter hat
den Bogen gespannt, um mit einem Pfeilschuß die sich nähernden Schweden
zu begrüßen. †
Spottvögel. (Zu dem Bilde S. 248 u. 249.) Einen eigenartigen
Uebergang von Waldleuten zu Wasserleuten bilden in solchen Landschaften,
wo wasserreiche Ströme aus Bergwäldern ins Flachland treten, die
Flößer. In den Bergwäldern heimisch und aufgewachsen, sind sie meist
mächtige Gestalten, wetterbraun und eisenstark. Ihr Beruf wechselt
zwischen schwerer gefahrvoller Arbeit und fröhlicher Wanderschaft; und
das muß auf ihr ganzes Wesen Einfluß gewinnen.
Auf den meisten der Bergströme, welche die Donau von Süden her, aus den Alpen, aufnimmt, geht heute noch fröhliche Floßfahrt, wenn auch nicht mehr so lebhaft als vordem. Von den Flößern werden die Flöße hoch droben in den Alpenländern an den einsamen Ufern der Bergströme, des Lech und der Isar, des Inn, der Salzach und der Traun, zusammengestellt. Die schwere blinkende Axt und die zweimännige Balkensäge sind das ganze Werkzeug, das zum Bau eines solchen Floßes verwendet wird. Der Bau ist nicht gefahrlos; handelt sich’s doch um ein beständiges Hantieren mit wuchtigen, rollenden, viele Centner schweren Baumstämmen.
Ist das Floß zusammengestellt und mit seiner einfachen Last – Brettern, Kalk, Bausteinen und dergleichen – beladen, dann geht die Fahrt thalab durch Wirbel und Stromschnellen auf weißschäumenden Wogen. Dieselben Fäuste, die das Fahrzeug gebaut, müssen es jetzt steuern bis hinunter in die große Stadt. Tagelang, oft wochenlang währt die Fahrt vom grauenden Morgen bis in die sinkende Nacht, bis endlich das Floß zum letzten Male an die Lände sich legt. Nun wird es an den Holzhändler oder Sägemüller abgeliefert; die Flößer, die es bisher gesteuert, nehmen ihren Lohn in Empfang, schultern ihre Aexte, beladen sich mit den schweren Tauen, mit denen sie ihr Floß bei den Landungen angebunden haben – und dann geht die Reise wieder heimwärts, den Bergen zu. Früher machten die Flößer diese Wanderungen zu Fuß; jetzt fahren sie mit der Bahn so weit als möglich. Aber wo die Eisenbahnen enden und jene stilleren Bergthäler beginnen, aus deren Inneren die Flöße kommen, da muß auch heute noch zu Fuß gegangen werden! Das ist aber auch eine wahre Lust; denn jetzt sind ja die kühnen Gesellen wieder im Banne der heimischen Wälder, jedes Dorf ist ihnen ein alter Bekannter, und man kann es ihnen nicht verargen, wenn sie überall, wo ein kühler Trunk zu haben ist, Einkehr halten.
Unser Bild zeigt uns etliche solcher Gesellen, wie sie im letzten Dorfe vor der Heimath noch einmal rasten. Aus der sonnigen Wirthsstube fällt der Blick hinaus in das grünende Alpenthal. Ueber dem Tische hängt als Wahrzeichen ein kleines zierlich gezimmertes Floß, wie man es so ziemlich in allen Wirthshäusern findet, die an floßbaren Strömen liegen. Um den Tisch aber sitzt eine fröhliche Gesellschaft, offenbar in heiterster Laune, und zwischen der schlagfertigen Freundin der Wirthstochter und den männlichen Gästen hat sich eines jener schneidigen Witzgefechte entsponnen, um die man diese einfachen Gebirgsleute mit Recht bewundert. Der junge Mensch dabei ist wohl ein Jagdgehilfe aus der Umgebung – sein Gewehr hängt an der Wand. Die drei schnurrbärtigen Männer aber mit den Spitzhüten auf den Köpfen sind heimwandernde Flößer, prachtvolle, urechte Gestalten.
„Spottvögel“ hat der Künstler sein Bild genannt, und in der That lacht aus diesen Gesichtern fröhlicher gutmüthiger Spott, der keinem Herzen weh thut. Ein sonniger, heiterer, sommerfrischer Zug liegt über dem Ganzen und läßt uns schauen, wie fern von dem lebenverzehrenden Treiben der Städte, in grünen Waldthälern der Mensch noch Stunden hat, wo er rastend nach harter Arbeit sich rückhaltlos des Daseins freut.h.
Das deutsche Gurkenland. Die größten Gurkenfelder in Deutschland
findet man in den Niederungen der Unstrut und der thüringischen Saale
bis nach der Elbe hin. Die Orte Großengottern, Heldrungen, Naumburg a. d. S., Weißenfels, Kalbe a. d. S. und Zerbst und deren nächste
Umgebung treiben den Gurkenbau und Gurkenhandel im großen. In jenem
Abschnitte des Sommers, welchen man mit dem bezeichnenden Namen
„Sauregurkenzeit“ belegt hat, beginnt die eigentliche Ernte. In ganzen
Wagenladungen, theils mit Pferdefuhrwerk, theils mit der Eisenbahn,
werden die Gurken nach den größeren Marktplätzen der Umgegend, nach
Erfurt, Leipzig, Halle, Magdeburg, Berlin gebracht, um dort Schock um
Schock (1 Schock = 60 Stück) in andere Hände überzugehen, vornehmlich
zum Einmachen.
Ein ähnlicher aber minder lebhafter Gurkenhandel besteht in der Pfalz und in dem benachbarten Baden, sowie in einigen anderen Gegenden, in der Nähe von Bamberg, Liegnitz etc.
Ein großes Absatzgebiet in Deutschland hat die holländische Gurke, welche namentlich aus dem Haarlemer Meer und aus der Gegend von Venlo kommt. In der „Frühsaison“ beherrscht sie den Markt bis nach Berlin hin. Ihr eigentliches Absatzgebiet sind aber die volkreichen Gegenden von Rheinland-Westfalen, wo die „Kukumere“ (vom lat. cucumis) ein gesuchter und gut bezahlter Artikel ist. Der Holländer verkauft die Gurken nach dem Hundert.
Die Kaffeeriecher. (Zu dem Bilde S. 257.) Nicht ohne Kampf
hat sich der Kaffee, der braune Sohn der Tropen, den breiten Boden der
europäischen Kulturwelt erobert, auf dem er heute eine fast uneingeschränkte
Machtstellung einnimmt. Politisches Mißtrauen witterte in dem Kaffeetrinker einen gefährlichen Neuerer, besorgte Staatsoberhäupter sahen mit
bedenklichem Blicke das viele Geld für den theuren Artikel ins Ausland
strömen.
Zu den letzteren zählte kein geringerer als der Große Friedrich von Preußen. Er meinte, die Leute sollten sich wieder an das Bier gewöhnen, das wäre zum besten ihrer eigenen Brauereien und im übrigen „seien Seine Königliche Majestät Höchstselbst in der Jugend mit Biersuppe erzogen worden, mithin können die Leute ebensogut mit Biersuppe erzogen werden“; das sei viel gesünder als der Kaffee, an den sich jetzt „ein jeder Bauer und gemeine Mensch“ gewöhnt habe. Um seinen Zweck zu erreichen, führte er eine ziemlich hohe Kaffeesteuer ein und errichtete eine besondere Kaffee-Administration, deren Beamte der Volksmund „Kaffeeriecher“ nannte.
Auch das benachbarte Hessen-Kassel hatte seine „Kaffeeriecher“. Dort hatte der Landgraf Friedrich im Jahre 1766 zum Schrecken und Aerger der zahllosen Kaffeetrinker ein umständliches Verbot erlassen, welches jeden, besonders aber die Leute auf dem Lande, mit schweren Strafen bedrohte, so sich einer fortan des „Gesundheit und Vermögen schädigenden Trankes“ bedienen würde.
Daß das Verbot keine oder jedenfalls nicht genügende Wirkung hatte, sieht man daraus, daß es 1774 in erweiterter und verschärfter Form wiederholt werden mußte. Inzwischen aber hatte man es wohl verstanden, dem verpönten Genuß heimlich zu fröhnen.
Die Kaffeekränzchen blühten, und es ist anzuerkennen, daß in jenen Tagen die Hessen-Kasseler Damen mehr Muth brauchten, wenn sie zu
[260] ihren „Schlachten“ auszogen, als dies gemeinhin heutzutage der Fall sein dürfte. Denn „das Auge“ – oder in diesem Falle richtiger „die Nase des Gesetzes wachte“! Die Diener der öffentlichen Ordnung schnüffelten allenthalben herum, ob nicht von irgendwoher der verdächtige und leider so schwer zu verheimlichende Duft des Kaffeeröstens sich bemerkbar mache. Sie drangen in die Häuser und in die Stuben, spionierten in Tassen und Töpfen, und manchmal mag ein biederes Kränzchen ein Ende mit Schrecken genommen haben. Auch auf unserem Bilde scheinen die Schergen wirklich einen guten Fang gethan zu haben. Denn das junge Dämchen, das dem Beschauer den Rücken kehrt, würde kaum die Kanne unter dem Tischtuch verstecken, wenn ihr Inhalt nicht belastend für das Kleeblatt werden könnte. Und grimmig genug schauen die Wächter des Gesetzes drein, als wäre mit ihnen nicht zu spaßen! Aber vielleicht geht’s auch hier noch, wie es den Soldaten des Fürstbischofs von Paderborn gegangen sein soll: als diese nach der Stadt Paderborn rückten, um die Bevölkerung für eine auf offenem Markte veranstaltete Kaffeekneiperei zu strafen, da habe die Sache damit geendet, daß schließlich Bürger und Soldaten brüderlich miteinander aus einem Topfe den verfehmten Kaffee tranken!
Zum Abschluß eines Musterwerkes. Gegen Ende des vorigen
Jahres ist zu freudiger Ueberraschung deutscher Naturfreunde der zweite
Band des Werkes „Pflanzenleben“ von Anton Kerner von Marilaun erschienen. Wir haben auf den Schluß dieses prachtvollen Buches wegen
einer langwierigen Krankheit des Verfassers mehr als zwei Jahre warten
müssen. Nun liegt dasselbe vollendet vor und bietet uns einen Einblick in das geheimnißvolle Leben der Pflanzen, wie er bislang durch kein Werk in der Litteratur aller Völker geboten wurde. „Das Pflanzenleben" Marilauns ist kein Buch, wie wir solche als „Floren“ verschiedener Art kennen; es schildert uns vielmehr das wirkliche Pflanzenleben, die Kämpfe der Kinder der Flora um das Dasein, ihre Sorgen für die Nachkommenschaft und klingt schließlich aus in einer wahrhaft großartigen Geschichte der Pflanzen.
Mit demselben ist ein schönes Unternehmen des Bibliographischen Instituts in Leipzig zum Abschluß gelangt, das Unternehmen, welches den Titel „Allgemeine Naturkunde“ führt. In höherem populären Sinne haben vier berühmte deutsche Forscher verschiedene Gebiete des Wissens einem weiten Leserkreise dargelegt. In dem Werke „Der Mensch“ hat Johannes Ranke ein klares Bild der Anthropologie entworfen; Friedrich Ratzel hat meisterhaft die „Völkerkunde“ bearbeitet, Neumann mit markigen Strichen die „Erdgeschichte“ gezeichnet und Kerner von Marilaun ein Gegenstück zu Brehms Thierleben geschaffen.
Die Verlagshandlung hat die neun Bände der „Allgemeinen Naturkunde“ glänzend ausgestattet; gegen 4000 trefflich ausgeführte Holzschnitte, 130 Chromotafeln und viele Karten ergänzen die klaren Worte der Meister. *
Erste Liebe. (Zu unserer Kunstbeilage.) Der Maler wird zum Dichter in der Allegorie. Wie dieser die Worte, so schafft
jener körperliche Formen fur ideale Begriffe. Wie
singt doch der Dichter, indem er die erste Liebe schildert:
„O zarte Sehnsucht, süßes Hoffen!
Der ersten Liebe goldne Zeit!
Das Auge sieht den Himmel offen,
Es schwelgt das Herz in Seligkeit –“
Der Maler aber zaubert uns ein kindliches Amorettenpärchen vor: mit Schmetterlingsflügeln, zarten duftigen Schmetterlingsflügeln, deren Schmelz jeder rauhe Griff zerstort, schwingt es sich durch den unendlichen Aether in seliger Weltvergessenheit, und sein einziger Halt auf dem schwindelnden Fluge – er ist eine Seifenblase, schillernd wohl in allen Farben des Regenbogens, lustig und schön, aber eben doch – eine Seifenblase. Ein Hanch nur, und sie zerplatzt – zerflossen ist der schone Traum, jäh zu Ende das verzückte Schweben im schrankenlosen Raume, mit gebrochenen Flügeln liegt das Glück.
So spiegelt sich die erste Liebe in den Gedanken des Malers, der unser Bild geschaffen. Aber er läßt uns das tragische Ende nur ahnen – schauen dagegen die blühende, glückliche Gegenwart, an die man glauben muß. „O daß sie ewig grünen bliebe!“
1. f 2 — f 3 K d 5 — c 6
2. d 4 — d 5 † K c 6 – d 5
3. S d 3 — e 5 matt.
1. ... ... K d 5 — d 4 :
2. S d 3 — e 5 † K d 4 — e 3
3. S e 5 — g 4 matt.
1. ... ... h 4 — h 3
2. D d 1 — a 4 beliebig.
3. D d 7:, b 5 oder S f 4 matt
1. ... ... K d 5 — c 4
2. D d 1 — b 3 † K c 4 — d 4
3. L h 2 — g 1 matt.
1. ... ... d 7 — d 6
2. S d 3 — f 4 † K d 5 — c 6, c 4
3. D d 1 — a 4 matt.
Auf 1. ...... c 5 — d 4: folgt 2. D d 1 – a 4 etc. und auf 1. .... c 5 – c 4 2. S d 3 – b 4 matt.
1. g 5 — h 6 1 D a 7 — f 6 † †
2. b 4 — c 5 und gewinnt; denn Schwarz verliert, da jetzt Zugzwang eintritt, durch den nächsten Zug des Gegners die Dame und einen Stein.
[Verlagswerbung:]
- ↑ Heinrich von Inzing, der 21. Propst des Klosters Berchtesgaden, 1333–1351.
- ↑ Der Markt Berchtesgaden führt in älteren Urkunden neben „Berhthersgademe“ und „Perchtensgaden“ auch den Namen „Berchtoldsgaden“; der Volksmund sagt noch heute „Bertlsgaden“.
- ↑ Steinwild gab es im Watzmann- und Wettersteingebiet bis gegen Ende des 14. Jahrhunderts; die Erfindung der Feuerwaffen machte dem edlen Wilde in den bayerischen und Tiroler Bergen den Garaus. „Dann als die Hanndpuxen aufkummen sein,“ heißt es in Kaiser Maximilians Weißkunig, „hat man angefanngen, damit die Stainpökh zu schiessen, das durch die pawrsleut beschehn ist, die dann, wo Sy über das wildpret kumen, kein maß halten, sondern Irer pawrnart nach ausöden.“
- ↑ Königssee.
- ↑ Brigitte.
- ↑ Dialektische Verstümmelung des Ausrufes: „Ach, Jesus!“
- ↑ Benediktbeuern, in der Nähe von Tölz, ehemals eines der reichsten und mächtigsten Klöster, 740 gegründet, 1803 säkularisiert.
- ↑ Lautet gesprochen: „Wollwoll“ = ja.
- ↑ Schwächlich, unscheinbar.
- ↑ Lawinen.
- ↑ Kapelle und Klause, 1234 erbaut, an der Stelle des heutigen Jagdschlosses Bartholomä.
- ↑ Lachsforelle.
- ↑ Der Biber nährt sich in Wirklichkeit nicht von Fischen, sondern von Pflanzenkost; doch wurde er im Mittelalter als Fischfresser mit dem Otter in eine Reihe gestellt.
- ↑ In Niederbayern, an einem Nebenbache der Vils gelegen, Spuren der Burgruine finden sich noch heute.
- ↑ Schneefrei.
- ↑ Sind so süß.
- ↑ Wer sich die Schicksale des Dichters ins Gedächtniß zurückrufen will, der findet einen Abriß seiner Lebensgeschichte im Jahrgang 1883 der „Gartenlaube“, Seite 80.
- ↑ Es war am Abend des 27. März 1882, am 12. November desselben Jahres starb Kinkel unerwartet.
- ↑ Vergl. Verhandlungen der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Aerzte (Leipzig, F. C. W. Vogel. 1891)
- ↑ Am 18. Fructidor des Jahres V (=4. September 1797) rettete die Direktorialregierung durch einen Staatsstreich die französische Republik vor dem Andringen der Royalisten. Am 18. Brumaire des Jahres VIII (=9. November 1799) stürzte, wiederum durch einen Staatsstreich, Bonaparte das Direktorium und machte sich zum Ersten Konsul.
- ↑ Das heißt in freier Uebersetzung:
„Mein theures Weibchen applaudiert,
Kommt der Kadett dahermarschiert;
Der Schwiegermutter Auge glüht,
Wenn reiten sie die Spahis sieht,
Doch ich bewundre nur und seh’
Den tapfern General Boulanger.“ - ↑ Bei Marengo erfocht Bonaparte nach seinem Staatsstreich den ersten Sieg gegen die auswärtigen Feinde Frankreichs, gegen die Oesterreicher.
- ↑
„Die alten teutonischen Raben, sie wollen vor Schreck schier vergehen,
Wenn noch so leise die Winde aus Elsaß und Lothringen wehen;
Ein Schatten in Fleisch und Bein, macht Boulanger, der Held,
Sie klappern bis in die Knochen: sie räumen entsetzt das Feld.“ - ↑
„Rett’ uns vom Abgrund, schwer liegt unser Stolz danieder,
Führ’ unser Heer den Pfad zum alten Ruhmesland,
Gieb uns’re Ehre uns, Elsaß, Lothringen wieder;
Die beiden Schwestern führ’ zurück an Deiner Hand.
Dann wirst Du alles sein: der Morgenröthe Tagen,
Die, heiß ersehnt im Land, durchflammt den alten Rhein;
Kein König wird Dich dann, kein Gott selbst überragen,
O General Revanche, denn Du wirst – Frankreich sein!“ - ↑ Ich sage „war“, weil sie auf Antrag des Ministeriums Tirard am 11. März 1889 aufgelöst wurde.