Die Gartenlaube (1887)/Heft 8
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No. 8. | 1887. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.
Herzenskrisen.
Im Salon warf Hortense ihre Sachen auf den Tisch und setzte sich in eine Sofa-Ecke.
„Meine arme Hortense!“ sagte Lucie weich. Die junge Frau winkte hastig mit der Hand, zu schweigen.
Lucie brannte der Boden unter den Füßen; wenn sie die Macht hätte, so müßte Hortense jetzt gleich die Koffer packen und mit ihr reisen, sei es auch nach Wien – nur fort!
Jetzt klopfte es und gleich darauf trat der Kellner ein; er brachte eine Visitenkarte. „Der Herr wünscht den Damen seine Aufwartung zu machen.“ – Lucie sah unsicher zu Hortense hinüber. „Nimmst Du Besuch an?“ fragte sie.
Die junge Frau erblaßte. „Wer?“ stieß sie hervor.
„Waldemar Weber, unsere Reisebekanntschaft aus Venedig.“
Sie sank zurück. „Ich bedaure sehr,“ sagte sie. Der Kellner verschwand.
„Ich wollte es Dir vorhin schon erzählen, Hortense,“ begann Lucie; „er ist wirklich wieder da, ich traf ihn vor der Sixtina; er schien ärgerlich, daß wir ihn auf falsche Fährte gebracht hatten; Gott weiß, wie er unsere Spur nun doch entdeckt hat!“
Hortense antwortete nicht. Da kam Lucie herüber zu ihr, kniete vor ihr nieder und sah ihr ins Gesicht. „Nun will ich Dich bitten, Hortense, laß uns doch nach Wien reisen, aber bald – ja?“
„Warum?“
„Weil Dir Dresden verleidet sein muß, armes Herz.“
„Daß ich nicht wüßte,“ sprach die junge Frau mühsam und stand auf. „Ich – ich bleibe hier.“ Sie ging ein paarmal im Zimmer auf und ab, sie suchte mit aller Gewalt Herr über sich zu werden. Dann nahm sie die Karte von Weber empor. „Narr!“ sagte sie und warf sie wieder hin.
„Dort steht auch der Name seines Gutes, den wir immer nicht verstehen konnten,“ bemerkte Lucie, „Schloß Woltersdorf, Thüringen.“
Hortense horchte flüchtig auf. „Woltersdorf? Ach ja, es muß in der Gothaer Gegend sein. Vor einigen Jahren war es zu verkaufen; ich glaube, die Grafen P., die es seit zwei Jahrhunderten besaßen, wurden bankerott. Papa wollte mich bereden, es zu kaufen; ich war damals auch sehr entzückt von der Besitzung: die reinste Rokokoträumerei, die Du Dir denken kannst. Dann vergaß ich die Sache, und später hörte ich, daß ein Frankfurter Großkaufmann es an sich gebracht hat. Der wird der bewußte Waldemar Weber wohl sein.“
Lucie, die glücklich war, daß die junge Frau überhaupt wieder sprach, umarmte sie herzlich. „Hortense,“ sagte sie neckend, „dieser Waldemar Weber ängstigt mich. Weißt Du, er ist bodenlos verliebt in die Idee, Dich zu seiner Schloßherrin zu machen.“
Hortense lachte wirklich ein wenig. „Mich? Wenn er Dich nur nicht meint! Gleichviel, dann müßte er uns Beide nehmen, und da das nicht geht, lassen wir ihn allein ziehen.“ Sie fuhr sich schon wieder mit der einen Hand an die Schläfe und drängte mit der andern das Mädchen zurück. „Laß mich! Laß mich, ich habe Kopfschmerzen!“
[118] „Lege Dich nieder, Hortense,“ bat Lucie. Sie schüttelte den Kopf und nahm dem eben wieder eintretenden Kellner zwei Theaterbilletts ab. „Wir wollen heute hier oben speisen,“ sagte sie zu dem hellblonden, tadellos frisirten jungen Menschen.
„Sehr wohl!“ Er verschwand, um nach wenigen Minuten zurückzukehren, mit einem riesigen Präsentirbrett voll Porcellan, das er mit wahrhaft nachlässiger Grazie auf der Hand balancirte.
Hortense stand während des Tischdeckens still am Fenster; plötzlich wandte sie sich um. „Wohnt ein Herr Rittmeister von Wilken hier im Hôtel?“ fragte sie.
Die Nase des Hellblonden fuhr in die Luft, und seine Augen schlossen sich halb. „Wilken? Wilken?“ sagte er, als müsse er sich besinnen, „Rittmeister von Wilken – ganz recht, gnädige Frau; er logirt hier, eine Treppe höher Nummer 29.“ – Er ging nochmal um den Tisch, rückte die Stühle, zupfte am Tischtuch und verschwand mit der Versicherung, daß er sofort die Suppe auftragen werde.
Hortense stand regungslos; sie kam auch nicht früher an den Tisch, bis der Kellner die Suppe servirt hatte und verschwunden war. Sie saß bleich und still vor ihrem Teller und rührte die Speisen nicht an.
„Iß doch, Hortense,“ bat Lucie.
Sie schüttelte den Kopf und betrachtete die beiden Theaterbilletts, die neben ihrem Teller lagen.
„Wollen wir nicht lieber daheim bleiben heute?“ fragte das junge Mädchen.
„Nein!“ war die kurze Antwort. Das Essen verlief schweigend. Das Dessert blieb gänzlich unberührt. Hortense schlug jetzt die am Morgen versäumte Spazierfahrt vor, und bald saßen sie stumm neben einander im Wagen, der sie durch die Alleen des „Großen Gartens“ führte. Es fiel Lucie auf, daß Hortense ein eleganteres Kostüm angelegt hatte, als sonst, und bei der Hinfahrt vor einem Magazin in der Prager Straße halten ließ, ausstieg und mit einem dunkelrothen Sonnenschirm wieder zurückkam. „Das Neuste,“ sagte sie lächelnd zu dem jungen Mädchen, ihre Errungenschaft sofort gegen die leuchtende Frühjahrssonne benutzend. „Gefällt er Dir?“
„Nein!“ erklärte Lucie, „ich liebe nicht die grellen Farben.“
„Ich auch nicht,“ erwiederte die junge Frau, deren blasses Gesicht, im Widerschein des Schirmes von rosigem Schimmer überflogen, völlig verändert aussah. „Ich auch nicht, aber –“ und sie hielt den Schirm über Lucie, „er erfüllt seinen Zweck, wie ich sehe.“
Als sie in das Hôtel zurückgekehrt waren, beeilten sie sich, Toilette für das Theater zu machen. Lucie war sehr bald fertig, sie kam herüber in das Schlafzimmer der Freundin, um ihr, wie sie es so gern that, behilflich zu sein. Hortense stand in einem schwarzen Spitzenkleide vor dem großen Spiegel; auf einem Tischchen neben ihr lagen mehrere Kartons mit Blumen und Federn; sie hatte eben einen Schmetterling aus Goldfiligran mit bunten Steinchen besetzt ins Haar gesteckt; nun nestelte sie ihn ärgerlich ab und warf ihn heftig auf den Tisch. „Es ist heute so ein Tag, wo nichts gerathen will,“ murmelte sie.
„Warum nimmst Du nicht die frischen gelben Rosen?“ fragte Lucie, „sie kleiden Dich so gut.“
„Weil ich nicht will! – Ich bitte Dich, sieh mir nicht so zu; es macht mich nervös!“
Lucie ging schweigend hinaus und wartete im Salon. Sie hörte, wie Kästen zur Erde fielen und Hortense’s Fuß heftig den Boden trat. Endlich kam die junge Frau; sie trug einen Touffe von blaßblauen Straußfedern im Haar und einen Schmuck von Türkisen und Perlen. Schweigend verließen sie das Zimmer und stiegen die Treppe hinab. Durch das erleuchtete Vestibül ging eben ein Kellner mit einem prachtvollen Tafelaufsatz aus frischen Blumen und verschwand hinter der Thür des kleinen Speisesaales. Hortense hatte wie zerstreut danach hingesehen. „Hier wird ein Fest gefeiert,“ sagte sie, als sei sie froh, einen harmlosen Anknüpfungspunkt zu finden.
„Herr Rittmeister von Wilken giebt nach dem Theater seinen Schwiegereltern, dem Fräulein Braut und einigen Verwandten ein kleines Souper,“ erklärte dienstbeflissen der Oberkellner, der jetzt vorüberschritt.
Hortense neigte dankend den Kopf und trat in die leichte Dämmerung des Frühlingsabends hinaus. „Wir werden zu spät kommen, Lucie,“ sagte sie völlig ruhig, „eilen wir ein wenig!“ Sie kamen in der That kurz vor Beginn der Ouverture; das Haus war voll besetzt, eine fremde Sängerin gab die Susanna im „Figaro“.
Sie traten in eine Loge des ersten Ranges; an der Thür stand, sich verbeugend, ein Herr, als hätte er ihrer gewartet – Waldemar Weber.
Frau von Löwen schritt an ihm vorüber, sie schien ihn nicht bemerkt zu haben; nachdem aber Lucie neben ihr Platz genommen, ließ er sich in den nächsten Fauteuil nieder mit einem so unbefangenen Ausdruck in den energischen Zügen, als komme ihm dieser Platz von Gottes- und Rechtswegen zu, als sei er der einzige richtige für ihn in dem großen Raum. Lucie achtete kaum auf ihn; sie musterte mit heißer Angst die Logen des ersten Ranges, dann fuhr es ihr schreckhaft durch die Glieder: dort drüben, dicht neben der königlichen Loge, saß Wilken in Uniform zwischen einer stattlichen alten Dame und einem jungen Mädchen in Rosakleide, das noch den blonden Zopf lang über den Rücken herunter hängen ließ und mit lächelndem Antlitz ihm zuhörte. Hinter ihm ein alter Herr in Civil und zwei junge Officiere.
Bang wandte sich Lucie zu Hortense, und just in diesem Moment kehrten die Blicke der jungen Frau von dem nämlichen Bilde zurück; die großen grauen Augen hatten einen todestraurigen Ausdruck in diesem unbewachten Augenblick. Unwillkürlich faßte Lucie nach der schmalen Hand, die ihr unwillig entzogen wurde. Hortense saß ruhig in ihrem Fauteuil und sah scheinbar mit größtem Interesse auf die Bühne, wo eben Susanna den Hut vor dem Spiegel aufprobirte und Figaro das Zimmer ausmaß.
Lucie sah und hörte Alles wie im Traume; sie wußte, neben ihr litt Hortense tausend Qualen; erleichtert athmete sie auf, als der Akt vorüber war. Die Logen wurden leer. Alles drängte in die Foyers. Auch Hortense erhob sich. Sie gingen langsam zwischen den plaudernden, lachenden Menschen dahin, dann strebte die junge Frau zu dem Büffett. „Mich dürstet,“ sagte sie.
In dem prächtigen säulengetragenen Raum befanden sich wenige Menschen; nur einzelne Gruppen standen vor dem zierlichen Kredenztisch oder saßen auf den Sofas an der Marmorbalustrade. Auch Hortense setzte sich wie ermüdet. Als Lucie ein Glas Selters verlangte, sagte eine Stimme neben ihr: „Bemühen Sie sich nicht, gnädiges Fräulein, ich halte das Verlangte bereits in der Hand.“ Waldemar Weber bot ihr ein Glas des perlenden Wassers und wandte sich dann zu Frau von Löwen.
Lucie sah sich um und vergaß zu trinken; sie war überzeugt, Hortense würde unartig werden in ihrer heutigen Stimmung. Aber sie traute ihren Augen nicht – die junge Frau nahm lächelnd das Glas und wies neben sich auf das Sofa, und er nahm Platz neben ihr. Und nun wußte Lucie auch, warum? Gegenüber auf dem niedrigen Divan saß Wilken mit seiner Braut, die mit kindlichem Appetit eine Schale Eis verzehrte und nicht bemerkte, wie die Blicke ihres Bräutigams auf der schönen Frau in dem duftigen schwarzen Kleide ruhten.
Hortense sah in diesem Momente wirklich reizend aus. Das Lächeln und Plaudern stand ihr gut, und wie sie den feinen Kopf etwas nach der Seite hielt und mit dem Fächer aus blauen und schwarzen Straußfedern spielte, blieb mehr als ein Blick an ihr hängen.
Aber der Kavalier paßte nicht zu der stolzen Erscheinung, meinte Lucie; er hatte Etwas – ja, sie konnte es nicht definiren: am Anzug lag es nicht, auch nicht an der Figur, er war ein großer stattlicher Mann – an der etwas spießbürgerlichen Art, wie er mit Frau von Löwen verkehrte, dachte Lucie endlich. Sie setzte das unberührte Glas auf das Tischchen und blickte in die zurückfluthende Menge; es hatte bereits zum Beginne des zweiten Aktes geläutet.
Auch Hortense erhob sich und schritt, die Fingerspitzen auf den Arm des Herrn Weber gelegt, dicht hinter dem Brautpaare einher. Sie hatte Lucie, zu sich gewinkt und hielt deren Hand in der ihren. Lucie sah, wie ihre Augen bei dem lebhaften Sprechen unablässig auf dem schlanken Officier vor ihr ruhten. „Hortense,“ fragte das Mädchen, während sie ihre Plätze wieder einnahmen, „was soll das bedeuten?“
„Nichts,“ war die Antwort; „nach dem nächsten Akte gehen wir; ich bin todmüde.“
Sie kam wirklich wie eine völlig Erschöpfte in das Hôtel und in den Salon zurück. Der Theetisch stand gedeckt, und die Kerzen brannten vor dem Spiegel.
[119] Lucie half ihr die leichte Umhüllung abzulegen.
„Meine liebe Hortense,“ sagte sie herzlich und strich ihr die blasse Wange und beugte sich zu ihr nieder. „Komm, laß uns abreisen, Du wirst krank hier –.“
Da fuhr die junge Frau empor wie außer sich. „Warum?“ rief sie, „habe ich ein Verbrechen begangen? Muß ich mich verstecken? Wie kommst Du zu solchen Vorschlägen – was glaubst Du eigentlich von mir? Hast Du vielleicht Angst, daß ich – ich – noch einmal –?“ Sie stockte.
„Nein, Hortense, ich habe keine Angst,“ sagte Lucie ruhig; „ich meinte es nur gut, denn ich sehe, wie Du leidest.“
„Dann siehst Du Hirngespinste, mein Kind,“ fuhr Hortense noch heftiger fort. „Zur Verzweiflung hast Du mich im Theater gebracht mit Deinen mitleidig-ängstlichen Blicken! Als ob ich eine Irrsinnige, so hast Du mich behandelt, Du kompromittirst mich ja völlig! Ich muß Dich bitten, derartige unerwünschte Theilnahme künftig zu unterlassen.“
Lucie stand wie ein Wachsbild vor der jungen Frau; es waren die ersten unfreundlichen Worte, die sie aus ihrem Munde hörte. Unfähig ruhig zu bleiben, ging sie in ihr Zimmer und setzte sich an das offene Fenster. Es lag nach der Elbe zu. Aus dem schmalen Garten unter ihr stieg der Duft von Flieder und blühenden Sträuchern empor; drüben ragten schwarz die Thürme und Dächer der Neustadt in den sternenbesäeten Nachthimmel, und in dem schwärzlichen breiten Strom spiegelten sich tausend Lichter. Ueber die große Brücke fluthete das Leben der Residenz, Menschen in dunklem Gewimmel, erleuchtete Pferdebahnwagen und Droschken mit blitzenden Laternen; aus einem Vergnügungslokale schallten heitere Musik und Menschenstimmen.
Sie hörte und sah es nicht. Sie starrte auf das Treiben wie im Traume, das Herz klopfte ihr vor bitterem Weh, vor maßloser Sehnsucht nach dem Frieden, den sie früher besessen. Sie sehnte sich nach den sanften Worten der Schwester, die ihr eine zweite Mutter gewesen, nach ihrem Stübchen, vor dessen Fenstern die Linde rauschte, nach dem Daguerreotyp der verstorbenen Mutter über der birkenen Kommode. „Ach, nur noch ein einziges Mal dort, nur einmal!“ flüsterte sie. Und dann wischte sie sich hastig über die Augen – unabweisbar wie jeden Tag drängte sich wieder ein kleines trautes Haus in ihre Erinnerung, von hohen Bäumen umstanden, von der Abendsonne vergoldet.
Aber sie wollte nicht daran denken, sie wollte nicht; etwas Anderes – rasch! – Dieser Herr Weber, was beabsichtigt er? Sie zwang ihre Gedanken zurück nach Venedig, da war er ihnen im Hôtel auf der Riva dei Schiavoni zum ersten Male entgegen getreten und von da ab ihnen unablässig gefolgt, nach Padua, nach Bologna. In Florenz, in der Galerie Pitti, hatte er bei Gelegenheit eines von Hortense verlorenen Fächers sie angesprochen und war mit höflichem, aber sehr kurzem Danke abgefunden worden. In Rom aber war er plötzlich neben ihnen vor der Fontana Trevi wie ein Schatten aufgetaucht, um sie während der ganzen Woche nicht wieder aus den Augen zu lassen. Er hatte sie auch einmal aus unangenehmer Lage befreit: als sie in ihrem Wagen beim Karneval in ein gar zu arges Getümmel geriethen, saß plötzlich eine breitschulterige Gestalt, das Gesicht hinter einer Drahtmaske verborgen, auf dem Rücksitz des Wagens und empfahl sich ehrerbietigst, als sie im Hôtel anlangten. Und so war er ihnen auch fernerhin gefolgt auf der ganzen Reise, bis man ihn durch eine Kriegslist auf andere Spur geführt. Und jetzt hatte er sie doch gefunden, und Hortense zeigte sich liebenswürdig gegen ihn –. Lucie war in diesem Augenblick brennend eifersüchtig auf den großen Thüringer.
Dann mußte sie lächeln. Hortense hatte ihn heute Abend offenbar als Maske benutzt, hinter der sie ihr Leid verbarg.
„Arme Hortense!“ Sie erhob sich und ging zur Thür hinüber. „Sie ist unglücklich,“ dachte sie, „und Du bist von ihr gegangen wegen eines unfreundlichen Wortes, das ihr der Schmerz erpreßte.“
Hortense stand jetzt am Fenster und sah auf den Platz hinab, sie wandte sich auch nicht, als Lucie eintrat. Auf dem Tische brannte die Lampe, und daneben lag ein Brief. Lucie erkannte die grauen billigen Kouverts, die man im Hause der Schwester zu benutzen pflegte.
„Briefe?“ fragte sie, „heute Abend noch? Ich habe ihn vorhin wohl übersehen,“ fügte sie hinzu, als keine Antwort kam. Sie ergriff das Schreiben, es war die Hand ihres Schwagers. Ein rasches ängstliches Herzklopfen stellte sich ein – was mochte geschehen sein, daß er schrieb? Sie riß den Umschlag auf – gottlob, es waren der Schwester Schriftzüge, aber mit Bleistift geschrieben, und nicht halb so zierlich wie sonst. Lucie setzte sich auf den nächsten Stuhl, zog die Lampe näher und las:
„Meine kleine gute Lucie!
Nun wirst Du wohl schon eine ganze Weile in Dresden sein und hast meinen versprochenen Brief, der Dich dort erwarten sollte, vielleicht nicht einmal vermißt. Oder doch? – Von Dir hatte ich recht lange keine Nachricht, Du hältst ordentlich Kerbholz, Lucie. Wenn Du gewußt, wie ich mich nach ein paar Worten von Dir gesehnt habe auf meinem Krankenlager, Du hättest sicher geschrieben, das weiß ich. Georg wollte Dir, als es am schlimmsten war, telegraphiren, aber ich habe es nicht erlaubt, Du solltest Dich nicht ängstigen, und die weite, weite Reise allein und in so großer Herzensangst wollte ich Dich nicht machen lassen.
Nun geht es mir ja wieder besser, der Husten ist nicht mehr so quälend und meine Brust ist freier, ich habe wieder Vertrauen in die Zukunft. Der Sommer ist vor der Thür und ich sehe meinen Mann und die Kinder wieder an, ohne daß mir Thränen die Augen trüben. Mein armer Mann, Lucie, er war ganz verzweifelt! Du kennst ihn ja, er ist nicht von langer Geduld. Und als unser guter Doktor Feldner nach seiner Meinung nicht rasch genug Besserung schaffte, reiste er eines Tages nach Hohenberg und brachte mir Doktor Adler ans Bette. Mich regte dies Wiedersehen furchtbar auf, Lucie, ich mußte bitterlich weinen, ich meinte, ich solle ihm abbitten in Deinem Namen. Aber er war so ruhig und theilnehmend und rührte nicht an die Vergangenheit.
Nun ist er schon öfter gekommen, ich habe ja auch das meiste Vertrauen zu ihm. Das letzte Mal, als er mich besuchte, lag gerade Dein Brief aus Pallanza auf meinem Bette. Er war da mit einem Male ganz blaß. Ach, Lucie, warum mußte es so kommen? Die Sorge um Dich hat mir schwere Stunden gebracht! Wenn ich so still in meiner Stube lag, die Kinder draußen umhersprangen und Georg im Dienste war, dann hatte ich so recht Zeit, mich zu grämen. Ich denke immer, es wäre Deine Pflicht gewesen, Dich mit ihm einzuleben, Dich in ihn zu finden, Du gabst ihm doch Dein Wort. Ich gönne Dir von ganzem Herzen all das Schöne, von dem Du so begeistert schreibst, aber ich meine, Du hast Deinen Freudenthron auf den Trümmern Deines wahren Glückes erbaut! Du schreibst mir, die Freundschaft habe ihre großen unbestrittenen Rechte, sei so heilig und unantastbar wie das Band, das Eltern und Geschwister und Ehegatten verknüpft. Es mag sein, ich kann mich da nicht hinein denken. Der liebe Gott erhalte Dir diese Freundschaft und bewahre Dich vor Enttäuschungen!
Werde ich Dich bald einmal sehen? Könntest Du Deine Hortense nicht auf ein paar Tage verlassen, um einmal wieder an meinem Bette zu sitzen? Die Kinder sprechen so viel von Dir, und wie schön könntest Du erzählen! Komm doch, Lucie!
Ich will nun schließen, ich bin recht matt. Einen treuen
Gruß von DeinerDas Mädchen saß ganz still, als sie geendet, dann heftete sie ihre großen trostlosen Augen auf Hortense. „Ich muß fort!“ sagte sie halblaut.
Die junge Frau kam vom Fenster zurück und trat an den Tisch. „Wie?“ fragte sie.
„Ich muß fort, Mathilde ist krank. Morgen, am liebsten heute noch!“
Sie stand auf und preßte den Brief in der Hand zusammen; dann ging sie mit langsamem Schritt in ihr Schlafzimmer und setzte sich auf den Bettrand.
„Schlecht bin ich gewesen, schlecht und pflichtvergessen!“ sagte sie laut, und das weiße schmale Gesicht der Kranken und ihr einsames Zimmer tauchten vor ihr auf. Wer würde bei ihr sein? Ab und zu der Schwager, der nach kurzer Zeit wieder geht, „weil er ja doch nicht helfen kann“ – die alte Dienstmagd, wenn sie gerade Zeit hat, die kleinen Mädchen schleppen wohl auch einmal ein Sträußchen Waldblumen herein und geben der fiebernden Mutter zu trinken, aber sonst – – sie schlug die [120] Hände vor das Gesicht – sonst lag sie geduldig, wie es ihre Art war, und allein, und Niemand hörte ihr Husten und ihr banges Athmen.
Es schüttelte sie wie im Fieber; sie kannte den Husten und die Rosen auf den Wangen der schlanken Frau, schon lange hatte man gefürchtet für sie. Wäre es denn möglich? Und so rasch, so rasch? Nein, es konnte, es durfte nicht sein! – Sie sprang empor, zündete Licht an und holte den kleinen Reisekoffer aus einem Winkel hervor. Sie hatte keinen anderen Gedanken als den:
Fort! Zu ihr, die sie gehegt und gepflegt wie ihr eigenes Kind!
Da ging die Thür auf und Hortense kam herein. „Was willst Du thun?“ fragte sie unsicher.
„Zu Mathilde! Ich sagte Dir ja, Mathilde ist krank.“
„Ist es denn so schlimm?“
„Ich fürchte es.“
„Du willst mich allein lassen – hier – jetzt?“
„Geh zu Deinem Großvater so lange, Hortense, was thust Du hier? Es ist –“
„Nein! Und tausendmal nein!“ rief die junge Frau außer sich, „ich gehe nicht!“
Lucie packte eben ein Morgenkleid in die Tasche. Sie hielt inne und sah erschreckt in das blasse Gesicht der Freundin. Hortense wich dem Blick aus und wandte ihr langsam den Rücken, als wollte sie gehen.
„Sei nicht so furchtbar hart!“ rief Lucie ihr nach.
Hortense kam zurück. „Lucie,“ sagte sie und kniete vor ihr nieder, „in einigen Tagen heirathet Wilken, hier in Dresden, in diesem Hôtel feiert er seine Hochzeit – Du kannst mich nicht allein lassen, Du kannst nicht!“ Sie hatte das Gesicht in den Schoß des Mädchens geborgen, ihr ganzer Körper bebte. „Du weißt ja nicht,“ murmelte sie, „Du weißt ja nicht, wie es aussieht in mir.“
„Komm mit, Hortense,“ sagte Lucie ergriffen, beugte sich zu ihr hernieder und streichelte ihr Haar, „wir haben ein hübsches Logirstübchen in der Oberförsterei, es ist so still und heimlich dort – das wird Dir gut thun. Du kannst, Du darfst nicht hier bleiben!“
Hortense sprang empor. „Ich gehe nicht! Willst Du mich denn gar nicht verstehen?“ rief sie außer sich. „So geh’ Du und laß mich allein an diesen schwersten Tagen meines Lebens; mag werden was da will.“
„Halt ein, Hortense!“ schrie das Mädchen angstvoll, „ich bleibe bei Dir.“
Ihr war so bange. Sie kannte dieses Zucken der Lippen, diese großen verstörten Augen, sie meinte auch den süßen schrecklichen Geruch von Chloroform zu spüren. Und wieder kam Hortense zu ihr zurück und hing an ihrem Halse. „Du konntest auch nicht fort, Lucie, Du konntest nicht!“ rief sie. Und als das Mädchen schwieg, sprach sie hastig weiter, sie auf ihren Schoß ziehend. „Wie, wenn Du nun verheirathet wärst? Du hättest vielleicht ein krankes Kind – dann könntest Du doch auch nicht zu Deiner Schwester, und wäre die Gefahr noch viel tausendmal größer. Denke, ich wäre Dein Kind, Lucie! Sieh doch nicht so an mir vorüber, wir stehen uns doch am nächsten in der Welt, Du weißt es ja. Und ist nicht ein seelisches Leiden genau so traurig, so schwer wie die Krankheit des Körpers? Und in der Krise wolltest Du mich verlassen?“
Es klang so ergreifend.
Lucie schmiegte ihren Kopf an die Schulter der jungen Frau. „Vergieb mir,“ weinte sie, „und versprich mir –“
„In acht Tagen reisen wir, Liebling, ich verspreche es Dir! Ich selbst bringe Dich zu Deiner Schwester.“ Sie küßte das Mädchen auf die Stirn. „Mein guter Engel!“ sagte sie dabei.
Sie schliefen Beide nicht in dieser Nacht, blaß und verwacht fanden sie sich am andern Morgen beim Frühstück. Lucie schrieb dann an ihre Schwester, aber es wurde nicht so, wie sie wollte, denn wenn sie ihrer Angst Ausdruck gab, so fragte sie sich: „Und Du sitzest noch hier?“ Sie zwang sich, ruhiger zu scheinen, aber in Wirklichkeit preßte die Sorge ihr fast das Herz ab. Als der Brief fertig, da war er ein sonderbares Schriftstück geworden, es klang wie lauter Phrase.
Nur am Schluß stand: „So Gott will, bin ich in acht Tagen bei Dir.“
Wenn wir zu Johannis oder am Allerseelentage auf den Friedhof gehen und das Grab einer Person besuchen, die uns im Leben theuer gewesen ist, so thun wir es nicht, ohne einen Kranz und Blumen, mitunter im Ueberflusse, mitzunehmen, und wenn uns gesagt wird, daß der reiche Blumenschmuck mehr um der Lebenden als um der Todten willen da ist, welche Letzteren nichts davon haben, so schütteln wir den Kopf, denn wir mögen von dem Glauben nicht ablassen, noch in einer gewissen Verbindung mit den Abgeschiedenen zu stehen, sie besuchen und ihnen etwas mitbringen zu können. Reiner und seliger, wie man zu sagen pflegt, verklärt, scheinen sie aus höheren Regionen auf uns herabzusehen und uns mit ihrem lichten und himmlischen Einfluß fort und fort zu leiten und zu segnen, aber an der Stätte, wo ihre irdischen Reste ruhen, sind sie uns vorzugsweise nahe, auf den grünen Hügeln schwebt es mit lautlosem Flügelschlag um uns wie ein Nachtvogel oder wie ein grauer Abendfalter. Das ist der Schatten oder der Geist des Verstorbenen, der gleichsam sein Bild lebendig erhält, nachdem er selbst erstarrt und als Leiche ein überirdisches, grauenvolles, verhülltes Wesen geworden ist, das Schauer erregt – es ist die unsterbliche Seele, die den Leib wie ein Gefängniß verlassen hat. Seele, was heißt Seele? Aller höheren Psychologie zum Trotze ist die Psyche für uns nichts weiter, als ein Gespenst, das bei Lebzeiten in der zerbrechlichen Hülle des Körpers spukt und das, nachdem die Hülle eingefallen, außerhalb derselben umgeht.
So haben die Menschen allezeit gedacht: die Mehrzahl bleibt immer in der Kindheit, und gewisse Irrthümer scheinen zur Natur des menschlichen Geistes zu gehören. Der Verkehr mit den Abgeschiedenen war bei den alten Griechen und Römern gerade so wie bei uns, nur noch materieller. Auch die Alten hatten ihre Allerseelentage und ihre Todtenfeste, an denen sie die Gräber ihrer Lieben besuchten, mit Guirlanden bekränzten und mit Lampen erleuchteten; aber mit diesen dürftigen Liebeszeichen begnügten sie sich nicht; sie erwiesen den Manen eine solidere Pietät. Sie brachten ihnen auch zu essen und zu trinken, als ob sie das noch im Stande gewesen wären – namentlich zu trinken; denn feste Speisen konnten die Schatten allerdings nicht mehr gut zu sich nehmen. Man setzte ihnen also Mehl, Oel, Milch, Honig, Wein und das frische Blut von Opferthieren vor, die man ihnen zu Ehren schlachtete, zum Beispiel das Blut eines schwarzen Schafes oder einer unfruchtbaren Kuh, zugleich machte man ihnen noch andere Geschenke. Das Todtenfest der alten Römer, an welchem allgemein Speisen auf die Gräber getragen wurden, war die Cara Cognatio, das heißt, die Liebe Verwandtschaft, sie fiel auf Ende Februar, denn der Februar galt bis zu Cäsar’s Kalenderreform für den letzten Monat des Jahres, und das Todtenfest beschloß das heidnische Jahr, wie unser Todtensonntag oder das katholische Allerseelenfest das Kirchenjahr beschließt. Die Cara Cognatio dauerte bis tief in die christliche Zeit hinein und wollte sich durchaus nicht ausrotten lassen. Die Kirche wußte sich nicht anders zu helfen, als daß sie wie so oft das heidnische Fest in ein christliches verwandelte: aus den Todtenmahlen wurden Liebesmahle zu Ehren des Apostelfürsten, und es entstand das Fest Petri Stuhlfeier, welches am 22. Februar gefeiert wird.
Weßhalb aber eiferte die Kirche gerade gegen dieses unschuldige Fest, das der natürlichen Pietät gegen die Verstorbenen entsprang? Weil viel heidnischer Zauber damit verbunden war. Solcher Zauber mußte sich bei dem Kultus der Todten leicht einschleichen. Da man sich einmal in Verbindung mit Wesen fühlte, die man für weise und für prophetisch ansah, da man in der Lage war, sie zu beschenken und einzuladen, so kam man auf den Gedanken, sich diese Annäherung zu nutze zu machen und die Geister wie
[121][122] ein Orakel zu befragen, von ihnen über verborgene oder zukünftige Dinge Aufschlüsse zu erbitten. So entstand die Nekromantie, die Todtenbeschwörung, die man auch (weil das Volk Nekromantie irrthümlich in Nigromantie verwandelte) die Schwarze Kunst genannt und als solche mit Feuer und Schwert bekämpft hat, die aber zunächst die harmlose Unterredung mit einem theuern Abgeschiedenen war, nicht anders, als wie etwa ein guter Sohn vor einem wichtigen Entschlusse auf das Grab seiner Mutter geht und ihr mit kindlichem Vertrauen seine Sache vorträgt. Sie soll ihn erleuchten; sie soll ihn wie bei Lebzeiten berathen, sie soll ihm sagen, was recht ist.
Nur daß schon frühzeitig ein natürliches Raffinement in sofern eintrat, als man sich in derselben Absicht auch an fremde Geister wandte, zu denen man von Haus aus gar keine Beziehung hatte. Man merkte, daß sie sich alle durch Vorsetzen ihrer Lieblingsspeisen, durch passende Geschenke und Opfer locken ließen, man hatte daher ein Mittel in der Hand, die erste beste Seele, namentlich aber die eines Mannes zu beschwören, der schon auf Erden ein berühmter Seher gewesen war, wie zum Beispiel der Seher Tiresias. Wer hätte nicht die Odyssee gelesen? Nun, so wird man sich erinnern, daß ein ganzes Buch: „Todtenopfer“ überschrieben ist. Odysseus wird von der Circe angeleitet, im äußersten Westen der Erde, wo die Sonne nicht scheint und ein ewiges Dunkel herrscht, am Eingange des Hades eine Grube zu graben, den Todten eine Spende von Honig, Milch und Wein zu machen und ihnen einen schwarzen Widder und ein Schaf zu opfern, aber keinen Schatten heranzulassen, bis Tiresias von dem Blut getrunken und ihm geweissagt habe, die Procedur erfolgt und hat das gewünschte Resultat. Dabei fällt noch ein anderer Fortschritt ins Auge, den die Nekromantie gemacht hat: die Beschwörung erfolgt nicht mehr auf dem Grabe des Abgeschiedenen, sondern an den Pforten der Unterwelt. Solcher Pforten gab es aber in Griechenland mehrere, und an jeder derselben bestand auch ein Todtenorakel. Einer der ältesten und berühmtesten Plätze dieser Art war der sumpfähnliche See in der epirotischen Landschaft Thesprotia, in dem sich der Acheron verliert. Der öde und schauerliche Anblick, welchen der zwischen steilen Felswänden hindurchströmende und in dunklen Abgründen verschwindende Fluß gewährt, verbunden mit der unheimlichen Tiefe und den ungesunden Ausdünstungen des ebenerwähnten Sees, mag die Ursache gewesen sein, weßhalb der hellenische Volksglaube hier so zu sagen die Hölle offen und eine Gelegenheit sah, an die Geister der Verstorbenen zu gelangen. Hierher schickte seine Boten der Tyrann von Korinth Periander, einer der sieben Weisen, als er von seiner verstorbenen Gemahlin Melissa wissen wollte, wo das Depositum seines Gastfreundes hingekommen sei, und hier offenbarte sie es ihm.
Von dieser Art der Todtenbefragung ist es abermals nur ein Schritt bis zu der gewerbsmäßigen Nekromantie, wo die Rolle des Beschwörens und Befragens von einem Dritten übernommen wird, der sich ausdrücklich darauf eingeübt hat. Das ist Sache der Hexen und Hexenmeister und der Priester aller Nationen, und zwar von langer Hand. Bereits in den Schriften des Alten Testaments wird die Nekromantie als eine Art Zauberei verboten: „daß nicht unter dir gefunden werde ein Weissager oder Beschwörer oder der die Todten frage“, heißt es V. Mose 18, 11. Später ließ Saul, wie wir im ersten Buche Samuelis lesen, die Nekromanten gewaltsam ausrotten – derselbe Saul, der am Ende seines unglücklichen Lebens selbst seine Zuflucht zu einer Nekromantin nahm. Das war die Hexe von Endor. Abgeschnitten von jeder Gelegenheit, den göttlichen Willen zu befragen, von allen Propheten verlassen, beschloß der König im letzten Kriege gegen die Philister, sich beim Schatten Samuel’s Rathes zu erholen, und wandte sich deßhalb inkognito an ein Weib, das der allgemeinen Verfolgung angeblich als die Mutter Abner’s entgangen war. Nach langer Weigerung verstand sich die Frau dazu, den Richter zu citiren: in dem Augenblick, wo der erhabene Greis in dem seidenen Rock erschien, erkannte sie den König. Dieser sah anscheinend nichts: tief niedergebückt klagte er dem Propheten seine Noth; der aber verkündete ihm zornig den Verlust seines Reiches und den bevorstehenden Tod. Saul, der riesenstarke Mann, fiel der Länge nach auf die Erde und blieb unbeweglich liegen, bis ihn die Umstehenden nöthigten etwas zu essen. Bücher sind darüber geschrieben worden, ob der Schatten Samuels wirklich erschienen oder das Ganze ein satanisches Blendwerk gewesen sei: die Kirchenväter schwanken, Josephus feiert die Hexe von Endor als ein höheres Wesen, die Septuaginta bezeichnet sie als eine Bauchrednerin. Der Bericht selbst neigt offenbar dazu, die Erscheinung als wirklich darzustellen.
Aber die Kunst der Hexe von Endor war nicht bloß im heiligen Land bekannt, sie verbreitete sich vom Orient aus über die ganze alte Welt. Italien hatte schon in früher Zeit seine Nekromanten, die im Jahre 466 vor Christo nach Sparta geholt wurden, um den Schatten des Pausanias zu versöhnen, in Griechenland war Thessalien das Vaterland allen Zaubers, auch ein Herd dieser schauerlichen Praxis, und ein Seitenstück zu dem König von Israel bildet ein Jahrtausend später der große Pompejus, der vor der Schlacht bei Pharsalus zu den thessalischen Nekromanten geht und damit dem Dichter Lucan Veranlassung giebt, die zweiunddreißig Riten der Todtenbeschwörung zu beschreiben.
Diese zünftigen Nekromanten benöthigten wieder die irdischen Reste der Verstorbenen. Sie gingen nicht auf die Gräber, aber sie holten die Gebeine, die Schädel, ja die ganzen Leichname aus den Gräbern in die Laboratorien, wo sie dieselben mit warmem Blute und mit Weihrauch behandelten, und wo sie gewiß waren, eine Antwort herauszubringen, wenn der Fragesteller den Schatten vorher versöhnt und durch Opfer günstig gestimmt hatte. Zu allen Zeiten und unter allen Völkern bediente man sich der Todtengebeine zu magischen Zwecken, und in der Geheimlehre der Juden haben sich die betreffenden Recepte bis auf den heutigen Tag erhalten. Die Kabbalisten nehmen an, um den Geist eines Verstorbenen zu citiren, müsse man auf den Habal Garmin, das ist, auf den Hauch der Knochen wirken. So nennen sie die Elementarseele, durch deren Kraft der Leib gebaut wird, welche die Gestalt des Leibes hat und die vom Tage der Zeugung bis zur Auferstehung nicht vom Leibe weicht. Oft schwebt sie über dem Grabe und kann, sagt das rabbinische Buch „Sohar“, von Denen gesehen werden, denen die Augen geöffnet sind. Mit dem sterbenden Leibe verfällt der Habal Garmin der Herrschaft der finstern Mächte, und indem die letzteren ihn zu bannen und zu erregen im Stande sind, vermögen sie auch mit seiner Hilfe die Seele des Verstorbenen zu bewegen, besonders wenn das im ersten Jahre geschieht, wo die Seele ihre Verbindung mit dem Leibe noch nicht ganz verloren hat. In den Gebeinen besitzt also der Nekromant eine Handhabe, zunächst den Habal Garmin und mittelbar die Seele vor sich zu fordern. Immer aber ist die Beschwörung eines Abgeschiedenen eine gewaltsame Aufregung für dessen aus der Ruhe gebrachte Seele, daher Samuel’s Schatten den Saul fragt: „Warum hast Du mich erschüttert? Warum hast Du mich unruhig gemacht, daß Du mich herausbringen lässest?“
Weßhalb aber gleichzeitig den Leichnam mit warmem Blut begießen? Das beruht auf einer Art von Sympathie. Wie in den Knochen, so wohnt im Blute des Menschen ein eigener Lebensgeist, eine Seele, die der Nekromant ebenfalls brauchen kann. Die Litteratur der geheimen Wissenschaften weiß viel von „merkwürdigen Fällen“ zu erzählen, wo ein Seifensieder, der das Blut eines Menschen destillirte, im Destillirkolben eine Menschengestalt erblickte oder wo ein Scheidekünstler, der mit abgezapftem Blute experimentirte, plötzlich den Geist des Verstorbenen vor sich sah und in der Retorte einen Menschenkopf fand. Es wurden demnach geradezu Kinder geopfert, um Blut zu gewinnen und den Dämon desselben über die Zukunft zu befragen. Bei Leichen aber mußte sich der Nekromant mit fremdem Blute helfen.
Was unsere Nekromanten bei besagtem Hokuspokus unterstützte, war wesentlich Zweierlei. Erstens die Bauchrednerei, die sogar die Schamanen und die Medicinmänner wilder Völker gut verstehen, zweitens die Räucherung mit narkotischen Substanzen, welche letztere wieder den doppelten Zweck hatte: einmal die Sinne der Anwesenden zu betäuben und den einziehenden Visionen aufzuschließen. sodann in den weißlichen Dämpfen thatsächlich etwas wie Geister und überirdische Erscheinungen zu bieten. Ich will hier nicht wiederholen. was Benvenuto Cellini in seiner Selbstbiographie erzählt, die Goethe übersetzt hat. Niemand versteht sich so gut auf die Theorie der Dünste. als die Geisterbeschwörer; Schröpffer citirte in Dresden den Marschall von Sachsen niemals eher, als bis Punsch getrunken und Tabak geraucht worden war. Und diese Art Nekromantik dauert heute noch fort. wenn man auch nicht mehr Kinder mordet und Leichname verstümmelt.
[123] Noch immer sitzen die Gläubigen zusammen und warten der Geister, die da kommen sollen, und hängen an ihrem Nekromanten, während der wahre Nekromant aufstehen sollte und sagen: Geliebte Freunde, ich kann allerdings Geister rufen, was auch Ihr könnt; ob sie aber kommen, das mögt Ihr erwarten, wenn Ihr so lange warten wollt.
Unser Bild führt uns in die Werkstatt eines antiken Nekromanten, ein verfluchtes, dumpfes Mauerloch, mit Gläsern, Büchern rings umstellt und mit Instrumenten vollgepfropft wie die Halle Faust’s; man bemerkt mehr als einen Todtenkopf und andere Stücke, die an eine Anatomie erinnern. Die dunkle Bogennische im Hintergrunde ist die Scene, auf der hinter wallenden Dämpfen und Schleiern die auf die Oberwelt citirten Schemen dem Publikum erscheinen. Der Meister dieser Gaukeleien, nach Gesichtstypus und Tracht ein Sohn Kleinasiens, der vielleicht zugleich Gift mischt und Liebestränke bereitet, betrachtet mit prüfendem Auge den geheimnißvollen, aus dem brodelnden Kessel und aus den umstehenden Gefäßen zusammengebrauten Saft, ob er gut gerathen sei, und wir glauben fast in seinen Zügen den Gedanken lesen zu können: Mundus vult decipi: ergo decipiatur! (Die Welt will betrogen sein, darum sei sie betrogen!)
Litterarische Begegnungen.
Wenn man als geborener Oberbayer in die Fremde muß, wohin man die heimischen Berge, den Zugspitz, den Watzmann, den Hochkalter, nicht mitnehmen kann, so thut man am klügsten, nach Wien zu gehen. Da giebt’s in den Vorstädten noch recht artige Berge, nicht ganz so hoch wie der Thurm von St. Stephan, aber hoch genug, daß der Gaul eines Einspänners schweißtriefend hinaufkeuchen muß und daß man im dritten Stockwerke eines Hauses, welches auf solchem Berge steht, sich in einer Montgolfière wähnen kann. Mein Freund Ludwig Ganghofer wohnt in einer solchen Montgolfière, er genießt Tag und Nacht, bei Sonnen- und Mondenschein, die entzückendste Fernsicht, aber als ich ihn zum ersten Male in seinem Wiener Heim aufsuchte, da war’s mir doch, als ob die Jachenau und das Trischübelthal und der Funtensee und alle sonstigen Kogl und Wandl, von denen er in seinen Büchern erzählt, zwar beschwerlicher zu erreichen, aber lohnender seien als das „Kaunitzbergl“ draußen in der Mariahilfervorstadt. Damit will ich beileibe diesem „Kaunitzbergl“ – im Volksmunde heißt es auch das „Ratzenstadl“ – nicht zu nahe treten, denn es bat eine alterwürdige Geschichte. Welche Rolle es bei der großen Türkenbelagerung gespielt hat, weiß ich nicht, aber ich weiß, daß es einst die Villa des Fürsten Kaunitz auf seinem Rücken trug, dieselbe Villa, in welcher der allmächtige Staatskanzler eines Tages von dem Papste Pius VI. besucht wurde und den römischen Gast empfing, ohne ihm die Hand zu küssen, was in ganz Europa damals gebührendes Aufsehen erregte. Auch ist das „Kaunitzbergl“ sonst noch durch mancherlei interessant, unter Anderem dadurch, daß es wie eine Reliquie aus alten Zeiten sich inmitten der Großstadt unversehrt erhalten hat mit seinen Giebelhäuschen, seinen Ziehbrunnen, seinen Lauben, Galerien und Veduten. Aber als ein modernes Menschenkind, das die Musen nur ganz von Weitem ihres Verkehrs würdigen, erachte ich es nicht als etwas Arges, zu meinen, daß man entweder um jeden Preis, wie es bei einem geborenen Oberbayern der Fall sein mag, sich die Illusion eines Gebirges auch in der Stadt muß erhalten wollen, oder daß man als ein bei der Theilung der Erde zu kurz gekommener Dichter auf den Himmel angewiesen ist, wenn man in Wien sich just das „Kaunitzbergl“ zum Domicil aussucht.
Nichts für ungut. Ich weiß, daß auf den Bergen die Freiheit wohnt, und dorthin wird sie sich wohl auch in Wien zurückgezogen haben, um recht unbeachtet und unbegehrt zu leben, da man ihr in den Zinspalästen auf der Ringstraße recht selten begegnet. Aber wenn, um ein Wort William Penn’s zu variiren, Komfort ohne Freiheit Sklaverei ist, so ist doch Freiheit auf dem „Kaunitzbergl“ auch nicht gerade ein idealer menschlicher Zustand, und ich habe dies meinem Freunde Ludwig Ganghofer gerade heraus ins Gesicht gesagt, als ich zum ersten Male schwer athmend über seine Schwelle trat, trotzdem von den Wänden seines Arbeitszimmers eine ganze Kollektion von Büchsen drohend auf mich herniederschaute und ein paar Dutzend Gemskrückeln und Hirschgeweihe in allen möglichen Größen mir verriethen, wie bedenklich es ist, sich dem Nimrod und Poeten aus Oberbayern unangenehm zu machen. Ach Gott, wenn ich bedenke, wie anders es in dem Studio Berthold Auerbach’s auf der Berliner Hohenzollernstraße aussah! Da war von Büchsen und Geweihen keine Spur, obwohl die Schwarzwälder Dorf- und Bauerngeschichten doch auch in Feld und Wald draußen spielen, und der kleine, gedrungene, wortreiche Auerbach traf eher hundert Gedanken gerade aufs Blatt, als daß er dem winzigsten Häslein etwas zu Leide that. Der hochgewachsene, hellblonde Allgäuer aber, der sich auf das Wiener „Kaunitzbergl“ verpflanzt hat, spricht ganz und gar nicht eitel Weisheit und Lebensphilosophie, er stellt sich mit seinen langen Beinen mitten hinein in die Bergwelt seiner bayerischen Heimath und sagt, das bin ich und das ist Burgei, die Sennerin, das Gabi, der Jager, das Dschapei, das gefühlvolle Lamm – so leben, denken, lieben und sterben wir bei uns daheim und damit Basta! Zum Ueberfluß giebt er auch noch, wenn er gerade gesprächig ist, ein paar halsbrecherische Jagdabenteuer „ungedruckt“ zum Besten oder schreibt einer Dame, die ihm ihr Album überreicht, knapp hinter einem Gedenkverslein Karl Stieler’s die lapidaren Worte: „Der Bua soll hinterm Meister gehn“.
Hinterm Meister … das ist so eine façon de parler, die sich ein junger Poet zurechtlegt, so lange er noch im Bewußtsein mangelnder litterarischer Volljährigkelt Bescheidenheit heucheln muß. Aber da liegen nicht weniger als zehn robuste Bände Ganghofer’scher Dichtung vor mir, Gedichte, Novellen, Dramen, und ich weiß ganz genau, daß Freund Ludwig vor seinem zweiunddreißigsten Geburtstage steht – braucht er sich nun noch auf einen Meister zu berufen oder glaubt er bei seinem körperlich und litterarisch vollkommen ausgewachsenen Zustande, daß irgendwer ihn für einen Gesellen halten wird, der noch in eines Anderen Werkstätte arbeiten muß? Der Poet hat überhaupt keinen Meister, sondern höchstens ein Vorbild. Und hätte man das wahre Vorbild Ganghofer’s zu ergründen, so läge ja nichts näher als auf Berthold Auerbach zu rathen, der trotz Jeremias Gotthelf der Vater der deutschen Dorfgeschichte ist. Aber auch das wäre eine falsche Fährte. Berthold Auerbach ist zur Dorfgeschichte gekommen durch den Antrieb der Zeit, ihrer Bildungsinteressen und ihres litterarischen Bedürfnisses; damals war Alles Tendenz und der Begriff des Volkes in seinem ganzen Umfange noch nicht parlamentarisch abgenützt und durch den Ehrgeiz der Großstädte absorbirt. Weil aber die Tendenz vor dem Gedichte da war, so ist es verständlich, daß Auerbach sich in das Dorf- und Bauernleben erst hineinspekuliren mußte und daß an seinem Walde der unmittelbare Tannengeruch durch ein Surrogat ersetzt wird, wie man etwa daheim in seiner Stube sich das Arom des Waldes herstellt, indem man ein paar Tropfen Reichenhaller Latschenöls in siedendes Wasser schüttet. Heute ist die Tendenz verpönt, man will, daß der Dichter nichts sei als der Menschen- und Schicksalsbildner nach dem Vorbilde der Wirklichkeit, der Künstler, der die Wirklichkeit zur Wahrheit erhebt. Diesen Unterschied der Zeiten übersehen Jene, welche die Dichtung als Nebensache betrachten und über jede ländliche Geschichte ihre weisen Nasen rümpfen. Die heutige Dorfgeschichte ist etwas ganz Anderes als die Dorfgeschichte vor vierzig Jahren und leugnen wird es doch wohl Niemand, daß das Menschenleben unter den „Almern und Jagersleuten“ nicht minder seine schicksalsvollen Wandlungen und Katastrophen hat wie dasjenige in den Salons oder den Fabrikvierteln der großen Städte.
Zuletzt handelt es sich aber bei Ganghofer auch gar nicht um Dorfgeschichten in dem hergebrachten Sinne; er begegnet auf der Jagd, im Hochgebirge Charakteren und Konflikten, die er als Poet erfaßt und künstlerisch fixirt, wobei er nur um der äußeren Treue willen Dialekt und Scenerie beibehält. Verlaufen sich vorlaute Großstädter wie der famose Herr v. Strizzow auf die Alm, so meinen sie freilich, es sei gar keine Kunst, eine schmucke Sennerin da droben zur Heldin einer Novelle zu machen, und seit die Alpenbahnen bestehen, sind ja die Strizzows auf allen Berggipfeln zu finden, wie ehedem der Tausendsasa Kieselak. Aber Poeten sind sie darum noch lange nicht, und eine Sennerin wie die silberblonde Burgei, die als Wilddiebin sich und den armen Jager Gabi ins Verderben reißt, taucht ihnen nicht einmal im Traume vor ihrem Geiste auf. Wer ist aber diese Wilddiebin zuletzt Anderes als Gutzkow’s Lucinde, als Spielhagen’s Eva, ein Weib, das die Wege seines Geschlechtes verläßt und sich nicht mehr auf dieselben zurückfinden kann, nicht einmal, da es jählings von der Liebe erfaßt und wenigstens noch für einen einzigen Moment vor dem Sterben in die Hilflosigkeit seines Geschlechtes zurückgeschleudert wird? Das sind verkörperte Probleme, nicht Puppen, von denen sich etwa mit Goethe sagen ließe: „Kleid’ eine Säule, sieht aus wie ein Fräule.“ Und Probleme, die der Wald, das Dorf, die Alm so gut und so oft zu lösen aufgeben wie das Menschengedränge in der Großstadt …
Ludwig Ganghofer ist im Walde geboren als der Sohn eines Forstmannes, der sich nicht damit begnügte, sein Revier abzugehen, überzählige Baumstämme zu märken und irrendes Wild aufzuspüren, sondern strebend und arbeitend zur höchsten Stellung emporstieg, welche der Staat einem Waidmann einzuräumen hat. Von mütterlicher Seite fällt auf ihn der Wiederschein einer künstlerischen Tradition, denn sein Großvater war ein Mitarbeiter Klenze’s in München und sein Oheim, wenn ich nicht irre, der Erbauer des Aschaffenburger Pompejanums. Dieses doppelte Erbe bildet den Grundstock seines dichterischen Vermögens. Fast ergreifend schildert er selbst seine ersten Waldeseindrücke. „Wenn der Lenzwind leise durch die Wipfel plauderte und mit zischelndem Rauschen vom Waldsaume herniederstrich über die rohrdurchwachsenen Forellenteiche, wenn hoch in sonnigen Lüften der Weih seine stillen Kreise spannte, wenn aus den abenddunklen Buchen und Eichen das Gurren und Liebeslocken der Wildtauben klang, wenn am thauigen Wiesengrunde das schlanke, braune Reh im Dämmerlicht zur Aesung zog und der graue Reiher mit weitem Flügelzuge zu Horste strich – wenn dann erst die Nacht herniedersank über die weite Flur, wenn ich pochenden Herzens am offenen Fenster saß, dem eintönigen Liede der Unken lauschte und dem schauerlichen Huhn des ‚Holimanns‘, der draußen im schwarzen Walde seine Kinder, die [124] Käuzlein, zum Nachtgejaide rief, da trieb meine jugendliche Phantasie ihre Blüthen, so seltsam und zahlreich wie der Waldgrund seine Pilze treibt nach einer lauen Regennacht!“ Aber bis man überkommene Reichthümer verwalten lernt, hat man mit sich und seinem Besitze Manches auszukämpfen. Die Natureindrücke der Kindheit wirken fort, Enthusiasmus und Melancholie weckend; das Künstlerblut treibt zum Schaffen und zum Gestalten. O dieses Gähren zwischen Wollen und Empfinden widerstrebt lange aller Disciplin und Philosophie. Man macht verzweifelt traurige Verse, die zu den rothen jugendlichen Wangen einen fast komischen Kontrast bilden; man wirft sich auf den derben Fischart und übersetzt den empfindsamen Musset. Längst schon ist man der glückliche Besitzers eines Doktorhutes; aber noch immer taumelt man auf den ausgetretenen Pfaden der Poetik dahin, berauscht von eingebildeten Schmerzen und abgelenkt von nicht eingebildeten Wonnen. Verse sind schnell gemacht und der leichtgefundene Reim bläst sich auf, als umschlösse er das Geheimniß der Kunst. Ach Gott, die liebe blonde Jugend, die kaum erst den Schläger aus der Hand gelegt, ist über Nacht mit einem Bande von Gedichten fertig, und wenn sie selber, wie noch vorgestern knapp am Katzenjammer, laut aufstöhnt bei dem Klange ihrer eigenen Verzweiflungslyrik, wenn zärtliche Mägdlein im Englischen Garten dazu Thränen der Rührung träufeln, dann ist das Bild von Sais siegreich entschleiert. Aber dann kommt eine Stunde der Bedenklichkeit und dann noch eine, und aus den Stunden werden Tage, Wochen, Jahre, und die Welt hat plötzlich ein anderes Gesicht; man hört und sieht, was man vorher kaum geträumt. Das Geschaute will sich nicht mehr in die Enge vierzeiliger Strophen fügen, es sprengt, sich gestaltend, den knappen lyrischen Rahmen, und wie von selbst erbietet sich die novellistische Form, die unbeengte Sprache der Prosa, zu fassen, was dem Jambus und Trochäus überquoll.
Als Ludwig Ganghofer im Jahre 1879 seine erste Novelle, den „Herrgottsschnitzer von Oberammergau“ geschrieben hatte, da war der rechte Weg gefunden, seine litterarische Physiognomie ward erkennbar, wenn auch noch mancher Strich und mancher Zug an ihr sich zu verschieben und zu vertiefen hatte.
Und dann kam wieder eine Stunde – ich meine, es war im Café Maximilian zu München, wo die Kellnerinnen mit ihren verschlafenen Gesichtern und ihren Geldtäschchen so lautlos von Tisch zu Tisch gleiten – da setzte sich in dem Kopfe des jungen Poeten die Geschichte von Pauli, dem Schnitzer, und Loni, der spröden Magd, in ein Drama um, in ein „Volksschauspiel“, dem auch Auerbach seinen Patriarchensegen nicht vorenthielt. Von der Lyrik zur Novelle, von der Novelle zum Drama – es ist wie der gewiesene Weg, den die Dichtung selbst schreitet, um sich und ihre Wirkungen zu erhöhen … Ich habe drei Stücke Ganghofer’s auf drei verschiedenen Bühnen in drei verschiedenen Städten gesehen, in Berlin den „Herrgottsschnitzer von Oberammergau“, in Wien den „Proceßhansel“, in München den „Geigenmacher von Mittenwald“; überall beobachtete und empfand ich eine starke Wirkung; nirgends schien der Dramatiker abhängig zu sein von der Unterstützung durch die Darsteller. Liegt in dem Volksschauspiele, in der dramatisirten Dorfgeschichte an und für sich eine so eindrucksvolle Kraft, daß es der scenischen und schauspielerischen Mittel weniger bedarf als Lust-, Schau- und Trauerspiel? … Es ist ein lauer Sommerabend; ich sitze mit einigen Freunden im Garten des Friedrich-Wilhelmstädtischen Theaters. Ein und aus strömt die Menge während der Zwischenakte, diese angeblich kalte, kritische, unempfängliche Menge des Berliner Theaterpublicums, und voll strömender Beredsamkeit preist sie das bayerische Stück, das ihr darin vorgeführt wird … und etliche Jahre später sehe ich im Münchener Gärtnertheater wiederum ein Stück desselben Genres und desselben Dichters, und wiederum braust ein mächtiger Beifall durch das Haus … Die verketzerte, geringgeschätzte, zurückgesetzte Dorfgeschichte, die neuartige tendenzlose Dorfgeschichte von heute hat sich durch die Bühne legitimirt, unter dem gefährlichen Lampenschein, der so grell auf das Unzugängliche und so belebend auf das echte niederscheint. Und so wahr es ist, daß schlechte Stücke durch gute Schauspieler nur nothdürftig über Wasser gehalten werden können, so gewiß wird es mir, daß gute Stücke durch schlechte Schauspieler nicht zu tödten sind, da ich an einem dritten Abend in Wien den „Proceeßhansel“ in ungehörigster Weise mißhandeln sehe. Wie Themistokles dem ehrwürdigen Ephialtes, der mit einem Stocke auf ihn eindringt, entgegenruft: „Schlag’ zu, aber höre!“ so ruft aus einem guten Stücke der Dichter über den schlechten Schauspieler hinweg dem Publikum zu: „Glaube mir, nicht ihm!“
Ich blättere in dem Buche des zweiunddreißigjäbrigen Dichterlebens, das Ludwig Ganghofer’s Namen als Aufschrift trägt, von den lyrischen Gwewaltthätigkeiten der Sturm- und Drangzeit bis zu den durchgereiften Novellen von heute, zum „Edelweißkönig“ und zu dem zweibändigen Roman „Die Sünden der Väter“, und je länger ich blättere, desto langsamer wenden sich die Seiten. Wie hat sich doch in der knappen Frist von acht Jahren das Alles vertieft und entwickelt! Da kann von sogenannten glücklichen Würfen nicht mehr die Rede sein, es ist ehrliche, vorwärtsstrebende, erfolgreiche Arbeit. Aechzend und mit schweißtriefender Stirn macht der Bergsteiger Halt, wenn er droben, in einer Höhe von zweitausend Metern, plötzlich den klaren Spiegel des Funtensees erblickt. Auf dem Wege ist manche Lawine dumpfrollend hinter ihm niedergegangen, der Bergstock zitterte in seiner Hand und unter seinem Fuße bröckelte das tückische Gestein. Jetzt klappert inmitten der ungeheuren Oede die Mühle am See, die höchste auf dem Erdenrund, und aus den Wellen meint er sie geisterhaft aufragen zu sehen, die bleichen Arme der blonden Wilddiebin Burgei. Der Watzmann aber und der Hochkalter und der Göll schauen mit ihren weißen Häuptern unverwandt herüber, einer über die Schultern des anderen, und sie schauen vielleicht noch weiter und weiter, bis zum „Kaunitzbergl“ nach Wien, wo ein Zwerg von einem Menschenkinde ihre Schicksale und Geheimnisse ausplaudert, als hätten sie selbst ihm diese Schicksale und Geheimnisse verrathen. Ach ja, ihr weltfremden, verwitterten Riesen, der Poet ist euer Meister; ihr seid stumm wie die Ewigkeit und redet doch dem lauschenden Ohre des Dichters – in einer Sprache freilich, die nur er versteht.
Ein verhängnißvolles Blatt.
Am andern Tage ging Rupert zum Förster, seinem Vorgesetzten, zeigte ihm seine Verlobung an und bat ihn um seine Entlassung bis 1. September. Dieser, ein im Dienste ergrauter, pflichttreuer Forstmann, empfing ihn nicht sehr freundlich.
„Hab’s schon g’hört,“ begann er, „daß Du am Sonntag auf der ‚Post‘ warst, so, das is freilich a gute Zeit für die Wilderer, wenn der Jäger am Sonntag zum Tanzen geht! Das hätt’ doch kein Gut mehr than mit Dir, ich hätt’ Dir’s heut so wie so sag’n müss’n. Alle Tage fast hört man Schüsse im Revier oder find’t ein ang’schoss’nes Wild! Ich hätt’ Dir wirklich mehr Ehrgeiz zutraut, Rupert! Wie ich no jung war, mich hätt’ so was zu Tod g’wurmt!“
„Und meina’s, Herr Förster, mi wurmt’s net?“ entgegnete Rupert, „aber was will i denn mach’n, der Mathias –“
„Laß mich aus mit dem Mathias,“ fiel ärgerlich der Förster ein, „gestern war’s der Mathias net! – der soll Alles ausessen – natürlich! Mach’ wenigstens jetzt bis 1. September Dein Dienst fleißig, ich kann kein Nachseh’n hab’n weg’n der Anna, und später habt’s Zeit g’nug zum lieb hab’n!“
Rupert war ganz zerknirscht von diesen Vorwürfen, deren Berechtigung er wohl fühlte.
„Verlass’n’s Ihna d’rauf, Herr Förster, die Woch’ bring’ i no oan,“ sagte er, fast weinend vor Zorn und Schamgefühl, „gilt’s was mag, so will i selb’r net aus ’n Dienst geh’n! Nur acht Tag lass’n’s mir Zeit, Herr Förster, wenn i nacher no nix z’weg’n ’bracht hab’, nacher dürfen’s mi an schlecht’n Jaga hoaß’n!“
„Nur net so hitzig, Rupert,“ entgegnete der Förster, „mit der Hitz fangt man kein, ich kenn’ die G’schicht’ aus Erfahrung! Thu’ Dei Schuldigkeit, mehr verlang’ ich net! Jetzt adieu!“
Er neigte sich wieder über seine Akten und schrieb weiter, der Jäger verließ die Kanzlei.
Fangen mußte er den Wilddieb noch vor seinem Abschiede, das stand fest. Den ganzen Weg vom Dorf bis auf die Rainalm, wo er der Anna gleich auf mehrere Tage Adieu sagen wollte, überlegte er angestrengt, wie es am besten anginge. Daß Mathias gestern nicht dabei war, verwirrte ihn, vielleicht war er auf ganz falscher Fährte. Anna traf er in vollster Arbeit, sie war wieder so heiter wie immer. Er hatte gestern ganz Recht: wenn die Sonne scheint, wird Alles wieder anders.
Er hielt sich nicht lange auf.
„Vor drei Tag’n wirst mi schwerli seh’n, Anna, hab’ koan Angst deßweg’n und vergiß den Rupert net!“ Er gab ihr einen Kuß und eilte davon, gefolgt von „Gams“.
Absichtlich vermied er den Arbeitsplatz der Holzknechte – sie brauchten nicht zu wissen, wohin er ginge – und schlug die entgegengesetzte Richtung ein, in die Berge. –
Zwei Tage vergingen. Anna hatte so viel zu thun, daß ihr die Sehnsucht nach ihrem Geliebten nicht ankonnte; sie war eine gesunde Natur, die sich mit Nachdenken überhaupt nicht plagte.
Mathias kam nicht mehr, um Butter oder Milch zu holen, wie gewöhnlich, sondern der kleine David, der konnte ihr nicht genug des Guten von Rupert erzählen: was das für ein braver Mensch sei und wie gern er sie hab’! Er sprach fast zu viel, als daß er es ehrlich hätte meinen können, so kam es Anna vor. Auch [125] von Mathias erzählte er, wie der sich abkümmere und ordentlich mager werde, alles aus Eifersucht.
„Was kann da i dafür,“ sagte Anna, „wenn’s Alle vernarrt in mi san, i schaff’s ja koan, i kann’s a koan verbiet’n! Er wird si scho wieder tröst’n; aus unglücklicha Liab stirbt ma net heraus in die Berg’, g’rad’ nur in der Stadt bei die Herrisch’n!“
„Na, na, red’ net so!“ erwiederte David, „wann jetz Dei Rupert plötzli sterb’n thät, was thät’s D’ denn nacher?“
„Dumm’s G’schwätz, wie kommst denn da d’rauf, der Rupert!“
„Na – und wenn halt do – man sagt ja bloß!“
„Dann wüßt i freili net, was thuan, und steinunglückli wär i g’wiß,“ sagte sie, „aber sterb’n, wie sollt i denn sterb’n! Mei Muatter is a net g’storb’n und hat d’n Vater g’wiß gern g’habt; aber was red i denn über so a dumm’s Zeug! Des kann nur Dir einfall’n in Deina Bosheit.“
Dann kam wieder die lange Feierstunde, und Anna saß, wenn das Vieh gut versorgt, mit dem Strickzeug auf der Bank vor der Hütte. Da sah sie wohl oft scharf nach den Berglehnen hinüber, ob sie nicht irgendwo seine Gestalt entdeckte, aber kein lebendes Wesen war zu sehen, nur Geier zogen ihre Kreise in der blauen Luft hoch über den Wänden.
Am dritten Tag – es war Mittwoch, in der Frühe, und Anna war eben mit dem Buttermachen beschäftigt – stürzte David athemlos herein.
„Habt Ihr’s scho g’hört vom Rupert?“
Anna war todtenblaß geworden.
„Ja, was denn? Wie kannst mi denn so derschrecka?“
„An Wilderer hat’r g’fangt, an Tiroler! Er hat’n scho eing’liefert unten beim Förster. Der zwoat is ihm auskomma, na, er wird selber net lang aus sei – ja, a Teufelskerl, der Rupert!“
„Gott sei Dank. daß er endli oan d’rwischt hat, jetz wird die Stichelei do amal aufhör’n, denk i! – Is am End g’fährli zugang’n? Hast nix erfahr’n? – Und i bin so ruhig g’wes’n gestern Abend, derweil er vielleicht in der größt’n G’fahr war!“
„Hab’ weit’r nix g’hört! Aber wenn i recht siech, kummt er scho auffi –“ er lief einige Schritte nach vorne – „ja wohl, er is scho, i kenn’s am ‚Gams‘! Jetz wirst glei all’s hör’n!“
Es war wirklich Rupert, von Weitem schon winkte er ihr entgegen.
Es hielt sie nicht länger, sie lief direkt auf ihn zu, daß die Zöpfe flogen, und fiel ihm um den Hals.
„Is d’r endli ’nausganga, Gott sei Dank! No und der Förster, der wird g’schaut hab’n! Ja – wie is denn zuganga? erzähl’ – erzähl’ do –“
Sie ließ ihn gar nicht zu Worte kommen vor Eifer.
David näherte sich, er wollte die Geschichte auch hören.
„Da is net viel zu d’erzählen! I hab die Lump’n grad troff’n, wia’s an Gamsbock aufbroch’n hab’n, der Oane is mir durch; den Andern hab i nimma auflass’n vom Bod’n, wie er sich a g’wehrt hat! I sag’ Dir’s, Anna, jetz bin i wieder a ganz andrer Kerl, es hat ma all’s verleid, die ewig’n Vorwürf!“
„Und habt’s den Andren net kennt?“ fragte neugierig David, „den, der durch is?“
„Na, kennt hab i ’hn net! Wenn i net g’wiß wüßt, daß der Mathias zur selb’n Zeit in der Arbeit war – sagat i: er war’s, so ähnli hat er ihm g’sehn!“
„Der is net von der Arbeit kumma die ganz Woch’, dös kann i b’zeug’n!“
„Brauchst’s net,“ erwiederte Rupert, „i weiß ja selbst, aber wia ma si nur so täusch’n kann!“
David eilte hinunter; er brannte darauf, seinen Kameraden die näheren Umstände erzählen zu können.
Die Beiden gingen der Alm zu. Alle Wolken schienen jetzt zerstreut; kein Mensch konnte mehr Rupert Lässigkeit im Dienst vorwerfen.
„Jetz laß aber g’nua sei,“ sagte Anna, „g’sehn hab’n sie’s jetz, daß D’ ein fanga kannst, mehr braucht’s nimma!“
„Werd’n si in der nächst’n Zeit kaum mehr blick’n lass’n, glaub’ i,“ entgegnete Rupert; „müaßt’s g’rad der Andre no a mal probir’n woll’n!“
Sie gingen in die Hütte.
David sprang wie ein Reh bergab, um die Neuigkeit noch warm den Kameraden aufzutischen, die mit Axt und Keil unter den Buchen wütheten. Mathias war offenbar ärgerlich über den unvermutheten Erfolg des Jägers.
„Der muaß’s hübsch dumm ang’stellt hab’n,“ sagte er, und David stimmte ihm bei.
„Bei uns,“ lispelte er ihm ins Ohr, „wird er si schwarer thuan, der Herr Jaga!“
„Wart’ nur auf’n Sonntag,“ entgegnete er; „da geht er ja do wieder ’nunter zur Alten!“ Er schwieg, als der alte Toni dazu trat.
„Schau, schau! der Rupert! Jetzt is er hoaß; nehmt’s Euch in Acht, Buab’n!“ brummte der Alte.
Der Vorfall war natürlich zum Tagesgespräch geworden; Jeder dachte an seine eigenen Streiche in diesem Fache. Viele hatten selbst schon gesessen wegen Wildfrevel; die Sympathie war, wie immer, auf der Seite des Ertappten, der draußen auf dem Landgericht eingesperrt seiner Verhandlung entgegensah.
Rupert war wirklich „heiß geworden“, wie der alte Toni sagte; der letzte Erfolg stachelte seinen Ehrgeiz und er hatte die Schüsse, welche vorigen Sonntag Abend gefallen waren, nicht vergessen. Im Geheimen hatte er immer noch Mathias im Verdachte, wenn er auch am Sonntag nicht dabei war. Die Eifersucht, die instinktive Abneigung gegen den Burschen trug wohl auch viel dazu bei. Er hatte seinen Plan schon gefaßt; er wollte sich den Anschein geben, als ginge er mit Anna nach S., falls er vielleicht von irgend einer Seite beobachtet würde, unterwegs aber umkehren und den ganzen Tag sich im Reviere aufhalten.
Anna wollte auch wirklich am Sonntag wieder einmal ihre Mutter besuchen; Rupert ließ sie beim Glauben, er gehe mit, schützte jedoch im letzten Augenblick einen Auftrag des Försters vor, der ihn irgend wo hinschicke wegen eines Holzgeschäftes. Den wahren Grund verschwieg er. Begleiten wolle er sie ein Stück weit. Wie vor acht Tagen war er in aller Frühe schon [126] auf die Alm gekommen, um Anna abzuholen. Sie gingen zusammen über den Schlag hinunter, Rupert ging in den Kobel, scheinbar um sich die Pfeife anzuzünden, die ihm ausgegangen. Alle waren da und eben beschäftigt, ihre Sonntagstoilette zu machen.
„Wohin scho wieda?“ fragte David.
„Mit der Anna zur Muatter,“ erwiederte Rupert, „’s giebt allerhand z’reden jetz!“
„Dös glaub’ i scho, und Ihr dürft’s scho Feiertag mach’n nach der guat’n Wochenarbet!“ sagte lachend David.
Der Jäger glaubte zu bemerken, daß Mathias und David sich einen raschen Blick zuwarfen.
Er hielt sich weiter nicht auf, und kaum waren sie auf dem eigentlichen Fußsteig nach S. angekommen, so nahm er Abschied von Anna. Die wollte ihn ungern ziehen lassen.
„I thät’s scho verantwort’n beim Förster,“ sagte sie; „d’ Muatter hätt’ a rechte Freud, wann i Di mitbrächt! Und off’n g’sagt, seit den letzten Sonntag Abend, wo das G’witter war, is mir immer Angst um Di! I hab kein Ruah. wenn D’ net da bist!“
Sie zog ihn gewaltsam vorwärts, und er schien schon unschlüssig, was er thun sollte, plötzlich aber machte er sich los.
„’s is ja heut das letzt Mal, daß Du allei geh’n muaßt; in a paar Tag kommt mei Entlassung, nacher is ja so aus! Grüaß ma d’ Muatter schö, sie hat ja selb’r g’sagt neuli, i soll nix versäuma, und Ihr könnt’s ja allei all’s ausmach’n!“
Er gab ihr nicht einmal mehr einen Kuß, er fürchtete für seine Standhaftigkeit – mit einem raschen Sprung setzte er vom Weg abseits über die Gräben und war gleich darauf im Dickicht verschwunden.
Anna rief ihm nach: „Aber komm g’wiß vor Nacht auf d’ Alm, sonst sterb i vor Angst!“
„Vor Nacht kimm i, verlaß Di d’rauf!“ tönte es aus dem Walde.
So lange sie die rauschenden Schritte, das Geknack der Aeste noch hörte, blieb sie stehen, dann ging sie, eine unerklärliche Unruhe im Herzen, weiter.
Die Mutter traf sie zu Hause; sie fühlte sich nicht wohl und konnte nicht einmal ins Amt gehen, überhaupt erschien sie Anna in diesen acht Tagen gealtert, die Furchen auf der Stirn schienen noch tiefer gegraben und die matten Augen hatten rothe Ränder wie von vielem Weinen.
„Aber Muatter, was fehlt Dir?“ fragte besorgt Anna.
„Ja, so was geht an uns alte Leut net vorüber, Anna! I hab’ die ganze Woch’n so d’rüber nachdenkt über Euch, und da is mir halt mancher Zweif’l aufg’stieg’n, ob i a Recht hab’ nachz’geb’n! Vielleicht machst D’ mir a mal an Vorwurf d’raus, is Alles scho dag’wesen. Uebrig’ns“ – sie sah sehr erst in das blasse Gesicht Anna’s – „siehst Du a net zum Best’n aus; das is koan Almafarb, Dierndl! Was hat’s denn ’geb’n, wo is denn der Rupert?“
„Ja, das is ja, Muatter, was mi martert! Drauß’n is er im Dienst, und da hab’ i halt a Bis’l Angst. Mei Gott, g’rad wenn der Mensch recht glückli is, fürcht er si vor All’m am meist’n, ’s is einem g’rad, als gunnet man’s eim da oben net!“
„Aber, Anna, was san dös wieder für gottlose Red’n! Das g’fallt mi von Rupert, daß er mein Rath g’folgt und fleißi im Dienst is, das zeigt, daß er a Mannsbild is, der si a bezwing’n kann.“
So trösteten sie sich gegenseitig, eine freudige Stimmung kam aber nicht recht auf. Gegen fünf Uhr verließ Anna das elterliche Haus, sie wollte Rupert nicht versäumen, der vielleicht schon oben auf sie wartete. Sie hatte keine Ruh’; es trieb sie ordentlich fort, und als sie das Dorf im Rücken hatte, schlug sie einen förmlichen Laufschritt ein, daß die ihr Begegnenden erstaunt ihr nachsahen. Oft mußte sie stehen bleiben, um Athem zu schöpfen; ihr Gesicht war in Schweiß gebadet, die Zöpfe hatten sich unter dem Hut gelöst und hingen herab. Die Sonne war schon hinter den Bergen verschwunden, breite kühle Schatten deckten das Thal; sie war nicht mehr weit von der Stelle, wo sie von Rupert sich getrennt. Jetzt ging’s nicht mehr; sie fühlte arges Seitenstechen und mußte sich auf einen Stein niedersetzen; es war ja auch noch Zeit, denn vor Dunkelwerden kam Rupert sicher nicht auf die Alm.
„Wie ung’schickt bist do, Anna,“ sann sie vor sich hin, „aus laut’r Einbildung so z’laf’n! D’ Lungasucht könnt ma sich hol’n; der Rupert wird lach’n, wenn i eam das verzähl’.“
Sie lachte selbst bei diesem Gedanken.
Da fiel ihr ein, daß sie ja nicht mehr weit vom Kobel der Arbeiter sei, da konnte sie ja rasten und hätte doch eine Ansprach’, die sie beruhigen könnte. Sie erhob sich und eilte weiter.
Plötzlich grollte es an der Bergwand zur Rechten, dann zog’s durch die Thalschlucht und grollte weiter sich langsam verlierend.
Sie blieb stehen und lauschte mit offenem Munde, das Herz schlug ihr bis an den Hals – stürzte ein Baum oder war’s ein Schuß? Aber heut is Sonntag, da wird ja net g’arbeit. Jetzt prasselte es wieder gegen die Wand – das war ein Schuß! – kein Zweifel – das Erste war auch einer gewesen. Sie hätte aufschreien mögen, so kam jetzt die Angst über sie.
„Sollte der Rupert – und warum denn nicht? Er kann ja ein Wild geschossen hab’n, dazu ist er ja da – und wo sind die Schüsse überhaupt gefallen? Vielleicht in einem andern Revier.“
Diese Gedanken zogen alle in einem Moment durch ihr Gehirn. Sie raste jetzt den Berg hinauf; die Arbeiter oben wußten vielleicht Bescheid. Sie achtete nicht das Gestrüpp, das ihr Kleid in Fetzen riß; von einer dunkeln Ahnung getrieben, eilte sie durch dick und dünn, den nächsten Weg auf den Kobel zu. Sie riß die Thür auf, der dunkle Raum schien leer, der Herd war kalt.
„Wer is?“ rief plötzlich eine verschlafene Stimme, aus dem Heulager im Hintergrund, und die Gestalt des alten Toni erhob sich.
„I bin’s, d’ Anna!“ keuchte sie förmlich hervor, „war der Rupert net da heut’ Namittag?“
„Na!“
„Hast d’ Schüss’ net g’hört vor a paar Minut’n?“
Na, i hab g’schlaf’n, werd’n halt auf an Rehbock ganga sei!“
Anna war verzweifelt ob dieser kurzen Antworten.
„Und wo is der Mathias?“ fragte sie plötzlich, den Raum vergebens nach ihm durchmusternd.
„Seit der Fruah is er furt, zu seim Bas’l hat er g’sagt! Aber was hast denn Du?“ fragte er jetzt. als er näher getreten, ihr glühendes Gesicht, ihre ganz erschöpfte Gestalt betrachtet hatte. „Wo kommst denn her in dem Zuastand?“
Anna gab ihm keine Antwort mehr, sie eilte von Neuem der Höhe zu. Dort allein konnte sie Näheres erfahren und am Ende war er schon oben.
„Wo nur der Mathias sei muaß – der B’such zu der Bas’l kommt a Bis’l zu oft,“ dachte sie, „sollt’ do der Rupert Recht hab’n? –“
Sie stolperte nur so dahin über die tiefen Löcher, die das Vieh getreten, über die Steine, die am Boden lagen.
Es dunkelte bereits. Als sie einige hundert Schritte vor der Hütte angekommen, schrie sie laut „Rupert“ – keine Antwort – in einer Minute war sie vor der Thür.
„War der Rupert da?“ schrie sie den Gaisbuben an, der ihren Ruf gehört.
„Hab’ nix g’seh’n.“
„Hast d’ Schüss’ g’hört vor einer halb’n Stund?“
„Die hab i g’hört, gegen d’ graue Wand zua, moanet i, daß g’wes’n is!“
Also auch hier war er nicht, und schon brach die Nacht herein; ein Unglück war geschehen! Blitzartig kam ihr die feste Ueberzeugung davon; der eine Schuß hatte ihm gegolten, dem Geliebten! Die Kniee wankten ihr vor Entsetzen bei diesem Gedanken. Jetzt kam ihr der heilige Sebastian in Gedanken, der Körper mit den blutenden Wunden, das bleiche Gesicht, das sie vor acht Tagen so entsetzt – wenn er auch so blutig wo läge – hilflos! Das Grauen packte sie. Sie eilte in das Stübchen. entzündete am ganzen Körper bebend, das Licht. Dann ging sie wieder hinaus und starrte in das Dunkel, horchte athemlos, ob nicht Schritte sich näherten, darauf lief sie gegen den Bergabhang hin und schrie was aus der Kehle ging: „Rupert! – Rupert!“ Aber – pert! – pert! – hallte es höhnisch von der Wand gegenüber; sonst Schweigen der Nacht, nur ein leises Lüftchen bewegte rauschend die Wipfel der Bäume.
Jetzt eilte sie hinein. warf ein Tuch um, zündete eine kleine Laterne an und eilte über die Almfläche dahin.
[127] „Ja, wohi denn, Anna?“ rief, erschreckt der Gaisbub, „in der Finstern!“
Sie gab keine Antwort; sie eilte der grauen Wand zu, da wo die Schüsse gefallen sein sollten – vielleicht konnte sie ihn finden, vielleicht lag er verwundet oder mit zerbrochenem Fuß. Das Licht hüpfte gespenstisch durch die Nacht; die Trägerin war schon längst im Dunkel verschwunden; von ferne erklang heiser ihr Ruf: „Rupert! – Rupert!“
Dem Buben war’s unheimlich, er schlug ein Kreuz und verkroch sich ins Heu. Das Licht war längst verschwunden.
Nach einer halben Stunde tauchte es wieder auf wie ein blutrother Stern – keuchender Athem tönte durch die Nacht.
Anna kehrte zurück mit aufgelösten Haaren und todtenblassem Antlitz, aus dem fieberhaft die Augen leuchteten.
In dem zerrissenen, bis oben beschmutzten Sonntagsstaat glich sie einer Irren. Sie sank erschöpft auf die Bank. Alles umsonst – sie hatte sich geirrt – er antwortete nicht auf ihre Rufe – er war wohl todt! Sie sah ihn im Geiste vor sich liegen mit zerschossener Brust, mit dem blassen schmerzvollen Gesicht; dazu allein – hilflos hier oben. Das war schon, um wahnsinnig zu werden. Bald wollte sie hinunter zu den Arbeitern und Hilfe holen, bald nach S. zum Förster; bald redete sie sich wieder ein, es sei ja doch möglich, daß er anderweitig verhindert sei zu kommen, dann verwarf sie Alles wieder und raufte sich das Haar in Verzweiflung. Es fröstelte sie, während ihr das Gesicht glühte; sie ging in die Kammer – dort konnte sie es erst recht nicht aushalten.
Mitternacht war schon vorüber! Jetzt kam er nicht mehr, wohl nie mehr! Sie wollte nur das Morgengrauen erwarten, und dann sofort hinunter nach S., um nachzufragen; bis dahin saß sie, abgestumpft von der furchtbaren Erregung, in der Ecke und starrte in das Licht. Daß ihm etwas zugestoßen, war sicher, und sie zitterte vor dem, was der Tag bringen werde.
Vom Nordpol bis zum Aequator.
Adlerjagden des Kronprinzen Rudolf von Oesterreich.
Zu Ende des Februar oder im Anfange des März legt das Adlerweibchen zwei, höchstens drei Eier in die flache Nestmulde und beginnt nunmehr eifrig zu brüten. Der Adler versorgt die solcherart beschäftigte Gattin mit Atzung, entfernt sich, beutesuchend, aber auch jetzt noch ungern weit, und sitzt, wenn er für das Weibchen und für sich selbst gesorgt, als treuer und aufmerksamer Wächter in der Nähe des Horstes auf einem bestimmten Baume, welcher ebenso als Warte wie als Ruhe- und Schlafplatz dient. Nach etwa vierwöchentlicher Brutzeit entschlüpfen die Jungen; anfänglich sind sie weißen Wollklumpen, aus deren äußerer Umhüllung ein schwarzer Schnabel, dunkle Augen und bereits recht scharfkrallige Fänge hervorragen oder hervorlugen, vergleichbar und ebenso niedliche wie in frühester Jugend schon selbstbewußte Geschöpfe. Nunmehr giebt’s Arbeit genug für Vater und Mutter. Beide wechseln mit einander ab, um auf Beute auszuziehen und die Jungen zu bewachen; aber nur die Mutter übernimmt ihre Pflege. Wohl thut auch der Vater redlich das Seinige, um sie erziehen zu helfen; aber einzig und allein die Mutter ist im Stande, ihnen jene Dienste zu leisten, welche ich Ammendienste nennen möchte. Würde sie ihnen in den ersten Kindheitstagen entrissen: sie müßten ebenso verkümmern wie junge Säugethiere, denen man ihre Erzeugerin geraubt hat. Mit der eigenen Brust deckt die Adlermutter sie gegen Frost und Regen; aus dem eigenen Kropfe spendet sie ihnen erwärmte, erweichte, vorverdauete Atzung. Solche Ammenpflichten zu üben, versteht der Adlervater nicht; wohl aber übernimmt er, wenn die jungen Adler größer geworden, etwa halb erwachsen und in dieser Zeit ihrer Mutter beraubt worden sind, unweigerlich die alleinige Sorge um ihre Erziehung und atzt sie, vielleicht unter aufopferndster Mühe, vollends auf. Sie, die Jungen, wachsen rasch heran. In der dritten Woche ihres Lebens deckt sich ihre Oberseite mit Federn; gegen Ende des Mai sind sie ausgewachsen und flügge. Nunmehr verlassen sie ihren Horst, um unter Führung ihrer Eltern für ihr Gewerbe sich vorzubereiten.
Dies ist, mit flüchtigen Strichen gezeichnet, das Lebensbild des Adlers, welchem in den nächsten Tagen unsere Jagden galten. Nicht weniger als neunzehn besetzte Horste wurden von uns besucht und mit wechselndem Glücke bejagt. Manchmal zu Fuße, manchmal in kleinem Boote, manchmal springend und watend, manchmal kriechend und schleichend, versuchten wir, ungesehen und ungehört den Horstbäumen uns zu nähern; erwartungsvoll hockten wir stundenlang in rasch errichteten Laubhütten unter ihnen und schauten gespannt nach den Adlern aus, welche, durch uns oder Andere verscheucht, in hoher Luft ihre Kreise zogen und gar nicht wieder zum Horste zurückkehren wollten, aber doch zurückkehren und günstigenfalls uns zum Opfer fallen mußten. Eine Beobachtung reihte sich an die andere, und diese Adlerjagden gewannen infolgedessen unnennbaren Reiz für uns Alle.
Abgesehen von Adlern und anderen Raubvögeln, welche nebenbei erbeutet wurden, waren oder erschienen die so viel versprechenden Waldungen arm an gefiederten Bewohnern. Allerdings war es noch früh im Jahre und der Zug der Wandervögel noch in vollem Gange. Freilich vermochten wir kaum mehr als den Saum der Waldungen zu durchforschen: allein auch die Anzahl der Vögel, welche zurückgekommen und in jenen Räumen angesiedelt sein mußten, entsprach nicht unseren Erwartungen. Und dennoch beklagten wir Eins noch mehr als diese Armuth in unseren Augen: den Mangel an guten Sängern. Wohl jauchzte die Singdrossel ihre reichen Lieder in den frühlingsduftigen Wald hinaus; wohl schlug hier und da auch eine Nachtigall; wohl schmetterte der Fink uns überall seinen Lenzgruß entgegen; wohl probte auch schon eine Grasmücke ihre Kehle: aber weder der eine noch die anderen waren im Stande, unseren geschärften Ohren zu genügen. Wir vermochten in allen, welche sangen oder schlugen, immer nur Stümper, nicht aber Meister zu erkennen. Und so wollte es uns zuletzt bald scheinen, als gehöre der genannte Gesang gar nicht in diese ernsten Wälder und seien Adler- und Falkenschrei, Uhu- und Waldkauzgeheul, Rohrhuhn- und Seeschwalbengeknarre, Reihergekreische und Spechtgelächter, Kukuksruf und Hohltaubenruksen die zu ihnen passende Melodie und daneben höchstens noch der im Röhricht und Schilfe hausende Rohrsänger, welcher den größten Theil seines verworrenen Liedes den Fröschen abgelauscht, der einzig berechtigte Singvogel.
Der vierte Jagdtag galt dem einige Meilen vom Donauufer entfernten Keskeeder Walde. Eine weite, erst in ziemlicher Ferne von Höhenzügen begrenzte Ebene nahm uns auf, als wir die Auwälder verlassen hatten; durch trefflich bebauete Felder der großen, musterhaft bewirthschafteten Herrschaft Bellye führte uns der Weg, den wir mit raschen Pferden wie im Fluge zurücklegten. Hier und da sumpfige Wiesen mit Teichen und Wassergräben, ein hainartiges Wäldchen, ein großes, von knorrigen Eichen umstandenes Wirthschaftsgebäude, ein Weiler, ein Dorf, sonst nur baumlose Felder: dies war das Gepräge der Gegend, welche wir durcheilten. Von den Feldern stiegen singend zahllose Lerchen auf; auf den Straßen trippelten zierliche Bachstelzen umher; auf den Hecken am Wege saßen Würger und Grauammer; in den Kronen der Eichen lärmten und sangen dort nistende Dohlen und Staare; über den Weihern zogen fischende Flußadler ihre Kreise und tummelten sich niedliche Seeschwalben im Zickzackfluge; im Sumpfe trieb sich der Kiebitz umher; von anderen Vögeln bemerkten wir wenig. Auch der Keskeeder Wald, welchen wir nach zweistündiger Fahrt erreichten, ein wohlgepflegter Forst, war trotz seines gemischten Bestandes arm an Arten; in diesem Walde aber horsteten Schrei- und Fischadler, Schlangen- und Mäusebussarde, Falken und Eulen und vor allem Waldstörche in überraschender Anzahl, und unsere Jagd fiel daher über alle Erwartung glänzend aus. Und doch kannten die Forstleute, welche erst vor wenig Tagen von dem in Aussicht stehenden Besuche unseres hohen Jagdherrn Kunde erhalten, den Wald [128] nach Horsten durchstreift und sie auf einer rasch angefertigten Karte verzeichnet hatten, keineswegs alle in diesem einen Walde horstenden Raubvögel und Schwarzstörche. „Es sind Zustände wie im Paradiese,“ bemerkt Kronprinz Rudolf und bezeichnet mit diesen wenigen Worten das Verhältniß, welches zwischen den Menschen und den Thieren Ungarns besteht, klar und treffend. Wie der Morgenländer, kennt auch der Ungar glücklicher Weise jene Mordsucht nicht, welche die außerordentliche Scheu der Thiere und ebenso die so schmerzlich fühlbare Thierarmuth Westeuropas bewirkte: er gönnt selbst dem Raubvogel, welcher auf seinem Besitzthum sich ansiedelte, gern eine Heimstätte und greift nicht fortwährend roh und grausam ein in die thierische Welt, welche um ihn her lebt und webt. Nicht einmal der schnöde Eigennutz, welcher gegenwärtig alljährlich Räuberfahrten habsüchtiger Federhändler nach den Sümpfen der unteren Donau veranlaßt und um der Schmuckfedern willen Hunderttausende von frischfröhlichen, theilnahmswerthen Vogelleben opfert, hat den Magyaren bewegen können, von seiner alten guten Sitte abzuweichen. Mag auch Gleichgültigkeit gegen die ihn umgebende Thierwelt ihren Antheil haben an der Gastlichkeit, welche er übt: die Gastlichkeit ist thatsächlich noch vorhanden und der Verfolgungssucht noch nicht gewichen. Vertrauensvoll siedeln sich die Thiere, zumal die Vögel, in unmittelbarer Nähe des Menschen an, unbekümmert um dessen Treiben gestalten sie sich das ihrige. Der Adler horstet am Waldwege, der Kolkrabe im Feldhölzchen; der Waldstorch zeigt sich kaum scheuer als der geheiligte Hausstorch; das Wild steht nicht vom Lager auf, wenn der Wagen auf Schußweite an ihm vorüber fährt. Es sind wirklich Zustände wie im Paradiese.
Paradiesische Zustände sollten wir übrigens auch außerhalb des Keskeeder Waldes kennen lernen. Nachdem wir letzteren nach verschiedenen Seiten hin durchstreift, über zwanzig Schlangen- und Fischadler- sowie Schwarzstorchhorste besucht und bejagt, an einem uns gebotenen trefflichen Frühstück und noch mehr an den köstlichen Weinen der Umgegend uns gestärkt und erquickt hatten, traten wir, zur Eile gemahnt durch drohendes Gewittergewölk, unsere Rückreise nach dem Schiffe an, auch jetzt noch jagend und sammelnd, so viel Zeit und Gelegenheit gestatteten. Der Weg, auf welchem wir dahinfuhren, war ein anderer, als der, welcher uns zum Walde geführt hatte, eine recht gute Hochstraße nämlich, welche verschiedene Dörfer verband. Mehrere der letzteren hatten wir hinter uns, als wir von Neuem zwischen Häuser einbogen. An den Gebäuden war nichts Absonderliches zu sehen, an den Bewohnern dagegen mehr, als ich mir jemals hätte träumen lassen. Die Bevölkerung des Dorfes Dalyok besteht fast ausschließlich aus Schokazen oder katholischen Serben, welche zur Zeit der Türkenherrschaft von der Balkan-Halbinsel hierher gewandert, beziehentlich von den Türken hierher geschleppt worden sein sollen. Es sind schöne, schlanke Menschen, diese Schokazen, die Männer groß und kräftig, die Frauen den Männern mindestens ebenbürtig, äußerst wohl gebaut und, wie es scheint, auch ziemlich hübsch. Ueber ersteres konnten wir ein Urtheil fällen; hinsichtlich des letzteren mußte die Phantasie einigermaßen nachhelfen; denn die Schokazinnen tragen eine Gewandung, wie sie gegenwärtig innerhalb Europas Grenzen schwerlich sonst noch vorkommen dürfte: eine Tracht, welche unser hoher Jagdherr, findig und bezeichnend wie immer, mythologisch nannte. Wenn ich sage, daß Kopf und Gesicht großentheils in eigenartig, jedoch nicht unmalerisch gewundene und geknotete Tücher eingehüllt sind und der Rock durch zwei buntfarbige, schürzenartige, nicht mit einander verbundene Tuchstücke vertreten wird, darf ich im Uebrigen reger Einbildungskraft vollste Freiheit gestatten, ohne befürchten zu müssen, daß sie so leicht dennoch vorhandene Grenzen überschreiten werde. Ich meinestheils wurde lebhaft an ein Lager arabischer Wanderhirten erinnert, welches ich einstmals in den Urwäldern Innerafrikas betreten hatte.
Das Goaßlfahren.
Das Tannenreisigbüschlein an einer breiten Thür, frischgrün in allen seinen Nadeln und oben mit einem dichten, fast schimmernden Schneewulste belegt, ließ keinen Zweifel, was es da am einsamen Hause nächst der Landstraße bedeute. Es war eine frischlebendige Mahnung, einzutreten, wo man stetig munter und wo Stimmen wie im sommergrünen Walde laut, wenn auch Alles ringsum still, ernst, sogar erstorben schien, wie jetzt unter der dichten weißen Schlaf- oder Leichendecke, welche Feld und Flur, Thaltiefen und Berghöhen bedeckte.
Die Scheiben weinten Jedem sichtlich Freudenthränen des Willkomms von innen entgegen und ließen in ihrem glatten Gesichte keine Eisnadelrunzeln aufkommen. Jetzt aber klirrten sie völlig, als ein Mann die Thür aufriß und rasch wieder zuschlug, der in einen grauen Mantel eingehüllt und mit einer Pudelmütze (runder Pelzmütze) bedeckt war, die, trotzdem draußen schon der Schnee abgeschüttelt worden, doch hier innen noch bei dem ersten Strecken und Recken einen weißen Kranz rings um ihn zeichnete, als hätte man ihm Lilien und allerlei weiße Blüthen auf den Weg gestreut.
Sie vergingen rasch und wurden mit einer Schleunigkeit dunkler, welche der Hast der Frau Wirthin gleichkam, die, nachdem sich der eingetretene Mann ein wenig entpuppt hatte, vom Schenktische her ausrief: „Boldl (Leopold)! Mein Gott, der Boldl! Wie kommst denn Du daher?“
„Urlaub hab’ ich bekommen! Und einberufen werd’ ich weiter wohl schwerlich mehr. Ich werd’ in die Reserve versetzt oder, wenn’s gut geht, in die Landwehr! Fasching ist ja auch im Land, und im Winter, in der lustigen Zeit, bin ich schon lang’ nit daheim gewesen … jetzt bin ich’s, juhe!“
„Und die Freud’, die Deine Leut’ haben werden! Jetzt gehst gerad’ heim ins Dorf …“
„Freilich, freilich! Grüß’ Dich Gott, Kapral (Korporal) Boldl!“ rief der eintretende Wirth, ihm die Hand entgegenstreckend. „Sein (sind) wir ja doch noch beim letzten Manöver zusammenkommen! – Nimmst noch einen Schluck zum Wärmen auf den Weg heim. Und Du kommst gerad’ recht; nächsten Sonntag kann’s lustig werden, da haben wir wahrscheinlich das Goaßlfahren im Ort!“
„Goaßlfahren! da wird wohl mein Alter dabei sein, ich wett’!“
„Der laßt’s sich nit leicht nehmen. Hat immer mit’than, so alt er is! Aber riegelsam und lebfrisch!“
„Das is gerad’ recht. Und thät er’s nit, so thät’s ja gerad’ ich! Das brave Rapperl is noch beim Haus und mein Goaßlschlitten, den ich selm (selbst) noch auf’putzt hab’, find’t sich wohl noch daheim, und mitthu ich … das ist g’wiß!“
„Und die Freud’ von der Heidl (Adelheid), wenn’s Dich wieder sieht!“ rief die Wirthin aus.
„Wer weiß!“ antwortete der Andere.
„Na, das ist doch g’wiß!“ betheuerte die Wirthin.
„Und sie ist nit mit dem Waldhaus-Franzl so viel wie versprochen (verlobt)?“
„Erfunden und erlogen ist’s! So schlechte Leut’ giebt’s! Daß solche Reden einem Menschen nit im Hals stecken bleiben wie ein Knochen! Und daß sie nit daran würgen müssen zum Ersticken! Die Heidl! so was! Hat sie ja gerad’ noch immer ihre Brüder hingehalten wegen dem Franzl und ihnen gesagt, sie möcht’ nit, daß sie jetzt schon ans Herauszahlen gehn müßten. Das Heirathen hat noch Zeit!“
„Hat sie gesagt?“
„Ja, und vertraut hat sie mir’s doch als mein’ Basl, an wen sie denkt!“ …
„An wen?“
„Na, an Dich! Du Daundalaun, Du Didldap, daß man Dir so etwas erst sagen muß!“
„Hat sie g’sagt!“ rief der entzückte junge Mann aus.
„Und jetzt rennst vielleicht gar gleich hin … und verrath’st Alles!“ sagte die Wirthin.
„Nein! Ich bitt’ Euch, laßt ihr im Gegentheil gar kein’ Kundschaft werden von mir und sagt nichts. Sie kommen wohl jetzt nit eher vom Wald herfür, in diesem tiefen Schnee, als höchstens Sonntag zur Pfarrkirch’!“
„Ganz richtig. Wenn s’ überhaupt heraus können. Aber das will ich machen. Ich laß mit ein’ Schlitten wegen Holz hineinfahren, geh’ es wie es geh’, und dann müssen sie kommen!“
„Dafür ist nächsten Sonntag Goaßlrennen her zu Dir, Wirth, ganz gewiß. Und lustig soll’s sein, wie in der Ewigkeit, wenn der Petrus droben Schnee machet! Verlaß’ Dich auf mich! Aber schweigen!“ …
„Schweigen,“ sagte der Wirth, „drauf laß’t Dir wieder einschenken und dann stapfst wärmer heim.“
Das geschah. Und die herzlichen „behüt Gott!“ tönten noch lange nach, und über den Schnee ging der Boldl auf der Landstraße dahin, als wäre er sein Lebtag gewohnt nur auf diesem eiligst zu wandeln.
Ja daheim, da gab’s zur Freud’ und Liebe noch einen prächtigen Most und mitten in der Woche sogar Braten mit Schmalzkrapfen.
Und Sonntag war man von weit und breit da. „Goaßlfahren“ galt die Losung. „Maschkerade“ auch noch, alles von Boldl betrieben, auch ihm zu Ehren, und wer wetten will ums erste Anlangen am Ziel beim Wirth, legt zwei Gulden ein. Die Hälfte fürs Allgemeine, die andere für den „Weitmaier!“ (weitest Vorderen).
Kaum hatte am Sonntag Nachmittag das letzte „Segenläuten“ vom Thurm ausgeklungen, standen sie da auf dem Kirchenplatze, alle Jungen und Alten, die einen Schlitten aufzubringen hatten. Boldl wurde rings begrüßt. Und ein Schellengeklingel war’s von den mit Bändern,
[129][130] Federbüschen und rothen Gurtengehängen voll klirrender Messingkugeln geschmückten Pferden, als sollt’ kein Dagl (Dohle) und kein Rab’ drei Stunden im Umkreise fortan bleiben. Dazu knallten auch die Geißeln, die langen Peitschen mit ganz kurzen Stielhandhaben, daß es gleich Böllerschüssen zu hören war. Dafür haben die Bursche eine ganz merkwürdige eingeübte Geschicklichkeit, und es ist ihr Stolz, wenn sie das so rasch und kräftig können, daß die Berge nicht leicht damit fertig werden, das Echo lange und oftmals nachzudonnern.
Man muß es auch sehen, wie so ein lebfrischer Bursche etwa fest mit den Füßen beiderseits auf den Kufen aufgestemmt, stramm über dem kleinen Reit- oder Sitzbrettlein steht, dann wieder sitzt oder reitet und dahinsaust mit seinem Goaßlschlittlein. Es ist ein kleines Ding aus dünnem, aber festem Gestänge und sieht mit seinen ausgestemmten vier Füßen, die im Schnee zu stehen scheinen, mit seinem kurzen Rücken, der nicht größer als ein knapper Sattel, einer „bockenden“ Gais ähnlich, wenn man sich den aufgebogenen Hals vorne noch hinzusinnt. Und in der Hand des Goaßlfahrers die Zügel, in der andern Hand die sausende knallende Geißel, ist jeder ein Stolz für sich selbst und alle die Seinen.
Auf dem Dorfe braucht’s nicht viel Denkens wegen der „Maschkerade“. Eine lange Papiernase, ein Hut wie eine kleine Strohgarbe, eine Weiberhaube zu einem bebarteten Gesichte, eine Perücke aus Werg, mit Hörnlein, ein riesiger Militärhut aus alter Zeit etc. sind bald beschafft, und der sehenswürdige Spaß ist fertig. Aber Hausschlitten, worauf mehrere sitzen, und wesentlich die Goaßl mit ihren gezierten Pferden sind die Hauptstücke, und heute ging’s um die Wette dahin.
Tief eingeschneit lag der Wald. Auf jenen rothbraunen zähen Blättern, die winterlich vom Ast nicht lassen, schimmerte der Schnee: breit und schwer lag er auf den alten nebelwärts emporreichenden Tannen, die ihn auf ihren gestreckten Armen hinhielten. Die Lärchenbäume mit ihrem hellen grünen Gehänge machten den Anblick noch etwas heiterer, nur schien in ihren Astwinkeln die weiße Last sie niederbeugen und brechen zu wollen.
Aber das scherte die lustigen Fahrenden nicht, denen der Wind nur zuweilen, „übers Eck“ kommend, einen silberschimmernden Staub in die Luft warf. Sie jauchzten und knallten und sangen und jubilirten bis dorthin, wo das Wettfahren begann.
Der Wirth, welcher schlauerweise Heidl am ganzen Sonntage zurückhielt, hatte sich nicht spotten lassen. Nicht den üblichen Citherspieler, sondern nicht weniger als drei Musikanten, sogar einen mit Trompete, hatte er bestellt. Und sie bewillkommten die Gäste vom fernen Dorf wie die Herrschaften nach Gebühr, und daß an der Herrlichkeit kein „Mankerl“ (Geringstes) fehle!
Und Heidl stand auch in der Thür, sogar mit schäumenden Krügen für die zuerst Anlangenden in der Hand.
Drinnen im Wirthshause waren bunte Papierketten gespannt und feurige Rosen aus zinnoberroth gefärbten Hühnerfedern leuchteten dazwischen. Als Richter am Ziele galten Alle, die da mit offenen Augen waren.
Daß der Wirth mit allem seinem Hausgesinde und Zugehör, vornehmlich mit der apfelfrischen Heidl, auf der Höhe seiner Hausschwelle und nächst den Musikanten in erregter Weise des Zuges und unvordenklichen Siegers wartete, versteht sich von selbst.
Und der Erste, der große Sieger, um den die Schneeflocken wie ein Gestöber von unten auf flogen, der um eine gute Länge voran sauste, war der Boldl mit seinem schnaubenden Rapperl und seinem eigenhändig glänzend herauslackirten Goaßl!
Und als über allen Schellenlärm hinaus die Musik Tusch blies, da schrie die rothbackige, mudlsaubere (modelhübsche) Heidl mit einem merkwürdigen Schrei aus der hochklopfenden Brust auf: „Boldl!“
„Ja, ich bin’s!“
„Ich bin völli derkema (verkommen) … so ein Schrecken!“
Er aber. schloß ihr vor Allen den Mund mit einem herzhaften Schmatz und umarmte sie, und das war eine Freude … die noch am selben Abend auf dem Tanzboden zu einer Erklärung führte: Braut und Bräutigam hieß sie!
Gejauchzt und getanzt wurde nach Gebührlichkeit, manches Glas geleert und aller Gewinn zum Besten gegeben. Der Wirth fand seine Rechnung, auch Gemüthsbefriedigung. Die Musikanten besorgten dann um die späte Mitternachtsstunde noch tapfer im eisigen Freien das „Hinausblasen“. Es galt auch zuvor dem Pfarrer, welcher zu Gast kam und der zugleich gebeten wurde, für das erste „Verkünden“ von der Kanzel noch in diesem Fasching Sorge zu tragen.
Mancher Goaßlfahrer fand sich schwerer, schwerer heim als Er.
Das erste Jahr im neuen Haushalt.
Es wird, liebste Marie, es wird! Aber Du hast doch keine Idee, was so ein Haushalt für Arbeit und Ueberlegen kostet. Ich komme mir wahrhaftig oft genug vor wie David Copperfield, als er im „Walde der Schwierigkeiten“ Bäume fällte. und es geht mir wie ihm, ich haue entschlossen drauf los, indem ich mir bei jedem harten Streich sage: für Hugo! wie er: für Dora! Ich habe mein Programm fix und fertig im Kopfe, wie es zuletzt werden soll und muß: ein gemüthlicher, schöner Haushalt, wo Alles klappt, ohne daß der Mann davon geplagt ist, und wo doch zu rechter Zeit gelesen, gemalt und Klavier gespielt wird. Zu Etwas muß uns die Erziehung doch gut sein, und das haben wir, die junge Generation, vor den braven alten Koch- und Flickfrauchen voraus, deren geistige Erholung im Kaffeekränzchen mit obligatem Mägdegespräch besteht!
Es giebt hier in dem kleinen Städtchen genug von dieser Sorte, wahre Prachtexemplare sogar, und an ihnen hat sich Hugo im vorigen Jahre einen solchen Schrecken geholt, daß er schnell ausriß, um sich in S… eine „nette“ Frau zu suchen. Wenn ich denke, er wäre auf jenem ersten Museumsball einer Anderen als mir begegnet und hätte sie geheirathet, es wäre doch zu schrecklich!
Aber ich komme von meinem eigentlichen Gegenstand ab; ich wollte Dir erzählen, wie der erste Baum in meinem Walde fiel, das heißt wie es mir bei meiner ersten großen Wäsche gegangen ist.
Onkel Franz pflegt zu sagen, die vollkommene Hausfrau sei nur diejenige, welche am Tag der großen Wäsche noch einen thé dansant geben könne. Und da er diese Frau in Deutschland nicht habe finden können, sein Patriotismus ihm aber verboten habe, eine Ausländerin zu heirathen, so sei er zu seinem großen Bedauern ledig geblieben. „Wenn Du zum ersten Mal große Wäsche hast, Emmy, kannst Du mir schreiben; dann komme ich als Logirbesuch dazu, um den armen Hugo zu trösten und aufzurichten.“
Ich habe mich wohl gehütet!
Es fiel mir auch gar nicht ein, mich um diese bevorstehenden Wäschetage zu grämen. Wie sie aussehen, wußte ich freilich nicht, da wir in S… ja niemals Wäsche zu Hause machten. Mama jammerte zwar oft genug über die miserablen „unpoetischen“ Zinshäuser der Großstadt, wo in dem engen Hof kein Platz sei für eine Wäscheküche und oben auf dem Boden kein Trockenspeicher ist, so wie über den Ruin ihrer schönen Leinwand durch die Wäscheanstalt. Sie war es in ihrer Jugend anders gewohnt und erzählte stets mit schmerzlichem Entzücken von dem großen Trockenplatz im elterlichen Garten, von der Rasenbleiche und der blüthenweißen, duftenden Leinwand im Schrank. Eins aber hat sie Papa in dem großstädtischen Zinshaus doch abgerungen: eine Wäschekammer unterm Dach, wo sie allwöchentlich beinahe den ganzen Montag Vormittag zubrachte, räumend, ordnend und von wo sie, wie wir Mädels fanden, immer in aufgeregter und kriegerischer Stimmung wieder herabkam, mit geschärften Blicken für jede kleine Schlamperei in Schrank und Kommode.
Wir konnten die Wäschekammer nicht ausstehen und fanden es höchst überflüssig, wie dort die schmutzigen Strümpfe, Betttücher, Nachtjacken und der sonstige menschliche Ueberzug schön methodisch auf Latten und Stricken geordnet hingen. Wenn Mama Alles auf einen Haufen geworfen hätte und alle sechs Wochen einen Montag zum Aussuchen und Aufschreiben verwandt, so hätte sie viel Zeit erspart, raisonnirten wir im Stillen. Aber es war nun einmal ihre Freude, es anders zu machen.
Meine Freude würde es nicht sein, das stand fest, und so warf ich alle diese Wochen her jeden Montag mit einer gewissen Satisfaktion den ganzen Inhalt des Wäschekorbes in die kleine Kammer auf dem Gange, die ich fest verschloß. Auf die Art konnte auch nichts weg kommen und das Hantiren in der schmutzigen Wäsche ersparte ich mir. Ich hoffte eigentlich, sie ausgeben zu können; allein das ist hier nicht möglich, davon mußte ich mich bald überzeugen. Es giebt keine ordentliche Anstalt dafür, außerdem wäre es höchst „unsolid“, sie zu benutzen. Die tugendhafte Hausfrau wäscht selbst.
Nun, neulich, als ich gerade Morgens die As-dur-Etüde von Chopin übte und eben daran war, die schwierige Oberstimme so recht in den kleinen Finger zu kriegen, streckt meine Rike ihren viereckigen Kopf zur Thür herein und schreit: „Ja, Frau Assessor, wenn Sie jetzt nicht die Großwäsch’ zählen, hernach kann ich heut’ nach dem Essen nicht einweichen. Seif’ brauchen wir auch noch!“
Ich stand resignirt auf, holte das reizende Wäschebuch mit den Amoretten auf dem Deckel, das Du, Liebe, mir gemalt hast, und ging in die Kammer hinüber, ans Geschäft. Aber, o weh! Schon nach den ersten sechs Stücken fand ich etwas, woran mein Herz nicht gedacht – Löcher, kleine und große gebissene Löcher in den Tischtüchern und Servietten, immer dort, wo Fettflecken gewesen waren! Ich griff mit zitternden Händen weiter, es kamen immer noch mehr: die Mäuse hatten sich offenbar an meinem schönen Damast eine rechte Güte gethan. Ich war so alterirt, daß ich mich setzen mußte – nun war mir mit einem Male klar, warum Mama ihre Sachen hängte! Ich fühlte mich ganz zerknirscht, besonders auch im Gedanken an Rike und die Waschfrau, die das sicher im Haus herumtratschen würden. – Endlich schloß ich die ärgsten Stücke in den Schrank ein – fein Stopfen habe ich ja in der Arbeitsstunde gelernt, aber es wird eine lange Mühe werden! Und das Uebrige übergab ich dann ohne Erklärung der Rike. Bei der Gelegenheit erfuhr ich aus einer mürrischen Bemerkung von ihr, daß „richtige Hausfrauen“ ihre Seife vier Wochen voraus kaufen, damit sie austrocknen kann. Merk’ Dir’s!
Am andern Morgen tobte Rike mit einer solchen Vehemenz in den Zimmern umher, daß ich Angst für meine Möbel bekam; um neun Uhr aber war sie fertig, und ich erkannte aus ihren Maßnahmen den festen Entschluß, diesen Tag in der Wäscheküche neben der Waschfrau zuzubringen. „Es ist Alles schon hergerichtet zum Kochen,“ schrie sie mich eilig an, packte einen Laib Brot, eine Flasche Wein, Messer und Gläser in die Schürze und schlug die Gangthür hinter sich zu. Nicht einmal [131] Feuer hatte sie gemacht. Es scheint, daß die Neustädter Hausfrauen dies am Wäschetag selbst besorgen.
An jenem Tag hatte ich übrigens den Küchenzettel mit vieler Schlauheit komponirt, auch ehe ich wußte, daß es mir obliegen würde, ihn „zur Erscheinung zu bringen“. Hugo sollte nichts vom Wäschetag merken, es gab also: eine Reissuppe, die von selber kocht, Ochsenfleisch, dessen Zubereitung ich mir allenfalls zutraute, mit einer Senfsauce, die ich auch für Papa öfters gemacht hatte, und dann – es leben die Konserven! – grüne Erbsen und Zunge. Ein bischen Dessert stand noch im Büffett.
Ich hatte also meine große Küchenschürze angezogen, mit einigen Aesten aus dem Walde der Schwierigkeiten Feuer gemacht, Wasser für das Fleisch und Reis zugesetzt nach Anweisung meines Kochbuches, die Küche aufgeräumt und bei dieser Gelegenbeit allerhand Hamsterplätzchen entdeckt, wo Rike verschimmeltes Fleisch, schwarz gewordenes Rothkraut, den Rückstand von Kartoffelpüree und einige versteinerte Dampfnudeln in schönem Durcheinander verwahrte, weil es offenbar „schade zum Wegwerfen“ war. Nebenbei fand ich auch eines meiner schönen Kristallgläser, das mit abgeschlagenem Fuß im Kehrichtkasten lag.
Sobald ich mich einmal fest genug fühle, werde ich diesem „Juwel“ gegenüber eine andere Haltung annehmen. Rike’s berühmte Ordnung und Reinlichkeit ist gar nicht weit her, man könnte Alles anders und besser thun. Aber vor der Hand darf ich Nichts sagen: sie kann kochen und ich nicht!
Es ging mir übrigens an jenem Morgen auffallend gut von der Hand; das Ochsenfleisch machte seine vorschriftsmäßigen Stadien durch; ich klopfte, verschäumte, that das Grüne hinein, vergaß nicht einmal zu salzen und zog mich nach einer Stunde wieder ein Bischen ins Zimmer zurück, weil es ja genügte, das Feuer zu unterhalten. Drinnen räumte ich auf, deckte vorsorglich den Tisch, damit Hugo gewiß keinen Moment warten müsse, und freute mich schon sehr auf seine Lobsprüche, wenn Alles recht gut und schmackhaft wäre. „Der Weg zum Mannesherzen geht immer durch den Magen,“ pflegt Tante Gustel bei solchen Gelegenheiten zu citiren. Der Briefträger kam auch, brachte allerhand von zu Hause, auch eine neue Modezeitung, in der ich mir rasch die reizenden Winterkostüme ansehen mußte, mit alledem versäumte ich mich etwas, bis auf einmal ein brenzlicher Geruch von der Küche her in meine Nase drang und ich, aufsehend, den Uhrzeiger schon auf Zwölf fand. Heiliger Gott! Nun heißt es, sich eilen!
Ich rannte hinaus – richtig; doch was dort in den Töpfen geschehen war – das, meine Liebe, bleibt – Küchengeheimniß.
Und während ich die verheerende Wirkung der unbezähmten, unbewachten Feuersmacht erst überschaue, höre ich Hugo die Gangthür öffnen. Daß mir sein Erscheinen jemals einen solchen Schreck einflößen könne, hätte ich noch Tags zuvor für eine niederträchtige Lüge erklärt. Aber nun! Mein ganzes, verzweifeltes Bestreben war, ihn ferne zu halten und zuerst die kurzen Minuten zu benutzen, bis er seinen Ueberrock abgelegt und einen Blick auf die angekommenen Briefe gethan hatte. Aber eitel war dieses Hoffen, da steckte er schon den Kopf berein:
„Nun, kleiner Schatz, bist Du bald fertig? Ich habe einen tüchtigen Hunger mitgebracht.“
Wir sind doch schauderhafte Heuchlerinnen, Marie. Natürlich machte ich ein sehr lustiges Gesicht, lief hin, versperrte ihm die Aussicht auf den Herd und sagte, indem ich meinen Kuß in Empfang nahm: „Gewiß, noch eine kurze Geduld, und wir können essen.“ Und nun versuchte ich mit wahrer Todesverachtung zu retten, was noch zu retten war. Eifrig setzte ich meine Bemühungen fort, da schellte es an der Gangthür und ich mußte öffnen. „Ach, um Alles in der Welt, nur jetzt keinen Besuch!“ schrie es in mir, als ich hinlief. Und richtig! ein Sammetpaletot, ein schwarzseidenes Kleid und eine imposante, etwas gelbliche Miene, die von einer Kopflänge höher, als meine kleine Person, herunter fragte, ob die Frau Assessor wohl noch für einen Augenblick zu sprechen sei.
Es war Fräulein Frida Berghaus, die Nichte des Oberamtmanns, die früher in der Residenz lebte, dann hierher kam, um des Onkels Haushalt zu führen und, wie ich im Stillen glaube, nicht abgeneigt gewesen wäre, dieses Geschäft in einem andern Hause fortzusetzen. Hugo sagt zwar, das sei eine grundlose Einbildung; allein ich sah ihre Blicke, als sie uns zum ersten Besuch empfing. So ’was hat man ja doch gleich weg.
Nun, die stand also jetzt vor mir und, solltest Du’s glauben, mitten in meiner Pein und Qual ging mir plötzlich eine Erleuchtung auf, daß Fräulein Berghaus mein rettender Engel werden könne. Mit großer Freundlichkeit sagte ich ihr, die Küchenpflichten hielten mich zwar noch gefesselt, allein mein Mann sei im Wohnzimmer, sie möge nur eintreten, ich würde gleich nachkommen. Sie ließ sich nicht lange bitten – und nun war Zeit gewonnen!
Die kostbaren Minuten wußte ich wohl zu benutzen und fand, daß uns Frauen das Küchengenie doch angeboren ist. Ich konnte noch Vieles retten, und Du kannst Dir meinen Stolz denken, als ich das Fenster aufmachte und in gemessenem Herrschertone hinunterrief in die Wäscheküche: „Rike, kommen Sie jetzt herauf, das Essen ist fertig!“ In der Küche sah es freilich aus wie auf einem Schlachtfeld, das gebrauchte Geschirr, die Küchengeräthe lagen vom Herd bis zu der Thür überall umher, aber das kümmerte mich nicht mehr. Schnell, die Hände gewaschen, die Schürze ausgezogen – einen Augenblick später stand ich im Wohnzimmer mit einer leichten Entschuldigung gegen Fräulein Frida: der „Wäschetag ist ja hier eine geheiligte Institution“. Sie erwiederte mit übertriebener Freundlichkeit. „Ach ja, beste Frau Assessor, entschuldigen Sie selbst nur, daß ich so ungelegen komme, ich wußte, daß Sie große Wäsche haben,“ (So? spricht davon die ganze Stadt?) „und bin nur gekommen (um zu sehen, wie sich die dumme junge Frau dazu anstellt?), um zu fragen, ob Sie Beide uns für Donnerstag Abend das Vergnügen machen wollen“ etc.
Wir wollten ihr das Vergnügen machen, sie schoß noch einige kontrollirende Blicke in den Zimmerecken herum und besonders über den Speisetisch hin, den ich so nett und appetitlich, als möglich, gedeckt hatte. Hugo sagte ahnungslos und sehr vergnügt: „Heute hat meine Frau gekocht, das wird viel besser schmecken als gewöhnlich!“ Und dabei sah er so hübsch und glücklich aus, seine braunen Augen glänzten vor Befriedigung; er ist doch das Bild eines schönen, prächtigen Mannes. Wenn Fräulein Berghaus sich bei diesem Besuch etwas über unser Verhältniß orientiren wollte, so war ihr dies vollkommen gelungen. Und doch, das wirst Du mir nachfühlen, faßte mich eine Empfindung von Bedauern als ich ihr krampfhaftes Abschiedslächeln sah. Womit habe ich es verdient, so viel glücklicher zu sein, als sie?
Dann setzten wir uns zu Tisch und meine, mit so viel Herzklopfen dem Verderben entrissenen Gerichte erschienen. Hugo fand eines ums Andere gut, herrlich, vortrefflich und war in einem Erstaunen über seine geschickte, kleine Frau, der er Alles dies nicht zugetraut hatte. Ich ließ mir seine Lobsprüche von ganzem Herzen schmecken; im Uebrigen war mir der Appetit so ziemlich vergangen.
Für heute genug und übergenug.Deine Emmy.
Blätter und Blüthen.
Das fünfundzwanzigjährige Jubiläum von Klara Ziegler. Am 22. Februar sind es fünfundzwanzig Jahre, seit Klara Ziegler in Bamberg zum ersten Male als Adrienne Lecouvreur die Bühne betrat. Der hervorragenden Darstellerin wird das ihr gebührende Recht zu Theil, wenn ihr Jubiläum vom deutschen Theater festlich begangen wird, für die Dichtung der Neuzeit hat sie das nicht gering zu schätzende Verdienst, das Stiefkind der Mode, die Tragödie, zu voller Geltung gebracht zu haben. Wo sie auf den Brettern erschien, da zogen die Heroinen im großen Stil mit ein, und manchem Musentempel, in welchem der Alltagskultus der leichtgeschürzten Lustspielmuse oder des zügellosen Schwanks vorzugsweise herrschte, hat sie mit ihrem Gastspiel eine höhere Weihe ertheilt. Klara Ziegler war die geborene Tragödin, man hat sie oft mit Charlotte Wolter, der Zierde des Wiener Burgtheaters, verglichen. Was dieser an Majestät und Macht der äußern Erscheinung fehlt, ersetzt sie durch die hinreißende Leidenschaftlichkeit, die elektrisirende Gewalt ihres Spiels.
Klara Ziegler ist am 27. April 1844 in München geboren; sie wandte sich im Jahre 1862 der Bühne zu, trat zuerst in Bamberg auf unter dem Namen Herzberg, gastirte als „Jungfrau von Orleans“ an dem Münchener Hoftheater und in Regensburg und nahm dann ein Engagement in Ulm an, wo sie bis 1865 blieb. Damals wurde die neue Volksbühne der Isarstadt, das Aktientheater, eröffnet: ihr Lehrer Christen hatte die Leitung des Instituts und gewann sie für dasselbe; schon am ersten Abend trat sie in dem Festspiel, durch welches das Theater eingeweiht wurde, als Isarnixe auf, eine Rolle, die sie durch ihre Erscheinung vollständig deckte. Eine geeignetere Vertreterin konnte sich der Stolz der Münchener nicht wünschen, ihre Isarnixe erinnerte in majestätischer Erscheinung an die Bavaria. Am Volkstheater fand sie indeß nicht die großen Aufgaben für ihr Talent; sie ging im Jahre 1869 nach Leipzig, wo sie ebenfalls das Neue Theater in dem Gottschall’schen Festspiel einweihen half, durch ihre Erscheinung, durch ihr prachtvolles Organ blendend und fesselnd. War sie schon vorher im Alten Theater als „Deborah“ aufgetreten, so fand sie doch erst in den Räumen des Neuen Theaters, auf dieser stattlichen Bühne den geeigneten Hintergrund für ihre künstlerischen Leistungen. Für ihre imposante Erscheinung war das Alte Theater nicht recht geschaffen und Theaterfreunde erinnern sich noch, daß in der Kirchhofscene der „Deborah“ die kleine dort angebrachte Kirche vor der Wucht ihres Spiels in ein bedenkliches Wackeln gerieth.
Hier in Leipzig spielte sie nach dem Festspiel am Abend der Einweihung des Neuen Theaters die „Iphigenie“, welche zu ihren Glanzrollen gehört: dies erste Theaterjahr im neuerrichteten Schauspielhause, die Glanzepoche der Leipziger Bühne, die nicht, wie man irrthümlich meint, unter die Direktion Laube, sondern unter die Direktion Witte fällt, schuf der jungen Künstlerin das Repertoire, welches sie später ihren Gastrollencyklen zu Grunde legte.
Damals füllten die Schöpfungen der großen Dichter, die Tragödien das Haus, und darstellende Kräfte wie Herr Barnay, Herr Herzfeld, Frl. Link und andere brachten sie in Gemeinschaft mit Klara Ziegler zu durchgreifender Geltung. Wie großartig war damals die Aufführung der Hebbel’schen „Nibelungen“! Die Nordlandsjungfrau Brunbild mit ihrer geheimnißvollen Runensprache war eine Prachtleistung der Darstellerin. Später bevorzugte Klara Ziegler bei ihren Gastspielen die „Brunhild“ von Emanuel Geibel, welche das ganze Trauerspiel bis zum Schluß beherrscht, während die Hebbel’sche Brunhild zu früh aus dem Drama verschwindet, um nicht den unentbehrlichen Triumph einer Gastspielerin am Schlusse der Vorstellung zu beeinträchtigen. Doch wenn sie mit dem melodisch-kräftigen Vollklang ihrer Stimme dem Wohllaut der Geibel’schen Verse besonders in der großen Hauptscene mit Kriemhild vollständig gerecht zu werden wußte, so hatte sie doch auch für den großen Wurf und die Leidenschaftlichkeit der Hebbel’schen Dichtungen die äußeren und inneren Mittel der Darstellung, wie ihre in vieler Hinsicht grandiose [132] Judith bewies. Außer der „Iphigenie“ glänzte sie als „Jungfrau von Orleans“, allerdings eine geharnischte Heldin von Kopf zu Fuß, nicht eine zarte Magd, die sich so kriegerischer Thaten unterfängt, wie später als Medea, Lady Macbeth, Gräfin Orsina, Elisabeth in „Graf Essex“, Isabella in „Braut von Messina“ und in anderen hochtragischen Rollen. Der Beifall der Leipziger, die sie zu ihrem Liebling erkoren hatten, ermuthigte sie allerdings zu gewagten Experimenten, wie zur Darstellung des Shakespeare’schen Romeo, die ihr ein volles Haus und größten Beifall des Publikums eintrug, die aber doch bei den wahren Kunstfreunden nur Kopfschütteln erregen konnte.
Von Leipzig ging der große Ruf der Künstlerin aus; sie erhielt alsbald Anträge an die ersten Hofbühnen und entschied sich für diejenige ihrer Vaterstadt München, wo sie am 1. Oktober 1868 ein lebenslängliches Engagement annahm. Von hier aus begann sie ihre Gastreisen nach Wien, Dresden, Berlin, Hamburg, überall vom Publikum hochgefeiert, während zum Theil die Kritik, besonders die Wiener, gegen die sie deßhalb von der Bühne herab protestirte, ihr zu eintönige Deklamation zum Vorwurf machte. Im Jahre 1874 schied sie aus dem Verband der Hofbühne, der sie indeß als Ehrenmitglied mit der Verpflichtung zu regelmäßig wiederkehrenden Gastspielen noch jetzt angehört. Im Jahre 1876 heirathete sie ihren Lehrer, Herrn Christen. Bei ihren künstlerischen Rundreisen suchte sie ihr Repertoire auch mit den großen Rollen neuerer Dichtungen zu bereichern, wie sie denn „Die Patricierin“ von Richard Voß in dasselbe aufnahm.
Klara Ziegler, deren Bild als „Brunhild“ wir in der „Gartenlaube“ (Jahrg. 1868, Nr. 32)[WS 1] brachten, ist eine Darstellerin großen Stils, die bisher nur wenig Nachfolgerinnen gefunden hat; denn sie vereinigt seltene Mittel, eine imposante Erscheinung und ein Organ an Kraft und Wohlklang mit der Plastik des Geberdenspiels, welche für große Aufgaben unerläßlich ist; sie steht in einsamer Größe unter den jetzigen renommirten Darstellerinnen, welche den Schwerpunkt ihrer künstlerischen Leistungen in der französischen Rührkomödie suchen. †
Elektrische Zeitübertragung. Zu den interessantesten Aufgaben der Berliner Sternwarte gehört die Regulirung der Uhren vermittelst elektrischer Signale. Von einer Hauptuhr der Berliner Sternwarte werden nicht allein die zehn an den verkehrreichsten Straßenpunkten aufgestellten Normaluhren in Berlin derartig regulirt, daß ihre Zeitangaben etwa nur um eine halbe Sekunde von der richtigen Zeit abweichen, sondern auch einige Uhren außerhalb der Hauptstadt im richtigen Gang erhalten. So wird z. B. im Interesse der Uhrmachertechnik tagtäglich um 8 Uhr 22 Minuten ein Zeitsignal von Berlin nach der Uhrmacherschule in Glashütte in Sachsen abgegeben. Um 8 Uhr 22 Minuten erfolgt ein anderes Zeitsignal für den Hafen von Swinemünde. Hier ist der sogenannte „Zeitball“, eine große, weit sichtbare und auf einem hohen Gerüst angebrachte Kugel, aufgestellt. Genau um Mittag fällt die Kugel in Folge einer elektrischen Auslösung von der Spitze des Gerüstes um einige Meter herab und kündigt den Schiffern die richtige Zeit an. Die Uhr des Beamten in Swinemünde wird ähnlich wie die in Glashütte täglich um 8 Uhr 22 Minuten von der Berliner Sternwarte aus durch Ablassen von Zeitsignalen regulirt. – Nicht ohne Grund vergleicht man die Menschheit mit einem hochentwickelten Organismus. Schon die wenigen Angaben dieser Notiz überzeugen uns, wie verwickelt und doch voller Ordnung das vielfältige Triebwerk unserer modernen Kultur ist. *
Die Katoomba-Kohlenmine in Neu-Südwales. (Mit Illustration S. 125.) Das Katoomba-Thal ist eine der schluchtartigen Landschaften, welche durch ihre sonderbare Gestaltung die „Blauen Berge“ Australiens weit und breit berühmt gemacht haben. Zahlreiche Gebirgsbäche rauschen durch die wildzerklüfteten Berge und stürzen in mächtigen Wasserfällen zu Thal. Das Interessanteste aber bilden in dieser Gegend die Kohlenlager, die zwischen den Schichten von Sandstein und Granit wie schwarze Streifen oder Mauerwälle hier und dort hervorragen. Die „schwarzen Diamanten“ hatten auch in diese einsamen Berge unternehmende Menschen gelockt, und so entstanden Kohlenminen, unter denen die auf unserer Illustration abgebildete wohl zu den seltsamsten der Welt zählt. Von der Thalsohle, die 2400 englische Fuß unter dem oberen Gebirgszuge liegt, sollen die Kohlen bis auf die Hochebene befördert werden. Es geschieht dies vermittelst einer Seilbahn, welche wohl zu den steilsten der Welt gehört. Vom Thale aus werden die Wagen hinaufgezogen, zunächst zwischen steilen Felswänden, dann durch einen Tunnel, welcher die obersten Schichten durchbohrt, und gelangen endlich auf den Gipfel des Höhenzuges, wo sich die Station der Eisenbahnlinie befindet. *
Ein bewaffneter Klerus. Zwischen Italien und den Herrschern von Habesch bestehen, seitdem das erstere in Massawa Fuß gefaßt hat, freundliche Beziehungen. Der König Menelik von Schoa bestellte sich durch den Afrikareisenden Grafen Antonelli in Rom für seine Gemahlin Handschuhe, Strümpfe aus schwarzer Seide und Atlasschuhe, indem er ihm das Maß ihrer Hände und Füße mitgab; auch für sich selbst bestellte er die gleichen Artikel. Für diese Schuhe und Handschuhe ist die Gebrauchsanweisung zweifellos und es kann damit nicht das Unglück passiren, welches dem König Menelik mit den militärischen Uniformen begegnet war, die ihm Viktor Emanuel zugesandt hatte: der äthiopische Fürst vertheilte diese Helme, Käppis und Waffenröcke an die Priesterschaft seines Landes und befahl ihr, dieselben bei allen kirchlichen Feierlichkeiten zu tragen. †
Der Rheinfall bei Schaffhausen soll in nächster Zeit für Arbeitszwecke benutzt werden. Durch Dammbauten wird ein Theil des Stromes abgeleitet, damit er die nöthigen Kräfte zum Betrieb einer Aluminiumfabrik liefere. Das Metall soll auf elektrischem Wege erzeugt werden. *
Der erste Leichenwagen. In den neubegründeten aufstrebenden Städten im Westen der Union begiebt sich noch mancherlei, was unsern civilisirten Städten und Städtchen in seiner Naivetät fast komisch erscheinen muß. Wenn bei uns zur Sedanfeier, zu Kaisers Geburtstag, bei der Anwesenheit der Landesfürsten und bei anderen festlichen Gelegenheiten illuminirt wird, so versetzt dort oft jede neue städtische Einrichtung die Bürger in solchen Enthusiasmus, daß sie ihr Städtchen durchaus in das hellste Licht setzen müssen. So gestaltete sich der Einzug des ersten, elegant ausgestatteten Leichenwagens in Rapid City in Dakota zu einer großen Festlichkeit. Mayor und Stadtrath, die Feuerwehr und das Polizeiamt, sowie viele hervorragende Bürger begaben sich nach dem Bahnhofe, um ihn feierlich abzuholen. Abends wurde nicht nur die Stadt illuminirt, sondern auch ein glänzendes Feuerwerk vor dem Hause des Leichenbestatters abgebrannt. Wer weiß, ob nicht viele Gemüther in Rapid City selbst eine gewisse Todessehnsucht anwandelte, nur um der Freude theilhaft zu werden, in dem neuen schönen Leichenwagen den Weg nach dem Kirchhof anzutreten. †
Wie müssen die Karten der Gegner vertheilt sein und wie ist der Gang des Spieles, wenn bei allerseits fehlerfreier Spielführung der Spieler in Mittelhand ein Eichel-Solo verliert, sobald er zu folgenden 9 Karten:
noch die (tr. Z.) hat, dagegen dasselbe gewinnt, sobald er noch (tr. 7) dazu hat?
Auflösung der Skat-Aufgabe Nr. 2 auf S. 84. Die Hinterhand würde ihr Eichelsolo mit Schneider gewinnen, wenn die übrigen Karten so vertheilt sind:
- Vorhand: eZ, gD, rD, rK, rO, r9, r8, r7, s8, s7.
- Mittelhand: eW, eD, e9, g8, g7, rZ, sZ, sK, sO, s9.
- Skat: gO, g9, denn nach den 3 ersten Stichen:
1. gD, g8, gK (−15); 2. s7, s9, sD (+11); 3. gW, eZ, eW (−14) kann Mittelhand ausspielen, was sie will, der Spieler wird bei fehlerfreiem Spiele alle Stiche bekommen. Könnten jedoch die Gegner unter einander s8 und s7 mit g8 und g7 vertauschen, so würde der Spieler selbst Schneider werden, denn es folgt:
- 1. gD, rZ! gK (−25);
- 2. g8, eD! gZ (−21);
- 3. sZ! sD, eZ (−31),
und erhalten danach die Gegner noch auf eW einen Stich mit Wimmelung das rD und mindestens 13 Augen.
Auflösung des „Schach-Problems“ auf S. 68: Setzt man die Buchstaben aller weißen Figuren in jener Reihenfolge neben einander, wie diese durch ihre Stellung in der jeweiligen numerirten Felderreihe bedingt wird, z. B. D (1. Reihe), U (2. Reihe) u. s. f. und thut dies in gleicher Art mit den schwarzen Figuren, so erhält man die Worte: „Durch Kampf (weiße Fig.) zum Sieg (schwarze Fig.).“
H. W. in Stuttgart. Sie haben Recht, es giebt in deutschen Ländern allerlei Humore, die in Nord und Süd verschieden sind, und man muß jeder Volkseigenthümlichkeit Rechnung tragen. Ein echter, urwüchsiger, schwäbischer Humor belebt die Seminaristengeschichte „Der verzauberte Apfel“ von H. Bauer (Stuttgart, Robert Lutz), die, wie Sie sagen, Ihnen große Freude bereitet hat durch den quellfrischen Volkston, und wir zögern nicht, sie allen Freunden des schwäbischen Volksstammes warm zu empfehlen.
C. R. in Bautzen. Sie schreiben uns, daß Adalbert Stifter Ihr Lieblingsschriftsteller ist, und daß Sie seine Naturschilderungen mit ihrer warmen Empfindung und schönen Begeisterung den Jean Paul’schen an die Seite setzen. Es wird Sie interessiren zu erfahren, daß jetzt Adalbert Stifter’s „Ausgewählte Werke“ in einer Volksausgabe (Leipzig, Amelang’s Verlag) in 28 Lieferungen erscheinen, und daß bereits die ersten derselben vorliegen. Die Sammlung wird enthalten: „Studien“, „Bunte Steine“ und „Erzählungen“.
Ein Neugieriger in B. Um die Einführung der Hühner in Deutschland hat sich Karl der Große besondere Verdienste erworben. Er hat eine Verfügung getroffen, daß auf jeder seiner Domainen 50 Hühner und 50 Gänse, auf Hubengütern dagegen 50 Hühner gehalten werden sollten. Seit jener Zeit wurde, wie man annimmt, die Geflügelzucht in Deutschland heimisch.
Abonnent K. W. in Solingen. Vergleichen Sie gefl. den Artikel „Etwas über die Holzschneidekunst“ von Karl B. Lorck in Nr. 41 und 42 der „Gartenlaube“ 1882.
R. G. in Basel. Sie erkundigen sich, ob in einer Zeit, die so vielen Schriftstellern Denkbilder errichtet, ein so tüchtiger Autor wie Johannes Scherr leer ausgehen soll? Wie wir erfahren, hat die Familie Scherr’s den Bildhauer Donndorf beauftragt, auf dem Kirchhofe in Zürich ein Grabdenkmal des Schriftstellers in großem Stile auszuführen.
A. H. in Köln. Sehr wohlgereimte Verse, doch nicht in der dichterischen Einkleidung, die für die „Gartenlaube“ unerläßlich ist.
L. G. R. in New-York. Nicht geeignet.
Hans S. in Wien. Wir bitten um Angabe Ihrer genauen Adresse.
Inhalt: Herzenskrisen. Roman von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 117. – Die Todtenbeschwörung. Von Rudolf Kleinpaul. S. 120. Mit Illustration S. 121. – Litterarische Begegnungen. Von Wilhelm Goldbaum: Ludwig Ganghofer. S. 123. Mit Portrait S. 117. – Ein verhängnißvolles Blatt. Erzählung aus den bayerischen Bergen von Anton Freiherrn v. Perfall (Fortsetzung). S. 124. – Vom Nordpol bis zum Aequator. Populäre Vorträge aus dem Nachlaß von Alfred Edmund Brehm. Adlerjagden des Kronprinzen Rudolf von Oesterreich. III. S. 127. – Das Goaßlfahren. Eine kleine Dorfgeschichte aus Oesterreich von August Silberstein. S. 128. Mit Illustration S. 129. – Das erste Jahr im neuen Haushalt. Eine Geschichte in Briefen. Von R. Artaria. II. S. 130. – Blätter und Blüthen: Das fünfundzwanzigjährige Jubiläum von Klara Ziegler. S. 131. – Elektrische Zeitübertragung. S. 132. – Die Katoomba-Kohlenmine in Neu-Südwales. S. 132. Mit Illustration S. 125. – Ein bewaffneter Klerus. S. 132. – Der Rheinfall bei Schaffhausen. S. 132. – Der erste Leichenwagen. S. 132 – Allerlei Kurzweil: Skat-Aufgabe Nr. 3. Von K. Buhle. S. 132. – Auflösung der Skat-Aufgabe Nr. 2 auf Seite 84. S. 132. – Auflösung des Schach-Problems auf S. 68. S. 132. – Kleiner Briefkasten. S. 132.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: 1878; siehe Berichtigung in Kleiner Briefkasten, Heft 11