Die Gartenlaube (1887)/Heft 7
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No. 7. | 1887. | |
Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. — In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. — In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 25 Pfennig.
Lucie athmete auf, als sie am Fuße der Treppe im Meerfeldt’schen
Hause stand; „die gnädige Frau sei beim Herrn Großpapa
und spiele Schach mit ihm, da Mademoiselle Kopfweh habe,“ berichtete
der alte Diener.
Lucie sagte, man solle sie nicht stören, sie wolle oben warten. Und nun saß sie in der sinkenden Dämmerung allein in einem der Fauteuils, den schmerzenden Kopf an die Lehne gepreßt, und in wirrem Reigen kreuzten sich marternde Gedanken hinter ihrer Stirn.
Was hatte sie gethan? War sie wahnsinnig gewesen? Er und sie getrennt für immer? Sie griff zum Herzen; es war, als sollte es stocken.
„Recht habe ich gethan! Recht!“
Dann erfaßte sie eine unbezwingliche Sehnsucht nach Hortense, um ihr zu sagen: „Hilf mir! Ich bin schutzlos, haltlos!“ - Sie stand auf und setzte sich an den Schreibtisch. Das Blotting book lag aufgeschlagen, darauf ein leeres Briefblatt. Sie tauchte die Feder ein und schrieb:
„Lieber Georg!
Nimm mich vorläufig wieder auf bei Dir, ich kann Adler nicht heirathen. Alles Nähere mündlich; verdamme mich nicht ungehört!
Deine Schwägerin Lucie.“
Sie überlas die Zeilen wieder und wieder; dann saß sie und dachte, wie es sein würde, wenn der Brief in der Oberförsterei anlangte; welch einen Sturm würde er aufrühren! Sie sah den Schwager am Frühstückstisch, die Postsachen lagen vor ihm „Da ist auch wieder ein Wisch von Lucie!“ hörte sie ihn sagen, „was Teufel, der ist an mich?“
Sie sah die Zornader beim Lesen sich zwischen den buschigen Brauen ringeln und hörte den Schlag mit der Faust auf den Tisch, sah ihren Brief der blassen Schwester zufliegen. „Da haben wir’s! Ich werde der Gans heimleuchten, solch verd… Unsinn!“
Und Mathilde würde weinen während des Scheltens, ohne ein Wort zu sagen, Sie meinte die Tropfen zählen zu können, die auf den blassen Wangen herunter liefen. Sie kannte solche Scenen; sie hatte sie oft, hundertmal miterlebt – und dennoch, dennoch tausendmal lieber das, als jenes kalte malitiöse Lächeln seiner Mutter, als seine pedantische gelassene Art!
Nun war es fast dunkel und noch immer saß sie allein. Sie meinte, es nicht länger ertragen zu können; da endlich öffnete sich die Thür.
„Hortense!“ schrie das Mädchen auf und flüchtete zu der schlanken Gestalt hinüber.
„Du?“ fragte die junge Frau verwundert; und als sie das Zittern des Körpers fühlte, „was ist Dir, Kind.“
„Laß mich bei Dir bleiben – heute – ich habe ihm gesagt, daß – ich ihn nicht liebe.“
Hortense’s Arme schlossen sich fester um die Freundin. „Du hast recht gethan! Bleibe bei mir!“
„Nur jetzt, nur vorläufig, Hortense.“
[102] „Nein, immer, immer!“
„Hier? Das ist ja unmöglich! Ach, Hortense, mir ist so wirr, so schwer im Kopf –.“
„Hier bleiben – jetzt? Nein, Lucie! Nun reisen wir. – Laß mich, ich will Licht anzünden. Die Dunkelheit taugt nicht.“
Als die Flamme aufsprühte, ward Hortense erst die verstörten Züge des Mädchens gewahr. „Arme Maus,“ sagte sie, „so schwer ist es Dir geworden?“
„Ich habe eine Angst, eine Angst!“ stammelte Lucie.
„Du hast einfach recht gethan,“ unterbrach Hortense sie und drückte sie sanft in einen Stuhl. „Trinke ein Glas Wein, Du bist schwach. Und nun laß uns gute Kameraden sein, ich stehe zu Dir, was auch kommen möge, und so Gott will, trennen wir uns nie mehr, wir haben Beide genug von dem sogenannten Glück – wie?“
Lucie schüttelte den Kopf; ihre Zähne schlugen wie im Frost auf einander.
„Aber, Kind, wie ist es denn gekommen? Ich bitte Dich, alterire Dich nicht so, Du kannst ihm nur den kleinen Finger hinstrecken, wenn’s Dich gereut – und Du hast ihn wieder.“
Das Mädchen machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand, aber sie trank den Wein, den Hortense ihr an die Lippen hielt. Eine bleierne Müdigkeit legte sich über ihre Glieder. Wie im Traume hörte und sah sie, daß ein zweites Lager in Hortense’s Schlafzimmer hergerichtet wurde, und fühlte die seidene Decke über sich. Eine weiche leise Hand hüllte sie ein, und ein paar zarte Lippen preßten sich auf die ihren.
„Schlafe wohl, wir bleiben nun immer beisammen.“
„Immer,“ wiederholte das Mädchen, und dann schlief sie ein.
Doktor Adler hatte auch geschrieben, noch denselben Abend,
und zwar an Lucie’s Schwester.
Er bat sie, dem Mädchen nicht zu zürnen, besonders den Schwager zur Milde zu stimmen. Er sei sich bewußt, sein Theil Schuld an der veränderten Sinnesart des Mädchens zu tragen, da er leider wenig das Zeug besitze, einen aufmerksamen Damenhelden vorzustellen, auch habe Lucie ihn noch zu wenig gekannt, als er ihr das Wort abverlangte, und das sei wiederum sein Fehler gewesen. Fürs Dritte und Letzte aber glaube er, daß seine Mutter dem Mädchen nicht mit der erforderlichen Wärme und Herzlichkeit entgegengetreten sei, da sie schon andere Pläne für ihn gehegt, und das habe eine so feinfühlige Natur nothwendig verletzen müssen. Er sei trotzdem der festen Zuversicht gewesen, daß mit der Heirath alle diese schroffen Kanten sich geglättet haben würden. Nun, da es anders gekommen, bitte er um das Eine, das Mädchen in dem alten Zufluchtsort wieder aufnehmen zu wollen.
Er sprach kein Wort in dem Schreiben von seinem gekränkten Herzen, er entschuldigte nur.
Nachdem er den Brief gesiegelt, trug er ihn selbst zur Post und trat dann so gelassen wie immer zu seiner Mutter in die Wohnstube.
„Lucie läßt sich entschuldigen,“ begann er ohne Umschweife, „sie ist bei Frau von Löwen.“
„Natürlich!“ unterbrach ihn die alte Dame, die noch in ihrem Kaffeestaat – sie war eben heimgekehrt – vor dem Spiegel stand und ihre Blondenhaube abnahm.
„Wo sie auch bleiben wird, bis sie zu ihren Verwandten zurückkehrt,“ setzte er hinzu. Und als ein paar staunende Gesichter ihn sprachlos ansthauten, vollendete er: „Rike mag nachher die nothwendigen Sachen hinüber tragen.“ Und als noch immer das nämliche fassungslose Schweigen herrschte, setzte er wie ungeduldig hinzu, indem er nach der Thür schritt: „Lucie hat mir ihr Wort zurückgegeben.“
„Sie – Dir?“ fuhr die Mutter auf „Umgekehrt – willst Du sagen!“
„Nein, bedaure, sie – mir. Ich hätte nie daran gedacht. Entschuldigt mich, ich habe zu arbeiten.“
Er überließ es den Damen, allein mit dieser Neuigkeit vertraut zu werden, verriegelte die Thür hinter sich und saß in der Sofa-Ecke im Dunklen lange Zeit. Auf einmal wischte er sich über die Augen, sprang hastig auf und zündete Licht an, und der Lampenschein spiegelte sich in einem großen Tropfen, der an seinen Wimpern hing. Unbehilflich trocknete er ihn ab, es war die erste Thräne, seitdem er aus den Kinderschuhen getreten.
Nun nahm er den winzigen Ring, den sie getragen, und verschloß ihn in einem Schubfach, in welchem er allerlei Andenken verwahrte: seines Vaters goldene Tabaksdose, Pfeifenköpfe aus der fröhlichen Studienzeit, sein Cerevis und Kommersbuch. Dann rückte er die Lampe näher zu einem aufgeschlagenen Hefte und versuchte zu lesen, er saß lange so und starrte hinein, ohne zu wissen, was er vor sich hatte.
Zwei Tage später standen in dem Schlafzimmer der Frau
von Löwen ein paar große Reisekoffer, und das Stubenmädchen
schleppte die einfach eleganten Kleider der Herrin aus der Garderobe herzu, auf jedem Stuhle lag etwas, was eingepackt werden
sollte, Handschuhkästen, Bücher, Papier, Schreibmappe, Operngläser. Lucie knieete stumm vor ihrem Reisekorb, den gestern
Abend Rike mit Hilfe der Waschfrau gebracht, und schaute auf
die flüchtig hineingeworfenen Sachen, ohne sich zu rühren. Sie
sah unheimlich blaß aus.
„Was soll ich nur mitnehmen?“ fragte sie dann müde die junge Frau.
„Nicht zu viel. Du mußt schon erlauben, daß wir in Berlin Dir zu Liebe die Bekanntschaft mit meinem Schneider erneuern. Es soll ja gar nichts Großartiges werden, aber ein Reisekleid und eins für die Table d’hôte muß man haben. Du kannst unmöglich in dem hellen Kattunkleidchen in den Koupés sitzen.“
„Ach, Hortense, laß mich hier – mich ängstigt das.“
„Jetzt hörst Du auf oder ich werde böse!“ schalt die junge Frau. „Kleinigkeitskrämerin Du! Um ein paar Groschen Reisegeld machst Du solch gewaltigen Lärm? Ich bin tausendmal tiefer in Deiner Schuld – muß denn Alles nur nach Geldeswerth berechnet werden? Geh’ von Deinem Koffer, Minna wird das besorgen.“
Lucie setzte sich still ans Fenster und sah hinaus auf den einsamen Hof. Mademoiselle ging eben langsam nach der Gartenpforte, sie hielt einen grellrothen Sonnenschirm aufgespannt und streifte verdrießlich die Fenster der jungen Frau.
„Bös Wetter!“ sagte diese lächelnd. „Sie ist außer sich, daß sie daheim bleiben muß. Ich mag sie aber nicht mithaben, sie hat in jedem Hôtel eine Scene mit dem Zimmerkellner und kommt regelmäßig erst zum Vorschein, wenn man kaum noch Zeit hat, in den Zug zu springen. Sie mag allein auf Urlaub gehen, wenn wir einmal zurückkehren, meinetwegen auch früher.“
Nun ward die Schelle gezogen. „Da kommt der Briefträger,“ meinte Minna.
Lucie erschrak. Sie konnte schon Antwort haben von der Schwester. Das Herz schlug ihr zum Zerspringen. Dann flog sie vom Sessel empor und stand zitternd mitten in der Stube. „Barmherziger Gott – mein Schwager!“ stammelte sie.
Hortense war ebenfalls unangenehm berührt, sie kannte aus des Mädchens Schilderung hinlänglich seine derbe Manier. Um Alles in der Welt, nur keine Scenen! Sie sandte die Dienerin mit der Weisung hinunter, die Damen seien noch bei der Toilette, ob der Herr Oberförster sich eine halbe Stunde gedulden möge? Sie ging dem Mädchen nach und bog sich über das Treppengeländer.
„Ich wünsche Fräulein Walter zu sprechen,“ scholl es herauf. Das Mädchen antwortete dem Befehle gemäß.
„Oho!“ hörte sie die nämliche kräftige Stimme, „bestellen Sie nur dem Fräulein Walter, sie möchte sich erinnern, daß sie mir fast jeden Morgen im Hauskleide den Kaffee eingeschenkt hat.“
In diesem Augenblicke tönte der Ruf des alten Herrn von Meerfeldt dazwischen:
„Daß der Blocksberg wackelt! Remmert, sind Sie es wirklich?“
Und von der andern Seite ein lautes: „Ja, Herr Baron, so kommen die Menschen zusammen; aber lieber wäre es mir gewesen, hätten wir uns bei einem fidelen Treiben gesehen. als hier. Ich will eben meiner Schwägerin einmal die Leviten lesen.“
[103] „Ei, das können Sie später noch thun, jetzt kommen Sie nur herein! Peter, ein kleines Frühstück in das Speisezimmer! – Trinken Sie immer noch so gern Rothspohn, Remmert?“ –
Hortense kam lächelnd zurück. „Der ist besorgt und aufgehoben,“ sagte sie. „Er frühstückt mit Großpapa, und zwei Jagdkumpane zusammen beim Glase Wein – da ängstige Dich nicht, er thut Dir nichts, Luz!“
Auch über Luciens Gesicht flog ein Lächeln. Sie kannte ihren Schwager, wenn er gut gespeist und noch besser getrunken hatte; es war früher eine Quelle großer Heiterkeit für sie gewesen. „Ach, wenn Mathilde das wüßte!“ sagte sie.
„Daß er frühstückt, Lucie?“
„Er redet dann so viel,“ erklärte das Mädchen.
„Also doch wenigstens eine hervorragende Tugend.“
„Er ist sonst so gut, Hortense.“
„Sonst?“ sprach diese spöttisch.
„Er wird mich holen wollen.“
„Wir schicken ihn schon allein heim, Kind.“
Stunde auf Stunde war vergangen, da kamen schwere Tritte den Korridor entlang und Hortense öffnete die Thür selbst auf ein mächtiges Klopfen. Oberförster Remmert trat über die Schwelle, kreuzvergnügt, am Arm den alten wackligen Großpapa, dessen Antlitz eitel Sonnenglanz war über die unverhoffte, angenehme Unterbrechung seines einsamen Lebens.
„Na, Du Krott,“ schrie der große stattliche Mann das blasse Mädchen an, nachdem er vor Hortense eine Verbeugung gemacht, „hast den Handel aufgekündigt? Dann nur marsch! Pack’ ein! In Deiner Stube zu Hause hat Mathilde schon wieder Vorhänge aufgesteckt.“
„Er macht nur Spaß, kleines Fräulein,“ rief der Baron und krähte wie ein alter Hahn vor Lachen. „Er weiß schon, Sie reisen mit meiner Enkelin. Remmert, verderben Sie doch dem Kinde die Freude nicht!“
„Georg,“ bat Lucie demüthig, die unter der Wucht seiner schweren Hand, mit der er ihre Schulter gepackt hatte, fast zusammenbrach. „Georg, verzeihe mir, ich konnte nicht anders.“
„So! Du konntest nicht anders? Schöner Grund das –! Deine Schwester heult wie ein Wolf,“ fuhr der Oberförster mit gleich lauter Stimme fort. „Wir hatten gedacht, Du bist versorgt, und nun fängst Du solche Thorheiten an! Na, nun mach’ ein anderes Gesicht, Du Krott, Mathilde wird sich ja wohl trösten. Sieh zu, daß Du einen Andern bekommst, der Dir besser gefällt! Daß Du eine Dummheit gemacht hast, darüber sind wir wohl einig, was? Aber die Weiber, Herr Baron, die Weiber!“ wandte er sich an diesen, „und die Walters insbesondere, die haben den Teufel in sich! Meine Frau, dem Krott seine Schwester, die wollte mir noch zuguterletzt –“
Hier brach er in ein so herzliches, gutmüthiges Gelächter aus, daß der alte Herr und Hortense mit einstimmten.
„Mir den Laufpaß geben,“ fuhr er fort, „weil ich mich auf unserem Polterabend etwas – Pardon, gnädige Frau – angekneipt hatte. Da fand ich sie in einer Fensternische, und sie weinte zum Gotterbarmen. – Sag’ mal, Lucie, hat der Adler etwa auch –?“
„Nein, o nein!“ wehrte das Mädchen nervös.
„O Ihr Weiber! Na, dann leb’ wohl, Du kleiner Satan; Du mußt nicht etwa denken, daß ich Dir zürnen will, dazu ist mir Deine Schwiegermutter zu scheußlich. Aber er dauert mich, wahrhaftig, Lucie, er dauert mich, der arme Kerl sieht ganz blaß aus.“
„Du warst bei Adlers?“ fragte das Mädchen, die vor ihm stand. Er hielt schon geraume Zeit ihre Hand in der seinen und schüttelte sie unaufhörlich.
„Das soll wohl sein! Na, ich danke, die Gnädige, sie fauchte wie eine angeschossene Wildkatze. Aber der arme Kerl!“ wiederholte er. „Na, ich gehe jetzt zu ihm, habe ihn zu Mittag geladen in die ‚Goldene Krone‘ – darum keine Feindschaft nicht, nein! Adieu, gnädige Frau! Also Mathilde werde ich grüßen. Leben Sie wohl, Herr Baron, wie schon gesagt vorhin, Majestät hat bei der letzten Jagd siebzehn kapitale Stück auf der Strecke gehabt, und der Herzog nicht viel weniger.“
Er kniff Lucie noch einmal in die Wangen und verließ mit dem alten Herrn das Zimmer, noch vom Hausflur herauf scholl sein lautes Sprechen und Lachen.
Als er den Hof verlassen, erfüllte eine befremdende Stille Haus und Gemach. Hortense und Lucie standen am Fenster. „Nun ist’s vorbei, nun sind die Brücken hinter mir abgebrochen,“ sagte das Mädchen, sich umwendend, und legte ihre Arme um den Hals der jungen Frau.
„Weine nicht,“ sagte diese etwas ungeduldig, „Du wirst bald auf andere Gedanken kommen, wenn Du hier heraus bist. Das ganze Leben ist doch eigentlich keine Thräne werth.“
„Ich weine nicht,“ erwiderte Lucie. Und in der That, ihre Augen waren trocken, aber sie hatten einen Ausdruck von Trostlosigkeit.
Fast ein Jahr war vergangen. In dem elegant ausgestatteten
Zimmer eines großen Hotels in Dresden erwachte ein junges
Mädchen an einem wonnigen Maimorgen, blinzelte schläfrig in
die Goldfunken, die sich durch die nicht völlig geschlossenen
Jalousien drängten, und legte sich dann mit einem Ausdruck von
Müdigkeit wieder in die Kissen zurück. Dabei streifte ihre Hand
die thaufrischen Blätter eines Maiglöckchenstraußes, und als sie
erschreckt zugriff, hielt sie die duftige Gabe mit einem gerührten
Lächeln in der Hand und sagte halblaut: „Gute Hortense!“ Sie
wußte, was der Strauß bedeuten sollte, heute vor einem Jahre
war es gewesen, als sie ahnungslos in das Koupé flog und in
die Arme der jungen Frau die sie wie in einem unsichtbaren Netze
gefangen hielt.
Lucie lag unbeweglich, die duftenden Blumen an der Wange, und ließ die Spanne Zeit von dort bis jetzt an sich vorübergehen. Sie hatte immer nur ungern ihren Gedanken eine Rückkehr in die Vergangenheit gestattet, und nahmen sie allzu gewaltsam ihren Flug dorthin, so kämpfte sie tapfer dagegen und zwang sich vorwärts zu blicken. Es war ihr anfänglich auch nicht schwer geworden – die schöne Welt da draußen, das Wunderland Italien, die tausend neuen fremdartigen Eindrücke – sie hatte wie in einem Rausche dahin gelebt und jeden Tag aufs Neue in inniger Dankbarkeit am Halse der jungen Frau gehangen. „Dir danke ich Alles, meine Freiheit, die herrliche wunderbare Gegenwart – kann ich es Dir je vergelten?“
Ach ja, es war wonnig so zu leben! Sie hatte Hortense so unendlich lieb, und doch – sie wußte nicht, was ihr das Herz so schwer machte, besonders seitdem sie wieder in Deutschland war.
„Es ist eigenartige Luft jenseit der Alpen,“ hatte ein alter liebenswürdiger Engländer zu ihr gesagt, mit dem sie eine kurze Strecke das Koupé theilten. „In meinem Salon daheim hängt neben einem farbensprühenden Bilde der Bucht von Neapel die Ansicht des Heidelberger Schlosses im Mondlicht, dämmernd und geheimnißvoll; so möchte ich die beiden Länder vergleichen, dort das lachende Leben, hier die ernste Schwärmerei.“
Ach, Lucie empfand es tief, daß eine „eigene Luft“ in Deutschland wehe, aber sie vermochte es nicht auszusprechen; sie schämte sich vor Hortense, denn die junge Frau redete mit unverhohlener Mißachtung von „sentimentalen Stimmungen“ und nannte sie eine Charakterschwäche der deutschen Frauen insbesondere. Ueber diesen Punkt würden sie sich nie einigen, das wußte das Mädchen nun, über diesen nicht und über andere nicht. Aber war denn das so schlimm? Gerade die Verschiedenartigkeit ihrer Charaktere hielt sie ja so fest, so innig zusammen. Und wenn Lucie sich auch willig dem geistreichen weltgewandten Wesen der jungen Frau anschmiegte, so hatte sie anderseits eine unbestrittene Macht über diesen leidenschaftlichen Charakter erlangt. Hortense hatte sich gewöhnt, bei Allem, was sie that, das junge Mädchen zu fragen: „Wie denkst Du darüber, Lucie? Was würdest Du an meiner Stelle thun?“
Nur ein einziges Mal hatte sich eine wirkliche Verstimmung zwischen ihnen geltend gemacht, und das war gestern Abend gewesen. Hortense hatte eine Reise nach Wien geplant.
„Wir sind so gemüthlich hier,“ hatte Lucie entgegnet, „laß uns noch ein paar Wochen still sitzen oder miethe eine kleine Sommerwohnung an der Elbe stromaufwärts!“
„Warum?“
Lucie wußte weiter nichts zu sagen, als daß sie sich nach Ruhe sehnte. Nach Ruhe – und nach einem Wiedersehen mit ihrer Schwester, und dabei hatte sie plötzlich geweint.
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[105] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [106] Hortense war darüber erst traurig, dann böse geworden. Als ob es in zwei Monaten nicht noch früh genug sei, nach Bornrode zu kommen, das man auf der Rückreise auf einem kleinen Umweg bequem erreichen konnte!
„Wenn ich aber Sehnsucht habe?“ war des Mädchens Antwort gewesen.
„Sehnsucht?“ Hortense hatte die Achseln gezuckt und sich abgewendet. Und so hatten sie sich getrennt; zum ersten Male, so lange sie zusammen waren, ohne das alte herzliche „Gute Nacht!“
Nun wußte Lucie, Hortense war schon in aller Morgenfrühe an ihrem Lager gewesen und hatte den Strauß gebracht. Sie fühlte etwas wie Beschämung und nahm sich vor, gleich zu ihr zu gehen und zu danken. Als sie im Begriff war, aufzustehen, klinkte leise die Thür, und Hortense, in einem weißen Morgenkleide, trat ein, kam zu dem Bette herüber, kniete vor demselben nieder und küßte Lucie, wie eine Mutter ihr Kind küßt am Geburtstage.
„Ich danke Dir für Alles,“ sagte sie einfach.
„Und ich Dir, Hortense!“
„Sei ruhig! Was ist das gegen Deine Liebe und Güte! Wenn ich etwas Vertrauen zu den Menschen wiedergewann, wenn ich wieder am Leben Gefallen fand, dann danke ich es Dir, nur Dir allein.“
Lucie hielt ihr den Mund zu. „Sei still, Hortense!“ sagte sie gerührt.
„Und nun will ich auch eine Sommerwohnung miethen, wie Du es wünschest. Ich habe den Wagen schon bestellt, wir fahren nach Tische hinaus. Du sollst sie selbst aussuchen und wenn es Dir überhaupt gefällt in Dresden, so kehren wir auch zum Winter hierher zurück.“
„Das kommt auf Dich an, Hortense.“
„Es wird sehr gemüthlich werden in unserer Häuslichkeit, nicht wahr?“ plauderte die junge Frau und setzte sich auf den Bettrand.
Lucie nickte. „Wir packen dann alle Deine schönen Sachen aus, die Du in Italien gekauft hast, und schmücken die Zimmer damit.“
Hortense stand auf.
„Und damit sie noch schöner werden,“ sagte sie, „will ich den hellen Tag und die gute Beleuchtung heute früh benutzen und mein Bild weiter malen. Holst Du mich ab in der Galerie?“
„Ich bin wie immer um ein Uhr vor der Sixtinischen Madonna,“ rief das Mädchen der jungen Frau zu, die eben hinter der Thür verschwand.
Eilig kleidete sie sich an; sie hatte unverantwortlich lange geschlafen. Als sie in den Salon trat, fand sie vor ihrem Frühstückskouvert ein Etui aus schwarzem Leder, ihren Namenszug in Gold gepreßt darauf; und als sie es öffnete, blinkte ihr ein Ring entgegen, der einen wundervollen Sapphir in seiner Mitte trug. Und als sie überrascht näher hinschaute, fand sie innen das Datum des heutigen Tages eingravirt.
Sie legte den Ring in das Etui, nahm ihn wieder heraus und schob ihn endlich an den vierten Finger der linken Hand. Dann setzte sie sich still vor ihrer Theetasse nieder und betrachtete das funkelnde Kleinod. Es kam ihr in den Sinn, daß vor Jahresfrist noch ein einfacher goldener Reif da gesessen, und sie schüttelte auf einmal den Kopf, als wollte sie Jemand heftig widersprechen. „Nein,“ flüsterte sie, „er hatte mich nicht lieb – es war gut und recht so!“
Sie frühstückte langsam und setzte sich dann an den Schreibtisch. Sie wollte an Mathilde ein paar Worte senden; seit Wochen war jede Nachricht von ihr ausgeblieben. Als sie eine Seite geschrieben, schmerzte sie der breite Goldreif; sie wollte ihn abziehen, aber es war nicht möglich, und als es endlich gelang, da war ihr die Stimmung zum Schreiben vergangen. Sie setzte ihren Hut auf und ging auf einem Umwege nach dem Zwinger.
Ein Weilchen stand sie hinter Hortense’s Staffelei, die einen der kleinen Niederländer kopirte, und schaute ihr zu; und als gerade Niemand in dem Kabinett war, küßte sie die Wange der jungen Frau und dankte ihr für das kostbare Geschenk.
„Zeig’ her, mein Liebchen,“ sagte Hortense, „paßt er?“
„Ich konnte ihn nicht an der Hand behalten, er drückte,“ und sie hielt zum Beweise den stark gerötheten Finger hin.
„Ich werde ihn ändern lassen,“ nickte die junge Frau. Und da eben wieder eine Schar Engländerinnen eintrat, deren neumodige Reifröcke und riesenhafte Hüte mehr Platz in Anspruch nahmen, als für die Malerin angenehm sein konnte, verließ Lucie ihre Freundin und ging zur verabredeten Stelle.
In dem kleinen feierlichen Raume der Sixtinischen Madonna war es wunderbarer Weise kirchenstill und leer heute, nur ein einzelner Herr saß auf dem rothen Sammetpolster, in die Andacht des Schattens versunken. Lucie nahm, ohne nach ihm hinzusehen, ihren Platz ein und richtete die Blicke auf das Bild. Sie hatte sich sehr verändert! Das naive Mädchen aus dem einsamen Forsthause war eine vollendete Dame geworden neben Hortense; das Gesicht unter dem barettartigen Strohhütchen erschien schmäler; das frische Roth der Wangen war zu einem feinen Rosa gedämpft; die braunen Augen schienen größer geworden, aber sie sahen nicht mehr so fragend und staunend in die Welt; es lag ein Ausdruck von stiller Sehnsucht in ihnen. Sie trug ein dunkles, einfaches, aber vorzüglich sitzendes Kostüm; Handschuhe und Stiefel tadellos, und in der Hand hielt sie einen Sonnenschirm mit Elfenbeinstock, den ihr Hortense in den Basars zu Florenz gekauft hatte.
Der Herr neben ihr im grauen Touristenanzug, über welchem er den Feldstecher am Riemen trug, den Strohhut in der Hand, wandte ihr erst jetzt sein von einem blonden Backenbart umrahmtes Gesicht zu, und aufstehend rief er erfreut:
„Sie, mein Fräulein? Und da sitze ich schon eine ganze Weile neben Ihnen, ohne Ahnung davon? Rechnen Sie die Schuld der gebenedeiten Jungfrau zu und verzeihen Sie meine Nachlässigkeit!“
„Mein Gott, auch hier?“ dachte sie.
Er stand noch immer vor ihr. „Wann kamen die Damen nach München?“ fragte er.
„Wir besannen uns anders und gingen an die italienischen Seen. Seit vier Wochen sind wir hier.“
Er lachte belustigt und hob drohend den Finger. „Das heißt auf militärisch: den Feind düpiren!“ – Hinter aller Freundlichkeit dieser blitzenden blauen Augen sah aber doch etwas Ernstes hervor. ‚Was ich will, setze ich durch‘, meinte Lucie darin zu lesen. – „Wie lange will Frau von Löwen hier bleiben?“
„Es ist ganz unbestimmt,“ erwiderte sie aufstehend, und mit einer leichten Verbeugung wandte sie sich dem Ausgange zu. Im nächsten Saal kam ihr Hortense heiter entgegen; sie wickelte eben die Leinwandschürze zusammen.
„Komm,“ sagte sie, „ich freue mich auf die Spazierfahrt.“
Arm in Arm schritten sie die breite Treppe hinab; da fühlte Lucie, wie die Hand der jungen Frau zuckte, und als sie ihr in das Gesicht sah, war es fahl geworden. Ihnen entgegen kam ein hochgewachsener Herr; er trug einen bräunlichen eleganten Sommeranzug, hatte dunkle Augen und Haar und war trotz seines Civils unschwer als Militär zu erkennen. Auf dem breiten Absatz der Treppe trafen sie zusammen; Lucie sah, wie er mit tiefer Verbeugung zur Seite trat und wie die Röthe der Verlegenheit sein Gesicht färbte. Hortense schien den Gruß nicht zu bemerken; sie hatte den Kopf nach der andern Seite gewandt. Unten trat sie hastig zur Garderobe und nahm die leichte Jacke über den Arm. „Komm!“ sagte sie zu Lucie und versuchte während des Gehens vergeblich ihre Handschuhe über die zitternden Finger zu streifen.
„Was ist Dir, Hortense?“ fragte Lucie besorgt, „wer war der Herr?“
„Wilken,“ klang es tonlos.
Lucie faßte unwillkürlich unter den Arm der jungen Frau; so schritten sie über den Platz dem Hôtel zu.
„Der Wagen wartet, gnädige Frau,“ redete der Portier Hortense an.
„Ich fahre nicht,“ sagte sie, „bezahlen Sie den Kutscher und schicken Sie ihn fort, – oder – vielleicht willst Du fahren, Lucie?“
Das Mädchen sah sie vorwurfsvoll an. „Ich bleibe bei Dir.“
„Venedig liegt nur noch im Land der Träume
Und wirft nur Schatten her aus alten Tagen …“
So seufzt mit Platen wohl Mancher, der voll Wehmuth die buntscheckige Armseligkeit des heutigen venezianischen Lebens mit seinem wunderbar herrlichen und großen Hintergrund vergleicht. Und doch, wie lebendig werden jene „Schatten“ dem, der sie zu beschwören versteht! Sie umgeben ihn bald auf Schritt und Tritt und lassen ihn nicht mehr los; denn überall steht ja leibhaft die Erinnerung an die große Glanzzeit, welche Venedig zu dem Ort machte, „wo alle Tage Festtag ist, Niemand an das Ende der Dinge denkt und wohin das Reich der Venus und des Amor verlegt werden sollte“, wie der große Epikuräer Aretino im 16. Jahrhundert mit voller Wahrheit sagen konnte.
Und nun – wohin ist die Pracht und Lebensfreude der „goldenen Muschel“ Venedig gekommen? Wohin sind die Gastmahle unter den strahlenden Bogenhallen, wie sie Paul Veronese nicht müde wurde zu malen, die Versammlungen von stolzen Männern und üppigen goldhaarigen Frauen, die sorglos, hoch über aller Noth des Lebens ihr fürstliches Dasein führen, an langen Tafeln voll Gold- und Krystallgeräth sitzen und sich belustigen über die Negerknaben, Pfauen und Wachtelhündchen, die zwischendurch ihr Spiel treiben? Erstorben ist das Alles und vergangen mit dem Glanze der Republik, der ihre höchste Macht wohl noch um ein Jahrhundert überdauerte, aber dann dahinging, wie Alles, was das Recht seiner Existenz nicht mehr in sich selbst trägt.
Der Schauplatz ihrer Größe aber steht unverändert: aus den Wassern heraus wachsen die Paläste mit den prächtigen Façaden, langsam gleitet die Gondel dazwischen hin, und der Klang ihrer stolzen Namen trägt einen Hauch ferner Vergangenheit herüber, trotz Verfall und Schmutz und bretterverschlagener Fenster!
Wie aber steigt vollends diese Vergangenheit voll und groß herauf in der lauen Frühlingsnacht, wenn das Straßengeschrei verhallt ist, die Laternen auf dem Markusplatz verloschen, die Fremden in ihre Hôtels gegangen sind und nun der Mond allein hoch oben am blauen Himmel schwebt! Sein Zauberlicht übergießt die gestorbene Meereskönigin mit phantastischem Leben, es glänzen die Säulen aus dem Dunkel der Gänge heraus, geheimnißvoll wachsen und ranken die Knäufe und Rosetten im Dämmerschein und das Goldmosaik der Markusfront leuchtet in bleichem Glanze. Droben auf dem Uhrthurm heben dann die beiden Erzriesen die Arme und ihr mitternächtiger Hammerschlag dröhnt über Stadt und Lagune hin.
Das ist die Stunde, wo die Schatten zum Leben erwachen, und wer Augen dafür hat, sieht sie nun in Scharen heranströmen, die einstigen Bewohner der tausendjährigen Märchenstadt, und den Plan erfüllen. In der goldschimmernden Dämmerung des Markusdomes regt es sich von byzantinischen Gestalten, am Hochaltar kniet der Doge Orseolo und neben ihm der dritte Otto, der gekommen ist, die Hilfe des mächtigen Lagunen-Beherrschers zur Stütze seiner sinkenden Kaisermacht zu begehren. Draußen aber, von der Markussäule her kommen wieder Andere heran im Reiterzug, aus dessen Mitte ein zweiter kaiserlicher Held hervorragt, mit wallendem rothen Bart. Aber er reitet an der Seite eines eben so Stolzen, der die dreifache Krone trägt und gnädig herablassend das Haupt bewegt. Nun sind sie angelangt, der Kaiser springt vom Pferd und nähert sich zögernd, heißen Ingrimm im Blick, dem priesterlichen Zelter, um den Steigbügel für den Sammetpantoffel zu halten … Aber sobald sie den Boden berührt, zerfließen die beiden Gestalten und Andere drängen aus der Tiefe des Platzes nach, ein bunter Zug von Schild- und Lanzenträgern, Dienern und Trabanten, stolze Patricier mit spitzen Bärten, in pelzverbrämten Sammetkleidern und Mänteln, zwischen ihnen in der goldenen Sänfte an der Seite des Dogen ein junges Weib mit goldrothen Haaren und braunen Sammetaugen, Catarina Cornaro, die sich einschiffen soll, um der Insel Cypern und dem fernen Gemahl zuzusteuern … schon sind sie an den Wasserstufen angelangt, da wird es auch lebendig auf dem Meer: hohe Kriegsgaleeren erscheinen mit goldenen Fabelthieren am Bug und flatternden Wimpeln; auf ihrem Deck stehen die Seehelden der Republik, die Dandolo, Foscari, Contarini, Ventramin, Morosini; sie kehren heim vom Türkenkrieg und der Eroberung der griechischen Inseln, die üppige Wasserrose Venedig dehnt ihre Wurzeln durch das ganze Mittelmeer, und immer mehr Reichthum, Macht und Glanz fällt ihren glücklichen Bürgern in den Schoß. Den Bürgern? Nein, den großen Geschlechtern, die im goldenen Buch stehen, aus ihrer Mitte den Dogen wählen und mit scharfer Ruthe das niedere und arme Volk regieren. Für sie liefert Indien Perlen, Gewürze und Goldsand, ihnen schwimmen die Schiffe auf allen Meeren und kehren hochbefrachtet heim, die kostbare Ladung in den weitläufigen Magazinen zu bergen, welche den Unterstock ihrer Paläste ausfüllen; sie begehren den ungezügelten Lebensgenuß, die schöne Sinnlichkeit in jeder Gestalt.
Wehe dem, der ihre Herrschaft anzutasten wagt! Was seiner wartet, das könnten die Schatten erzählen, die in den tiefen Gängen des Dogen- Palastes auf- und niederschweben, den Platz auf der Riesentreppe umdrängen, wo des alten Marino Falieri Kopf fiel, mit den Mondesstrahlen über die Seufzerbrücke gleiten und hinabtauchen zu den schrecklichen Kerkern, die nur einen Ausweg hatten: den schwarzen Kanal, der am Ende des Ganges fließt und ins Meer hinaus trägt, was man in seine Wasser versenkt …
Aber nicht nur bleiche und blutige Schatten gehen im Dogenpalast um. Wenn der Morgen kommt und breite Ströme Sonnenlicht durch die goldglänzenden Säle ergießt, dann werden andere Gestalten lebendig: auf der großen Prachttreppe schreiten die Rathsherren der Republik, die schweren Thürflügel öffnen sich, wie sonst, und unverändert sehen ihnen die alten Räume entgegen.
Hier steht die Zeit still und die Vergangenheit wird unmittelbare Gegenwart. Als wäre gestern die letzte Rathssitzung gewesen, so sind die geschnitzten Tische und Stühle geordnet; von den Wänden glänzen die wunderbaren Tizians und Veroneses, ein Hauch unmittelbaren Lebens erfüllt die prächtigen Räume, welche jeden Augenblick auf den Wiedereintritt ihrer alten Gebieter zu harren scheinen. Wer aber dort im Hintergrund des Saales allein und träumend sitzt und in das goldene Halbdunkel starrt, der wird sie bald genug daraus auftauchen sehen.
So ist es ohne Zweifel auch dem Maler unseres schönen Bildes gegangen – dem der Zauber Venedigs längst die Seele gefangen nahm und zu gestalten zwang, was er geschaut. Er saß wohl wieder einmal träumend im Dogenpalast, als plötzlich helles Kastagnettengeklapper, Fiedelklang und jauchzendes Gelächter vom Platze herauf an sein Ohr schlugen. Karneval in Venedig – Inbegriff närrischer Lustbarkeit und kindisch-toller, entzückender Späße! Wer, außer den Aeltesten und Kränksten, vermöchte zu Hause zu bleiben, wenn das Glockenzeichen ertönt und Alles, was Leben, Beine und einen bunten Fetzen zum Umhängen hat, nach dem Markusplatze strömt! Dort wogt es bereits in dichten Reihen auf und ab: türkische Kopfbunde, Sammtmasken, große Nasen und Perücken, Salatblätter und Strohwische, Alles ist gut zur „maschera“, welche dem leichtblütigen Volk nur den Vorwand zu lärmender Tollheit liefert. Vergessen ist alle Vorsicht, vergessen sind die geheimen Späher, die überall sich durch die Gruppen der Masken winden und morgen im geheimsten Zimmer des Palastes Bericht erstatten werden von jedem unbedachten Wort – wer wird sich um morgen kümmern! Heute ist Karneval, heute gilt es, sein Leben zu genießen! Und immer dichter wird die Menge, die sich mit tollem Gelächter auf dem Markusplatze dreht.
Einer ist davon ausgeschlossen: der würdevolle Greis im Goldgewand mit der spitzen Herzogsmütze auf dem Haupte, dessen Leben im Palast nach strengen Regeln verläuft und eine fortgesetzte Repräsentation zu sein scheint.
Aber wenn der Doge nicht zum Karneval kommt, so kommt der Karneval zum Dogen: um die Mittagszeit eilt er auf vielen flinken Füßen die große Treppe empor und steht dann mit gesenkten Blicken und verhaltenem Lachen am Saaleingang, um zu fragen, ob der durchlauchtigste Doge wohl geruhen würde, eine kleine Pantomime in seinen Gemächern anzusehen? Und der Doge, ein leutseliger, herablassender Herr, klopft lächelnd der kleinen schwarzäugigen Sprecherin die Wange und meint, sie sollten nur Nachmittags kommen.
Die Vorbereitungen sind schnell gemacht: mit ein paar Vorhängen zwischen den offenen Säulen ist die einfache Bühne improvisirt für die Komödie, die trotz ihrer erstaunlichen und unveränderlichen Einfachheit immer von Neuem das Volksgemüth entzückt. Wir befinden uns der Schlußkatastrophe gegenüber: Arlechino, der im Verlaufe der früheren Scenen schon zwei- bis dreimal den Hals gebrochen haben müßte, befindet sich dessen ungeachtet frisch und gesund genug, um der geliebten Colombine Herz und Hand anzutragen, und sie, die gluthäugige Schöne, deren zierlich-üppige Gestalt in der Bewegung stets neue Reize entfaltet, tanzt ihm die Erwiederung seiner heißesten Wünsche zu. Sie beachtet nicht im Geringsten die Einsprache des zu Boden gestolperten Pantaleone, welchen sein altes Schicksal: alle in der Luft herufmfahrenden Prügel auf seinem einzigen Rücken zu vereinigen, heute schon wieder sattsam ereilt hat. Deutet der Stock in des herbeieilenden Doktor Bartolo’s Hand auf eine neue, letzte Züchtigung oder ist er für Arlechino bestimmt, der im kritischen Moment die Entrüstung des Vormunds durch eine ungeahnte geniale Erfindung besänftigen wird?
Der Eindruck auf das vornehme Publikum ist kein so überwältigender, wie ihn die Schauspieler von der Piazza her gewohnt sind. Zwar der durchlauchtigste Doge lächelt mit beifälliger Kennermiene nach der reizenden Julietta hin, und auch der junge Page, welcher, die goldbrokatene Schleppe auf dem Schoß, hinter ihm sitzt, betrachtet mit ungetheilter Aufmerksamkeit die interessanten Wechselfälle des Stückes, aber die fürstliche Frau zur Linken des Dogen scheint kein großes Gefallen daran zu finden, sie wendet das holdselige Angesicht, um den leisen Flüsterworten zu lauschen, die hinter der Sammtmaske eines Tiefverhüllten heraus in ihr Ohr dringen. Ist es die junge Gemahlin des alten Mannes, die hier ahnungslos und lächelnd den Beginn der süßen Gluth im Herzen schürt, die später zu so unheilvollem Brande sich entfacht, um endlich mit Blut und Thränen gelöscht zu werden? Der Ring an ihrem Finger scheint bedeutungsvoll, nicht minder der höhnisch-eifersüchtige Blick der dunklen Schönen auf der linken Seite, die sich vorbeugt, stärker als die Sitte es erlaubt, um ein Wort des leisen Gesprächs aufzufangen.
Sie kann es unbemerkt, denn die Eminenz an ihrer Seite, der päpstliche Legat, welcher gekommen ist, die Hilfe Venedigs für den bedrängten Nachfolger des heiligen Petrus anzurufen, sieht zwar mißbilligend von geistlicher Höhe auf das weltliche Schauspiel, wie seine fast in Entrüstung gekreuzten Arme und der streng zusammengezogene Mund andeuten, aber die Augen haften dabei doch merkwürdig fest auf den glänzenden Schultern der Tänzerin und ihren schlanken, beweglichen Armen. Noch ein anderes Augenpaar außer dem seinigen verschlingt jede ihrer Bewegungen: ein schwarzhaariger junger Nobile, Verwandter des Dogen, lehnt an der Säule und drückt seine heiße Wange dagegen, unverwandt die flinke Tänzerin betrachtend. Ihm erscheint ihre kecke Grazie viel anziehender, als die höfische Grandezza der Damen im Dogenpalast, und es ist zu vermuthen, daß er heute Abend einen Vorwand finden wird, um dem Dienst am Spieltisch zu entrinnen, nach der Giudecca zu eilen und dem schönen Fischerkind seine besondere Anerkennung unter vier Augen auszusprechen!
Der Patriciersohn sieht nach der Tochter des Volkes, aber wie heiß, wie verloren in Anbetung schmachten dafür die Augen des kleinen plebejischen Geigenspielers nach der schönen Fürstin hin! Wie verschlingt er mit den Blicken das goldröthliche, blumendurchflochtene Gelock, das rosige Gesicht [108] mit den leuchtend-braunen Augen und den halbgeöffneten süßen Lippen! Ach! warum ist der arme Beppo nicht ein Königssohn oder wenigstens ein großer Künstler wie der, welcher hinter dem Verlarvten steht und das einfältige Ding, die Zulietta, betrachtet, statt zu Füßen der holdseligen Dogaressa zu knieen! Es ist gut, daß Beppo’s Finger das Stück allein spielen können, denn sonst ist gar nicht abzusehen, was noch Alles passiren könnte, wenn er in seinem Herzenstumult auf einmal schmählich stecken bliebe! Der mürrische Geselle neben ihm sieht ganz danach aus, als ob er seine Fäuste auch noch zu Anderem brauchen könne, als zum Handhaben der Baßgeige!
Sie werden nicht lange mehr fiedeln. Noch ein paar Augenblicke, und die Klänge verstummen; der Vorhang rauscht herunter, die Gestalten zerfließen in Luft – der reizende Künstlertraum vom Karneval des Dogen ist zu Ende! R. A.
Die Geschichte der Lichtputze.
Die Lichtputze ist todt, und es hat ihr bis jetzt Niemand eine
Grabrede gehalten. Ich will das nachholen, was Andere,
vielleicht Berufenere, unterlassen haben. Es könnte sonst großes
Unglück aus der Versäumniß erwachsen. Man findet schon jetzt
nirgends mehr eine Lichtputze, nicht einmal in jenen fernen Ländern,
welche man als „entlegene Kulturen“ bezeichnet; unsere Enkel,
welche niemals eine Lichtputze gesehen und vielleicht auch niemals
von einer solchen gehört haben, werden, wenn sie dereinst als
erwachsene Männer in irgend einem alten Schmöker von einer
„Lichtputze“ lesen, sich kaum eine klare Vorstellung davon machen
können, von welcher Beschaffenheit eine solche Maschine gewesen.
Nun stelle man sich aber gar einmal den Fall vor, daß in dreihundert Jahren, also etwa im Jahre des Heils zweitausend einhundert sechs- oder siebenundachtzig, von einem Schliemann eine Lichtputze ausgegraben würde: wie würden sich dann die Leute die Köpfe zerbrechen, was das wohl für ein seltsames Instrument sei! Vorn hat es eine gefährliche Spitze, als wenn es auf Feindseligkeiten berechnet wäre. Hinter dieser Spitze folgt dann ein Kästchen, welches man öffnen und schließen und auf einen ganz engen Raum zusammendrücken kann. Und schließlich, am andern Ende, findet man zwei Griffe, wie an einer Schere, aber eine Schere ist es doch auch wieder nicht, denn es fehlen doch die zwei wider einander arbeitenden schneidenden Arme am entgegengesetzten Ende.
„Ein seltsames Ding,“ wird dann der Schliemann vom Jahre 2187 sagen, „eine Waffe, mit der man nicht tödten kann und selbst kaum recht verwunden! Ein Kästchen, das keinen festen Verschluß hat und in das man kaum Etwas hineinthun kann! Endlich zwei Griffe, in welche man wohl den Zeigefinger und den Daumen hineinstecken könnte, wüßte man nur, zu welchem Zwecke man’s thun soll! Es ist ein schier unlösbares Räthsel. Dies Ding muß selbst in den Zeiten, aus welchen es herstammt, eine große Seltenheit gewesen sein. Denn dies da ist das einzige Exemplar, welches man bis dahin gefunden. Wenn ich, vorbehältlich weiterer Untersuchung der Sache, jetzt schon eine unmaßgebliche Vertmuthung aussprechen darf, so sage ich: da irgend ein praktischer wirthschaftlicher Zweck kaum denkbar ist, so bleibt nur die Möglichkeit offen, eine gottesdienstliche, mystische oder symbolische Bedeutung anzunehmen. Bei einer der staatlich anerkannten großen Konfessionen, deren Kultus den Charakter der Oeffentlichkeit hatte, ist allerdings wohl schwerlich ein Platz für dies seltsame Geräthe zu finden. Aber man vergesse nicht, welche Rolle vor einigen hundert Jahren die geheimen Gesellschaften religiöser und ähnlicher Richtungen spielten. So sehr sie auch ihr Treiben in ein undurchdringliches Dunkel zu hüllen liebten, so weiß man doch so viel, daß gewisse seltsame und ungebräuchliche Symbole und Zeichen in ihren Versammlungen spielten; und ich habe einige triftige Gründe anzunehmen, daß diese Figur ein Symbolum bildet, dessen sich die extremste Richtung der Rosenkreuzer-Gesellschaften bediente.“
Diese Ansicht eines hervorragenden Gelehrten würde natürlich auf Widerspruch stoßen bei irgend welchen anderen, nicht weniger hervorragenden Geschichts- und Alterthumsforschern. Ein Zweiter würde den in Frage stehenden Gegenstand für eine Küchengeräthschaft und ein Dritter würde ihn für eine kleine Hilfsmaschine für einen zur Zeit untergegangenen Industriezweig erklären und der Zweite und der Dritte würden eben so gute oder eben so schlechte Gründe für die von ihnen aus tiefster Seele geschöpften innigsten wissenschaftlichen Ueberzeugungen beibringen wie der Erste. Es würde daraus ein großer Streit entstehen, der mit einem außergewöhnlichen Aufwand von Zeit, Kraft und Scharfsinn geführt würde und, nachdem er drei Jahrzehnte hindurch gewüthet, ohne daß man zu einem unzweifelhaften Ergebniß gelangte, schließlich einschliefe, weil die Hauptkampfhähne inzwischen verstorben und allen übrigen Menschen die Sache langweilig geworden.
Um einem solchen verhängnißvollen Ereignisse vorzubeugen, will ich in diesen Blättern, welche in Anbetracht ihrer großen Verbreitung sich bis zu einem gewissen Grade mit der Hoffnung schmeicheln dürfen auf die Nachwelt zu kommen, nach den besten Quellen und aus eigener Wissenschaft erzählen, was die Lichtputze war, wie sie gelebt und geblüht hat und wie sie gestorben.
Zunächst bedarf es – namentlich für die zukünftigen Generationen – einer genauen Beschreibung dieses Werkzeugs. Ich entnehme dieselbe einem Buche, einem großen Universallexikon, das in der Zeit erschien, in welcher sich die Lichtputze der größten Verbreitung und Beliebtheit erfreute und dessen Titel an einer wahrhaft beunruhigenden Langstieligkeit leidet.
Der Herausgeber desselben ist der königlich preußische Kommerzienrath Johann Heinrich Zedler in Leipzig, In der Zeit von 1722 bis 1750 sind 64 Bände im größten Folio, und außerdem in der Zeit von 1751 bis 1754 noch 4 desgleichen Supplementbände, also im Ganzen 68 kolossale Folianten erschienen. (Heute thut das Konversations-Lexikon die nämlichen Dienste, aber in kürzerer, bequemerer und geschmackvollerer Weise.) In jenem heut zu Tage wenig gekannten und noch weniger benutzten Zedler’schen Riesenwerke findet man Mancherlei, was man anderweit vergeblich gesucht hat. So unter Anderem auch einen Artikel über die Lichtputze, welcher wörtlich lautet wie folgt:
„Licht-Putze oder Licht-Schnauze ist das von Eisen, Stahl, Messing u. dgl. gemachte, wohlbekannte Werk-Zeug, welches aus zweien in Form einer Scheere über einander gehenden Theilen bestehet, davon der Eine ein hohl gearbeitetes, viereckiges oder oben rundes Behältniß hat und zu Aeußerst in eine lange Spitze ausläuft, der Andere dagegen kürzer ist und an dem Ende einen Deckel führt, der just in das gedachte Behältniß paßt und etwas scharf ist. Beide Theile sind an dem hinteren Ende in Ringe, oder sonstwie, krumm gebogen, damit man sie daselbst bequem mit den Fingern fasse und den am Licht lang-abgebrannten Tacht (Docht) abknippen (abkneifen) könne. Weil aber bei dieser Verrichtung leicht Etwas von Unschlitt daran kleben bleibt, wodurch man den Ort, wo dieses Instrument etwa hinfallen oder hingelegt werden möchte, gar unsauber machen dürfte, so bedient man sich daneben gerne eines besonders dazu verfertigten Kästchens, darein man die Lichtputze legt oder stecket – wie denn Dergleichen auf verschiedene Weise pflegt gearbeitet zu werden, welches man ein Lichtputz-Kästchen oder Pfännchen heißt.“
Vor hundert Jahren schon hat ferner die Lichtputze einen gelehrten Geschichtschreiber gefunden, und zwar keinen geringeren, als den witz- und humorreichen Professor Lichtenberg in Göttingen, denselben, der uns die Hogarth’schen Sittenbilder in so lehrreicher und unterhaltender Weise erklärt hat.
Er geht von der Voraussetzung aus, daß die menschliche Hand, „das große Universalinstrument“, auch die erste Lichtputze war, wie sie so auch der erste Prügel, die erste Wurfmaschine, das erste Trinkgeschirr, die erste Gabel, der erste Fächer und die erste Rechenmaschine gewesen„ oder wie, wenn man die Sache von der entgegengesetzten Seite betrachtet, alle diese Maschinen und Instrumente nichts sind, als Vervollkommnungen, Modifikationen, Specialisirungen und Differenzirungen der menschlichen Hand zu besonderen Zwecken. Weil man sich nicht mehr die Finger beschmutzen oder gar verbrennen wollte, erfand man die Lichtschere. Allein mit der Schere war’s nicht gethan. An dem einen Arme konstruirte man einen Kasten, an dem andern einen [109] Deckel zu demselben, so daß die abgeschnittene Lichtschnuppe in den Kasten gepreßt und daselbst festgehalten wurde. Die Lichtschnuppe durfte weder auf den Tisch noch auf die Tischdecke fallen, sie durfte auch nicht fortglühen, denn sonst lag die Gefahr vor, daß jede neu hinzukommende den alten Vorrath wieder entzündete, wodurch ein starker Dunst, ein unangenehmer Geruch und möglicherweise allerlei Unreinlichkeit entstanden sein würde.
Da übertrug ein weiser Mann die Stahlfeder, die Seele der Taschenuhr, auf die Lichtputze und bewirkte damit, daß sie sich von selber fest zuschloß. Hierdurch waren die geschilderten Gefahren beseitigt, aber das Instrument blieb stets noch verbesserungsfähig.
Es lag ganz platt auf dem Tisch auf; und es war nicht bequem, in die Scherengriffe zu fahren. Da gab man der Lichtputze drei Füße, zwei an den Griffen und einen an der anderen Seite. Auf drei Füßen steht man bekanntlich fester als auf vieren, denn drei müssen immer in dieselbe Ebene fallen. Jetzt konnte auch die feinste und zarteste Hand das Werkzeug leicht und bequem von dem Tische aufnehmen. Damals kam die Redensart auf: „Der Schönste (oder die Schönste) putzt das Licht“. Sie gab in unserer Jugend den Anlaß zu allerlei scherzhafter und harmloser Galanterie, welche die heutige Jugend für recht altmodisch halten würde.
Trotz dieser und anderer Verbesserungen ging es aber mit der Lichtputze wie mit so vielen anderen Erscheinungen; unmittelbar an die höchste Blüthe schloß sich die Periode des Sinkens und Falles, welche sich entwickelte im Zusammenhang mit der Erweiterung und Verbesserung unserer Beleuchtungsstoffe und Beleuchtungsapparate.
In meiner Jugend dominirte die Oellampe, auf welcher man vegetabilisches Oel brannte und die in allen wesentlichen Bestandtheilen mit der altrömischen Lampe übereinstimmte – sogar bis auf das zierliche Zänglein, das an ihr herabhing und dazu bestimmt war, den Docht herauszuziehen und zu regeln. Cylinder waren noch nicht erfunden.
Ich habe heute eine kunstvolle Imitation einer in Pompeji ausgegrabenen schönen Bronzelampe auf meinem Tisch stehen. Sie erinnert mich an das ärmliche Lämpchen, bei welchem ich vor langen Jahren den Cornelis Nepos studirte. Die Konstruktion ist dieselbe.
Im Uebrigen brannte man Talglichter, und ich will hier erzählen, wie es sich damit verhalten. Es war ungefähr um das Jahr 1830. Damals lebte meine Großmutter noch. Sie stand an der Spitze eines großen bäuerlichen Haushalts, und in diesem Haushalt wurde nicht nur Flachs gesponnen und gewebt, um die großen Leinwandkisten zu füllen, sondern auch sonst Mancherlei fabricirt, das man heut zu Tage nicht mehr selbst macht, sondern kauft. Ich nenne hier nur Brot, Kuchen, Branntwein, Bier und Lichter, namentlich Talg- oder Unschlittlichter. Zwar gab es damals auch schon Seifensieder und Lichtzieher, welche diese heut zu Tage auch so ziemlich verschwundenen Unschlitt- oder Inseltlichter gewerbsmäßig fabricirten, allein meine Großmutter sagte: „Was man selbst machen kann, das soll man nicht kaufen und nicht von anderen Leuten machen lassen. Ich esse mein eigenes Brot und will auch meine eigenen Talglichter brennen. Was man so für gewöhnlich kauft bei dem Krämer oder dem Höker, das ist oft schlecht und in der Regel sehr theuer, und bei uns Bauern ist immer das Geld rar und wir haben’s nöthig für Pacht und für Steuern, das Andere haben wir in Hülle und Fülle, so Gott will. Wir haben das schönste Talg von Schafen und Rindvieh, und auch die Dochte können wir uns selbst drehen aus zartem Garn oder Wolle. Wir haben also den Rohstoff selbst, er kostet uns weiter nichts, der Seifensieder aber muß ihn kaufen. Natürlich ist er darauf aus, sich seine Arbeit möglichst theuer bezahlen zu lassen und einen großen Gewinn für sich herauszuschlagen. Deßhalb bin ich der Meinung: wir ziehen unsere Lichter uns selber. In meiner Familie ist ein altes Recept, Lichter zu gießen, von Geschlecht zu Geschlecht überliefert, und ich habe dazu gläserne Lichterformen. Die Lichter, die ich gieße, brennen viel länger, nämlich volle zwölf Stunden, und wenn man sie in eine Lade mit fein- und reingeschnittenem Stroh legt, so behalten sie auf Jahr und Tag ihre untadelhafte helle weiße Farbe. Die Lichter vom Seifensieder aber sind von Haus aus schon schmutzig-gelb und sie bekommen mit jedem Tag eine unappetitlichere Farbe, auch ihr Duft ist nicht immer ganz lieblich.“ So sprach die Großmutter.
Gewiß ist: es gab damals in der ganzen Gegend keine schöneren Talglichter, als die, welche meine Großmutter selig in ihren gläsernen Formen eigenhändig gegossen hatte, aber sie hatten mit den übrigen, weniger schönen Talglichtern doch den gemeinsamen Fehler, daß sie geputzt oder, wie es bei uns hieß, geschnäuzt werden mußten. Der verkohlte Docht verzehrte sich noch nicht in sich selber, sondern blieb auf dem Licht stehen, und wenn man ihn nicht abkniff, dann brannte das Talglicht schief und trübe und begann zu fließen. Man mußte es also von Zeit zu Zeit putzen, damit es wieder hell leuchte. Die abgekniffenen Dochte sammelten sich in dem an der Lichtputze angebrachten Behälter. Jeden Morgen wurden diese Behälter ausgeleert und gereinigt. Man nannte die verkohlten Dochte „Licht-Schnuppen“, und man hat den Ausdruck „Schnuppen“ ja auch auf die Sterne übertragen, von welchen man wohl annahm, daß sie sich ebenfalls „schnäuzten“ oder von Engelshänden geschnäuzt werden mußten, damit sie wieder heller brannten.
Die dem Kasten der Talglichtschnäuze entnommenen Lichtschnuppen wurden mit Sorgfalt gesammelt. Seltsamer Weise hielt man sie für ein unfehlbares Mittel wider die Kolik. Wenn Jemand Bauchkneifen verspürte, dann nahm man einen großen Löffel voll Branntwein, – „aber reiner Franzbranntwein muß es sein,“ sagte meine Großmutter – rührte einige solcher Schnuppen hinein, bis das Ganze eine dickflüssige gräuliche Masse bildete, schluckte dieselbe mit Todesverachtung hinunter und behauptete dann, es habe geholfen. Das glaubten damals die vernünftigsten Leute. Heut zu Tage glaubt man zwar dieses nicht mehr, dafür aber anderen Unsinn.
[110] Im Jahre 1840 war ich Student. Ich besuchte während der Ferien meinen Großoheim, den Bruder meiner Großmutter, welcher Direktor eines Seminars in der Rheinprovinz war. Wir lasen mit einander den griechischen Urtext, in welchem Xenophon den Rückzug der zehntausend tapferen Griechen beschrieben. Mein Vater, der ein großer Geograph war, hatte mich dazu mit den neuesten und besten Karten ausgerüstet. Der Großohm war mit meinen Studien zufrieden und gab mir eines Tages eine Andeutung, er werde mich in seinem letzten Willen bedenken. Allein es geschah anders. Eines Abends hatte unser Talglicht eine sehr lange Schnuppe; ich wollte es putzen, war aber ungeschickt und löschte es aus. Der Oheim vermerkte dies übel und schrie mich an:
„Junge, wo hast Du das Lichterputzen gelernt?“
„Da, wo deren zwei auf dem Tisch stehen, verehrtester Oheim,“ antwortete ich in meiner jugendlichen Ueberhebung. Dadurch entging mir das Vermächtniß. Der gute Großonkel war ein wenig geizig und erblickte in meiner Aeußerung eine freche Anspielung hierauf. Es wurde mir nicht schwer, mich wegen der entgangenen Erbschaft zu trösten.
Wie allgemein übrigens noch um 1850 die Lichtputzen waren, beweist ein Bild in den „Fliegenden Blättern“. Man sieht da einen bayerischen Haus- oder Holzknecht in hohen Stiefeln. Er hat den einen Riesenstiefel ausgezogen und schüttelt ihn aus, indem er das Fußende nach oben hält. In Folge des Schüttelns kommt eine große spitze Lichtputze aus dem Stiefel klirrend zur Erde gefallen.
„Schaun’s, schaun’s,“ sagt der Schlaukopf, „hab’ i doch schon seit drei Tog’n ’dacht, daß i a kloas Stoanerl im rechten Stiefel hab’n müßt!“
Allein selbst die schönsten Geschichten vermochten das Verhängniß nicht aufzuhalten.
Stearin und Petroleum, die Gas- und die elektrische Beleuchtung griffen immer mehr um sich, um dem Talglicht seine Existenz zu erschweren.
Die Nothwendigkeit der Lichtputze beruhte, wie wir gesehen haben, darauf, daß sich eine die Flamme verdunkelnde Dochtkohle oder Lichtschnuppe bildete. Nun fand man die Mittel, die Selbstverbrennung der Dochtkohle durch eine besondere Art des Flechtens des Dochtes herbeizuführen. Da war es aus mit der Schnuppe und folglich auch mit der Lichtputze; denn die Lichter schnuppen oder schnäuzen sich ja gegenwärtig von selber, wie die Sterne. Man hat, undankbar, wie die Menschen sind, noch nicht einmal officiell Notiz genommen von dem Hingang der Lichtputze, und gegenwärtig ist es unmöglich, ihren Todestag zu ermitteln.
Genug. Sie hat gelebt und gearbeitet, so lange sie nöthig und nützlich war. Als sie überflüssig wurde, ist sie still und bescheiden, wie sie immer gewesen, zum Orkus hinuntergestiegen, ohne einen Anspruch auf Dank oder auf Unsterblichkeit zu erheben. Selbst während der Zeit, wo sie herrschte, hat sie den Menschen nach Kräften genützt und Niemand geschadet.
Ich wünsche von Herzen, man könnte Jedermann eine so ehrenvolle Leichenrede halten.
Ein verhängnißvolles Blatt.
(Fortsetzung.)
Als die Bäuerin mit ihrer Tochter und Rupert in die Kirche kam, hatte das Amt schon begonnen. Bei ihrem Eintritt sah Alles auf aus den vergilbten Gebetbüchern; die Köpfe der Nachbarinnen näherten sich merklich, ja es schien zur Orgel hinauf, zum Organisten die Neuigkeit schon gedrungen zu sein; denn er griff aus Zerstreuung einen so falschen Ton, daß sogar die alten Bauern die Köpfe hoben.
Anna ging auf die Seite der Mädchen, Rupert oben hinauf auf die Emporkirche, wo die jungen Burschen waren. Er hatte eine schöne Stimme und sang oft im Chor mit. Die Mutter trat in den aus Eichenholz geschnitzten Betstuhl, auf dessen Wand groß „Langbauer“ stand.
Der Pfarrer war schon beim Evangelium angelangt. Die Gemeinde hatte sich lärmend erhoben, dann klappte er das große Meßbuch zu, wandte sich gegen die Zuhörer und begann die Predigt, die Erklärung des Evangeliums.
Alles setzte sich jetzt. Die sonore Stimme des Geistlichen schlug in monotonen rhythmischen Wellen an die mächtigen weißen Kirchenwände, an die Ohren der Zuhörer. Das Geräusper und Gehuste der alten Leute ertönte störend dazwischen; stickender Weihrauchsdunst schwebte in langgezogenen Schwaden gegen die gewölbte Decke zu; durch die hohen Bogenfenster brachen die Strahlen der Morgensonne, in der tausend Staubkörperchen auf und ab tanzten.
Von den zopfigen Seitenaltären blickten verzerrte Gestalten mit blutenden Gliedern unter allerhand Flitter und Rauschgold hervor. Die schwere Atmosphäre, die warmen Sonnenstrahlen, die eintönige Stimme des Geistlichen legten einen süßen Halbschlummer über die ganze Gemeinde; Köpfe nickten wie schwere Aehren, gläserne Blicke starrten ins Leere – nur selten sah man ein Gesicht, auf dem ein Eindruck der langen Rede haften blieb.
Anna hatte jetzt Zeit zum Nachdenken, aber auch damit ging es nicht recht; sie fühlte die Blicke Rupert’s vom Chor her auf sich haften; ganz heiß wehte es gegen ihren Nacken, als ob er einen Kuß darauf drückte. – Wenn sie aufsah, fiel ihr Blick auf das Gemälde des Seitenaltars vor ihr: es stellte den heiligen Sebastian vor, aus unzähligen Pfeilwunden blutend, den schmerzverzerrten Blick zum Himmel gerichtet. Heute kam es ihr plötzlich vor, als gliche das Gesicht des Heiligen dem Rupert. Das strömende Blut, die klaffende Wunde machten sie jetzt schaudern, sie wußte selbst nicht warum. Wenn sie ihn so sehen müßte, so blutüberströmt – sie fühlte bei diesem gräßlichen Gedanken, der ihr so plötzlich gekommen, wie lieb sie ihn habe! – Zuweilen beobachtete sie die Mutter drüben im Stuhl, die tiefgebeugt da saß, wie ein altes Bild anzuschauen. Was sie sich dachte, konnte man den starren Zügen nicht absehen, und doch hätte Anna es gar zu gerne wissen mögen.
Endlich war die lange Predigt zu Ende. Manche hoben fast erschreckt die Köpfe, als der Priester verstummte, die Orgel brauste wieder durch die Wölbung; die Geigen und Klarinetten ertönten schrill, neue Weihrauchwolken wallten empor, die Gestalt des celebrirenden Priesters in geheimnißvolle Nebel hüllend.
Endlich ist das Amt zu Ende. Mitten im Accord bricht die Orgel ab, und Alles eilt der Thür zu.
Anna nimmt die Mutter am Arm und folgt der Menge. Draußen vor der Thür wartet schon Rupert; dann gehen sie, zwischen den Gräbern hindurch, dem kleinen Pförtchen zu, am Südende des Kirchhofs. Kein Wort wurde gesprochen. Bei einem Grabmal in rothem Sandstein blieb die Mutter stehen – „Hier ruht der ehrenwerthe Hanns Leitner, Langbauer zu S.“ stand darauf.
Sie nahm den kleinen Tannenzweig, der in dem Weihwasserkessel am Gitter steckte, und besprengte das Grab. Anna und Rupert thaten dasselbe. Die Alte knieete vor dem Gitter nieder und verbarg das Antlitz in den Händen. Sie fragte ihren Hanns da unten um Rath in dieser schweren Angelegenheit – Thränen drangen zwischen den Fingern hervor. Auch Anna war’s weh ums Herz, recht weh, sie wußte selbst nicht warum. Plötzlich erhob sich die Mutter, sie schien nicht mehr so gebückt zu sein; ein strenger Zug lag auf ihrem Gesicht, und bei jedem Schritt stieß sie energisch mit dem Stock auf den Boden. Anna und Rupert gingen ihr zur Seite und warteten ängstlich auf den Beginn der Unterredung. Doch die Alte sprach kein Wort unterwegs. Von der „Post“ herüber klang schon Tanzmusik, und ein Strom von geputzten jungen Mädchen und Burschen eilte lachend und scherzend der Richtung zu. Auch Reiser in der kleidsamen Forstuniform begegnete ihnen; er lachte verschmitzt, als er die ernste Gruppe sah.
„Das ist eine böse Stund’ für ’n Rupert,“ dachte er sich.
Im Hof angekommen, gingen sie in die untere Wohnstube, die Alte vor, die zwei Andern wie Verurtheilte, sich gegenseitig durch Blicke ermuthigend, hinterher. Die Mutter nahm auf der Ofenbank Platz, schwer athmend von dem etwas steilen Weg.
[111] „Setzt Euch!“ sagte sie kurz.
„Also Du willst den Rupert heirath’n, Anna?“ fing sie an, „muast net bös auf mi sei,“ wandte sie sich dann zu dem jungen Mann, dem der Schweiß auf der Stirn stand – „wenn i grad net erfreut bin über die G’schicht! Du magst ja a recht braver Mensch sei, woaß a nix Schlimm’s von Dir, aber – ’s giebt im Leben an Unterschied, da hilft all’s nix, net nur bei die Herrisch’n in der Stadt drinn, a bei uns Bauersleut! Die Langbauern sitz’n schon zweihundert Jahr auf dem Hof, geachtet und geehrt von Jedermann – a ächt’s Bauernbluat. Du bist a einfacha Jagersknecht –.“ Rupert zuckte zusammen, er wurde dunkelroth und wollte etwas erwiedern. – Die Alte winkte ab. „Nur net hitzi, Rupert, bei mir frucht’ dös nix – und wenn’st a d’ königliche Kron am Huat tragst – wir liab’n und schatz’n n’ hoch unsern König, mei Großvater selb’n liegt am Sendlinger Kirchhof drinn begrab’n. Das macht all’s nix, ja i sags off’n – wennst a viel Höchera warst, a Studirter, a Amtmann oder so was – i gäbet’s Dir do net gern mei Anna! Zur Bäu’rin g’hört a Bauer, so war’s von jeher Brauch hier zu Land. Wie i jung war, hat ma dös gar net anders g’wußt; die Leut hab’n no mehr Stolz g’habt auf ihr’n Stand! Jetzt is all’s anders! Einer will so viel sei als der and’re, nix werd mehr g’acht, koan Ehrfurcht giebt’s mehr – net vor der Muatter – net vor Gott! –“ sie stampfte wieder mit dem Stock auf den Boden. Ihr Greisenantlitz röthete sich vor innerer Entrüstung.
„I bin nur froh, daß i nimmer lang da bleib’n muaß auf dera verkehrt’n Welt!“
„Aber, Muatta,“ fiel Anna ein, „d’ erzürnt’s Euch do net so! Wir san ja da, um Euch um Eure Einwilligung z’ bitten! Auf den Knie’n d’rum z’ bitten!“
Sie kniete vor der Alten und barg schluchzend das Gesicht in ihrem Schoße.
„Mi bitt’n?“ erwiederte herb die Bäuerin, „und wenn i nun Na sag, was dann? Kommt dann der Rupert nimma auf d’ Alm zu Dir? Wissen’s denn nit scho alle Leut im Dorf, daß ös Liebsleut seid? Und wenn er’s dann a mal gnua hat und Di nimmer mag und Di verlass’n thuat, wenn er Di vorher in Schimpf und Schand’ bracht hat – o Gott! i mag gar net dran denk’n, Anna, es brechat mir’s Herz!“
„Aber, Muatterl,“ fiel nun schüchtern Rupert ein, „warum halt’s mi denn für gar a so schlecht? I hab’s halt gern d’ Anna. Wenn i a arm bin und nur a Jaga, darnach fragt d’ Liab net!“
„Für schlecht halt i Di deßweg’n net,“ erwiederte die Alte, „aber jung bist, und so g’nau hab’n ’s d’ Jaga nia g’nomma. Manche woaß davo zu d’erzähl’n! Manche is unglückli wor’n fürs ganze Leb’n! Und d’ Anna is a jung und heißblüati, und i möcht net Schuld sei an ihr’m Unglück! So nah am Grab g’wiß net! Darum, Anna, frag’ i Di no mal: kannst net leb’n ohne den Rupert? Hast’n wirkli so gern – bedenk’s wohl! – Ich seh’ koa Glück d’rinn, und wenn i das Opfer brächt’, nur um Di unglückli z’ sehn – das wär’ hart!“
Sie hielt sich mit der zitternden Hand an der Schulter der Tochter und verbarg weinend ihr Antlitz in das Brusttuch.
„I kann’s net anders sag’n, Muatter, als daß i den Rupert über All’s gern hab, daß i ihn zum Mann nehm’ oder koan! Sonst thät i Euch g’wiß den Kumm’r d’ erspar’n! D’rum gebt’s uns Euern Seg’n wir werd’n ’s Euch dank’n unser Leb’n lang!“
Die Alte kämpfte sichtlich in ihrem Innern.
„Guat,“ sagte sie endlich, „wenn’s net anders sei kann, liaba als daß i a Schand mit Dir derleb’, Anna – da habt’s mein Seg’n!“
Die Beiden knieten vor ihr, sich fest die Hände drückend. Die Alte legte die zitternden welken Hände auf die jugendlichen Scheitel.
„Werd’s glückli – wie i’s war mit mei’m Hanns, und Gott gäb’s, daß net wahr is, was i denk’!“
Zum offenen Fenster klang die Tanzmusik von der „Post“ herauf, und Böllerschüsse dröhnten durch das Thal, in den Bergen langsam vergrollend.
Die Alte mußte sich setzen, die Aufregung war zu groß. Nun, da sie ihre Einwilligung gegeben, war ihr Ernst geschwunden; jetzt waren es ja ihre Kinder, und auch Rupert war nicht mehr der Jäger, sondern ein Familienmitglied, der Erbe des Langbauernanwesens!
Sie hörte gespannt den Plänen zu, welche die jungen Leute, von denen jetzt der Bann genommen, lebhaft entwickelten: wie Rupert fest entschlossen sei, die Jägerei aufzugeben und ein tüchtiger Bauer zu werden, der gewiß dem Anwesen keine Schande machen soll. Auch Anna, der das Glück aus den Augen strahlte, versprach ihr immer aufs Neue, wie gut sie selbst es nun haben solle, wie brav und lieb der Rupert sei, und durch die Seele der Alten ging ein Erinnern an längst vergangene glückliche Stunden. Rupert’s tüchtiges Wesen machte ihr einen guten Eindruck. Sie betrachtete ihn fast schon mit Wohlgefallen; er stammte ja am Ende auch von Bauersleuten, wenn seine Familie auch verarmt war.
In Kurzem gelang es den jungen Leuten, die Mutter ganz herumzukriegen; zuletzt strahlte sie selbst wieder vom Glück ihrer Tochter und sah sich schon als Großmutter im jungen Hausstand. Man sprach auch schon von der Hochzeit, man wollte nicht lange mehr warten, noch vor dem Winter sollte sie sein und Rupert um seine Entlassung aus dem Jägerstand nachsuchen.
So verging der Vormittag, sie merkten’s kaum. Das Mittagessen wurde aufgetragen, der Oberknecht und die Dirnen setzten sich mit an den Tisch.
„Das is der künftige Bauer!“ erklärte ihnen die Alte, auf Rupert weisend, „steckt’s net lang d’ Köpf z’samm, wia dös so kumma is – warum? Es is so und bleibt so, wem’s net paßt, der kann geh’n.“
Die Leute kannten schon die barsche Weise der Bäuerin und daß sie es nicht so bös meinte, sie betrachteten nur neugierig das Paar und löffelten schweigend die Suppe aus.
Als das Mahl zu Ende, forderte die Alte selbst die jungen Leute auf, zum Tanz zu gehen in die „Post“.
„Jetzt wo’s mir recht is,“ sagte sie, „frag’ i den Kukuk nach dem G’red der Leut, bis nächst’n Sonntag les’n sie’s ja so scho an der Kirch’nthür!“
Das ließen sich die Zwei nicht noch einmal sagen. Sie hatten Angst genug ausgestanden und so geschwitzt hatte Rupert in seinem Leben noch nicht. Sie umarmten die Mutter, daß ihr ganz schwindlig wurde von diesem jugendlichen Feuer, und eilten der „Post“ zu.
Die alte Frau sah ihnen lange kopfschüttelnd nach, nahm dann ihr großes Gebetbuch und setzte sich in dieselbe Ecke, wo sie ein Leben lang gewohnt war, Aufmunterung und Trost aus den großgedruckten vergilbten Blättern sich herauszulesen.
Auf der „Post“ aber ging’s lustig her: zum hundertsten Male ertönte derselbe Walzer vom Tanzboden herab und die Fensterscheiben zitterten von dem Gestampfe der Tanzenden.
In dem tollen Wirbel da oben bemerkte man gar nicht die Ankunft des neuen Paares. Da stampfte, pfiff und schrie Alles durch einander in einer Wolke von Staub und Rauch. Die lärmende Musik schmetterte drein, eine glühende Hitze herrschte in dem engen Raum, Alles war in unbestimmte Nebel gehüllt, aus dem hier und da ein erhitztes Mädchengesicht – blaue und rothe Röcke hervorleuchteten.
Rupert und Anna, von einer unbändigen Freude und Lebenslust erfaßt, stürzten sich mitten in dieses Treiben, ihre hohen Gestatten überragten alle Andern. Als die Töne verklungen waren und die Paare in die Wirthsstube sich begaben, um andern Platz zu machen, wurde man erst auf die Beiden aufmerksam; wie ein Lauffeuer ging es durch die Menge. „Der Rupert und die Anna!“ – sie waren die Helden des Tages.
„Wie hat’s ganga mit der Alt’n?“ fragte Reiser, der schon einige Gläser über den Durst genossen zu haben schien – „giebt s’ nach?“
„All’s in Ordnung!“ entgegnete Rupert absichtlich laut, „die Anna is mei Braut! In Herbst is d’ Hochzeit und mit der Jagerei is aus!“
„No, i gratulir, i gratulir, Herr Langbauer! Die Birsch’n auf d’ Rainalm hab’n si guat rentirt, möcht’ a so eine mach’n! No, jetzt giebt’s do amal a lustige Hochzeit und a Schiaß’n, denn das muaßt halt’n – Du muaßt Di do zu guat’r Letzt no ordentli ausschiaß’n!“
Auch David war da, eben drückte er sich durch die Menge; er hatte auch die Neuigkeit gehört und wollte seine Glückwünsche anbringen.
„Is der Mathias net da?“ fragte ihn Rupert.
[112] „Na, Herr Rupert, der is nach M… ganga zu sein Bas’l (Kousine), wie er g’sagt hat’ dem muaß a was durch d’n Kopf gehn der hätt sonst heut’ net g’fehlt!“
Das verstimmte den Jäger, daß Mathias nicht da war; er ahnte, wo er war – beim Wildern! Sein Pflichtgefühl regte sich, sein Jägerehrgeiz – immer wieder von diesem Burschen gefoppt zu werden! Er gehörte am Sonntag ins Revier, nicht auf den Tanzboden, und wie ihn auch die Verhältnisse entschuldigen mochten, es setzte doch einen Verweis, wenn’s der Förster erfahren würde. Seine Gedanken waren draußen, er fühlte sich nicht mehr wohl da. Anna merkte seine Verstimmung.
„Ja was hast denn jetzt an so an glücklich’n Tag? G’wiß hat Dir der Reiser wied’r eppas in d’n Kopf g’setzt!“
„Der Mathias is net da,“ entgegnete er, „Du weißt so guat wia i, wo er is!“
„Aber laß do den Mathias sei, wo er will, was kümmern Di denn jetz no die Dummheit’n! Sei froh, daß Du’s los werst!“
„Net so, Anna , no bin i im Dienst und möcht’ net mit Unehr ’raus gehn, und dem Mathias möcht’ i’s gern no zeig’n, eh’ i geh’.“
Ihre Mühe, ihn aufzuheitern, war umsonst; auf jedem Gesicht glaubte er ein spöttisches Lächeln zu bemerken, das ihm galt; er wußte ja, daß sie ihn Alle nicht leiden konnten, besonders seit heute, und so fand er versteckte Bosheiten in den harmlosesten Worten der Leute.
Zuletzt sah Anna ein, daß es besser sei zu gehen, am Ende fing er gar noch Händel an. Auch war es schon bald gegen sechs Uhr, und sie wollte nicht so spät nach der Alm kommen.
Sie gingen zuerst nach Hause, um der Mutter Adieu zu sagen, die erstaunt war über ihre frühzeitige Rückkehr.
„Seid’s vernünfti, Kinder!“ sagte sie, „Du Anna, vergiß über die Liab net d’ Wirthschaft auf der Alm, und Du, Rupert, net Dein Dienst, so lang Du dafür bezahlt werst. Du sollst in Ehr’n entlass’n werd’n i möcht’ net, daß heißt: mei Tochter hat Di nachlässi g’macht; ich hab’ scho so was g’hört, weißt! No, die vierzehn Tag wirst Di wohl no z’samm nehma könna!“
Die Beiden versprachen Alles. Rupert war von den Vorwürfen, die er sich die ganze Zeit schon selber gemacht und die er jetzt auch von der alten Frau hören mußte, bitter getroffen.
„I werd die Leut scho zeig’n, Muatta, daß der Rupert no Jag’r is! Verlaß Di d’rauf! Nächst’n Sonntag werd’ i kam komma, da will i amal im Revier bleib’n! – Jetz b’hüat Gott, Muatta, und no amal taus’nd Dank für Dei Guatheit! Du sollst’s g’wiß net bereu’n, was than hast!“ Der Abschied war kurz, es ging ja nicht weit.
Die Sonne war schon hinter den Felsschroffen verschwunden. Ein kühler Luftzug wehte von den Bergen her; es war ein herrlicher Weg an diesem späten Sommerabend. Zuerst zwischen Heuhaufen hindurch, deren aromatischer Duft Alles umwogte; dann dem Fußsteig nach über die Matten und weiter hinauf durch die mächtigen, schon dämmernden Hallen des Hochwaldes, die nur dann und wann noch einen Lichtschein durchließen. Die Beiden waren ganz in sich verloren, unbewußt nur gingen sie den gewohnten Weg. Plötzlich dröhnte ein Schuß durch die abendliche Stille; ein zweiter folgte; Nachtvögel flogen erschreckt auf aus den dunklen Wipfeln; ein Reh schallte im Dickicht. Rupert fuhr jäh in die Höhe. Die Schüsse waren in seinem Reviere gefallen seiner Berechnung nach dem Wolfsschlage zu, hinter der Rainalm, und Wilderer mußten es gewesen sein; das Personal war ja alles unten in S.! Ein heißer Strom schoß ihm zu Häupten – das war ja der reine Hohn!
„Mathias is, koan Andrer,“ sagte er heftig zu Anna. „I will glei in d’n Kob’l schau’n, ob er da is – is er net da, so erwart i ihn und wenn d’ Sonn drüber aufgeht!“
Er stürmte voraus, dem Arbeitsplatz zu. Anna konnte ihm kaum folgen in der Finsterniß. Endlich erreichten sie nach langem Herumstolpern über Wurzeln und Gestein den Schlag.
Im Kobel brannte Feuer, und ein Mann bewegte sich davor; er erschien schwarz in dem grellen Schein. Rupert betrachtete ihn genau, er glaubte zu seinem Erstaunen Mathias zu erkennen; auch Anna sah angestrengt hin. Die Gestalt verschwand jetzt wieder. Rupert sprang eilig über den Schlag, Anna zurücklassend, die langsam nachfolgte.
Näher gekommen, fand Rupert den alten Toni, der eben kochte, und – er traute seinen Augen kaum – Mathias, der das Feuer schürte.
Diesmal war er’s also gewiß nicht, vielleicht auch sonst nicht; der es heute war, konnte es auch früher gewesen sein – am Ende hatte er Mathias doch Unrecht gethan! Es reute ihn fast, ihn so verdächtigt zu haben.
„Gut’n Abend, Leut!“ sagte er beim Eintreten, „habt Ihr kein Schuß g’hört vor a paar Minut’n?“
„Ja wohl, Herr Rupert!“ entgegnete Mathias, „den hab’n ma g’hört, gegen d’n Wolfsschlag zua – zwei hinter anand – ja, die Tiroler hab’n halt a g’wußt, daß was los is in S.,“ er konnte seine Freude darüber kaum verhehlen, „schad’, daß i da bin – sonst heißat’s glei: der Mathias war’s!“
Rupert mußte seinen Aerger verbeißen, diesmal war Mathias in seinem Recht. Unterdeß war auch Anna eingetreten.
„Na, da is er ja!“ sagte sie in ihrer offenen Weise, als sie Mathias erblickte, „mir is ordentli a Stoa vom Herz’n, daß Du da bist!“
„Aha,“ entgegnete dieser, „da hab’n ma’ ’s scho! d’ Anna kann si net verstell’n – natürli – i hab’s sei müass’n.“
Das waren neue Keulenhiebe für Rupert; also sein Revier war der Tummelplatz aller Wilderer: der Rupert is ja net z’ fürcht’n!
„Und warum glaubst Du,“ fragte er plötzlich Mathias, „daß das Tiroler war’n?“
„Weil i zwoa über d’ Laanaschneid hab einasteig’n sehn heut Nachmittag, wia i mei Bas’l b’suacht hab in M…! – Ja, die hab’n a woltere Schneid; de brauchas s’ d’erwisch’n und wann’st d’ as d’ erwischt, nachher hoaßt ’s erst aufpass’n; dö san net verleg’n um a Kugel; der Leonhart hat ’s erfahr’n.“
Rupert stand auf und reichte Mathias die Hand.
„Des mal hab i Dir Unrecht than, ob all’weil, woaß i net. Die vier Woch’n, wo i no Jag’r bi, werd i auf allerhand kumma, verlaß Di d’rauf!“
Mathias sah erstaunt auf – ein Gedanke blitzte in ihm auf, daß ihm das Blut in das Gesicht trieb.
„Nur mehr a paar Woch’n? Und nacher?“
„Nacher bin i Langbauer!“ erwiederte nicht ohne Stolz der Jäger.
Mathias sah starr auf die Beiden. Der alte Toni verschüttete fast das ganze Schmalz vor Staunen.
„No da gratulir i!“ preßte Mathias mühsam hervor, sich zu Anna wendend, „das is schnell ganga! Wer hätt dös dacht vor an Jahr, wie wir am Leonharditag auf der ‚Post‘ war’n mit anand und mit anand auffigang’a san auf d’ Alm, wie Du heut’ mit ’n Rupert!“
Er sah Anna durchdringend, fast drohend an, daß sie verlegen wurde.
„Was doch a Jahr all’s ändern kon!“
Auch dem Jäger war die Wendung, die jetzt das Gespräch zu nehmen drohte, sehr unangenehm. Er wußte wohl, daß vor ihm Mathias in einem nähern Verhältniß zu Anna gestanden hatte. Es war ihm nicht eingefallen, darüber nachzugrübeln; auf der Alm ist es einmal so, und man ist nicht so skrupulös im Gebirg. Jetzt auf einmal kam ’s ihm, daß Mathias ihn hassen müsse als seinen Nebenbuhler.
„Schau, schau, die alt’ Langbäuerin – hat di a der Zeit nachgeb’n müass’n! Das, wann der Hanns wüßt’, im Grab draha’t er si no um in sein Stolz!“ sprach der alte Toni vor sich hin.
Rupert nahm Anna am Arm und ging; es war ihm nimmer recht heimlich hier.
Draußen war jetzt pechschwarze Nacht; in der Ferne grollte der Donner; ein Gewitter war im Anzuge, und schon fielen schwere Tropfen raschelnd auf das Laub.
„Siehst, daß den Mathias Unrecht thun hast!“ begann Anna, „i hab’ D’r ’s ja g’sagt!“
„Laß mi do mit d’m Mathias in Ruah! A Lump is er do!“ rief erregt der Jäger, „wann i mi a heut g’irrt hab; übrigens sag a mal –“ er blieb stehen und ergriff beide Hände des Mädchens – „wie weit bist Du eigentli komma mit dem Mensch’n; er hat ja grad ’than, als hätt i Di ihm weg’g’schnappt; sag’ mir ’s ehrli, Anna!“
[113]
[114] „Nachg’lauf’n is er mir halt,“ entgegnete sie, „Schritt und Tritt, i hab’s eam net verwehr’n können und –“ sie stockte etwas – „ungern g’sehn hab’n i a net! Er is ja a saub’rer Bursch und a braver Mensch – von Liab war freili no koa Red’ – daß eam grad’ di Nachricht von unserer Heirath koä Freud g’macht hat, kann i eam net verübel’n! Da müaßt er koa Mannsbild sei!“
Rupert entgegnete nichts. Es begann jetzt stark zu regnen, und grelle Blitze zuckten über den Buchenwald, daß er für Augenblicke im blauen Licht stand. Sie stiegen eilig aufwärts. Alle Freudigkeit der Natur war verschwunden und eben so der Frohsinn in ihren Herzen. Als sie durchnäßt und athemlos vor der Alm angekommen waren, nahmen sie Abschied; er mußte in die Winterstube, die nicht weit von der Alm gelegen war, wo er sein Jagdzeug zurückgelassen hatte; in aller Früh’ wollte er im Dienst sein. Anna drückte den Geliebten fest an sich, und als eben ein Blitz die Landschaft erhellte, sah er Thränen über ihre Wangen rollen.
„Was hast denn, Anna?“ sagte er, „an so an Freud’ntag woana?“
„Mir is so bang, Rupert, als wenn a Unglück unterweg’s wär’, es preßt ma d’ Thräna ’raus, i kann nix dafür!“
„A was, das hat g’wiß der Mathias verschuld’ mit sein G’schwätz, und ’s G’witter macht eim a so bang! Morg’n muß i zum Förster, weg’n mein Abschied, nacher komm i zu Dir! Wie d’ Sonn scheint, is all’s anders! Pfüa’ Gott, Anna, mei liabe Anna! Das war ja a freudiger Tag, der soll net so ausgeh’n!“
Ihre Küsse schallten durch die Nacht, dann verschwand Anna in der Hütte.
Rupert stieg den schmalen Steig zur Jägerhütte hinab; Blitz auf Blitz zuckte, in grellem Schein den Weg beleuchtend. Als er unten war, sah er noch einmal gegen die Hütte hinauf und that einen Juchschrei. Niemand antwortete, und selbst bedrückt ging er durch die Nacht, die ihnen Allen heute keine Ruhe bieten sollte; nicht der Anna, die im Stübchen auf den Knieen lag vor dem schmerzverzerrten Heiland in der Ecke, in unbewußter Herzensangst – nicht für Rupert, den der Schlaf floh auf seinem Heulager und den wüste Träume quälten – nicht für Mathias, den die Qualen der Eifersucht wie Schlangenbisse vom Lager trieben. Dazu brüllte der Donner unaufhörlich, Blitz auf Blitz zuckte hernieder, schwefligen Geruch verbreitend – tosend stürzte der Bergbach, vom Regen angeschwellt, in die Tiefe.
Die Revolution in Sofia
In diesen Tagen erscheint ein Buch, das, ganz in unserer Zeitgeschichte stehend, mit Spannung erwartet wird. Es sind dies „Mittheilungen aus dem Leben und der Regierung des Fürsten Alexander von Bulgarien. Nach persönlichen Erinnerungen von Adolf Koch.“[1] – Alsbald nach der Erwählung des Prinzen Alexander von Battenberg zum Fürsten von Bulgarien erhielt Herr Adolf Koch eine Berufung als Hofprediger nach Sofia und befand sich seit dieser Zeit in einer Vertrauensstellung bei dem Fürsten. Bei Ausbruch der Revolution in Sofia bemühte sich die außerhalb des Palais wohnende Umgebung des Fürsten vergeblich, zu demselben zu dringen, und so entschloß sich Hofprediger Koch dem Fürsten nachzureisen und ihm, wenn irgend möglich, Hilfe zu schaffen. Aber erst in Lemberg traf er den Fürsten, als dieser eben angekommen war, und überbrachte ihm die ersten vollständigen Nachrichten von dem, was unterdessen in Bulgarien und in der übrigen Welt vorgegangen.
Und hier in Lemberg war es, wo Fürst Alexander seinem Hofprediger die Vorgänge der letzten Tage erzählte. Unseren Beziehungen zu dem uns befreundeten Verleger des Buches und der Erlaubniß des Verfassers verdanken wir es, wenn wir vor Ausgabe des Werkes die Erzählung des Fürsten hier wiedergeben, wie sie im Buche selbst zu lesen sein wird.
Ich hatte, so erzählt Fürst Alexander, am 21. August bis tief in die Nacht hinein gearbeitet und war kaum eingeschlafen, als ich durch Lärm, der von dem Gang vor meinem Schlafzimmer aus zu mir drang, wieder geweckt wurde. Es mochte etwa 1/22 Uhr gewesen sein. In dem nächsten Augenblick stürzte auch schon mein bulgarischer Diener Dimitri in mein Zimmer und rief, an allen Gliedern zitternd und bebend: „Sie sind verrathen; man will Sie ermorden. Fliehen Sie, ehe es zu spät ist.“ Ich sprang aus dem Bette und nahm meinen Revolver in die Hand. Da hörte ich militärische Kommandorufe und athmete erleichtert auf. Ich sagte zu Dimitri. „Ich bin gerettet, das Militär ist da.“ Der aber, immer noch bebend„ stieß die Worte hervor: „Nein, fliehen Sie, das Militär ist’s gerade, das Sie tödten will.“ Da stürzte ich im Hemd an die zum Garten führende Thür; aber sowie ich dieselbe öffnete, bekam ich Feuer. Gleich darauf hörte ich Schüsse von allen Seiten. Ich ging daher durch den dunkeln Korridor nach der Dienertreppe und in den ersten Stock hinauf in den Wintergarten, um von dort aus einen Ueberblick zu gewinnen und zu sehen, ob es noch möglich wäre, zu entkommen. Es war da droben so dunkel, daß ich meine Hand nicht vor den Augen sehen konnte, aber an der Feuerlinie der schießenden Soldaten konnte ich erkennen, daß das ganze Palais umstellt und an ein Entkommen nicht mehr zu denken war; die einschlagenden Kugeln ließen keinen Zweifel an dem Ernst der Lage aufkommen. Zugleich hörte ich die hundertstimmigen Rufe. Dolu Kajaz! (Nieder mit dem Fürsten!) Darauf ging ich in mein Zimmer zurück, um meine Uniform anzuziehen; denn ich wollte mich wenigstens in Uniform niederschießen lassen. Im Zimmer wieder angekommen, beschloß ich Licht zu machen; aber sofort schossen die Soldaten zum Fenster herein. Deßhalb löschte ich mein Licht wieder aus und zog im Dunkeln, so schnell ich konnte, und ohne erst Unterkleider und Strümpfe anzulegen, meine Uniform an.
Während dessen wurde der Lärm, das Waffengeklirr und Geschrei aufgeregter Menschen immer stärker. Als ich fertig war, trat ich hinaus auf den Korridor. Dort wurde ich sofort von einer Masse Menschen umringt, und obwohl nur eine einzige Stearinkerze brannte, konnte ich doch an dem Blitzen der Bajonette sehen, daß etwa 150 Mann um mich herstanden. An Widerstand war natürlich nicht zu denken, da nur zwei Leibwächter da waren. Diese wollten zwar Feuer geben, aber ich verbot es ihnen. Ich ging nun, gedrängt von diesem Menschenhaufen, in die Vorhalle des Palais. In demselben Augenblicke kam auch mein Bruder. Wie ich dastand, riß ein frecher Kadett aus dem auf dem Tische aufliegenden Einschreibebuch ein Blatt heraus, und die ganze, wie deutlich zu spüren war, stark angetrunkene Schar schrie mir zu: ich solle meine Abdankung unterschreiben. Einige der Frechsten, darunter namentlich Kapitän Dimitriew, hielten mir dabei den Revolver unter die Nase. Eine Unterhaltung mit diesen aufgeregten Menschen war unmöglich. Nur das Eine konnte ich ihnen sagen: sie sollten selber schreiben, da ich nicht wisse, welchen Grund ich für meine Abdankung angeben solle. Da nahm einer der umstehenden die Feder und begann zu schreiben, machte aber in seiner Betrunkenheit so viel Kleckse und unleserliche Zeichen, daß er selbst, wie er das Geschriebene vorlesen wollte, den Versuch wieder aufgab. Da nahm ich ohne Weiteres die Feder und schrieb auf dieses Papier: „Gott schütze Bulgarien! Alexander.“ Kaum hatte ich geschrieben, so rissen sie mir das Blatt unter den Händen weg, und Kapitän Dimitriew steckte es, ohne es anzusehen – so aufgeregt war er – in die Tasche. Dann verlangten sie von mir, daß ich nach dem Kriegsministerium gehe. Dort wurde ich in ein Zimmer gebracht und innerhalb und außerhalb meines Zimmers wurden Soldaten als Wachen aufgestellt. Außerdem ging ein Officier mit dem Revolver in der Hand in meinem Zimmer auf und ab.
Während ich noch dort war, kam Kapitan Venderew, die Hände in den Taschen, um sich an meinem Anblick zu weiden. Ich fragte ihn: „Was habt Ihr mit mir vor?“ und erhielt als Antwort: „Du kommst nach Rußland.“ Eine halbe Stunde später wurde ich gezwungen, in einen Wagen zu steigen, ohne daß mir erlaubt worden wäre, meinen Bruder, wie ich gewünscht hatte, zu mir zu nehmen. Er mußte in einen andern Wagen steigen. Beim Einsteigen bemerkte ich etwa 50 Officiere, die ruhig meinem Weggehen zusahen. Wir fuhren zunächst auf der Orchanier Straße, bogen aber bald rechts ab und hielten etwa 25 Kilometer von Sofia in einem elenden Kloster auf dem Eropolbalkan. Dort wurden wir in ein enges dumpfes Gemach gesteckt, das voll von Flöhen, Wanzen und sonstigem Ungeziefer war und keinen Tisch und Stuhl enthielt. In der Nacht um zwei Uhr wurde ich geweckt. Man brachte mir Civilkleider aus Sofia. Am folgenden Morgen ging es weiter über Teschkesen, wo wir uns einige Zeit aufhielten, nach Vrazza auf holperigen, steinigen Wegen. Wir kamen Abends zehn Uhr dort an. Die Stadt schien wie ausgestorben. Die Nacht brachten wir in einem elenden Hau[s] zu. Morgens 51/2 Uhr wurde wieder aufgebrochen. Zehn Kilometer hinter der Stadt auf der nach Rachowa führenden Chaussee, an einer Stelle, wo sich das Terrain wellenförmig erhebt und Tannengestrüpp sich zu beiden Seiten der Straße hinzieht, wurde plötzlich Halt gemacht. Ich sah, wie die Officiere sich im Walde zerstreuten, augenscheinlich, um etwas zu suchen. Ich ahnte sofort Unheil, und in der That suchten sie, wie mir später der wachhabende Officier mittheilte, einen Platz aus, um mich zu erschießen, weil sie in Vrazza die sichere Nachricht erhalten, daß ein Theil der Truppen sich geweigert habe, der neuen Regierung den Eid zu leisten. Nach einer peinlichen halben Stunde ging es weiter. Nachmittags drei Uhr erreichten wir bei Rachowa die Donau. Dort konnte ich einige Augenblicke mit dem Kapitän eines österreichischen Donaudampfers sprechen und erhielt von diesem den Antrag, er wolle mich, falls ich auf sein Schiff kommen könne, an das rumänische Ufer bei Piket übersetzen. Aber es war mir unmöglich. Ich mußte meine Yacht besteigen, die von Rustschuk geholt worden war, und fuhr mit derselben unter Bedeckung von etwa 100 Mann und vielen mir meist ganz unbekannten Officieren stromabwärts.
Ich und mein Bruder mußten uns in dem Speisesaal aufhalten, dessen Fenster und Thüren mit Doppelposten besetzt waren. Während des Tages war es unerträglich heiß. Die Maschine unseres Schiffes wurde [115] überheizt, um die Fahrt zu beschleunigen und so jeden Rettungsversuch zu verhindern, der etwa von rumänischer Seite hätte gemacht werden können. Glücklicherweise wurde keiner gemacht; denn die Wache-Officiere hatten den gemessenen Befehl, mich beim ersten Rettungsversuch niederzuschießen. Um Mitternacht fuhren wir an Rustschuk, folgenden Tages zwei Uhr Nachmittags an Galatz vorüber. So oft wir an einer Stadt vorüberfuhren, legte sich die Wachmannschaft auf Befehl nieder, damit sie nicht gesehen würde. Vier Uhr Nachmittags endlich langten wir an der russischen Grenze an und legten bei der Grenzwache an. Um fünf Uhr etwa fuhren wir dann vollends nach Reni. Merkwürdigerweise war Niemand an der Landungsbrücke, nicht einmal ein Gendarm. Ein Officier fuhr in die Stadt und hörte, daß man mich nicht annehmen könne, da von Petersburg keinerlei Instruktionen da seien. Wir blieben deßhalb auf dem Schiffe. Um 91/2 Uhr des folgenden Tages meldete sich bei mir ein Gendarmerie-Oberstlieutenant und zeigte mir ein Telegramm von Obrutschew, in dem stand, daß die Behörden von Reni den Prinzen von Battenberg übernehmen und auf dem kürzesten Weg nach der Grenze reisen lassen sollten; das Gendarmerie-Kommando sei für die Sicherheit des Prinzen verantwortlich, da sein Leben in Rußland in Gefahr sei. Auf meine Bitte telegraphirte dann der Oberstlieutenant nach Petersburg, ob ich nicht via Galatz reisen, also auf rumänisches Gebiet übertreten dürfe. Dies wäre der kürzeste Weg gewesen; aber die Antwort kam, der Prinz dürfe nur über Woloczyska oder Warschau reisen.
Um zehn Uhr etwa betrat ich den russischen Boden, bestieg mit meinem Bruder einen Wagen und fuhr, gefolgt von einem russischen und einem bulgarischen Officier, zu dem Bürgermeister von Reni, wo mir Quartier angewiesen worden war.
Mein Hausherr war ein freundlicher, liebenswürdiger Bulgare. Leider war ich immer noch nicht frei: vor meinem Hause standen zwei berittene Gendarmen, im Hofe waren drei Wachtposten, in der Nacht schlief ein Gendarmerie Rittmeister vor meiner Thür. Auf meine Bitte hatte mir die Regierung einen Extrazug nach Rasdelnaja zur Verfügung gestellt, mit dem ich den Odessaer Schnellzug erreichen konnte. Morgens in aller Frühe fuhren wir zum Bahnhofe, und da ich nothwendig, um das Geld, das mir in einer Cigarrenkiste übergeben worden war, nicht auf den Armen tragen zu müssen, eine Tasche brauchte und sah, wie der Lokomotivführer sich sein Frühstück in einem Ledersack herbeitrug, kaufte ich ihm denselben ab. Unser Zug ging Morgens 71/4 Uhr ab. In dem benachbarten Koupé saßen ein Polizeipristaw und drei Gendarmen. Wo angehalten wurde, besetzten stets zwei Gendarmen die Eingänge zu beiden Seiten. Abends 7 Uhr etwa kam ich in Bender an. Dort sind gegenwärtig vier Infanterie- und eine Kavalleriedivision (das Regiment meines Vaters Nr. 23 und das Regiment Erzherzog Karl Ludwig Nr. 24) vereinigt. Schon wie der Zug in diese Station einfuhr, gewahrte ich auf dem Perron ein sehr zahlreiches Publikum, das mich neugierig anstarrte. Trotz meiner Bitten, es zu unterlassen, wurden doch die Lichter im Wagen, der ohne Vorhänge war, angezündet, so daß ich wie in einer Laterne saß. Neun Uhr Abends kam unser Zug in Rasdelnaja an, wo ich nach kurzem Aufenthalt in dem Odessa-Kiewer Schnellzug ein Schlafwagenkoupé bestieg, zugleich mit einem neuen Pristaw und zwei Gendarmen. Um 10 Uhr kam ich an die österreichische Grenze und wurde enthusiastisch begrüßt. Dort war es auch, wo ich zum ersten Mal las, was in Bulgarien vorgegangen war, indem ich im Wagen eine Nummer der „Neuen freien Presse“ zu lesen bekam.
Ich bin entsetzlich müde und habe in diesen acht Tagen furchtbar gelitten. Die physischen Qualen sind nichts gewesen, aber der Undank meines Volkes, an dessen Wohl ich unermüdlich gearbeitet zu haben glaube, der Undank meines Heeres, das ich zum Siege geführt, hat mich tief verwundet, und dann die qualvolle Lage, in der ich fünf Tage mich befand, als ich nicht wußte, ob ich nicht in der nächsten Minute eines elenden Todes von Verbrecherhand würde sterben müssen, – das war zu viel.
Der Verfasser erzählt dann, wie bei dem Fürsten schon Tags darauf, als er von der treuen Anhänglichkeit seines Volkes und Heeres gehört hatte, die alte Liebe zu seinen Bulgaren erwachte und er sich entschloß, ungesäumt in sein Land zurückzukehren.
Blätter und Blüthen.
Ein Zeuge der Urwälder Deutschlands. (Mit Illustration S. 101.) Der Baumstumpf, den unser Bild zeigt, ist der Rest einer vielleicht tausendjährigen Eiche, welche im Sommer 1883 in der Nähe von Dötzingen bei Hitzacker im Ufersande der Elbe aufgedeckt wurde. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß die Elbe in früherer Zeit ein weiter nördlich gelegenes Flußbett hatte. Dies beweisen die noch jetzt dort üblichen Benennungen: „Bracke – Hacken – taube Elbe etc.“ Auch weiß man, daß das jetzt am linken Elbufer gelegene Schloß zu Blekede (jetzt Amtssitz) von Heinrich dem Löwen am rechten Elbufer zum Schutz gegen die Wenden und Slaven erbaut wurde. Durch irgend ein Naturereigniß, vielleicht in Folge einer Eisstauung, hat die Elbe dann ihr altes Bett verlassen und sich ein neues gebildet in den weiten Urwäldern, welche damals die Ebene bedeckten, Alles vor sich niederwerfend und verheerend.
Durch den seit 1866 energisch betriebenen Bau von Buhnen[2] wird der Strom vom jetzigen Ufer abgeleitet und nicht allein mehr beengt, sondern gleichzeitig auch vertieft, wodurch er selbst beim niedrigsten Wasserstande noch immer für größere Schiffe fahrbar bleibt. Der mitten im Strombett lagernde Sand verschiebt sich von Jahr zu Jahr und lagert sich hinter den Buhnen an, dort große Uferstreifen bildend. Hierdurch sind nun in den letzten Jahren Tausende von Eichenstämmen, welche seit Jahrhunderten im Flußbett versandet lagen, aufgedeckt worden und diese müssen, da sie die Schifffahrt gefährden, gehoben werden. Es werden daselbst manche Stämme von kolossaler Stärke gefunden, welche trotz ihrer Verstümmelung ein herrliches Bild von der Wälderpracht dortiger Gegend in früheren Zeiten geben.
Der stärkste unter allen aufgedeckten Stämmen war der von uns abgebildete. Der mit dem Herauswinden des Holzes betraute Schiffbauer Jahnke setzte eine Ehre darin, diesen Riesenstamm möglichst ungetheilt ans Ufer zu schaffen; jedoch mußten zunächst die drei mächtigen Hauptäste von je 15 Meter Länge unter Wasser abgesägt werden. – Der in der Nähe wohnende Graf von Oeynhausen zu Dötzingen, dessen Forstrevier durch die Elbe begrenzt wird, beschloß, den nunmehr astlosen Riesenstumpf auf seinem Gute vor dem Herrenhause aufzustellen, damit derselbe noch für lange Jahre Zeugniß geben könne von den Urwäldern, welche in früherer Zeit dort den Boden bedeckten und uns nur noch aus Sagen bekannt sind.
Der Transport des Baumkolosses, welcher etwa auf eine Meile Entfernung fortgeführt werden mußte, war natürlich mit großen Schwierigkeiten verbunden. Da der Stamm, so wie er am Ufer lag, in seiner ganzen Länge unmöglich fortbewegt werden konnte, so beschloß man, denselben in vier Theile zu zerlegen. Um dieses bewerkstelligen zu können, mußten zunächst drei Sägeblätter an einander geschweißt werden. Nach dieser Zertheilung wurde nun jeder Block für sich zwischen zwei Kähnen befestigt und bis auf eine Viertelstunde vom Gute zu einer geeigneten Abladestelle geschafft. Von hier aus mußten die einzelnen Blöcke auf einem besonders dazu angefertigten Rollwagen nach dem Gute gefahren werden; der Transport jedes Blockes erforderte 12 bis 16 Pferde.
Auf dem Gutshofe angelangt, mußten die einzelnen Theile wieder vereinigt werden. – Mit Hilfe der an geeigneter Stelle bereits aufgestellten Hebzeuge und mächtigen Winden gelang es, die Blöcke in ihrer ursprünglichen Stellung vollständig genau wieder auf einander zu setzen und zusammenzufügen. Die von der Rinde größtentheils entblößte Rieseneiche zeigt, wie sie jetzt steht, genau gemessen folgende Dimensionen: Höhe 7,4 Meter; oberer Umfang 9 Meter; oberer Durchmesser 2,86; mittlerer Umfang 7,6 Meter; mittlerer Durchmesser 2,43; unterer Umfang 8 Meter; unterer Durchmesser 2,55; Kubikinhalt 34,9 Fest-Meter.
Schicksale einer deutschen Lehrerin in Frankreich. Das Los der
nach Frankreich verschlagenen und dort ansässigen Deutschen ist nicht immer
beneidenswerth: die Feindseligkeit der Franzosen gegen die Deutschen macht
sich zum mindesten in allen den Fällen bemerkbar, wo die Deutschen, und sei
es auch ganz ohne Schuld, in eine mißliche und schiefe Lage gerathen. So
erging es, wie die Tageszeitungen berichten, einer aus Westfalen stammenden
Lehrerin, welche Erzieherin in einer französischen Grafenfamilie geworden war.
Nachdem ihr diese Stellung gekündigt, suchte sie sich durch Unterricht in der
deutschen Sprache in Paris ihren Unterhalt zu erwerben: es fiel ihr dies
schwer, da sie keine Empfehlungen besaß. So wurde sie, durch die Noth gezwungen,
Arbeiterin in einer Posamentirfabrik. Eines Tags, als sie in einer
Wirthschaft zu Mittag gegessen, konnte sie nicht bezahlen: sie hatte ihr
Portemonnaie zu Hause liegen lassen. Darauf wurde sie verhaftet, wegen
Zechprellerei verurtheilt und an die deutsche Grenze geschafft. Fast ohne
alle Mittel wollte sie zu Fuß nach Metz wandern, wurde indeß in Vic
als Landstreicherin verhaftet. Von der Metzer Strafkammer aber, welche
ihrer Erzählung vollständigen Glauben schenkte, wurde sie gänzlich freigesprochen.
Jedenfalls ist es mit Gefahren verbunden, wenn sich gebildete
deutsche Mädchen oder Frauen gegenwärtig in Frankreich als Lehrerinnen
ihr Brot verdienen wollen; man kann ihnen nur rathen, sich, besonders
in Krankheitsfällen, an den deutschen Hilfsverein in Paris zu wenden,
von dem wir in Nr. 43, Jahrgang 1882 berichteten. †
Willkürliches Einstellen der Lebensfunktionen. Die beiden Virtuosen des Fastens, Succi und Merlatti, beschäftigten vor Kurzem das allgemeine Interesse. Ihre Leistungen boten den Sachverständigen schwerlich etwas Neues. Auch der Laie mußte sich dabei an das Fasten des amerikanischen Doktor Tannert erinnern, und der Kulturhistoriker weiß von einer ganzen Reihe von Menschen zu erzählen, die in völliger Enthaltsamkeit von jeder Speise Erstaunliches leisteten. Bei dieser Gelegenheit dürfte es jedoch für Manchen interessant sein zu erfahren, daß es möglich ist, auch andere Lebensfunktionen für eine gewisse Zeit willkürlich einzustellen. Am auffälligsten ist unter diesen Erscheinungen ohne Zweifel die „Enthaltsamkeit von der Luft“, das willkürliche Einstellen der Athmung. Wir gewöhnlichen Sterblichen glauben schon, eine bemerkenswerthe Leistung gemacht zu haben, wenn wir eine Minute lang den Athem anhalten. Es giebt aber eine ganze Klasse von Menschen, die Taucher, welche, ohne zu athmen, zwei bis drei Minuten unter Wasser verweilen können. Vor wenigen Jahren bereiste eine Miß Lurline die Welt und hielt sich in einem mit Glasfenstern versehenen Bassin zweiundeinhalb Minuten unter Wasser auf, zum Staunen und zur Genugthuung des schaulustigen Publikums. Ein sehr geübter Taucher muß auch jener indische Verbrecher gewesen sein, der sich in den Fluthen des heiligen Ganges verbarg, und zwar in der Nähe eines vornehmen Damenbades, um hier Raubmord zu begehen. Es ist ihm auch gelungen, eine der Arglosen an den Füßen hinabzuziehen und zu ertränken. Er raubte ihre Kleinodien und schaffte die Leiche bei Seite. Man glaubte damals, die Unglückliche sei das Opfer eines Krokodils geworden. Aber eine andere Frau wußte sich des Angreifers zu erwehren. Man fing ihn und ließ ihn hängen. Dies geschah, wie die Zeitschrift „La Nature“ seiner Zeit berichtete, im Jahre 1817. Indien ist überhaupt die Heimath derartiger Leistungen. Die dortigen Fakire wissen sich in den Zustand einer „heiligen Ekstase“ zu versetzen, indem sie alle ihre Gedanken auf
[116] das mystische Wörtchen „om“ lenken und langsam athmen, sodaß anfangs jede Einathmung 12 Sekunden und jede Ausathmung 24 Sekunden dauert. Allmählich dehnen sie die Zwischenräume zwischen dem einen und anderen Einathmen aus, sodaß sie, wie einige Reisende berichten, nach vier Monaten sogar anderthalb Stunden keine Luft zu schöpfen brauchen!
Diese Fakire bringen auch das Kunststück fertig, sich lebendig begraben
zu lassen. Sie versetzen sich unmittelbar vor einem solchen Begräbniß in
einen kataleptischen Zustand, welcher dem Scheintode nicht unähnlich erscheint,
und bleiben wochen-, ja manchmal monatelang eingemauert oder
unter der Erde begraben. Da sie Derartiges öfters als Buße für irgend
einen vornehmen Indier gegen Geld und gute Worte ausführen, so gehören
diese ihre Uebungen keineswegs zu den „brotlosen Künsten“. *
Holzknechtsball der Gesellschaft der „Naßwalder“ in Wien. (Mit Illustration Seite 113.) Die lebensvolle Illustration des trefflichen Künstlers W. Gause führt dem Leser vor Augen, welche Freude an der Geselligkeit, an bunter Pracht dem Wiener innewohnt. Das Bild, zu dem diese Zeilen gehören, stellt einen Ball dar, den die Wiener „Naßwalder“ veranstalteten. Dieser Verein widmet, wie so viele andere, das Reinerträgniß seiner Festlichkeiten humanitären Zwecken; besonders werden arme Gemeinden des Naßwalds, einer naturschönen Gegend Niederösterreichs, berücksichtigt. Die Bälle des Vereins erlangten bereits seit Jahren eine große Berühmtheit, namentlich durch die originelle und für Wien charakteristische Art und Weise der Inscenirung. Am meisten beliebt dürften seine sogenannten Holzknechtsbälle sein, wo die Gäste in passenden Kostümen erscheinen; diese Bälle gehören zur Gattung der „Bauernbälle“, welche zu den eigenthümlichsten und originellsten Wiener Kostümfesten zählen. Nicht nur die Ausschmückung und Gestaltung des Balllokals trägt dort ländlichen Charakter, sondern auch das Verhalten der Ballbesucher muß genau dem Wesen des Festes entsprechen. Das konventionelle „Sie“ ist streng verpönt, das „Du“ ist die allgemeine Anrede. Wer dagegen verstößt, muß eine kleine Geldbuße in die Wohlthätigkeitskasse einzahlen. Links im Hintergrund des Bildes ist eine kleine Hütte bemerkbar: das ist das „Burgamaster-Amt“, hier können sich Paare ungestört „trauen“ und auch ohne viel Federlesens wieder „scheiden lassen“, aber wie diese Ceremonien im Leben, so sind sie auch in der Komödie mit einigen Baarauslagen verknüpft. Im Saale streifen durch ihr Kostüm erkenntliche „Wachter“ herum, welche Sorge tragen müssen, daß den Gesetzen Folge geleistet wird.
Man darf übrigens nicht glauben, daß an solchen Vergnügungen bloß „das Volk“ Theil nimmt; der kleine Bürgerstand stellt zu diesen Amusements allerdings das größte Kontingent; doch erblickt man ab und zu auch Vertreter der Geburts-, Geld- und Geistesaristokratie, welche es nicht verschmähen, sich mit einem schmucken Wiener Kind zu duzen. Das ganze muntere, bunte Treiben versetzt in jene Stimmung, in welcher der Wiener ausruft: „’s giebt nur a Kaiserstadt, ’s giebt nur a Wien!“
Ein neuer Roman von Jensen. Wilhelm Jensen hat durch seine bisherigen Werke sich die Anerkennung der Kritik errungen, weil dieselben den Hauch echt poetischer Stimmung athmen und reich sind an genialen Schilderungen und Gedanken. Das große Publikum fand indeß in ihnen manches Fremdartige, das ihm den Genuß einer harmlosen Lektüre verkümmerte: ein geheimnißvoller romantischer Zug geht durch die Erzählungen; etwas Märchen- und Sagenhaftes ist darin mit den Verhältnissen des modernen Lebens oder mit den geschichtlichen Thatsachen in eigenartiger Weise verknüpft; der Dichter giebt manche schwer lösbare Räthsel auf und rückt vieles in eine düstere Beleuchtung. Selten treten seine Gestalten aus dem Halbdunkel heraus, das sie umgiebt. Die blaue Blume der Romantik hat sich die Muse von Jensen wie die von Novalis vorgesteckt, und wie diejenige Jean Paul’s liebt sie oft, ihren phantasievollen Träumereien und selbstgenugsamen Gedankengängen nachzugehen und damit den Fortgang der fesselnden Handlung zu unterbrechen.
In seinem neuen Roman „In der Fremde“ zeigt die Handlung mehr
Beschränkung und Zusammenhalt, ohne daß der Dichter dabei die Vorzüge
verleugnet, die ihm eigen sind. Die Heldin ist eine Pfarrerstochter,
die sich mit einem Predigtamtskandidaten verheirathet, aber am Tage der
Hochzeit mit einem Edelmann, dem sie in leidenschaftlicher Liebe zugethan
ist, das Weite sucht. Für diesen Frevel bleibt die Sühne natürlich nicht
aus: jene Flucht selbst ist durch eine feine Seelenmalerei erklärt, die
man in dem Werke selbst nachlesen muß; jede auszugsweise Berichterstattung
würde zu leicht einen der feingesponnenen Fäden zerreißen, so daß nur
die an und für sich abstoßende Thatsache übrig bliebe. Die Idylle des
Pfarrhauses ist meisterlich gezeichnet, ebenso der ergreifende tragische
Abschluß. Die Darstellungsweise meidet das Ueberschwängliche, das
manchem früheren Romane Jensen’s eigen ist; sie spart mit den Mitteln
und erreicht um so sicherer die gewünschte Wirkung. †
Das Denkmal Wilhelm Müller’s in Dessau, zu welchem vor
zwei Jahren, wie wir in diesem Blatte bereits berichtet haben,[WS 1] der
Grundstein gelegt worden ist, soll nun bald in Angriff genommen werden.
Wie wir erfahren, will die griechische Regierung den Marmor dazu liefern.
Es ist dies eine Liberalität, durch welche sie den Dichter der Griechenlieder
ehrt, die ja zur Zeit des großen griechischen Unabhängigkeitskampfes
gegen die Türkei erschienen und damals in Deutschland sehr viel
dazu beitrugen, Begeisterung für diesen Kampf zu verbreiten. Einige dieser
Lieder, wie das auf Lord Byron, zeichnen sich durch einen schönen und
hinreißenden Schwung aus; andere, wie „Der kleine Hydriot“, haben ein
sehr lebendiges Lokalkolorit. †
Allerlei Kurzweil.
Weiß: | Schwarz: | Weiß: | Schwarz: | ||
1. | D h 7 – g 8 ! | e 4 – e 3 | 1. | … | K d 4 – e 3 |
2. | D g 8 – g 1 ! | beliebig. | 2. | D g 8 – g 2 ! | beliebig. |
3. | D setzt matt. | 3. | D setzt matt. |
Auf 1. … K d 4 – c 3 folgt 2. D g 8 – d 5 :, e 4 – e 3, 3. D d 5 – d 3 matt. Ohne den schwarzen Bauer c 2 giebt es zwei Nebenlösungen: 1. D h 5 ! oder 1. K d 2 ! – Das Problem beruht auf Zugzwang, der auch in jeder der drei Wendungen bis zum Matt wiederkehrt – es vergegenwärtigt also den Prototyp einer sogenannten Zugzwangs-Aufgabe. Kompositionen, die in solcher Weise angelegt sind, erscheinen recht lehrreich für den Anfänger, und selbst dem geübten Löser können sie mitunter „viele Pein“ bereiten.
Berichtigung. In der Schach-Aufgabe von Weinheimer, auf Seite 20, soll der weiße König auf d 7 (nicht c 7) stehen.
Magdeburg, Rustschuk, Mallinger, Geschmack.
Juni, Gneis, Elbe, Elias, West, Urach, Thee.
Achse, Herz, Canal, Bern, Nizam, Emil, Celle.
Auflösung des Kapsel-Räthsels auf Seite 100: F – Lied – er.
Kleiner Briefkasten.
Conrad B. in Hameln. „Der wilde Peter von Hameln“ wurde am 4. Mai
1724 auf einem Felde bei Hameln ergriffen. Er war damals 13 Jahre alt, ging ganz
nackend, „außer daß er am Halse etwas hangen gehabt, daraus man ersehen konnte, daß es
ein Hemd gewesen“. Er hatte ein gutes Gehör, aber keine Sprache und benahm sich
durchaus wie ein „wilder Mensch“. In jener Zeit bestand in der gelehrten Welt der
Streit, ob es angeborene Begriffe gebe, und der „wilde Peter“ erweckte die Aufmerksamkeit
einiger Gelehrten, die sich für jene Streitfrage interessirten. König Georg I. ließ ihn nach
Hannover kommen; dann wurde er nach England gebracht. Er hatte jedoch kaum das
Nothdürftigste sprechen gelernt und konnte somit den Gelehrten den gewünschten Aufschluß
über „angeborene Begriffe“ nicht geben. Er starb im Alter von etwa 73 Jahren bei einem
Pachter in Hertfordshire. – Peter gehörte zu den „Verwilderten“, welche man auch „Wildlinge“
nennt: es sind dies Individuen, die schon in frühester Kindheit sich im Walde verirrten
und ohne jede Berührung mit menschlicher Kultur aufwuchsen. In der wissenschaftlichen
Litteratur sind 16 derartige Fälle bekannt. Linné benannte sie Homo sapiens ferus
(der vernünftige wilde Mensch!). Neuerdings hat Prof. Dr. A. Rauber in Leipzig
unter demselben Titel über die Zustände der Verwilderten eine interessante Studie veröffentlicht. *
Ein Beamter in J. Sie fragen uns, welche Kapitalanlage für Sie die beste und
sicherste wäre. Da Ihre jährlichen Ersparnisse nicht groß sind und Sie auch die Zukunft
Ihrer Frau und Kinder sichern möchten, so antworten wir Ihnen: für Ihre Verhältnisse
ist die Lebensversicherung die beste Kapitalanlage. Sie ist es auch darum, weil Sie gesund
und verhältnißmäßig „jung“ sind. Wir rathen Ihnen ferner, Ihr Leben bei einer deutschen
Anstalt zu versichern. In seinem trefflichen Büchlein „Zur Erhaltung und Beförderung bürgerlichen
Wohlstandes“ (Tübingen, H. Laupp’sche Buchhandlung) betont Freiherr von
Danckelmann mit Recht, daß die deutschen Lebensversicherungsanstalten ihr Vermögen überwiegend
in mündelmäßig sicheren Hypotheken und in Werthpapieren ersten Ranges anlegen,
während die meisten ausländischen ihre Reservefonds behufs Erzielung höherer Zinsen in
Aktien und sonstigen Werthen, die starken Schwankungen ausgesetzt sind, zu placiren pflegen. *
Gymnasiast in H. Der Rohrstock oder „spanisches Rohr“ stammt von keinem rohrartigen
Gewächse, wie z. B. unser Rohr. Es ist ein Stück des rohrartigen Stammes einer
Palme, die namentlich auf den Inseln des malayischen Archipels gedeiht, den Namen
Rotang- oder Rattanpalme führt und mitunter die Länge von 100 Metern erreicht. *
Alter Abonnent. Sie haben Recht. Beseler und Schorlemer-Alst sind nicht mehr Mitglieder des Reichstages. Wir haben das Versehen leider zu spät bemerkt, und so ist die betreffende unrichtige Angabe in einem Theil unserer Auflage stehen geblieben.
P. M. in Bern. In unserem Artikel „Das Originalmanuskript der Wacht am Rhein“
(Nr. 1 d. Jahrg.) haben wir die Frage, ob es noch andere Originalmanuskripte, d. h. eigenhändige
Abschriften des Liedes giebt, keineswegs verneint. Die „Gartenlaube“ selbst hat
bereits im Jahrgang 1870, S. 667 ein Faksimile des von Schneckenburger eigenhändig
niedergeschriebenen Liedes in seiner endgültigen Gestaltung gebracht. Diese und andere
Niederschriften des Dichters, wie z. B. die in den Besitz des Kaisers übergegangene, werden
ja immer ihren Werth behalten. Das Manuskript „Der Rheinwacht“, welches wir im Beginn
dieses Jahres veröffentlicht haben, besitzt aber vor den anderen uns bekannten Originalmanuskripten
den Vorzug, daß es einen, wie Sie gewiß selbst zugeben werden, höchst
interessanten Einblick in die Entstehung des Liedes gewährt.*
Inhalt: Herzenskrisen. Roman von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 101. – Ein Karneval beim Dogen in Venedig. S. 107. Mit Illustration S. 104 und 105. – Die Geschichte der Lichtputze. Eine humoristische Grabrede von Karl Braun-Wiesbaden. S. 108. – Der kleine Liebling. Illustration. S. 109. – Ein verhängnißvolles Blatt. Erzählung aus den bayerischen Bergen von Anton Freiherrn v. Perfall (Fortsetzung). S. 110. – Die Revolution in Sofia und die unfreiwillige Reise des Fürsten Alexander von Bulgarien nach Reni und Lemberg. S. 114. – Blätter und Blüthen: Ein Zeuge der Urwälder Deutschlands. S. 115. Mit Illustration S. 101. – Schicksale einer deutschen Lehrerin in Frankreich. S. 115. – Willkürliches Einstellen der Lebensfunktionen. S. 115. – Holzknechtsball der Gesellschaft der „Naßwalder“ in Wien. S. 116. Mit Illustration S. 113. – Ein neuer Roman von Jensen. S. 116. – Das Denkmal Wilhelm Müller’s in Dessau. S. 116. – Allerlei Kurzweil: Schach S. 116. – Auflösung der Schach-Aufgabe auf S. 52. S. 116. – Auflösung des Flecht-Räthsels auf S. 100. S. 116. – Auflösung des Kapsel-Räthsels auf S. 100. S. 116. – Kleiner Briefkasten. S. 116.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ siehe Denkmäler deutscher Dichter (Jg. 1886, Seite 643)