Die Gartenlaube (1887)/Heft 6
[85]
No. 6. | 1887. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.
Herzenskrisen.
Am andern Morgen stand Lucie blaß und überwacht in der Küche und plättete die Hauben und Spitzen ihrer Schwiegermutter. Tante Dettchen saß am Küchentisch und pahlte Erbsen aus. Man hörte weiter nichts als das leise Klirren der Plätte, die hin und her geschoben wurde, und dann und wann einen unterdrückten Seufzer von Tante Dettchen. Das Fenster stand offen, eine blendende Helle strahlte herein und machte, verbunden mit dem sprühenden Kohlenfeuer, den Kopfschmerz des jungen Mädchens noch unerträglicher.
[86] Frau Steuerräthin befand sich in der Wohnstube und besserte Wäsche aus. Alfred war längst in seiner Praxis beschäftigt.
Tante Dettchen hatte etwas auf dem Herzen. Verschiedene Gespräche, die sie begonnen, waren wieder eingeschlafen ohne die richtige Wendung zu finden; nun fragte sie geradezu. „Hattest Du etwas mit Alfred, Kind?“
„Nein,“ sagte Lucie und schob einen frischen Stahl in die Plätte.
„Ihr seid ein recht sonderbares Brautpaar,“ fuhr das alte Fräulein klagend fort, „der Eine hier, der Andere dort – ich habe es mir so ganz anders vorgestellt. Deine Schwiegermutter ist ganz alterirt darüber; sie denkt, Du vernachlässigst ihn über der Löwen. Ich meine aber, es ist anders. ‚Paß auf,‘ sagte ich, ‚er ist nicht aufmerksam genug, er küßt sie so selten.‘ – Na ja, es ist wohl richtig, Alfred hat mehr zu thun, gerade im Anfang seiner Thätigkeit; aber ich bilde mir ein, das hast Du übelgenommen. Gelt, Kind?“
Lucie war dunkelroth geworden. „Aber, Tante, ich bitte Dich!“ sagte sie verletzt.
„Nun, das ist nicht bös gemeint,“ beschwichtigte die kleine dicke Dame und nahm ein paar Erbsen mit den Lippen von ihrer flachen Hand. „Er ist so ernst und so viel fort, und wenn man jung ist, da denkt man so anders vom Brautstand. Aber, Kind –“ und auf einmal funkelten Thränen in den gutmüthigen Augen, „er war von jeher so still, so eigenthümlich; Du mußt es ihm nicht übel deuten. Er ist eine Seele von einem Mann, das wirst Du erst einsehen, wenn Du lange neben ihm gelebt hast, ich habe ihn auf den Armen getragen – er ist eine Seele, glaube es mir.“
Lucie sah nicht auf von ihrer Wäsche. „Ich nehme es ihm ja nicht übel,“ erwiederte sie matt.
In diesem Augenblick klopfte es an die Thür, und auf Tante Dettchen’s „Herein!“ erschien der alte Diener des Herrn von Meerfeldt, in der Hand einen prachtvollen Rosenstrauß und ein Briefchen, unter dem Arm das Juchtenköfferchen mit Hortense’s Reiseandenken.
„Eine Empfehlung von der gnädigen Frau.“
Als flöge der Abglanz aller Rosen über das blasse Mädchengesicht, so glühte es auf. Hastig las sie das Billet und sagte jetzt lächelnd: „Viele Grüße, und ich würde kommen.“
Der alte Mann setzte das Köfferchen auf den Küchentisch und verschwand. Kopfschüttelnd sah Tante Dettchen, wie Lucie das Billet noch einmal las und es dann zusammengerollt wie eine Blume zwischen zwei Knöpfe ihrer Kleidertaille schob, das Gesicht in die Rosen preßte, sie sorglich in Wasser stellte und ansprengte und dann mit ihren Schätzen rasch aus der Küche verschwand. Nach einigen Minuten kehrte sie zurück und plättete weiter.
Tante Dettchen war erstaunt. Nach einem Weilchen kam Alfred erhitzt und eilig.
„So fleißig?“ sagte er im Vorbeigehen an der Küchenthür, und. „Hast Du Lust, heute mit mir die Wohnung anzusehen, Lucie?“
„Wann?“ fragte sie.
„So gegen Abend; wir können uns dort vielleicht um sechs Uhr treffen.“
„Ich werde kommen, Alfred.“
„Adieu, Schatz, ich muß weiter.“
Er ging.
Lucie hatte die Arbeit beendet und saß nun in der Wohnstube; ihr Kopf schmerzte unerträglich. Die Schwiegermutter klapperte mit Scheidemünze an ihrem Schreibtisch und schalt auf das Dienstmädchen, das eben vom Markt heimgekehrt war; es fehlte ein Fünfzigpfenniger.
„Gleich gehst Du und fragst herum, wo Du zuwenig bekommen hast! Kannst Du, Gans, nicht besser aufpassen?“
Das Mädchen verschwand, und die alte Dame, froh, daß sie einen Ableiter ihres inneren Grimmes gefunden, schalt weiter: es sei kein Verlaß mehr auf die heutigen Menschen; alles Gute und Tüchtige verschwinde aus der Welt; Dummheiten im Kopfe und kein Ernst im Herzen! Und so sei es in allen Ständen. Wenn sie bedächte, wie es in ihrer Jugend gewesen, so schlicht und recht und einfach! Auf die Dienstboten habe man Häuser bauen können und die jungen Mädchen seien beglückte Bräute gewesen; dergleichen verrückte Allotria wie heute hätten noch nicht ihre gesunden Herzen und Sinne verdorben gehabt. Das Beste, Schönste sei aber gewesen, einen braven Mann zu bekommen und eine gute Hausfrau zu werden!
Lucie fühlte jedes Wort wie einen Stich. War sie denn wirklich so schlecht? Hatte sie allein Schuld? Ach, sie war so mit dem ganzen Herzen voll Liebe und seliger Hoffnungen hergekommen; sie wußte selbst nicht, wie Alles so rasch gewelkt. Sie legte die Arbeit hin und stand auf.
„Entschuldige mich,“ bat sie, „ich habe so arge Kopfschmerzen.“
„Nun, so lege Dich nieder!“ fuhr die alte Dame ärgerlich auf. Und als sie ihr blasses Gesicht erblickte, fragte sie: „Leidest Du oft daran?“
„Zuweilen.“
„Na ja, die heutigen Nerven!“ Damit war Lucie entlassen.
Sie aß nicht zu Mittag und kam erst gegen drei Uhr zum Vorschein, zum Ausgehen gerüstet. Die Frau Steuerräthin nahm eben ihr Schwarzseidenes aus dem Kleiderschrank auf dem Flur; sie war zu einem Kaffee ausgebeten.
„Nun?“ fragte sie, „geht es besser mit den Kopfschmerzen?“
„Noch nicht, aber ich denke, es wird mir gut thun, in die frische Luft zu kommen.“
„Die giebt’s freilich nur bei Löwen’s,“ war die schneidende Antwort.
Lucie wehrte sich nicht; sie zwang sich zu einem freundlichen „Adieu, Mutter“ und ging.
Sie fand Hortense im Pferdestalle und im Reitkleide; sie war eben von einem Spazierritt heimgekehrt. Die junge Frau hatte ein Körbchen voll Brotstücken und Mohrrüben am Arme und fütterte ihr Pferd, während der Reitknecht den Liebling sorglich mit einem wollenen Tuche abrieb. Sie war so in ihr Thun vertieft, daß sie die Eintretende erst gewahrte, als sie dicht neben ihr stand.
„Wie siehst Du aus?“ fragte Hortense und betrachtete erschreckt das blasse Gesicht der Freundin. Sie stellte den Korb auf den Futterkasten und zog das Mädchen aus dem Stalle, hinauf in ihr kühles Zimmer. „Jetzt legst Du Dich auf die Chaise-longue! Die Jungfer soll Dir starken Kaffee kochen.“
Sie gab die nöthigen Anweisungen, verdunkelte die Stube, kleidete sich um und nahm dann neben Lucie Platz.
„Nun sage mir, was hat es gegeben, Liebchen?“
„Nichts, Hortense, nichts,“ erwiederte Lucie müde.
„Das rede einem Andern vor; Du grämst Dich um irgend etwas. Höre, mein Schatz,“ fuhr sie nach einer Pause fort, „Du kommst mir genau so vor wie die Palme, die der Großpapa aus dem feuchten warmen Gewächshause in sein tabaksdunstiges Zimmer genommen hat – sie kann die Luft nicht vertragen, sie ist krank geworden.“
„Ich weiß es nicht,“ erwiederte das Mädchen, dann brach sie in Thränen aus.
Hortense nahm ihre Hand. „Ich will Dir etwas erzählen,“ sagte sie langsam und laut, „Du liebst ihn nicht!“
Das Schluchzen verstummte.
„Hortense!“ stammelte Lucie und saß hoch im nämlichen Augenblick, während ihre kleinen Hände an die Schläfen fuhren, als vermöge sie nicht zu fassen, was sie eben gehört.
„Doch! Ich glaube bestimmt, Du liebst ihn nicht,“ wiederholte die junge Frau.
„Aber, Hortense,“ fragte das Mädchen athemlos, „wie kommst Du darauf? Wie willst Du wissen –“
„Liebe sieht anders aus,“ erwiederte die junge Frau kurz. „Ich war ja einmal so thöricht – ich weiß es. Ich will Dir sagen, wie es gekommen ist mit Euch,“ fuhr sie fort und blieb mit dem englischen Riechsalz in der Hand vor Lucie stehen, „man hat Dir von jeher eingebläut, daß eine Heirath das Einzige ist, wodurch ein Mädchen selig wird. Gestehe es nur – nicht wahr?“
„Ach Gott, Hortense, es ist wohl berechtigt gewesen; es ist unsere Bestimmung.“
„Na, siehst Du? Nun bist Du zwanzig Jahr alt geworden, hast da bei Deinem Schwager herumgesessen als Erzieherin und Stütze der Hausfrau, nicht gerade unnütz, aber auch nicht unentbehrlich, und hast die Geschichte endlich so ein klein wenig langweilig gefunden. Sprich ehrlich, Lucie!“
„Hortense! Ich? – Nein – Du verkennst die Lage.“
„Du hattest auch schon daran gedacht, es könne vielleicht sein, daß Du diese einzige richtige Bestimmung der Frau nicht erfüllen würdest, weil sich bis dahin Keiner gefunden, der – [87] selbstverständlich spreche ich Dir die Kourmacher nicht ab; Du bist eine zu süße kleine Person – aber Du hattest so ganz und gar keinen anderweitigen klingenden Vorzug, daß sie Alle nur Kourmacher blieben. Und da auf einmal stand Dein Doktor vor Dir mit einem wirklichen Heirathsantrag – Du hattest nie an ihn gedacht, Du kanntest ihn kaum! Und nun fielen sie Alle über Dich her: das große Glück! Ein armes Mädchen, so einen netten braven Mann zu bekommen! … bis Du selbst glaubtest, der Himmel habe das ganze Füllhorn seiner Gnade über Dich ausgeschüttet, und Dir einbildetest, Du liebtest ihn bis zum Sterben.“
Lucie saß starr dabei. Sie dachte an den Augenblick, da ihr ältester zehnjähriger Neffe wie toll die Treppe hinauf gesprungen und in ihr Stübchen gestürzt war: „Tante Lucie, Du hast einen Bräutigam gekriegt! Du sollst rasch hinunterkommen!“ – Und wie sie mit wankenden Schritten die Treppe hinabgegangen, an deren Fuß Mathilde sie erwartet, mit Thränen sie in die Arme genommen und ihr zugeflüstert hatte: „Ach Lucie, welch großes Glück!“ – Sie sah sich vor ihm stehen und hörte seine ruhigen, freundlichen Worte, und dann waren sie plötzlich Alle im Zimmer, und der Schwager hatte ihr die Schulter geklopft: „Du Wetterhexe, da hast Du einmal etwas Rechtes fertig gebracht. Habt Ihr Euch schon einen Kuß gegeben? Na, nur vorwärts, zur Zeit schmeckt’s gut und süß!“ Da hatten sie sich geküßt, und sie war roth geworden, und die Erwachsenen hatten gelacht und die Kinder gejubelt und die Dienstboten gratulirt.
Aber Keiner hatte sie gefragt: „Liebst Du ihn denn? Willst Du ihn?“
Sie hatte es auch nicht vermißt. Sie hatte ein ruhiges, stilles Gefühl der Sicherheit in seiner Nähe, ein schüchternes Bewußtsein von Wichtigkeit und Würde. War das Liebe gewesen? Sie wand die Hände in einander und wußte kein Wort zu sagen.
„Und nun,“ redete die junge Frau weiter, nachdem sie das Flakon an die feine Nase gebracht und den scharfen Duft eingezogen hatte, „nun bist Du hier, und nun fängt’s bereits in Deinem Kopfe an zu dämmern, daß denn doch vielleicht ein klein wenig mehr zu einem Bunde für das Leben gehört, als etwas Achtung, als – als –“
„Hör’ auf!“ bat das Mädchen.
„Nein!“ erklärte Hortense und begann in dem halbdunklen Raume hin und wieder zu schreiten. „Nein, ich höre nicht auf! Tausend Mädchen sind auf diese Weise verheirathet und tausend sind ganz zufrieden damit, die Meisten merken es auch erst lange nach der Hochzeit, wie schrecklich gleichgültig sie sich doch eigentlich von jeher gewesen sind, aber Du, Du bist eine viel zu ideale Natur, Lucie! Du wirst es schwerlich aushalten, in dem kleinen Hause zu sitzen, die Last der Wirthschaft zu tragen, ein halbes Dutzend Kinder zu haben und zu erziehen, alle Sorge, Krankheit und Noth, die das unbarmherzige Leben dem Weibe aufbürdet, für einen Mann zu ertragen, den Du nicht liebst!“
Lucie schwieg, sie hielt die Hand über die Augen, sie stöhnte wie Jemand, der arge körperliche Schmerzen leidet, und in ihrem Herzen schrie es auf, zustimmend und angstvoll. Sie konnte nicht leben neben ihm, so unbeachtet, so fremd, so kalt und baar jeder innerlichen Gemeinschaft.
Hortense schritt noch immer auf und ab. Nun kam sie herüber und kniete vor dem Mädchen nieder.
„Habe ich Dir wehgethan? Vergieb mir! Ach, ich kenne ja leider die Schwächen der Menschen zu gut!“
Ein paar große Tropfen rollten über des Mädchens Wangen.
„Lucie, weine nicht, ich habe Dich lieb. Du bist das Einzige, was ich auf der Welt lieb habe, wenn Du kommst, dann ist’s wie Sonnenschein in meinem Herzen. Und als ehrliches Menschenkind, das die Erfahrung voraus hat, mußte ich offen sprechen, nicht wahr? Sieh, Du kamst hier an, rosig wie eine Apfelblüthe, und Du solltest Dich jetzt sehen! Du hast einen Zug um den Mund, als wärst Du um Jahre gealtert.“
„Ich fühle mich grenzenlos unglücklich bei seiner Mutter,“ flüsterte das Mädchen endlich, „sie hat eine Abneigung gegen mich von der ersten Minute an gehabt, es wird aber anders werden, wenn ich –“
Hortense stand auf und blickte mitleidig zu ihr hinunter.
„Nein, Hortense, nein,“ schrie Lucie, „verlange das nicht! Ich darf nicht!“
„Aber, liebes Herz, ich will Dich doch nicht von ihm reißen!“ Sie hockte wieder neben ihr. „Nur das Eine laß Dir sagen in diesem Augenblick. Was Du auch beschließen magst, in jeder Lebenslage, in jeder Noth rechne auf mich, wo ich bin, hast Du auch Platz; vergiß das nicht!“
Sie erhob sich dann, zog von dem entferntesten Fenster den Vorhang zurück und setzte sich still mit einem Buche nieder, das Mädchen seinen Gedanken überlassend.
„Apropos,“ sagte sie nach einer Pause, „wie ist’s denn mit der Reise? Großpapa war ganz glücklich über diesen Gedanken.“
„Ich – es ist mir nicht möglich, Hortense.“
„Dann bleiben wir hier,“ tönte es freundlich gelassen zurück.
„Nein, nicht meinetwegen. Reise, reise, ich bitte Dich darum!“
„Ohne Dich ist es mir kein Genuß!“
Nun war es Lucie, die aufsprang und zu Hortense herüber kam. „Wenn ich Dich nicht hätte!“ schluchzte sie leidenschaftlich, „wenn Du nicht wärst – verlasse Du mich nicht!“
Den Rest des Nachmittags saß sie neben Hortense, diese las vor, aber wenn sie aufblickte, kehrten Luciens Augen aus irgend einem Winkel zurück, in den sie starr und abwesend hineingeblickt hatte.
„Aber, Luz!“
„Ich höre ja, Hortense,“ sagte sie. die junge Frau anlächelnd, und ergriff ihre Hand. „Lies weiter!“ – Mitten in einem Satze sprang sie auf: „Adieu, ich muß fort!“
„Wohin?“
„In das neue Haus – lebe wohl!“
Sie warf einen ängstlichen Blick auf die schwarze Marmoruhr und setzte mit zitternden Händen ihr Hütchen auf.
„Ach Gott, ich hatte es ganz vergessen, er wartet.“
Hortense sah ihr ruhig zu. „Ich bitte Dich, Kind, wenn er nun wirklich ein paar Minuten wartet?“
Aber Lucie eilte schon den Korridor hinab, und als Hortense ins Zimmer zurückkehrte, verschwand das lichte schlichte Sommerkleid des Mädchens eben in der dunklen Wölbung des Thorweges.
Doktor Adler war inzwischen zur verabredeten Zeit seinem
neuen Eigenthum zugeschritten. Es lag im Mittelpunkt der Stadt
hinter einer mäßig hohen Mauer, die, anstatt der Hauswand, die
Straßenfront bildete, und umgeben von einem kleinen Garten,
der hier wie eine Oase zwischen den Häusern und Straßen
grünte. Irgend ein alter konservativer Bürger hatte sich,
auch zur Zeit als die Eisenbahn eine kurze Bauepoche in
das Städtchen brachte, trotz des annehmbaren Preises für Baustellen, nicht dazu entschließen können, seinen Garten zu verkaufen;
nun war er kürzlich gestorben. Die Gründerzeit hatte hier eben
so plötzlich ihr Ende erreicht, wie draußen in der großen Welt,
und Doktor Adler war es nicht allzu schwer geworden, das
Grundstückchen zu erstehen.
In der Mauer war die enge kleine Pforte verschwunden, und ein neues Flügelthor aus Eisenguß gewährte einen Blick auf Haus und Garten. Er stand einen Moment und sah durch das Gitter, als sei er ein Fremder. Noch lag Schutt und Gestein, Lehm und Kalk vom Bau umher, aber die Wände des Häuschens leuchteten schmuck und weiß aus grünem Laub hervor, und die Fenster blinkten ihm hell und traulich entgegen. Langsam öffnete er die Pforte und ging den Mittelweg hinauf, überall sich umschauend, als suche er etwas und freue sich auf etwas.
Die Hausthür, die von der Giebelseite ins Innere führte, war geschlossen. Er zog, immer sich umschauend, den Schlüssel aus der Tasche und trat ein, seine Schritte hallten in dem leeren Flur. Und wieder blieb er sinnend stehen und ein herzgewinnendes freundliches Lächeln flog über sein Gesicht; dort drüben, durch die offene Thür, blinkte ihm ein weißer Kachelherd entgegen, und darüber leuchtete in gothischer Schrift der alte traute Spruch: „Ein eig’ner Herd ist Goldes werth“. – Er kam näher, lehnte sich in den Rahmen der Küchenthür und blickte schier andächtig in dem kleinen Raume umher. Dann wandte er sich und ging in ein mittelgroßes Zimmer neben der Küche: das sollte das Eßzimmer werden. In der Mitte würde ein großer runder Tisch stehen. Zwei kleinere Räume, die hatte er für sich ausersehen, [88] Wartezimmer und Arbeitsstube. Wieder stand er und betrachtete vom Eckfenster aus die Sandsteinstufen die zur Hausthür emporführten. Es ist so ein eignes Haus wie ein lebendiges Wesen. „Wir gehören nun zusammen, wir erleben gemeinschaftlich, was da kommt,“ spricht es. Und des Mannes Gedanken flogen in die Zukunft; wird das Glück mit uns einziehen über diese Schwelle? Wird die Zufriedenheit hier bei uns wohnen? Die Zufriedenheit und der süße Gottesgast, der Friede?
Es war ihm wunderbar weich ums Herz in diesem Augenblick. Unter den Bäumen dort drüben sah er im Geiste ein liebliches blondes Weib, rosige gesunde Kinder, ein trautes stilles Glück. Er fuhr sich plötzlich über die Augen, da stand sie ja wirklich im lichten Sommerkleide, die Augen auf die Hausthür gerichtet, aber nicht wie er sie eben gesehen. Die weichen Züge hatten einen fast verstörten angstvollen Ausdruck.
Er bemerkte es nicht. Er ging hinaus ihr entgegen. „Willkommen!“ sagte er einfach, „das ist nun unser Heim!“
Sie gab ihm flüchtig die Hand. „Ist Tante mit hier?“ Und als er verneinte, blieb sie zögernd stehen.
„Ich meinte, wir Beide, die wir hier wohnen sollen, würden besser allein einig über die Bestimmung der Zimmer. Ich liebe das Dazwischenreden Anderer nicht.“ sagte er und trat zur Seite, um sie in die Thür gehen zu lassen. „Du sollst allein bestimmen.“
Sie traten Beide in das Haus.
„Sieh, die Pforte zu Deinem Reich steht offen,“ sprach er, auf die Küche deutend. „Willst Du nicht hineingehen?“
Sie war mitten im Flur stehen gehlieben; nun schüttelte sie leise den Kopf.
„So wollen wir mit den oberen Räumlichkeiten beginnen.“
Gehorsam schritt sie die mäßig breite Holztreppe hinan und trat in ein völlig leeres Zimmer. Die Fenster gingen nach der Hinterseite, hohe Bäume vor den Fenstern schufen ein fast spukhaftes Dämmerlicht in diesem Raume, und unter ihren Zweigen hinweg sah man über einen schmalen Grasplatz auf das stille, langsame Flüßchen, das, hier die Grenze des Gartens bildend, die Stadt durchzieht.
Es war ihr, als sollte sie ersticken in dem niedrigen kleinen Gemach. Sie fand keine Worte.
„Gefällt es Dir?“ fragte er.
„Ja,“ sagte sie tonlos.
Er war neben sie getreten, und wie er sie so stehen sah, den Kopf von ihm abgewandt, die kleine bebende Hand an den Fenstergriff gelegt, da war es, als ob den sonst so ruhigen Mann plötzlich die Leidenschaft packte in dieser heimlichen Stille und Einsamkeit, wo die selige Zukunft aus jedem Winkel des Hauses lugte, aus jedem Blatt des Gartens winkte. Er zog das Mädchen in seine Arme und küßte ihren Mund so heiß, wie nie bisher.
Empört stieß sie ihn zurück.
„Lucie!“ sagte er vorwurfsvoll, und sich herunterbeugend sah er in ihr Gesicht. Er erschrak, so grünlich bleich schaute es ihn an. „Was fehlt Dir? Bist Du krank?“
„Nein!“
„So bist Du psychisch leidend. Warum sprichst Du Dich nicht aus, Lucie? Was ist Dir? Sage es mir! Du bist furchtbar verändert seit ein paar Wochen.“ fuhr er fort, „ich habe Dich nie mehr lachen hören – fühlst Du Dich unglücklich?“
Sie sah an ihm vorüber und schüttelte den Kopf. Todeseinsam war es um sie herum.
„Ich denke, es ist das Beste,“ nahm er wieder das Wort, „wir beeilen uns mit dem Fertigstellen unseres Heims, und Du kommst dann zu mir; ich –“
Eine jähe Röthe färbte ihr Gesicht. „O nein, nein!“ stammelte sie.
Ueberrascht blickte er auf. „Was hat dieses ‚Nein!‘ für eine Bedeutung?“
Sie preßte die Lippen auf einander und athmete schwer, in ihren Augen lag es plötzlich wie stumme Entschlossenheit.
Warum dies ‚Nein‘?“ fragte er noch einmal. „Freust Du Dich nicht mehr auf Dein Heim?“
Selbst eine harmlosere Natur hätte diese heiße Röthe nicht für mädchenhafte Scham halten können.
„Antworte,“ rief er heftig, „was heißt dies ‚Nein‘? Reut Dich Dein Wort?“
Einen Augenblick flog es wie zuckender Schreck durch ihre Glieder, dann neigte sie stumm den Kopf, ein langes unheimliches Schweigen entstand. An den Fensterscheiben trieb ein Falter sein Spiel, der sich hier hereinverirrt; man hörte in dem schwülen Gemache nur das leise Schwirren der Flügel und das Stoßen des Thieres gegen die durchsichtigen Schranken.
„Du irrtest Dich also? Du möchtest Deine Freiheit wieder haben?“ kam es endlich klanglos von seinen Lippen. Mit der Rechten stützte er sich schwer auf das Fensterbrett.
„Ja, ich irrte mich!“ sagte sie leise.
Wieder eine lange Pause.
„Dann – ja, dann!“ sprach er mühsam. „Und was nun?“
„Ich weiß es nicht.“
„Warum? Warum?“ rief er auf einmal laut und schmerzlich. Und als sie nichts erwiederte, fragte er noch einmal: „Weil Du mich nicht liebst?“
„Ja! – Nicht so wie – wie – – und Du mich auch nicht!“
„Ich Dich nicht, Lucie? Ich Dich nicht?“
Sie nickte trotzig. Du wolltest ja, daß wir uns kennen lernen sollten. Es ist gut so gewesen –.“
„Gut so!“ wiederholte er mechanisch.
Sie hielt die Augen gesenkt, sie wollte ihn nicht ansehen; es mußte ein Ende werden um jeden Preis. Er rührte sich lange nicht; endlich wandte er sich, ging zu dem nächsten Fenster und befreite den Schmetterling. „Komm!“ sagte er dann fast rauh.
Sie schritten die Treppe hinunter und aus dem Hause. Mit fester Hand drehte er den Schlüssel um. „Und was nun?“ fragte er noch einmal.
„Ich gehe zu Hortense – und werde meiner Schwester schreiben.“
„Zu Frau von Löwen?“
Sie hatte während der letzten Minuten eifrig und hastig an ihrem Verlobungsring gedreht.
„Auch das noch!“ sagte er, „gieb her!“ – Die beiden Ringe tauschten sich in ihren zitternden Händen aus. Die letzte flüchtige Berührung.
„Vergieb mir!“ bat sie stockend, mit unbeweglichem blassem Gesichte.
Er antwortete nicht. So schritten sie mit einander dem Ausgange zu; hinter ihnen schloß sich die Pforte des Gartens, und just in diesem Augenblick zerrissen die Wolken vor der Abendsonne und tauchten Haus und Bäume in ein rosiges zauberhaftes Licht, daß es aussah wie ein Märchendaheim.
Sie sahen es Beide. Sie standen da, als habe der Engel sie aus dem Paradiese vertrieben. Vielleicht in diesem Augenblick – wenn sie noch einmal zu ihm aufgesehen –? Sie wandte sich rasch, und ohne ein Wort ging sie nach rechts, er nach links. Sie mit wankenden unsicheren Schritten, die erst allmählich erstarkten; er hoch aufgerichtet und gerade.
Ueber den Schlaf und die Verhütung der Schlaflosigkeit.
(Schluß.)
Die Mittel zur Verhütung der Schlaflosigkeit sind ebenso vielfältig, wie die Ursachen ihrer Entstehung. In dem einen
Fall wird es gelingen, durch Enthaltsamkeit oder Beschränkung in
dem Genuß gewisser schädlicher Substanzen, durch Vermeidung der
Aufnahme einer reichlichen oder späten Abendmahlzeit den
naturgemäßen Schlaf herbeizuführen; in andern Fällen wird ein kühleres
Lager oder Zimmer den erwünschten Erfolg bringen, vor Allem
aber erweist sich ein angemessenes Verhalten während des Tages
und insbesondere in späten Abendstunden, die Beschränkung geistiger
und mechanischer Beschäftigung zu dieser Zeit oder überhaupt, der
[90] geregelte Wechsel von Anstrengung und Ruhe, von geistiger und körperlicher Arbeit von dem wohlthuendsten Einfluß.
Ueberblickt man die Lebensweise so vieler geistig Arbeitender, so wird man finden, daß es namentlich das Mißverhältniß zwischen geistiger und körperlicher Arbeit oder das plötzliche Aufgeben gewohnter Anstrengungen ist, welche Störungen des Schlafes unausbleiblich nach sich ziehen. Für alle Diese giebt es kein Mittel, das sicherer gegen Schlaflosigkeit wirkt, als der ausgiebige Gebrauch der Muskelkraft, die körperliche Bewegung. „So viel Bewegung,“ sagt Tristram Shandy, „so viel Leben und Freude“, und man kann hinzufügen „auch so viel Schlaf“. Ob aber diese Bewegung bis zur völligen oder auch nur stärkeren Abspannung fortgesetzt werden soll, wozu häufig mit Rücksicht auf den Schlaf große Neigung besteht, oder nur bis zur eintretenden leichten Ermüdung, muß wieder der Einzelfall entscheiden. Und ebenso muß die Entscheidung, ob diese Bewegung in Spazierengehen, Gartenarbeit, Reiten, Rudern, Schwimmen, Jagen, Turnen, Schlittschuhlaufen etc. bestehen soll, ganz den persönlichen Verhältnissen angepaßt sein. Sehr viel wird von Denen gefehlt, die mäßiges Spazierengehen zumal in ebener Gegend meist für genügend erachten zur Beförderung der Gesundheit und eines naturgemäßen Schlafes. Mit Recht hat man geltend gemacht, daß der Spaziergänger einem Landwirth gleicht, der einen Dritttheil seines Besitzthums bebaut, das Uebrige aber brach liegen läßt. Für Diejenigen, denen Zeit und persönliche Verhältnisse die Ausführung ausgiebiger Bewegungen der oben gedachten Art nicht gestatten, kann ich aus eigener und fremder Erfahrung eine Modifikation der Gymnastik dringend empfehlen, ein Verfahren, das darin besteht, abwechselnd in stehender und knieender Stellung mittelst schwerer, dem individuellen Bedürfniß auzupassender Hanteln, deren Gewicht für den erwachsenen gesunden Menschen auf etwa je acht Pfund festgestellt werden kann, körperliche Bewegungen nach Bedarf täglich oder in Zwischenräumen von mehreren Tagen auszuüben.
Diese Bewegungen, die stets nur kurze Zeit, meist kaum eine Viertelstunde mit angemessenen Unterbrechungen bei kühler Temperatur, reiner Luft, leichter Bekleidung, nie unmittelbar vor oder nach der Mahlzeit oder nach dem Genuß aufregender Getränke, gegen Abend und keinenfalls in später Abendstunde vorzunehmen sind, gewähren bei geeigneter Vorsicht, Schonung und nicht bis zur Uebermüdung fortgesetzt, die günstigsten Erfolge. Bei Solchen, die zu Herzklopfen, Kurzathmigkeit bei Vornahme körperlicher Bewegungen neigen, erscheint eine Berathung des Arztes unerläßlich, da durch übertriebene, einseitige körperliche Anstrengung leicht Nachtheile entstehen und da Zustände vorhanden sein können, welche die Anwendung unseres Verfahrens geradezu verbieten oder nur mit Vorsicht gestatten. Namentlich das weibliche Geschlecht ist im Allgemeinen für Muskelanstrengungen weniger geeignet, und dürften für dasselbe vorkommenden Falles die im Nachfolgenden zu ertheilenden Rathschläge im Allgemeinen als empfehlenswerth sich erweisen.
Zum Herbeiführen des Schlafes ist der Nervenreiz, den die Kälte, die Anwendung des kalten Wassers, hervorbringt, mit Vortheil zu verwerthen. Als kaltes Wasser ist hierbei das unter 25° C. befindliche anzusehen und sind im Allgemeinen folgende Bezeichnungen für die verschiedenen Abstufungen üblich: Wasser von 0 bis 5° C. als eiskalt, 5 bis 10° sehr kalt, 10 bis 15° kalt, 15 bis 20° mäßig kalt, 20 bis 25° kühl, über 25° temperirt. Für unseren Zweck wird sich meist die Anwendung mäßig kalter oder kühler Temperaturen empfehlen. Da der Kältereiz um so stärker, um so erschlaffender wirkt, je näher er dem Gehirn angebracht wird, so erweist sich zunächst ein kalter Kopfumschlag, das heißt ein in mäßig kaltes Wasser getauchtes, ausgepreßtes, in einfacher, höchstens zweifacher Schicht über einander liegendes leinenes Tuch oft von vorzüglicher schlafmachender Wirkung, insbesondere für sensible Frauen. In ähnlicher Weise wirken kühlende Brustumschläge namentlich bei bestehender Herzaufregung günstig. Solche, die mit der Prießnitz’schen Wasserkur vertraut sind, mögen die feuchtkalte Leibbinde, Einwickelungen, Abreibungen mit naßkalten Tüchern, Sitzbäder, kalte Vollbäder, kalte Uebergießungen, Douchen in den verschiedensten Modifikationen und Temperaturen mit Vortheil verwenden.
Eine rasche kalte Abreibung des Körpers vor Schlafengehen ist namentlich zur heißen Jahreszeit bei Schlaflosigkeit in der Regel von ausgezeichnetem Erfolge. Ich verordne sie an heißen Tagen an Stelle der empfohlenen ausgiebigen Körperbewegung. Personen, die zur Schlaflosigkeit neigen, sollten zu dieser Zeit stets ein Gefäß mit frischem Wasser im Schlafzimmer bereit halten, um erforderlichen Falles eine derartige Abwaschung vorzunehmen. Für Solche, denen die Anwendung der Kälte nicht zusagt, bringt oft ein warmes Bad den gewünschten Erfolg.
Als ein wunderbar wirkendes, mächtiges, inneres Hilfsmittel zur Herbeiführung des Schlafes ist der Gemüthszustand anzusehen. Es ist daher sehr wichtig für einen gesunden Schlaf, daß man in ruhiger Gemüthsverfassung zu Bett gehe. Man muß mit den Kleidern alle Sorgen und Lasten des Tages ablegen. Alle Aufregungen wirken vor dem Schlafengehen schädlich; Seelenruhe und Gleichmuth sind dagegen erwünscht. Leider ist dies leichter gesagt, als gethan; man achte aber vorzüglich bei Kindern darauf, daß man, wie es oft zu geschehen pflegt, beim Entkleiden derselben nicht zu viel mit ihnen scherze, sie zum heftigen Lachen reize oder ihre Phantasie durch schauerliche Erzählungen errege.
In der Einwirkung auf den Gemüthszustand sind auch manche Methoden begründet, die dahin zielen, durch Fixiren der Aufmerksamkeit auf gewisse Vorgänge und Gegenstände beruhigend und einschläfernd zu wirken. Hierher gehört z. B. Gardner’s Methode, Schlaf zu machen. Man athmet bei geschlossenem Mund auf der rechten Seite liegend tief ein und sucht die ganze Aufmerksamkeit nur auf das Athmen zu richten, z. B. auf den Eintritt der Luft von der Nase bis in die Lungen und von da wieder heraus, während alle anderen Gedanken fern gehalten werden.
Aehnlichen Einfluß hat oft das beständige Zählen von 1 bis 10 und rückwärts, das Recitiren eines wohlbekannten Gedichts. Alle diese Verfahrungsweisen wirken durch Ablenkung der Aufmerksamkeit, der Seelenthätigkeit, des Denkens. Aber gerade den Denkern, für welche sie empfohlen sind, ist es oft selbst beim Einschlafen schwer, nichts oder an gleichgültige Dinge zu denken.
Zur Herbeiführung eines genügenden Schlafes bedient man sich vielfach auch gewisser Substanzen, welche in einer uns noch nicht nach allen Richtungen hin ausreichend bekannten Weise auf das Nervensystem wirken, die Thätigkeit desselben hemmen, Beruhigung und Erschlaffung bedingen. Hierher gehört vor Allem der Alkohol. Die Wirkung des Alkohols, mag er in Form von Bier, Wein oder anderer geistiger Getränke genossen werden, ist jedoch eine ganz verschiedene und oft entgegengesetzte, je nach der eingeführten Menge. Es giebt eine große Anzahl von Personen, die nicht schlafen können, bevor sie nicht eine gewisse Menge alkoholischer Getränke genossen. Für einen gesunden Körper sind sie entbehrlich. Immerhin wirkt ein mäßiger Genuß nicht schädlich. Unmäßigkeit auch im Genuß geistiger Getränke verscheucht allmählich den Schlaf, anstatt ihn zu befördern.
Ein anderes Schlafmittel, von dessen Anwendung ich oftmals bei Solchen, die nicht an den Genuß alkoholischer Getränke gewöhnt sind, sehr günstige Erfolge gesehen, ist das Legen des Kopfes auf ein mit Hopfen gefülltes Kissen. In England ist dieses Verfahren schon seit längerer Zeit in Gebrauch, und man erzählt sich, daß im Jahre 1871, als gelegentlich der schweren Erkrankung des Prinzen von Wales eine allen angestrengten Bemühungen der Aerzte trotzende Schlaflosigkeit in hohem Grade beängstigend und aufreibend wirkte, die Anwendung dieses einfachen Mittels den längst ersehnten Schlaf herbeiführte.
Von ärztlicher Seite ist neuerdings auf Grund physiologischer Erwägungen die Anwendung der Milchsäure als Schlafmittel empfohlen worden. Bei Manchen wirkt sie vorzüglich. Schon in der Form von ein bis zwei Tellern dicker Milch, des Abends genossen, ruft sie bei einzelnen, schlecht schlafenden Personen einen anhaltenden, gesunden Schlaf hervor.
Uebersieht man die große Reihe der von uns zur Verhütung der Schlaflosigkeit angegebenen Mittel und Methoden, so sollte man glauben, daß es kaum jemals beim Gesunden zur Beförderung des Schlafes der Anwendung gewisser Arzneimittel bedürfe, die nur in die Hände des Arztes gehören und deren Mißbrauch die schlimmsten Folgen haben kann. Wir nehmen hier Gelegenheit, vor dem Gebrauche aller dieser Mittel, Opium, Chloroform, Morphium, Belladonna etc. eindringlich zu warnen. Gerade in dem letzten Jahrzehnt hat die unberufene Anwendung einer Menge dieser Mittel zur Erzielung des Schlafes auch bei Gesunden [91] erschreckend zugenommen. Die Folge eines derartigen Mißbrauchs ist gewöhnlich eine Vernachlässigung familiärer und socialer Pflichten, ein Verlust jedweder Energie sowie der Schaffenskraft und von Seiten des Körpers die gefährlichsten Vergiftungszustände.
Tritt einmal beim Gesunden die Nothwendigkeit ein, die Anwendung diätetischer Vorschriften und gewisser einfacher Verfahrungsweisen, wie wir sie im Vorstehenden eingehend erörtert, durch den Gebrauch eines Arzneimittels zu ersetzen, so wird der erfahrene Arzt stets der beste Berather sein und bleiben. –
(Wir sind autorisirt zu erklären, daß über diesen Gegenstand von dem Verfasser demnächst eine ausführliche Abhandlung in Form einer Broschüre erscheint. D. Red.)
Ein Lieblingsberg der Deutschen.
Wer von München aus dem Brenner zufährt, zunächst jenem breiten Alpenthore entgegen, das der Innstrom auf seinem Wege aus Tirol nach Bayern gefunden hat, dem fällt in der langen blauduftigen Bergkette eine Berggestalt vor Allem ins Auge: die kühngezackte Felspyramide des Wendelstein. Er ist durchaus nicht etwa durch seine Höhe besonders hervorragend; denn er übersteigt nur um Weniges die Durchschnittshöhe jener Voralpengipfel, mit welchen er in einer Linie Front gegen das Flachland macht. Aber seine charakteristische Gestalt, seine kecke Stellung hart am Rande der Hochebene, zwischen tiefeingeschnittenen Thälern, über stundenbreiten rothbraunen Mooren, zu welchen sein lustiges Blau einen scharfen Gegensatz bildet, endlich die Nachbarschaft einer der ehrwürdigsten unter den europäischen Völkerstraßen: all das zusammen hat ihm zu einer Berühmtheit verholfen, welche weit über seine Meereshöhe hinausreicht. Der Wendelstein ist einer der volksthümlichsten Berge in der ganzen Alpenkette vom Montblanc bis zum slawischen Triglav geworden. Die stolzen Zinnen der Centralalpen, die mit steinernem Antlitz, von blitzendem Eisgewand umflossen, in unermeßliche Abgründe niederstarren, jene Zinnen, gegen welche der Wendelstein als ein bescheidener Hügel erscheint, müssen ihn doch um Eins beneiden, das er vor ihnen voraus hat: um sein Lied. Denn der Wendelstein ist einer von den wenigen Bergen, denen, wie dem steirischen Dachstein und dem Wazmann bei Berchtesgaden, ein eigenes Leib- und Preislied von Volkes Mund gedichtet ward und von Volkes Mund immer und immer wieder gesungen wird.
Der entscheidendste Grund für die Popularität des Berges liegt aber wohl im Herzen seiner Umwohner. Das Leitzachthal, das mit seinen grünen Triften und sonnigen Dörfern sich zu Füßen des Wendelsteins ausbreitet, wird von einem Völkchen bewohnt, das an Lebenslust und Sangesfreudigkeit seines Gleichen sucht. Erst weit im Osten, am Fuße des steirischen Dachstein, auf den sonnigen Almen um Aussee, findet man einen gleich fröhlichen und schönen, lebensfrohen und liederkundigen Schlag Menschen. Dazwischen liegen weitgestreckte Thäler, in welchen man tagelang hinwandern kann, ohne ein Lied zu vernehmen. Dieser Unterschied des Volksgemüths von Thal zu Thal hat seinen tiefen Grund in der Natur wie in den mit ihr zusammenhängenden Lebenssitten der Menschen. Wo die Almenwirthschaft blüht, da giebt’s auch Lieder und Jauchzer – vorausgesetzt, daß es Mädchen sind, die droben in den Sennhütten hausen, nicht bloß verwetterte alte Schafhirten oder industrielle Käsehändler. Darum singt’s von den Almen zwischen dem Wendelstein und dem Tegernsee; denn dort haust die muntere Jugend wohlhabender Dörfer, unverkürzter Freiheit froh, den Sommer über zwischen ihren grünen Matten, rauschenden Wäldern und weißgrauen Felsen.
Und von den meisten dieser Almen aus sieht man wie einen Bergkönig das schöngeformte Felsgebilde des Wendelstein aufragen. Dann kam noch Eines dazu, um diesem Berg so besondere Poesie zu verleihen: der hervorragende Ausblick ins Flachland. Wo man ringsumher von Bergen umgeben ist, da ist der Ausblick in die Welt wohl großartiger und wilder; aber nicht so lustig wie hier. Gerade daß man so hoch über dem unermeßlichen Flachland steht, so viele bewohnte Stätten, winzige Häuschen und Kirchthürme, Wälder und Felder und Wasserspiegel unter sich sieht, muß doppelt übermüthig und freiheitsselig stimmen.
Darum ist der Wendelstein auch als Zielpunkt fröhlicher Bergfahrt so vielbegangen wie kein anderer Berg der bayerischen Alpen. Von Ostern bis Allerheiligen, wenn am Samstag die langen Wagenzüge im Münchener Bahnhof bereit stehen, kommen die Freunde des Wendelsteins, einzeln oder in kleinen Gruppen: Gymnasiasten mit ihren langen Bergstöcken; schlichte Bürger mit ihren Töchtern; dazwischen auch manche ältere Würdenträger, die auf zwei Tage den Aktenstaub los sein wollen; übermüthige norddeutsche Studenten, die ein Semester in München zubringen und ahnungslos ihre feinen Röcke der unbarmherzigen Bergnatur entgegentragen; da und dort auch ein heimlich flüsterndes Pärchen, das aus der Prosa seiner Ladenbude heraus der Almenpoesie zustrebt – und noch viel anderes Volk.
Die Lokomotive donnert mit ihren dreißig Waggons über die Hochebene dahin, durch langgedehnte Wälder, aber immer dem blauen Felsenkopf des Wendelstein entgegen, der scharf über die dunklen Waldlinien emporlugt. Wenn wir die Station Holzkirchen erreichen, wo der Bahnzug sich zertheilt, um nach drei Richtungen hin dem Gebirge entgegenzueilen, steht unser Berg schon groß und imponirend da; schon unterscheidet man deutlich an ihm, was Fels, Wald und Matte ist.
Dann aber fängt er an, sich zu verstecken, je näher wir ihm kommen; und schließlich verschwindet er ganz hinter bewaldetem Vorgebirg. Dann weht uns aber auch schon Alpenluft entgegen; der Horizont verengert sich; näher tritt Wald und Gehäng, und das Wasser, das neben dem Bahndamm rauscht, tanzt so übermüthig in seinem felsigen Bache, wie es kein Wasser des Flachlandes kann.
Bald ist das Ende des Schienenwegs erreicht. Groß und dunkel erschließt sich ein Kessel von Wald und Fels; in ihm eingebettet liegt der liebliche Schliersee. Seine Wirthshäuser mit ihren holzgeschnitzten Balkons reizen uns aber heute nicht. Rasch ist ein Fährmann gefunden, der uns in einem zierlichen weißen Boot über die Seefläche fährt, mit der ein sanfter Nordost ein heiteres Spiel treibt. Während wir über den See hinfahren, schließen uns die Berge mehr und mehr ein wie ein zauberischer Ring, und wenn wir am südlichen Ufer des Sees dem Nachen entsteigen, sind wir mitten in einem Alpenthal. Nur unser Wendelstein hält sich noch versteckt. Aber kaum zehn Minuten wandern wir auf der glatten weißen Straße, da gabelt sich das Thal, und er steht wieder vor unseren Augen, jetzt nur noch in stundenweiter Ferne: eine schöne schroffe Pyramide mit grünen Matten am Fuße und schimmernden Felswänden in der Höhe.
Von nun an lassen wir unsern Berg nicht mehr aus dem Auge. Abendliche Schatten breiten sich schon durchs Thal. Zur Linken hoch über uns trauern einsam die Trümmer der uralten Veste Hohenwaldeck; zur Rechten gleißen in den Strahlen der sinkenden Sonne die Felswände des Jägerkamm, der Rothwand und des Miesing. Der Weg vor uns ist einsam und still. Von den Berghängen herab tönt alpenhaft das Geläute der Kuhglocken; in einiger Entfernung gaukelt, von Staubwölkchen umwirbelt, ein gelber Omnibus hin wie ein etwas schwerfälliger Schmetterling. Bald verlassen wir auch die Straße und steigen auf schmalem Fußpfad durch Wald und Hag, am westlichen Fußgestell des Wendelsteins empor, zu dem Wallfahrtsorte Birkenstein.
Das ist ein vielumsungener Ort, eine der volksthümlichsten Stätten des bayerischen Berglandes. Unmittelbar am Gehänge des Wendelstein liegen Dorf und Wallfahrtskirche, überragt von finsterem Bergwald und grauen Felszacken. Weit schweift der Blick durch die Spalte des Leitzachthals ins Flachland hinaus.
Es sind zwei Wirthshäuser in Birkenstein, eines auf lustiger Höhe, das andere, ältere unten im Thal. Wir haben uns oben in der Höhe ein Unterkommen gesucht und schauen nun hinaus in die abendliche Landschaft.
Im Bergwald rauscht der Nachtwind, Herdengeläut ertönt ringsum; aus der Tiefe herauf sehen wir die Fenster des unteren Wirthshauses flammen; dort geht’s lebhaft zu; man vernimmt Peitschenknall und Gesang und den Lärm fallender Kegel. Bei uns ist’s einsam und still; einige Bergwanderer, die vor uns heraufkamen, sitzen in der Stube vor ihren Landkarten, die ländlichen Gäste haben den Heimweg gesucht. Geisterhaft weht es aus den finsteren Schluchten und Höhlen des Berges herab und hinter schwarzen Fichten steigt groß und geheimnißvoll der Mond empor.
Vor Tagesgrauen sind wir wieder auf dem Wege. Der ist leicht zu finden, seit der Alpenverein ihn verbessert und mit Wegweisern versehen hat. Wo irgend ein Zweifel über die Richtigkeit des Wegs entstehen mag, sieht der Wanderer auf Steinwurfweite an einem Felsen oder Fichtenbaum einen dicken Strich rother Oelfarbe, der die Richtung weist. Bei einem solchen Steine treffen wir einen alten Holzknecht an, der gegenüber dem Steine auf dem Rasen sitzt und sein Pfeifchen stopft und dann äußerst nachdenklich den rothen Strich auf dem Steine betrachtet. Der Stein selber sieht schier aus wie ein finster grollendes Riesengesicht.
„Na, Alter,“ so fragen wir, „was ist’s jetzt mit dem Stein? Meinst, er ärgert sich recht, weil er so roth angestrichen ist?“
Der Alte bläst eine dicke Rauchwolke unter dem weißen Schnurrbart hervor und sagt: „Ja, grantig ist er schon, der Stoan, moan i! Aber bis in hundert Jahren wascht ’n der Regen scho fein sauber! Dös kann er derwarten, der Stoan!“
Uns scheint’s auch, als ob der Stein das ruhig abwarten könne. Und wie wir weiter wandern und um die nächste Waldecke biegen, sitzt der Alte wieder schweigsam dort und raucht, und denkt über den Stein nach, fast selbst wie versteinert.
Nach einer Stunde raschen Steigens ist die Waldregion hinter uns. Lustig schlängelt sich der Weg einen steilen Abhang entlang; weit öffnet sich der Ausblick in die Nachbarberge, deren Felshäupter eben von der aufgehenden Sonne mit purpurner Gluth übergossen werden. Zur Rechten in einer kleinen Mulde liegt eine Sennhütte; die Inwohnerin jauchzt uns ein Willkomm herüber; aber zur Einkehr haben wir keine Zeit. Steiler und höher geht’s hinan, zuerst noch über Matten und Geröll, dann durch Krummholz und grobe Felsklötze. Aber lang schon winkt das gastliche Wendelsteinhaus unter dem massigen Gipfel; tiefer und tiefer sinkt das grüne Leitzachthal, das den Wendelstein im Süden und Westen umzieht, hinunter, und wie Kinderspielzeug schauen die Häuschen von Bayrisch-Zell herauf. Kaum dritthalb Stunden sind vergangen seit unserem Aufbruch von Birkenstein, da treten wir über die Schwelle des „Wendelsteinhauses“. Erst vor wenigen Jahren hat man dasselbe aufgeführt, aber es genügte bald nicht mehr den Anforderungen der zahllosen Touristen. Der gastliche Bau ist vergrößert und sogar mit einem botanischen Garten versehen worden.
Bis hierher ist der Wendelstein eigentlich ein Spaziergang. Aber zuletzt war’s doch warm geworden in der Morgensonne und zwischen dem borstigen Krummholz, so daß es immerhin gut thut, ein paar Minuten
[92]auf der einladenden Holzbank vor dem Hause zu rasten und einen frischen Trunk sich zu vergönnen. Die Rundschau, die sich hier schon eröffnet, messen wir nur mit flüchtigem Blick; ist doch oben auf dem Gipfel Alles noch weit schöner! Und den steilen Weg von Bayrisch-Zell herauf kriecht eine lange Karawane von Menschen, ameisengleich. Es wäre doch hübscher, allein oben zu sein! Also machen wir uns rasch wieder auf den Weg. Ein paar große Felsstufen geht es noch hinan; dann scheint’s, als sei der Weiterweg vermauert. Massig und drohend hängt eine finstere Felsenwand über uns. Aber noch ein paar Schritte weiter, und wir sehen, daß diese Wand gespalten ist. Eine feuchte dunkle Kluft gähnt uns entgegen, der Zugang zum „Stangensteig“. Dieser Stangensteig ist ein schmaler, oft nur handbreiter Weg, an dessen Seite in die graue Kalkwand daumendicke Eisenstifte eingelassen sind, um ein Geländer aus Eisenstangen und Drahtseil zu tragen. Das Geländer ist aber nur an der einen Seite des Steigs, da, wo die Wand aufwärts steigt. An der anderen Seite stürzt die Wand in eine gräuliche Tiefe fast lothrecht ab. Mancher Wendelsteinwanderer kehrt hier, von panischem Grausen erfaßt, dem lustigen Steige den Rücken und verzichtet auf den Rest. Uebrigens ist der Steig bei der Anwendung des geringsten Maßes menschlicher Vorsicht ganz gefahrlos, und nur wer stark am Schwindel leidet, wird ihn ungemüthlich finden. Selbst wenn sich etwa zwei Reisegesellschaften hier begegnen, kann man sich in heiterer Laune an einander vorbeidrücken. Für ein paar Todfeinde, die sich hier träfen, wäre der Moment allerdings kritisch.
Um den Fels und steil aufwärts windet sich der Stangensteig zum luftigen Grat und auf diesem zum Gipfel, kaum eine Viertelstunde über dem Wendelsteinhause. Der Gipfel selber ist ein gewölbter, von Westen nach Osten entlang ziehender Felsrücken. An seiner höchsten Stelle trägt er ein Kreuz und eine kleine Kapelle, Beides mit starken Drähten und Eisenklammern am Felsgrund befestigt. Hier stehen wir, 1849 Meter oder 6335 bayerische Fuß über der Meeresfläche. Wer hier sich niederläßt in das niedrige, braune, harzduftende Gesträuch, das den Felsgrat stellenweise deckt; wer im Sonnenschein hier Rundschau hält, der begreift es leicht, warum der Berg im Volksmund lebt, wie wenig andere. Schroff und nach unten zu immer schroffer senkt sich die Nordwand vom Gipfel hinunter in die Tiefe, über und über von schwarzem Krummholz bewachsen. Weit unten erst kommt wieder Boden zum Vorschein: finstere, dickbewaldete Thalkessel, durch welche der Jenbach ins Flachland hinausdrängt. Blitzend und breit zeigt sich im Nordosten zwischen Wäldern und Feldern und unzähligen Ortschaften der Innstrom; jenseit desselben funkelt der mächtige Spiegel des Chiemsees. Aber noch weit, weit nördlich fährt der Blick über die Ebene hin, die fast endlos sich dahinstreckt, eine von grünem fröhlichen Leben erfüllte Landkarte. Immer feiner und duftiger wird’s nach dem Horizonte zu; nur ein scharfes Auge erkennt fern im Nordosten die blauen Gipfel des Böhmerwaldes und im Nordwesten, schimmernd wie ein Märchen, die Thürme und Häusermassen von München.
So reich und großartig das Bild nach dem Flachlande zu ist: unendlich größer ist es nach dem Süden. Da fesselt den Blick zunächst das wilde Gesicht unseres Berges selbst. Mit zerrissenen Felsköpfen stürzt er in die ungeheure Tiefe von Bayrisch-Zell ab. Und gegenüber, jenseit des grünen Leitzachthales baut sich’s empor, gigantisch und unabsehbar, Berg über Berg. Hinter den grünen Waldgehängen und Gipfeln der Voralpen steigen höher und höher schartige, weißgraue Kalkschroffen empor, alle überragt von der weißen blinkenden Kette der Centralalpen. Deutlich sieht man aus den Firnfeldern der Tauern und des Zillerthaler Kammes die breiten Gletscher niedersteigen mit ihren blauen Schründen; deutlich erkennt man die tiefe Einsenkung des Brenners und weiter nach Westen hin die stolzen Gipfel der Stubayer und Oetzthaler Eiswelt. Ob aber die fernsten, hinter den westlichen Hochkalkalpen auftauchenden Spitzen schon den Graubündener Alpen angehören, kann der spähende Blick nicht mehr unterscheiden.
Von der Schweizer Grenze bis zum Böhmerwald, und von dem stolzen Markstein Kärnthens, dem Großglockner, bis nach Schwaben hinein mit einem Blick zu schauen – es ist wohl des Steigens werth! Und ringsum strahlende Schönheit und unverwüstliche Felsengestalten! Wie winzig ist der Bahnzug in der Tiefe, und wie langsam kriecht er auf seinem eisernen Wege dahin! Jetzt fährt er über die Innbrücke und in den Bahnhof zu Rosenheim; aber sein gellendes Pfeifen dringt nicht bis herauf. Dafür schallt von dem Nachbargipfel der Soienspitze ein Jauchzer herüber, frisch und schneidig wie der Bergwind. Das ist die Sennin von der Soienalp, die drüben auf den im schrägen Sonnenlichte funkelnden Felsen steht und ihren Morgengruß herüberschickt nach dem geliebten Wendelstein.
DIE ROTHE ERDE.
Herrn Kaiser Karl zu Aachen
Kam’s über die Augen schwer:
„Ich fühl’s, nicht wird mich wärmen
Die Frühlingssonne mehr.
Noch einmal muß ich umschau’n,
Wie’s steht in meinem Reich:
O wär’ ich bei Avaren
Und Arabern zugleich!
Zugleich am gelben Tiber,
Zugleich am grünen Rhein:
Zu groß ist ach! das Erbe,
Der Erbe ist zu klein. – –
Die Nächsten sind die Sachsen:
Bis dorthin reicht’s wohl noch;
Sie kämpften dreißig Jahre
Und ich bezwang sie doch!“ –
Er zieht mit Graf und Bischof
Nochmal durch Sachsenland:
Der Männer sieht man wenig:
Todt sind sie, landverbannt.
Auf öder, brauner Heide,
Vom Eichbaum überragt,
Liegt ein Gehöft, den Dachfirst
Vom Roßkopf überschragt.
Welk über’n tiefen Ziehbrunn
Nickt der Hollunder schwer:
Und frische Hügelgräber, –
Sehr viele! – rings umher. –
Ein Weib tritt auf die Schwelle:
Es zerren an ihrem Rock
Die Knaben mit dem Trutzblick,
Die Mädchen im Flachsgelock.
Sie gaffen auf die Fremden,
Auf die bunte Reiterschar:
Es beugt sich aus der Sänfte
Ein Mann in weißem Haar.
Er streicht den Kopf dem Jüngsten:
Der greift nach der Spange licht:
„Wer ist’s?“ forscht scheu die Mutter.
„Herr Karl! – Kennst du ihn nicht?“
Laut auf kreischt die Entsetzte
Und reißt die Kinder fort:
„Herr Karl! Der Tod!“ – Sie verschwinden
Im nahen Buschwald dort. –
Der Kaiser nächtet im Kloster.
Leer ist’s um den Altar:
Kein Laie, – nur die Mönche. –
„Was scheint dort fern so klar?
Was leuchtet durch das Fenster?“
„O Herr – – ’s ist nicht geheuer:
Die Sachsen sind’s im Walde
Bei Wodan’s Opferfeuer.“ – –
Am andern Morgen rheinwärts
Der Kaiser kehrt die Fahrt;
Er schweigt. – Er betet manchmal,
Er streicht den weißen Bart.
Das Roß führt ihm ein Sachse,
Der alle Steige kennt.
Das Erdreich steht zu Tage,
Wo der Pfad die Hügel trennt.
Warm dampft es aus den Schollen, –
Karl beugt vom Sattel sich:
„Roth ist hier rings die Erde,
Seit wann? Woher das? – Sprich!“
Da hob der graue Führer
Zu ihm den Blick empor:
„Grün war der Wiesenanger,
Die Heide braun zuvor;
Zweihunderttausend Sachsen,
Die starben blut’gen Tod: –
Davon ist in Westfalen
Die Erde worden roth.“
Da schüttelt Frost den Kaiser:
„So tief – die Erde roth?
Herr Christus, lösche die Farbe:
Ich that’s auf Dein Gebot.“
Starr hat er in die Wolken, –
Auf den Boden starr gesehn:
Der Boden blieb derselbe: –
Kein Wunder ist geschehn. –
Schwer krank kam er nach Aachen
In seinen goldnen Saal:
Er raunte mit sich selber,
Hauptschüttelnd, manchesmal.
Er fragte: „Ist’s noch roth dort?“
Als er im Sterben lag.
Roth blieb Westfalens Erde
Bis auf den heut’gen Tag. –
Ein verhängnißvolles Blatt.
(Fortsetzung.)
Gut’n Abend, Leut!“ sprach Mathias, der soeben erschienen war und mit spöttischen Blicken Anna und Rupert betrachtet hatte.
Nur Reiser erwiederte den Gruß, die andern sahen und hörten nichts. – Jetzt bemerkte ihn Anna.
„Was willst, Mathias?“
„Du wirst jetzt koa Zeit hab’n! A Milch brauchet i, es langt nimmer für ’n Schmarn! Laß Di net stör’n, i kann scho wart’n!“
Anna ward über und über roth, gerade für den Mathias war diese Scene nicht bestimmt. Rupert kehrte sich ärgerlich um.
„Ueberall bist doch um d’ Weg, wo ma Di net braucht! ’s is ja do no net Feierabend!“
Die beiden Männer sahen sich mit gehässigem Ausdruck an. Mathias mit dem echten Germanenkopf, dem rothblonden Bart, den hellblauen Augen, Rupert mit dem südlichen Typus, der dunklen Hautfarbe, dem pechschwarzen Schnurrbart. Die Antipathie der beiden Rassen schien in ihnen verkörpert zu sein.
„No, bei Euch wär’ grad a net Feierabend!“ entgegnete Mathias, „’s giebt all’weil z’ thun im Revier, b’sunders jetz, wo so viel g’wildert wird, wia i hör!“
„Wenn Du da bist, dann fehlt nix im Revier! – Lach nur! A mal geh ’st mir do ei; dann is Feierabend für Di; dafür steh i Dir guat!“ entgegnete Reiser.
Anna war mit dem gefüllten Krug wieder gekommen.
„Was hab’n’s denn allweil mit Dir, Mathias? Laß ihna do de paar Reach (Reh)! Di mach’n s’ net glückli, bist ja sonst a tüchtiga Bua!“
Ueber Mathias’ verdrossenes Antlitz zog es wie Freude bei diesen freundlichen Worten.
„Hast Recht, Anna, ’s is a net halb so arg als ma’s macht, aber, mei Gott, oa Freud’ muaß der Mensch do hab’n, wenn eam sonst All’s g’nomma werd!“
Anna hielt den durchdringenden Blick nicht aus, den Mathias jetzt auf sie richtete. Sie wußte, was er mit dem „All’s“ meinte.
Reiser hatte unterdeß seinen Stutzen genommen und ging zur Thür hinaus.
„I geh mit,“ sagte Rupert und packte zusammen.
„Also am Sunnta, Anna, sieht ma Di auf d’r Post?“
„Dös is g’wiß, Herr Reiser, da darf i net fehl’n! B’hüt Gott mit anand!“ Rupert faßte sie um die Taille und flüsterte ihr etwas in das Ohr, sie nickte zustimmend mit dem Kopfe.
Es war schon Abend geworden, die Felswände drüben erglänzten im rothen Licht, über dem Thale lagerten blaue Schatten, von nah und fern ertönte das melodische Geläute der weidenden Rinder; vom Schlag herauf hörte man den Schall der Axt – da war noch immer nicht Feierabend.
Rupert und Reiser waren bald im Walde verschwunden, sie wollten noch eine Pürsche auf einen Rehbock machen. Mathias ging mit dem Krug abwärts, oft blieb er stehen und sah auf die Alm zurück, aber Anna zeigte sich nicht mehr, sie hatte wohl im Stall zu thun – dann ging er kopfschüttelnd weiter.
„Wenn der Rupert net wär’, wer woaß!“ murmelte er vor sich hin – „wer woaß, was All’s sein kunnt!“
Als er hinunter kam, war die Arbeit beendet; aus dem Dache des Rindenkobels zog schon blauer Rauch empor.
David, der alte Toni und der Klieber saßen um die Herdstelle; Jeder kochte sein Abendbrot auf eigenem Feuer. In den großen Pfannen brodelte das Schmalz. Toni machte sich soeben einen tüchtigen Schmarrn zurecht, während David mit seinen Fuchsaugen den Preßknödeln zusah, wie sie im Schmalze sich blähten und immer brauner wurden. Der Klieber rührte in einem dicken Mehlbrei, daß der Schweiß ihm auf der Stirn stand.
Mathias begnügte sich mit einem Stück Brot, ihm war nicht ums Essen. –
Draußen war die milde Sommernacht eingefallen; der Kauz rief im Buchenwald seinen schwermüthigen Ton; in der Schlucht nebenan rauschte der Bergbach, in den Wipfeln brauste es geheimnißvoll, Leuchtkäfer zogen ihre mystischen Kreise, ein kräftiger Harzgeruch stieg auf von den gefällten Bäumen, und fern am Horizonte zuckte es hie und da elektrisch auf.
Die Leute steckten ihre Pfeifen in Brand, der alte Toni kroch ins Heu, seine alten Knochen bedurften der Ruhe. Da trat Reiser in den Lichtkreis. – Die hohe Gestalt war etwas gebeugt, er hatte einen Rehbock im Rucksack.
„Is Rupert no net da? Wir hab’n uns hier z’sammab’stellt.“
„Werd wohl schwerli mehr komma,“ entgegnete Mathias, der eben mit Kennermiene den Bock prüfte, den Reiser in die Ecke gelegt. „A sauber’s G’wichtl![1] Es freut mi, daß es ’n g’schoss’n habt’s, dem Rupert hätt’ i ’n net vergunnt!“
Auch David machte sich mit dem Bock zu schaffen. „I moan, dös is an alt’r Bekannt’r!“ lispelte er Mathias ins Ohr, „aus ’n Erlgrund, kennst ’n net am G’wichtl?!“
„Wo hab’n’s den g’schoss’n, Herr Reiser?“ fragte er laut den Gehilfen.
„Im Erlgrund, mach’ schon die vierte Pürsch d’rauf!“
David stieß Mathias heimlich in die Seite. Reiser fing nun auch an, sein Abendbrot zu kochen, und David sprang dienstfertig um ihn herum, blies das Feuer auf, holte frisches Wasser und setzte sich dann mit seiner kleinen Holzpfeife in die Ecke.
Mathias ging vor die Thür und blickte gegen die Alm hinauf, die schwarz in den Nachthimmel hineinragte. Das Fenster rechts war beleuchtet – ein kleiner rother Punkt – an dem blieb sein Auge haften. Was dort oben vorgehen mag? Seine Gesichtszüge wurden düster, drohend schüttelte er die geballte Faust hinauf, dann setzte er sich auf einen Baumstumpf und brütete vor sich hin. –
Oben saßen Rupert und Anna in der kleinen sauberen Stube und versprachen sich Treue fürs Leben. Sie hat ihm das Versprechen abgeschmeichelt, die Jägerei lassen und ein tüchtiger Bauer werden zu wollen. Er sagte zu Allem Ja. Er hatte ja jetzt schon die Jagd vergessen über ihren schwarzen Augen. Nächsten Sonntag sollte er bei ihrer Mutter förmlich anhalten und dann auf der „Post“ die Verlobung gefeiert werden. Sie flüsterten und kosten ins Endlose fort. Der rothe Gams war schon längst darüber eingeschlafen, er hatte sich’s im „Kreischter“ bequem gemacht, sein Herr fragte nicht nach ihm. Durch das offene Fenster zog die würzige Nachtluft, ein unbestimmtes Tosen erscholl vom Thal herauf, hier und da schwebte ein Glockenton herein von einem sich bewegenden Rind, – sie merkten’s nicht, daß die Kerze schon heruntergebrannt war, plötzlich erlosch sie, brenzlichen Qualm verbreitend.
Anna ging hinaus, that noch einen Blick gegen den Sternenhimmel, der in erhabener Ruhe über den Berggipfeln sich spannte, sandte einen Juhschrei hinaus in die Nacht in der Ueberfülle ihres Glückes und verschloß die Thür.
Mathias saß noch immer vor dem Kobel. Als der rothe Punkt verschwand, den er zuerst verflucht, ward’s ihm noch ärger zu Muthe. Die Finsterniß erzeugte noch schrecklichere Bilder in seiner Phantasie, und der Juhschrei klang wie Hohn vom Berge.
Er ging in die Hütte und grub sich ins Heu, wo die Anderen schon um die Wette schnarchten. Schlafen konnte er nicht – er starrte in die verglimmende Gluth am Herde.
„Ja, wenn der Rupert net wär’, wer woaß –!“
Ein herrlicher Sonntagmorgen stand über der Rainalm. Die Messingringe an den Milchkübeln draußen vor der Thür blitzten im Sonnenlicht; in der Küche war Alles blank geputzt und gescheuert: die rothblinkenden Kupferpfannen an den Wänden, der große Kessel über dem Herd, die farbigen Tassen und Teller in den Gestellen. Selbst die Leitkuh, die träumerisch in der Nähe der Hütte stand, hatte das breite gestickte Glockenband um, mit dem sie im Frühjahr so stolz auf die Alm gezogen. Aus ihrem rosigen Maul troff es zu beiden Seiten wie Silberfäden; und die [95] Katze auf der Bank wurde nicht müde, ihr glänzendes Fell zu putzen und zu schlecken.
Drinnen im Stübchen stand Anna vor dem kleinen Spiegel; sie beugte sich nach allen Richtungen, um ihre mächtige Gestalt ganz in dem kleinen Glase erblicken zu können. Ein dunkelblauer Seidenrock legte sich in breiten, schweren Falten um die prallen Hüften, das schwarze Mieder war vorn mit dichten Ketten über silberne Haken geschnürt und hob den kräftigen Wuchs des Mädchens aufs Vortheilhafteste hervor. Eben war sie im Begriffe, ein weißes, mit bunten Blumen durchzogenes Seidentuch kunstgerecht um den Nacken zu schlingen, als ein Juhschrei draußen ertönte, den sie, mitten in ihrer Putzarbeit, von Herzen erwiederte. Das Mieder drohte zu springen bei den aus voller Brust dringenden Tönen, die den engen Raum durchschmetterten.
Rupert trat ungestüm ein, auch im Sonntagsstaat. Vom grünen Hut wehte ein mächtiger Gamsbart, die kurzen Kniehosen strotzten von grünen Stickereien. Die reich gestickten Strümpfe waren offenbar ein Geschenk Anna’s; denn ihr erster Blick fiel darauf, ob er sie wohl heute anhabe. Dann sah sie ihm ins Gesicht, in die freudestrahlenden Augen – er war wirklich ein schöner Mann!
Sie entzog sich auch nicht seiner stürmischen Umarmung und achtete es nicht, daß er den schönen seidenen Rock ganz zerdrückte.
„Bist firti, Anna? ’s is höchste Zeit, wenn ma’ no ins Amt komma woll’n. Dei Muatta will’s hab’n und heut därf’ ma’s bei Leib net verzürna! Sie werd Schreck’n gnua ausstehn, wenn i auf eimal herausplatz mit mei’n Antrag! Sie hätt’ Di liaba mit an reich’n Bauern g’seh’n als mit an Jaga! Aber sie is so viel guat und hat Di so gern! I denk’, sie kann net na sag’n!“
„Wennst in d’ Hand nei versprichst, daß d’ Jagerei lass’n und a richtiga Bauer werd’n willst, nacher hat’s koan Haken – aber das wird s’ verlanga, Rupert, und i kann ihr’s net verdenka! A Bauer muaß a Bisl an Stolz hab’n, er is a freier Mann und a Jaga – is a Knecht – schaug’s an wia’s magst.“
„I hab nix dageg’n, wenns mi a anfangs hart ankomma werd’, wenn i auf d’ Berg naufschau’ und den Gams zuschau’n muaß mit der Heugab’l! Aber es werd si scho macha, dafür hab i ja so a schöne liabe Bäurin, daß i mi gar nimmer sehna werd nach die Berg. – Aber jetz mach, mit dem Plauschen kemma wir net nach S…!“
Anna setzte ihren Hut mit den goldenen Tressen auf, brockte einige Reseda und Pelargonien von den Blumenstöcken am Fenster und steckte sie ins Mieder, auch Rupert’s Hut schmückte sie damit, dann machte sie noch einen Knix vor dem Spiegel, ob auch Alles in Ordnung, gab dem Kuhbuben, der draußen den Stall reinigte, ihre Weisung für den Tag und folgte Rupert den Berg hinunter. Die rings herum lagernden und weidenden Kühe sahen erstaunt dem Paare nach; sie schienen ihre Pflegerin gar nicht mehr zu erkennen; nur einige junge Rinder liefen blökend zu ihr und schnupperten an ihrem Gewande. Sie streichelte ihnen die krause Stirn. „I kimm scho wieda, Bleß!“ sprach sie zu dem einen Thier, das sich besonders zärtlich zeigte.
„Du tanzt ja a gern auf der Alm umanand, und d’ Anna möcht’s heut a probir’n, schau’!“ – Rupert ermahnte sie zur Eile.
„Du woaßt ja gar net,“ sagte sie im Fortgehen, „was ma’ für a Liab hab’n kann zu dem Vieh, und wie ein’ de Arbeit freut, wann a Seg’n is im Stall und die liab’n Vicher – wo Du jed’s oanschichtige kennst und liab hast – aufatrieb’n wer’n auf d’ Alm mit Bleameln und Kränz an’than, und wann der Herbst kimmt und oa Fuada Heu nach dem andern in die Tenna rollt und d’ Foll’n (junge Pferde) richti satt zum Verkauf! Das woaßt Du ja net, wie schön das is!“
Ihr Angesicht glühte vor Erregung.
„Aber i werd’ Dir’s scho lerna, Rupert, Du sollst auf d’ Gamsböck bald vergess’n!“
Sie mußten, um auf dem nächsten Weg ins Thal zu kommen, über den Buchenschlag gehen. Da war es heute still. Zaunkönige schlüpften, wie Grillen zirpend, durch das am Boden liegende Astwerk; das monotone Pochen eines Spechtes klang von einer dürren Buche her, als schlüge man Nägel in einen Sarg.
„Da is Alles schon ausg’flog’n, scheint’s,“ sagte Rupert, „muß doch schau’n, ob der Mathias no da is!“
Vor dem Kobel saß der alte Toni, aus einem alten Maserkopf rauchend und vor sich hinträumend.
„Na, Toni, ganz allei?“ fragte Rupert.
„Alles davo, in all’r Herrgottsfruah!“ entgegnete Toni; „nach S. h’nunta, da werd’n ’s ihr Geld wieda los, was d’ ganz Woch’n z’sammg’arbet hab’n! Wia ma nur so dumm sei ko!“
„Und Du, Toni, bleibst Du d’n ganz’n Sunnta herob’n?“ fragte Rupert.
„Hab’ nix z’ suacha unt’n, seit mei Mari g’storb’n is! Da herob’n taugt’s ma am best’n. A guat’s Wassa! – A guate Schmalzkost! – Mei Ruah, und wann i aufsteh’ den andern Tag frisch zur Arbeit! Was will i mehr!? Ja, wia i no jung war, war ’s freili anders –“ Er lachte still vor sich hin. – „Da hat’s koan zwoat’n geb’n, – nach der Arbet – wohlverstand’n! – Also mit der Anna,“ fuhr er fort – „hm! – hast Dir’s net schlecht aussa g’suacht, i woaß oan, der Dir neidi is d’rum, Rupert!“
„Oan? I wüßt mehra!“ entgegnete dieser.
Anna wurde roth; sie wußte wohl, wen der Toni meinte.
„Und was sagt d’ Langbäu’rin dazua, Anna? Die hat ja all’weil hoch naus woll’n mit Dir! Is ihr jetz der Jaga gut g’nua?“
„D’ Muatta hat mi gern!“ erwiederte Anna, „und kenna thuat s’ mi a, was i für ’n Kopf hab, sie wird si scho d’rein find’n!“
Toni nickte.
„Und wann is nacher d’ Hochzeit?' Ös schaut’s net her als wollt ’s lang wart’n.“
„Des wirst no früah g’nua erfahr’n,“ entgegnete Anna, „wir san no net so weit – jetz pfüa’t Gott, Toni! Unterhalt’ Di guat mit Deine Bam!“
„Is der Mathias mit den Andern ganga?“ fragte der Jäger.
„Sell woaß i net,“ erwiederte Toni, „der wor scho dahi, eh i aufgewacht bi. Werd ihm wohl pressirt hab’n, – er werd Euch halt net begegna woll’n. Verdenk ’s eam a net, dem arma Tropf!“
Rupert und Anna entfernten sich über den Schlag; Toni sah ihnen kopfschüttelnd lange nach.
„Wann’s nur guat ausgeht! A Jaga und a Bauerndirn, thuat selt’n guat!“ murmelte er vor sich hin.
Die Beiden gingen voll Glück und Lebenslust durch den schattigen Buchenwald. Sie hatten sich viel zu sagen – wie sie die Mutter zur Einwilligung bewegen wollten und wie dann Alles weiter kommen müsse.
Ehe sie es merkten, waren sie schon unten im Thal angelangt. Von allen Seiten bewegten sich geputzte Landleute gegen das Dorf zu, dessen Häuser auf einem Wald von Obstbäumen herauslugten; in der Kirche läutete es schon zum Amt.
Sie beeilten ihre Schritte; der Langbauerhof war am obern Ende des Dorfes und sie wollten die Mutter in die Kirche abholen.
Als sie durch die Dorfstraße gingen, blieb Alles stehen und steckte die Köpfe zusammen. Daß die Zwei zu einander hielten, wußte man, aber heut’ zum ersten Male traten sie öffentlich mit einander auf und in ihren glückstrahlenden Gesichtern las man Alles.
Die Bauern lieben die Jäger nicht; ein alter Haß lodert hier, der nimmer erlischt. Viel Blut ist schon darüber geflossen – auf beiden Seiten, und beinahe Jeder im Dorf weiß, wie es beim heimlichen Pürschgang im Walde zugehen kann und wie die Kugeln pfeifen, die nicht fürs Wild bestimmt sind! Dazu kommt, daß der Bauer jeden Nichtansässigen, jeden Dienenden gering schätzt; selbst vor dem Beamten hat er mehr Furcht als Achtung!
Darum waren die Blicke größtenteils keine freundlichen, die das Paar jetzt trafen. Ein Jäger soll eine der besten Bauerntöchter heirathen im Dorf. Das war eine Anmaßung ohne Gleichen von ihm, von ihr aber eine Mißheirath im vollsten Sinne des Wortes.
Die Beiden kümmerten sich nicht um all’ das Gezischel und Geguck und schritten munter vorwärts dem Langbauerhof zu.
[96] „Wenn wir d’ Muatter nur no z’ Haus treff’n, sie versamt si’ net gern in d’ Kirch’n!“ erwähnte Anna.
Sie bogen von der Hauptstraße ab in einen engen Fußweg, der mit Kirschbäumen eingefaßt war.
Anna zupfte plötzlich Rupert am Arme.
„Da kommt d’ Muatter uns entgeg’n! Jesses! mir werd auf eamal so angst, wenn i denk’, daß sich jetz all’s entscheid’n soll!“
Auch Rupert war sichtlich beklommen, er zupfte sein Halstuch zurecht, rückte den Hut und räusperte sich wie Jemand, der eine Rede vom Stapel lassen will.
Zwischen den Kirschbäumen, deren rothe Frucht schon verlockend aus dem Grün heraussah, näherte sich eine gebückte Frauengestalt, auf einen Krückstock gestützt. Sie mußte eine statttiche Erscheinung gewesen sein, die Langbäuerin! Das hohe Alter konnte ihr eine gewisse Würde nicht rauben, die noch immer aus den regelmäßigen, sehr ernsten Zügen, den noch immer klaren blauen Augen sprach. Unter der schwarzen Haube ringelte sich schneeweißes Haar hervor; ihr Anzug war schwarz, sie trug sich seit dem Tod ihres Mannes immer so, nur aus einer silbernen Schließe von alter Arbeit, die ihr schwarzes Halstuch zusammenhielt, leuchteten zwei Rubinen. In der runzligen, gebräunten Hand trug sie ein großes Meßbuch. Sie ging so tief gebückt, daß sie die Beiden nicht herankommen sah.
„Muatter,“ sagte Anna, als sie auf wenige Schritte zusammengekommen waren. „Da bring i den Rupert!“
Die Alte stieß mit dem Stock auf die Erde, erhob ihr Antlitz, mit der Hand es gegen die Sonne schützend; die kleinen Fältchen zwischen den Augenbrauen zogen sich noch mehr zusammen.
„Anna!“ rief sie erstaunt, dann deutete sie mit dem Krückstock auf Rupert.
„Und Du! Was willst Du vo mir, Jag’r Rupert?“
Der drehte verlegen seinen Hut zwischen den Fingern und stieß unbemerkt Anna, sie solle ihm aus der Verlegenheit helfen.
„Muatterl! wir hab’n ja drüber g’sproch’n vorige Woch’, weißt’ nimmer, Muatterl?!“
Die Alte griff mit der Hand, wie um die Erinnerung zu wecken an die Stirn, dann sah sie Beide groß an.
„Das wär’s!“ sie lachte bitter. „Kannst net no a Jahr’l wart’n, nacher brauchst mi ja nimma dazua! Wann des der Vater d’ erlebt hätt, des war was word’n! A Bauerstochter und a Jaga! Das is a g’spaßige Zeit!“ Sie schüttelte den Kopf. „Doch jetz is koan Zeit über so was z’red’n, Anna! Erst gehn ma ins Amt, es is ja scho z’ spat – vielleicht giebt uns’r Herrgott uns an guat’n Rath! Dann woll’n ma drüber red’n, dahoam! Geht’s nur voraus, i komm scho nach!“
Ihre Stimme zitterte, eine Thräne fiel auf das Gebetbuch.
Schweigend zogen die Beiden zur Kirche, die Alte folgte langsam – ihr Blick ruhte auf dem schmucken Paare. „A eig’ne Zeit!“ wiederholte sie immer wieder, „a eig'ne Zeit!“
Berliner Vereine.
Wollte man obigen klassischen Satz bedingungslos auf die Bewohner der Hauptstadt des Deutschen Reiches anwenden, so käme ein großer Theil derselben recht bequem und billig zur Weisheit, denn in Berlin bestehen 3500, schreibe dreitausend fünfhundert polizeilich angemeldete Vereine, ohne die unzähligen, der behördlichen Bewachung nicht unterliegenden Kränzchen, Klubs und Cirkel, die es ebenfalls auf Verbrüderung oder Verschwesterung der Geister abgesehen haben. Die gesammelten Statuten aller dieser Gesellschaften bilden die interessanteste Bibliothek und sind für den Kulturhistoriker eine unerschöpfliche Fundgrube. In den amtlichen Listen werden die Vereinigungen in trockener alphabetischer Reihenfolge aufgeführt; versuchen wir dieselben nach anderen Gesichtspunkten zu ordnen! Es giebt in Berlin sprechende, musicirende und solche Verbindungen, welche gewisse körperliche Geschicklichkeit und Fertigkeiten bezwecken. Die Mitglieder der ersteren Gruppe werden von den mannigfachsten Interessen zusammengehalten: Vertreter aller Zweige der Wissenschaft und Kunst, Handwerker, Fabrikanten, Bürger der verschiedensten politischen Richtungen, ehemalige Soldaten, Beamte, Lehrer, frühere Schüler bestimmter Lehranstalten, von der Gemeindeschule bis zur Universität, Männer, welche sich der öffentlichen Gesundheitspflege, Wohlthätigkeit, Fortbildung, den Standesinteressen etc. widmen, vereinigen sich und fördern ihre Angelegenheiten nach den bekannten, in allen Volksschichten streng geübten parlamentarischen Regeln und ziehen gelegentlich auch die Frauenwelt – zu den Freuden der Tafel und des Balles mit heran.
Aus der Thatsache, daß in Berlin ungefähr tausend Theatergesellschaften bestehen, ließen sich die kühnsten Schlüsse ziehen; einige der größeren haben allerdings der deutschen Bühne berühmte Schauspieler geschenkt, auf die meisten dürften aber die Worte des Marktschreiers in Goethe’s „Jahrmarktsfest“ passen:
„Verschenken tausend Stück Pistolen,
Und haben nicht die Schuh zu besoblen.
Unsere Helden sind gewöhnlich schüchtern,
Auch spielen wir unsere Trunkenen nüchtern.
So macht man Schelm und Bösewicht
Und hat davon keine Ader nicht –“
Die letzten beiden Zeilen scheinen indeß nicht immer zutreffend gewesen zu sein, da die Polizei wegen allgemeinen Unfugs und der hinter den Koulissen, mit der Handlung des Stückes in absoluter Zusammenhanglosigkeit auftretenden zahlreichen Liebhaber die Schließung mancher unter hochtrabenden Namen „arbeitenden“ Theatervereine verfügen mußte.
In den harmloseren Bühnengesellschaften werden übrigens dem Mimen seitens der Mitwelt Kränze allergrößten Kalibers geflochten, zu den Vorstellungen bricht sich das Volk um ein Billett mit Vergnügen die Hälse, man lacht gern, aber noch lieber wird geweint. Wehe, wenn in der blutigen Tragödie der Bösewicht von der Rache nicht ereilt, der Uebelthäter nicht entlarvt und der lasterhafte Tyrann nicht bestraft würde! Das handfeste Parkett ist leicht geneigt die Bühne zu stürmen, um Gerechtigkeit zu üben!
Eine stattliche Reihe Gesellschaften widmet sich ausschließlich der Pflege des Humors, von den Scherzen im Tone der „Fliegenden“ bis zu jenen Regionen des höheren Blödsinnes, an dessen Darstellung vielfach die geistvollsten Männer, Gelehrte und ausgezeichnete Künstler mit staunenswerthem Enthusiasmus theilnehmen. Welche Aufnahmebedingungen der „Verein urfideler Kahlköpfe“ stellt, ist unschwer zu errathen. Wohl dem, auf dessen strahlendem Haupte auch nicht eine Stoppel mehr gefunden wird! „Wer aushaart“, wird nach dem Wahlspruch der Glatzenträger gekrönt. Am Stiftungsfest ertönt als Ouverture die Mondscheinsonate von Beethoven, das Programm enthält sorgfältig gesammelte „Lieder an den Mond“, während der Saal mit Gemälden geschmückt ist, auf denen Luna die Hauptrolle spielt.
Recht still geht es in den Gesellschaften der Taubstummen zu. Obgleich dieselben, Dank der neueren trefflichen Schulbildung, im Verkehr mit den Vollsinnigen sich der Lautsprache bedienen, so erledigen sie doch ihre Angelegenheiten nur durch die Pantomime. Auch die in Berlin zahlreich vertretenen Blinden vereinigen sich zu gemeinsamem Thun, sie musiciren auf allen Instrumenten, singen vortrefflich und debattiren nach Parlamentsregeln.
Unter der Rubrik „Geographische Vereine“ läßt sich eine große Zahl Gesellschaften nennen. Sie sind gebildet aus den Vertretern aller preußischen Provinzen und der verschiedensten Theile Deutschlands und größerer Städte: ein Beweis für die mannigfaltige Zusammensetzung der Residenzbevölkerung. Diesen Klubs gegenüber erscheint es ganz gerechtfertigt, daß sich neuerdings auch ein Verein echter Berliner aufgethan hat, er hält natürlich streng darauf, daß alle seine Mitglieder mit Spreewasser getauft sind.
Der Noth gehorchend, nicht dem eignen Triebe, müssen einzelne Vereine ungewöhnliche Versammlungszeiten wählen. So debattiren die Kellner lange nach Mitternacht, Straßenfeger und Nachtwächter in den Mittagsstunden, während die Bäckergesellen nach einer dunklen Sage des Vormittags ihre Bälle abhalten. Dem allgemein menschlichen Zuge folgend, vereinigen sich auch die Spitzbuben und anderes Gelichter zu fröhlichem Tanze; es fehlen auf dem Verbrecherkränzchen eben so wenig elegante Damen wie – Geheimpolizisten und Vigilanten.
[97]
[98] Numerisch tritt die Zahl der Frauenvereine gegen die Klubs des stärkeren Geschlechts bedeutend zurück. Die Frauen pflegen die Geselligkeit mehr in trautem Familienkreise, wo erfahrungsmäßig die Worte nicht gespart werden und manches gemeinnützige Thema gründlich besprochen wird; die an die Oeffentlichkeit tretenden Frauenvereine widmen sich fast ausschließlich der Wohlthätigkeit und anderen humanen Zwecken.
Unter den musikalischen Vereinen nehmen die singenden eine hervorragende Stellung ein. Seit den anregenden Besuchen der Wiener, Kölner, Straßburger und Frankfurter Liedertafeln haben einzelne Berliner Männerchöre eine hohe künstlerische Stufe erreicht. Die Mehrzahl singt mit Fleiß und Ernst das deutsche Lied; der Rest versammelt sich, um seine Uebungen mit staunenswerther Verachtung der dichterischen Forderung „Singe, wem Gesang gegeben“ und zum nächtlichen Schrecken ganzer Stadtviertel auszuführen. Wie unter Napoleon I. jeder Soldat den Marschallsstab im Tornister trug, so hat in den zuletzt genannten Vereinen jeder Sänger den Dirigentenstock in der Tasche. Kräftig gebaute, mit Löwenstimmen oder hohen Tenören begabte Persönlichkeiten, welche am Tage Hammer, Beil oder Elle schwangen, ergreifen Abends den meistens recht bemerkbaren Stab, um damit weithin hörbar den Takt zu – schlagen. Charakteristisch für Berlin ist der Umstand, daß der Männerquartettgesang, einige Ausnahmen abgerechnet, in den höheren und höchsten Gesellschaftskreisen keine Stätte findet; um so mehr ist dies in den mittleren und unteren Schichten der Fall.
Auf achtungswerther Höhe und in socialer Beziehung weiter nach oben greifend erweisen sich die gemischten Chöre und Dilettanten-Orchester-Vereine, unter denen der Officier-Orchester-Verein in erster Linie zu nennen ist. Viele Mitglieder desselben haben unter den Augen des greisen Kaisers eben so wacker ihre Instrumente gestrichen und geblasen, wie sie einst dem Feinde auf den Schlachtfeldern zum Tanze aufspielten.
Es ist für Berlin, beziehentlich für Deutschland eine bemerkenswerte Thatsache, daß in neuerer Zeit der Sinn für Gymnastik, Kräftigung und Stählung der Körpers in stetig sich erweiternden Kreisen lebhaften Ausdruck findet. Tausende pflegen die Turnerei. Das „Frisch, frei, fromm, fröhlich“ ertönt zwar im Großen und Ganzen aus jugendlichen Kehlen; es darf aber nicht verschwiegen werden, daß auch recht alte Herren noch gymnastische Uebungen treiben, natürlich unter geflissentlicher Vermeidung von Rückenwellen, Riesensprüngen, Dauerläufen und anderen Bravourstücken.
Nach berühmten Mustern haben sich ferner Vereine gebildet, welche rudern, segeln, schwimmen, reiten, jagen, fahren, laufen, schießen, fechten, kegeln, angeln, ja sogar das Trinken und Rauchen wird von einzelnen Klubs als wirklicher Sport betrieben und achtungswerthe Leistungen auf diesen Gebieten durch Preise und Orden ausgezeichnet.
Recht wunderliche Namen finden sich in den amtlichen Vereinslisten; eine kleine Auslese möge in Anbetracht der nahenden Karnevalszeit zum Schluß hier Platz finden: Kamel-Klub, Kobolds-Grotte, Mumpitz-Rauch-Klub, Mumm, Müller und Schulze, Maikäfer-Klub, Nulpe, Neutrale Axe, Nordlicht, Neuntödter-Kegel-Klub, Nunne, Orden der Eulenritter, Offene Kiste, Onkel Bräsig, Piepenkopp, Pipifax, Proppenbrüder, Planschkasten, Pichel-Klub, Roochloch, Seifenschnipper, Ratzenschieber, Rooch Weiter, Starker Toback, Schabernack, Schrumm, Spund-Klub, Süßholz, Sauzahn, Türkischer Fez, Uns kann Keiner, Blaue Zwiebel, Radau, Till Eulenspiegel, Little-Popo, Qualmtute und Fidele Unke. Gustav Schubert.
Eine schlechte Angewohnheit.
Wenn schon im gewöhnlichen Leben ein Jeder vor schlechten Gewohnheiten auf der Hut sein soll, wie viel mehr muß sich der Schauspieler überwachen! Ich habe Darsteller und Darstellerinnen gekannt, welche trotz ihrer anerkannt guten Leistungen nur wegen einer ganz bestimmten, in die Augen fallenden, unangenehmen „Eigenthümlichkeit“ (wie die höflichen Kritiker immer die schlechten Angewohnheiten auf der Bühne benennen) das Stichblatt ihres Publikums wurden.
Auch ich war beim Beginne meiner theatralischen Laufbahn einer kleinen „Unart“ ergeben – und wenn diese Unart auch glücklicher Weise eine „private“ war, also nicht meine Bühnenerfolge beeinträchtigen konnte, so verhalf sie mir doch einstmals zu einer tüchtigen „Blamage“, ja verursachte in bekannten künstlerischen Kreisen Ilm-Athens zur Zeit eine förmliche Revolte.
Ich huldigte nämlich der Unsitte, während des Memorirens die Rollen mit allerhand Bleistiftzeichen, Randnotirungen und sonstigem Gekritzel zu versehen. Wie oft hatte mir dies Unannehmlichkeiten bereitet! So mußte ich z. B. schon zur Zeit meines ersten Engagements ein bedeutendes Strafgeld zahlen, weil ich beim Memoriren der „Jungfrau von Orleans“ den vollzähligsten Waschzettel zwischen die Zeilen des ersten großen Monologes einfügte und der Direktor später, als ihm die Rolle abgeliefert wurde, neben den „Bergen“, „Lämmern“ und „geliebten Triften“ – 12 Taschentücher – 10 Paar Strümpfe – und 5 gestickte Chemisetten vorfand! Da ich schwer lernte und mich in der Anfangszeit meiner Karrière sehr viel mit klassischen Stücken zu beschäftigen hatte, es auch an Fleiß nicht fehlen ließ, so blieben die Rollen während des größten Theils des Tages ist meinen Händen und dienten mir gleichzeitig als bequeme „Notizbücher“. Es war dies, wie ich gern einräume, eine herzlich schlechte Angewohnheit, der ich lange nicht Herr werden konnte, und die sich dann endlich bestrafte, weil, dem Dichter zufolge, jede Schuld auf Erden sich rächt! –
Wer aus Schriftsteller- und Schauspielerkreisen sich noch der großartigen Feier des Shakespeare-Jubiläums am Weimarer Theater erinnert, wird gleich mir, die ich damals ein junges Mitglied der Hofbühne war, sich auch noch vergegenwärtigen können, welch’ großartigen Erfolg der Generalintendant Dingelstedt mit der geistvollen Bearbeitung des Dramencyklus und mit dem der Eröffnung der Festlichkeiten vorangehenden, poesievollen und formvollendeten Prolog erzielt hatte. Die Mitglieder der Hofbühne beabsichtigten, sich zu einer kostbaren Kranzesspende für Dingelstedt zu vereinen, als Erinnerung an die große Shakespeare-Woche Weimars, die man seiner Initiative verdankte. Der für den Intendanten projektirte silberne Lorbeerkranz, mit den Namen der Mitglieder auf den einzelnen Blättern, sollte von dem Personale durch freiwilligen Beitrag eines Jeden angekauft und an einem besonders dazu auserkorenen Tage überreicht werden. Da die Vorbereitungen bereits in größter Heimlichkeit getroffen, auch eine bedeutende Summe bei der allgemein begeisterten Stimmung schon zusammen gebracht worden war, so hatte man bald ein Modell ausgewählt und die Bestellung an den Juwelier ergehen lassen – – als plötzlich, unvorbereitet, und zum größten Staunen und Schrecken aller Betheiligten Dingelstedt das Regiekollegium berief, und diesem die Mittheilung machte, daß er von dem Vorhaben des Hoftheaterpersonales, ihm einen Lorbeerkranz zu schenken, unterrichtet worden sei und hiermit dem guten Willen seinen besten Dank ausspreche, aber aufs Entschiedenste eine solche ihm zugedachte Ovation, als durchaus inopportun, ablehnen müsse! …
Als nun die Regisseure frugen, wer die Indiskretion begangen und das Geheimniß der projektirten Kranzesspende verrathen habe, nannte Dingelstedt meinen Namen und fügte hinzu: „Die junge Dame hat allein korrekt gehandelt; man mußte erst bei mir anfragen, ob ich ein derartiges Geschenk auch anzunehmen gesonnen sei! Fräulein Knauff ersparte mir eine große Verlegenheit, indem sie mich in den Stand setzte, hiermit rechtzeitig – dankend ablehnen zu können.“
Welch ein Alarm erhob sich nun unter den Mitgliedern der Hofbühne! Einige tadelten mein Betragen in den schärfsten Ausdrücken und waren der Meinung, daß ich mir eine unverzeihliche Anmaßung und Vorlautheit habe zu Schulden kommen lassen; sie mieden mich geflissentlich oder gaben die gröbsten Stichelreden zum Besten. Andere waren glimpflicher und neigten sich der Ansicht zu, daß ich Dingelstedt gegenüber zwar sehr keck, aber doch vielleicht richtig gehandelt habe. Auch in Kreisen des Residenzpublikums glossirte man den Fall eifrig mit Für und Wider; das Hoftheater hatte plötzlich sein enfant terrible!
Und ich? Ruhig ließ ich Alles über mich ergehen, beobachtete das konsequenteste Schweigen, hüllte mich der Oeffentlichkeit gegenüber in eine selbstbewußte, vollkommen unnahbare Würde, getragen von der lauten Anerkennung des Generalintendanten, und war innerlich – – ganz zerknirscht, ganz gedemüthigt, weil meine sogenannte „korrekte Handlungsweise“ in der Kranzaffaire vor dem eigenen Gewissen und der inneren Stimme zerstob wie die Spreu im Winde …
Allerdings hatte ich Dingelstedt das Geheimniß der Mitglieder und die ihm zudachte Ovation verrathen; aber wie und wodurch? Es konnte nichts Beschämenderes geben! Nie wird meinem Gedächtniß die peinliche Scene entschwinden, die mir – – meine schlechte Angewohnheit bereitet hatte!
Es war kurze Zeit nach der Aufführung der Shakespeare’schen Historien, als mich Dingelstedt eines Tages in das Bureau der Generalintendantur bestellte, um die Rolle der Hebbel’schen „Judith“, deren Aufführung er plante, mit mir durchzugehen. Da ich bereits fest memorirt hatte, nahm Dingelstedt die Rolle zur Hand, theils um bei meiner Deklamation dem Texte nachzufolgen, theils um selbst hervorragende Scenen in seiner unvergleichlichen Vortragsweise zu recitiren.
Plötzlich beim Umwenden eines Blattes stockte er, blickte bestürzt zu mir hinüber, sah wieder in die Rolle – und versank dann kopfschüttelnd in ein ernstes Nachdenken.
Nach kurzer Pause, während welcher ich ihn erstaunt und fragend betrachtete, sagte er:
[99] „Sie haben gewiß keine Ahnung von dem, was hier steht?“
„Was denn?“ fragte ich kleinlaut, und es war mir bereits nicht ganz geheuerlich zu Muthe.
„Ich will es Ihnen vorlesen und erwarte dann ein ehrliches und ganz offenes Geständniß!“
Und Dingelstedt las mir die auf eine leere halbe Seite der Rolle der „Judith“ von meiner eigenen Hand niedergeschriebenen Notizen – langsam – Wort für Wort – mit seinem sonoren Organ und mit Betonung jeder Silbe folgendermaßen vor:
„Am nächsten Ersten nachstehende unvermeidliche Mehrausgaben von der Gage zu bestreiten:
1) Thierarzt für Bello – fünf Thaler.
2) Färbegeld für zwei seidene Roben bei Spindler – sechs Thaler.
3) Ein neuer Entoutcas – fünf Thaler.
4) Beitrag zum silbernen Lorbeerkranz für Dingelstedt – zehn Thaler – –“
Ich glaubte in die Erde sinken zu müssen! Stotternd, unverständliche Worte stammelnd, halb weinend, hatte ich den durchdringenden, strengen Blicken des Intendanten gegenüber endlich keine andere Wahl, als ein offenes Geständniß – eine ausführliche, genaue Mittheilung der geplanten Ovation …
Die Kranzesspende unterblieb selbstverständlich für immer; aber das Hoftheater hat niemals Kenntniß von den wahren Ursachen meiner vermeintlichen Indiskretion erhalten, Keiner erfuhr, daß ich ohne jede Absicht, in der unschuldigsten Weise zum Angeber und an meinen sämmtlichen Kollegen zum Verräther geworden war, und zwar nur – durch die schlechte Angewohnheit!
Von diesem Tage an benutzte ich nie wieder eine Rolle – als Notizbuch; ich war vollständig und für immer gebessert! Indeß – wochenlang ging ich Dingelstedt beschämt aus dem Wege; da aber endlich die Begegnung mit ihm auf einer Probe unvermeidlich war, trat er ganz unbemerkt an mich heran, ergriff mit ernstem Gesichte meine Hand, drückte sie und sagte leise, ohne eine Miene zu verziehen:
„Liebe Knauff, ich habe Ihnen übrigens noch zu danken, daß Sie für meinen Lorbeerkranz wirklich doppelt so viel zahlen wollten – als für Ihren Entoutcas!“
Blätter und Blüthen.
Eine Kinderschutzgesellschaft besteht in Nordamerika und ist von der Gesetzgebung mit bedeutenden Rechten ausgerüstet. Obwohl sie in[WS 1] manchen Fällen segensreich gewirkt und besonders den Mißhandlungen, welchen die kleinen Wesen in vielen Familien ausgesetzt sind, entgegen gearbeitet hat, so laufen doch auch viele Klagen ein betreffs der Uebergriffe, welche sie sich zu Schulden kommen ließ. Die Gerichte mußten sich in letzter Zeit mehrfach damit beschäftigen. Allgemeines Aufsehen erregte der Tod der kleinen Ida Brinck, welche in einem Kinderasyl an gebrochenem Herzen wegen ihrer Trennung von der Familie starb; man hatte sie dort hingebracht unter der Anklage des Bettelns und schlechter Beaufsichtigung seitens der Eltern. Die Sache kam vor Gericht; aber die Gesellschaft verstand es, ihr Vorgehen zu rechtfertigen.
Ein anderer Fall veranlaßte einen Richter des höchsten Gerichtshofes, Barret, zu einer für die Gesellschaft ungünstigen Entscheidung; aber diese stützte sich auf die Vorrechte, welche ihr die Gesetzgebung eingeräumt hatte, und es gelang dem Richter nicht, dagegen anzukämpfen. Eine arme, aber fleißige Frau, welche sich und ihre Kinder durch ihrer Hände Arbeit ernährte, war in Folge einer böswilligen falschen Anklage verhaftet und vor Gericht gestellt worden, welches indeß ihre Unschuld konstatiren konnte. Inzwischen war von dem Agenten jener Gesellschaft ihr ältestes Kind, das sie mit den anderen zusammen der Pflege einer Nachbarin anvertraut hatte, vor Gericht gebracht; man suchte zu beweisen, daß das Kind von der Mutter, die man der Trunksucht und des leichtsinnigen Lebens beschuldigte, vernachlässigt worden, und der Richter überwies es einer Wohlthätigkeitsanstalt. Die Mutter bewies vergeblich, daß sie stets gut für ihr Kind gesorgt habe und ihre Führung eine untadelige sei; selbst die Entscheidung des höchsten Gerichtshofs vermochte nicht, die Gesellschaft zur Zurückgabe der Tochter an die Mutter zu bestimmen.
Sollte in Deutschland ein solcher Kinderschutzverein begründet werden, so würde er sicher nicht derartige Vorrechte erhalten, welche zu Mißbräuchen ermuthigen; aber es würde auch hier nicht an Konflikten mit den Familien fehlen. Ein Kinderschutzverein, wie der oben geschilderte, hätte bei uns wenig Aussicht auf Erfolge; dagegen verdienen Wohlthätigkeitsvereine zur Pflege der Kinder, wie dieienigen, welche die Ferienkolonien eingeführt haben, allgemeine Anerkennung und Förderung. †
Der Alcazar zu Toledo. (Mit Illustration S. 85.) In der Nacht vom 9. zum 10. Januar ist das burgartige Schloß Karl’s V. in Toledo, der Alcazar, ein Raub der Flammen geworden. Karl V. hatte es auf dem Fundament aus der Zeit der Gothen und mit den Marmorsteinen der zerstörten Maurenburg, die später auf diesem Platze errichtet worden, aufbauen lassen. Schon lange indeß stand es verödet und im Innern mit Tünche und Zimmermannsarbeit für die prosaischen Zwecke einer Militärschule hergerichtet. Das Schloß ist viereckig und von gewaltigem Umfange um einem starken Thurm an jeder der vier Ecken, festungsmäßig. Gemeißelte Arabesken zieren seine ernste Façade; ein majestätisches Portal führt in seinen großen Hof, den 32 Arkaden umgeben, deren schlanker, heiterer Säulenbau sich in der oberen, ringsum gehenden Galerie wiederholt. In der Bogenhalle gegenüber dem Portale steigt eine pompöse Marmortreppe rechts und links ins Innere. Eine Kapelle liegt zwischen ihr, die man wieder ausmauert. Die Gewölbe unter dem Erdboden sind großartige, weite, kahle Säle. Sie waren zum Marstalle des Königs von Spanien bestimmt, der zugleich König der Deutschen und als solcher römischer Kaiser gewesen. Mehr als tausend Pferde hätten hier Platz gehabt. Auf dem marmornen Pflaster des Hofes, in der Mitte desselben, ist neuerdings die lebensgroße Statue dieses mächtigsten Monarchen der Erde in seiner Bronzeausführung aufgestellt worden; der besiegte Lindwurm der Ketzerei liegt zu seinen Füßen, ein Denkmal für ihn, wie in einem riesigen Mausoleum, das er sich hier statt eines Kaiserpalastes errichtet und wo es in erhabener Einsamkeit thront. Alle seine Macht als König der Könige hielt Spanien nicht von jähem Sturz und Verfall zurück, und das kostbare Werk dieses Alcazar gab Toledo seinen Glanz nicht wieder, machte es nur um eine seiner wunderbaren Sehenswürdigkeiten reicher.
Von den Fenstern des Alcazar nach außen bietet sich ein entzückendes Panorama dar. Zu Füßen die Stadt mit der kolossalen Kathedrale, mit der imposanten Terrasse von San Juan de los Reyes, mit dem orientalischen Zinnenkranz der Bastionen, mit der Arena für die Stierkämpfe; dann mit der Puerta del Sol und den Thurmthor der Brücke von Alcantara abwärts nach dem Tajo zu, der wie eine Silberschlange in der Felsenschlucht sich windet. Und drüben auf den Höhen alte Gothenthürme und zerbrochenes Mauerwerk maurischer Burgen. Dann Wiesen und Felder und wellige Linien bis in die Ferne, wo die sinkende Sonne Alles in Golddunst taucht.
Noch einmal Heine’s Memoiren. Nach dem Tode Gustav Heine’s sind die Memoiren des Dichters wieder einmal ein Gegenstand verschiedener Feuilletonnotizen geworden: in mehreren Zeitungen wurde erwähnt, daß Herr Julia in Paris eine Publikation beabsichtige, in welcher er „nachweisen“ werde, daß keine Memoiren von Heine mehr existiren, natürlich außer denjenigen, welche seiner Zeit unsere „Gartenlaube“ veröffentlichte; denn von Herrn Julia hatte Herr Eduard Engel zu Anfang des Jahres 1884 im Auftrage der „Gartenlaube“ das Manuskript der Heine’schen „Memoiren“ gekauft. Als ob es solches Nachweises nach Ed. Engel’s damaliger Beweisführung noch bedürfte! Es wäre viel besser, Herr Julia könnte uns beweisen, daß und wo noch wirkliche Memoiren des Dichters sich finden lassen. Jetzt kommt auch Alexandre Weill in Paris im „Figaro“ noch einmal auf dieselben zurück: was er aber die Verstümmelung der Memoiren, über das Herausreißen aller derjenigen Blätter sagt, welche die Chronik der Heine’schen Familie und die Charakteristik ihrer Mitglieder mittheilt, ist ja seiner Zeit schon in unserer „Gartenlaube“ von Eduard Engel in der Einleitung zu den Memoiren berichtet worden. Durch irgend welche neue Aufzeichnungen wird schwerlich den von uns mitgetheilten etwas Wesentliches hinzugefügt werden können.
Nach dem Tode Gustav Heine’s hat sich auch Eduard Engel’s vor drei Jahren in der „Gartenlaube“ geführter Beweis vollkommen bestätigt: Gustav Heine hat kein Blatt von Heine’s Memoiren hinterlassen. Die Geschichte dieser Memoiren ist damit endgültig abgeschlossen, und kein vordringliches Geschwätz der „guten Freunde“ von Heinrich oder Mathilde Heine kann irgend etwas Wissenswerthes und Glaubwürdiges hinzufügen.
Alexandre Weill, ein langjähriger Freund des Dichters, setzt aber aus dem Schatze seiner persönlichen Erinnerungen noch Einiges hinzu, wodurch die Selbstbiographie des Dichters ergänzt wird. Er meint, die Memoiren hätten jenes Schicksal, das sie zu einem Torso machte, nicht erlebt, wenn nicht plötzlich ein Bruch seiner fünfzehnjährigen Freundschaft zu Heine erfolgt wäre: dann würden die Memoiren, da er der einzige des Deutschen mächtige Freund der Familie in Paris gewesen, wohl seinen Händen anvertraut worden sein. Ferner rechnet er uns die Einnahmen des Dichters vor, welche wohl ausreichend gewesen wären, wenn dieser einigermaßen haushälterisch damit umgegangen wäre; doch er rechnete als Neffe eines Millionärs Solomon Heine auf eine große Erbschaft. Weill behauptet, daß es für Heine ein vernichtender Schlag gewesen sei, als er von Hamburg aus die ihn betreffende Stelle des Testaments seines Onkels erfuhr: „Ich quittire von meinem Neffen Heinrich Heine Alles, was er an Geld jemals von mir empfangen, und vermache ihm eine Summe von zehntausend Mark (15 000 Francs). Von diesem Tage an sei Heine’s Krankheit chronisch geworden, während sie bis dahin nur gelegentlich aufgetreten; durch das Testament des Onkels sei das Leben des Dichters mindestens um 10 Jahre verkürzt worden. Auch das kleine Legat ging dem Dichter verloren: er gab das Geld dem Schwager Lassalle’s, der damals in Paris war und in Prag eine Gasgesellschaft begründet hatte, zu diesem Unternehmen. Der Rest war Schweigen. †
Ein deutsches Sängerheim in Straßburg. Jedes Lebenszeichen des nationalen Geistes aus Elsaß-Lothringen muß mit Freuden begrüßt werden. Im Jahre 1872, am Geburtstage unseres Kaisers, hat sich in Straßburg ein Männergesangverein gebildet, zunächst aus eingewanderten Künstlern, Gelehrten, Beamten und Kaufleuten, denen sich auch eingeborene Straßburger anschlossen. Der Verein zählt jetzt 450 Mitglieder, und da in der Stadt Straßburg kein Hôtel zu finden ist, welches bei großen Aufführungen und Koncerten allen Ansprüchen genügte, so will er sich jetzt ein eigenes Sängerhaus erbauen.
Um die Mittel zu diesem Zwecke zu gewinnen, hat er ein schönes Album veröffentlicht unter dem Titel „Straßburger Sängerhaus“, eine Sammlung bisher ungedruckter musikalischer und poetischer Blätter in autographischer Darstellung; die wohlgetroffenen Portraits der Dichter und Komponisten mit dem sinnvollen Schmuck malerischer Zeichnungen und Arabesken schmücken dies Album, das unsern Lesern warm empfohlen sein möge. Im Gesang des Volks spiegelt sich die Volksseele, und wenn
[100] irgend etwas geeignet ist, Eroberungen zu machen, so ist es das deutsche Lied mit seiner urwüchsigen Frische. Besonders der Männergesang, für den soviel Herrliches geschaffen worden, wird auch Kreise, welche deutschem Wesen abhold sind, für dasselbe gewinnen. Und so wünschen wir den Straßburger Sängern ein neues stattliches Heim und daß sie mit dem Zauber des Liedes schwankende Gemüther zurückführen mögen in den Bann deutscher Empfindung und deutschen Nationalgefühls. †
Hexenprocesse in Westafrika. Reinhold Buchholtz, dessen „Reisen in Westafrika“, aus seinem Nachlasse herausgegeben, erhöhtes Interesse gewonnen haben, seitdem das deutsche Reichsbanner in Kamerun weht, berichtet, daß bei den Negerstämmen der Bakhari und Dualla Hexenprocesse ganz üblich sind. Die Theologen und Juristen der Reformationszeit, welche sich selbst durch die Gräuel solcher Processe schändeten, finden also jetzt Genossen unter den Häuptlingen der schwarzen Männer: der Aberglaube, aus welchem die Hexenprocesse entstanden, hängt also nicht mit dem Christenthum und seiner Lehre vom Teufel zusammen; er scheint aus der Menschennatur selbst, aus ihren Schwächen und Schattenseiten hervorzugehen; sonst würde er sich nicht in allen Zonen finden. Ist bei jenen Stämmen Jemand gestorben oder erkrankt, so muß ihn durchaus Einer behext haben, oder dieser hat, wenn der Tod etwa durch eine Schlange oder ein Krokodil oder einen Leoparden erfolgt ist, das Thier dazu behext. Der Beschuldigte muß dann eine Abkochung von einem giftigen Holz trinken. Giebt er das Gift durch Erbrechen von sich, so ist er unschuldig; im anderen Falle stirbt er am Gift oder er wird umgebracht. Eine eigene Art von Gottesurtheil – statt der Feuerprobe die Giftprobe!
Auch sonst sind diese Völker sehr abergläubisch. Amulette, Zaubertränke gegen Krankheiten, Zauberceremonien zur Erreichung bestimmter Zwecke spielen bei ihnen eine wichtige Rolle. Vor den weißen Leuten haben sie eine große Scheu, und namentlich beschriebenes Papier halten sie für einen Fetisch, der den Ort oder Gegenstand zu einem „Tabu“ macht.
Als Buchholtz einmal einen schwerverwundeten Kranken verband, war ihm ein Stückchen Papier aus der Tasche gefallen. Als er später den Kranken wieder besuchen wollte, fand er ihn nicht mehr im alten Hause: er war ausquartiert worden, weil das Haus „bezaubert“ sei. Ihm aber wurde das Stückchen Papier feierlichst wiedergegeben; ja er wurde durch einen von den Negern abgesandten Boten ausdrücklich gebeten, auf seinen Spaziergängen doch nicht Papierstückchen zu verstreuen, weil sie sonst diese Wege und Orte meiden müßten.
Wohin müßten die armen Neger bei uns flüchten, wo das behexte „beschriebene Papier“, das hier alle Staaten und alle Köpfe regiert und schon den widerwilligen Kleinen gewaltsam aufgedrängt wird, ihnen auf Schritt und Tritt im Wege sein würde? †
Nothverkauf. (Mit Illustration S. 97.) Nicht in des Pfandleihers Komptoir und nicht zum hartherzigen Wucherer läßt der wackere Genremaler A. Müller den bedrängten Musiker die Schritte lenken, sondern in die Werkstatt des sachverständigen Meisters. Sieht man’s dem Manne doch an, wie schwer ihm der Entschluß geworden ist, sich von der bewährten Genossin seiner frohen und trüben Stunden, sei es auch nur auf kurze Zeit, zu trennen. Indessen, „Noth kennt kein Gebot“, und dem braven Meister traut er schon zu, daß er den hohen Werth der Violine erwägen und sie entsprechend bezahlen wird. Von ihm hofft er auch, seine geliebte Geige in besseren Tagen zurückkaufen zu können; denn freud- und poesielos würde sein Dasein werden, wenn dieser Nothverkauf eine Trennung für immer bedeutete. Gar bedächtig zieht der alte Herr das Futteral von der Cremoneser und prüft, bevor er zahlt, eingehend Griffbrett, Steg, Wirbel, Ton und Bau. Er ist Kenner, und es ist eigentlich überflüssig, ihm die besonderen Vorzüge des Instrumentes auseinanderzusetzen. Im Laufe der Zeit ist er jedoch ein wenig vorsichtig geworden; er nimmt kein Pfand mehr, sondern kauft nur noch; denn nur zu oft schon verpfändete ihm ein oder der andere leichtlebige Künstler sein Instrument und vergaß dann das Einlösen. Bei unserem Verkäufer allerdings stehen die Sachen sehr ernst; deßhalb gewährt ihm der wohlwollende Käufer eine geraume Frist zum Zurückkauf. Hoffen wir, daß es ihm bald gelingt, mit heitererem Antlitz als heute zum Meister zurückzukehren und seinen Liebling wieder zu erwerben!
Eine Damenbörse in New-York hat ein Ende mit Schrecken gefunden: der Banquier dieser Damen, T. Brigham Bishop, hat das Weite gesucht und seine weiblichen Kunden in großer Entrüstung und Bestürzung zurückgelassen. Er war übrigens einer jener wenigen Finanzmänner, die sich auch auf künstlerischem Gebiete einen Namen gemacht haben: er war früher Schauspieler und hat auch ein Volkslied gedichtet und komponirt, das die Runde durch die nordamerikanischen Freistaaten machte. Als Bankhalter hatte er sich am unteren Broadway etablirt, wo es auch noch andere Damenbörsen giebt. Wir erfahren bei dieser Gelegenheit, daß das Börsenspiel in New-York sehr zahlreiche Anhängerinnen hat und daß außer den eigentlichen Winkelbörsen sich im oberen Broadway vornehmere Familien finden, die hinter diesem oder jenem „Saloon“ ihm Altäre aufgebaut haben. Es soll dort oft so lebhaft zugehen, daß man schon der Ansicht war, es habe sich eine Abtheilung der Heilsarmee versammelt. Doch würde der flüchtige Bishop, wenn er wieder eingefangen worden, sehr wenig zufrieden sein mit den Segenssprüchen, die ihm dort zu Theil werden würden. Vorzugsweise sollen an diesen Unternehmungen einige kalifornische und andere Wittwen betheiligt sein, die natürlich in Folge des Börsenkraches in die höchste Aufregung versetzt sind.
Während die äußerste Linke dieser für den Fortschritt kämpfenden Frauenwelt New-Yorks so bei ihren finanziellen Abenteuern verunglückt ist, sehen wir von der äußersten Rechten Siege erfechten, indem zwei Frauen zu Schulinspektorinnen ernannt worden sind: respektable Stellen, welche freilich den Winkelbörsianerinnen für immer verschlossen bleiben werden. †
Ein Kostüm aus weißen Straußfedern wird der Königin Viktoria in diesem Jahre, in welchem sie ihr fünfzigjähriges Regierungsjubiläum feiert, von ihren südafrikanischen Unterthanen zum Geschenk gemacht werden. Alle Straußenfarmer des Kaplandes steuern dazu die schönsten Federn bei. Das Kostüm soll aus einer Schlepprobe, einem Fächer und einem Sonnenschirm bestehen, und natürlich ist es der innige Wunsch der loyalen Südafrikaner, daß die Königin es bei ihrem Jubiläumsfeste auch wirklich trage. Die hervorragendste Schneiderin der Kapstadt ist damit beschäftigt, aus dem auserlesensten Gefieder des schnellfüßigen Wüstenvogels jenes in seiner Art einzige Toilettenstück herzustellen. †
Ein Streit um des Kaisers Bart. In der Vorstellung des Volkes lebt Kaiser Karl der Große als eine ehrwürdige Greisengestalt mit langem grauen Barte. So schilderten ihn Volksdichter, so verherrlichten ihn viele Maler und Zeichner. Auf unserer Illustration (S. 93), zu der stimmungsvollen Ballade von Felix Dahn, ist das Antlitz des sterbenden Kaisers anders dargestellt: der Vollbart fehlt, nur ein mächtiger Schnurrbart ziert das ausdrucksvolle Gesicht. Welche Auffassung ist die richtige? Unser Künstler hat für die seinige klassische Zeugen und Vorbilder. Man hat in früherer Zeit eine Statuette Karl’s des Großen und Münzen mit seinem Kopfe gefunden. Auf diesen ist der Kaiser so abgebildet, wie ihn Karl Gehrts mit geschichtlicher Treue auf unserer Illustration wiedergegeben. *
Vorderste senkrechte Reihe: Festung in Deutschland.
Hinterste senkrechte Reihe: Festung an der Donau.
Oberste wagerechte Reihe: Berühmte Sängerin.
Unterste wagerechte Reihe: Einer der 5 Sinne.
Innere 7 wagerechte Reihen: Ein Monat, ein Mineral, ein Fluß, ein Prophet, eine Himmelsrichtung, eine deutsche Stadt, ein beliebtes Getränk.
Innere 7 senkrecht oder aufwärts gehende Reihen: Ein Theil eines Wagens, ein Theil des Körpers, ein künstlicher Wasserlauf, eine Stadt in der Schweiz, ein indischer Titel, ein männlicher Vorname, eine hannoversche Stadt.
Kennst Du den Busch, aus welchem jederzeit,
Und selbst wenn es im Winter friert und schneit,
Wo Du ihn triffst, auf allen Wegen,
Ein Lied Dir tönet hell entgegen?
Dr. R. R. in Wien. Wir danken Ihnen für Ihre gef. Mittheilung und werden nicht verfehlen, der fraglichen Angelegenheit auf den Grund zu gehen.
L. B. in Schönebeck. Der Uebersetzer der „Linguet’schen Denkwürdigkeiten“ über die Bastille heißt Robert Habs.
Inhalt: Herzenskrisen. Roman von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 85. – Ueber den Schlaf und die Verhütung der Schlaflosigkeit. Von Dr. A. Kühner, prakt. Arzt in Frankfurt am Main (Schluß). S. 88. – Ein Lieblingsberg der Deutschen. Von Max Haushofer. S. 91. Mit Illustrationen auf S. 89 und 92. – Die rothe Erde. Ballade von Felix Dahn. Mit Illustration. S. 93. – Ein verhängnißvolles Blatt. Erzählung aus den bayerischen Bergen von Anton Freiherrn v. Perfall (Fortsetzung). S. 94. – Berliner Vereine. Von Gustav Schubert. S. 96. – Eine schlechte Angewohnheit. Bühnenerinnerung von Marie Knauff. S. 98. – Blätter und Blüthen: Eine Kinderschutzgesellschaft. S. 99. – Der Alcazar zu Toledo. S. 99. Mit Illustration S. 85. – Noch einmal Heine’s Memoiren. S. 99. – Ein deutsches Sängerheim in Straßburg. S. 99. – Hexenprocesse in Westafrika. S. 100. – Nothverkauf. S. 100. Mit Illustration S. 97. – Eine Damenbörse. S. 100. – Ein Kostüm aus weißen Straußenfedern. S. 100. – Ein Streit um des Kaisers Bart. S. 100. – Allerlei Kurzweil: Flecht-Räthsel. S. 100. Kapsel-Räthsel. S. 100. – Kleiner Briefkasten. S. 100.
- ↑ Gewichtl gleich kleines Geweih.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: in in