Zum Inhalt springen

Die Gartenlaube (1881)/Heft 44

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1881
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[725]

No. 44.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Ein Friedensstörer.

Erzählung von Victor Blüthgen.
(Fortsetzung.)


Die Rücksichtslosigkeit, mit welcher der Vetter Fräulein Anne-Marie schulmeisterte, war in der That empörend. Was war er denn, und wie alt war er denn, daß er sie wie ein unerzogenes Kind behandeln durfte? Sie wollte dergleichen Aeußerungen von seiner Seite zunächst einmal ignoriren.

„Zwar, ich begreife,“ fuhr er nachlässig fort. „Es muß in diesem Pelchow mehr als ländlich zugehen, und Sie kamen jung hierher.“

„Ich wünschte wohl, daß Sie den Onkel schonten,“ stieß Anne-Marie hart hervor. „Er ist freilich voll Grillen und Eigenheiten, aber er ist von Herzen gut und ein alter Mann, und ich dächte, es wäre eine Kränkung für ihn, daß man ihm die freie Verfügung über sein Eigenthum nimmt.“

„Was wollen Sie? Er ist ein bankrotter Verschwender, den man längst hätte unter Curatel stellen sollen. Die Zeit der Originale ist vorüber, und es gilt heutzutage nicht mehr als Entschuldigung, wenn Einer sein Geld und nebenbei dasjenige anderer Leute, statt auf eine gewöhnliche, auf eine verrückte Art durchbringt. Ein Mensch, der nicht mit klarem Kopf und zielbewußtem Willen ein Vermögen verwalten kann, muß eben wie ein Kind behandelt werden. Ein zartfühlendes Mädchenherz mag da sein Privaterbarmen haben, das öffentliche Leben der Gegenwart aber ist hartherzig wie das Recht und die Vernunft. Aber davon versteht ein Mädchen nichts, Cousine Lebzow, und ich liebe unnütze Kraftvergeudung nicht. – Was meinen Sie, könnten wir nicht etwas schneller gehen?“

„Nein,“ erwiderte sie fast heftig; „könnten Sie nicht vielleicht etwas langsamer gehen?“

Und sie wagte es sogar, ihm einen trotzigen Blick zuzuwerfen, senkte indeß die Wimpern und wandte sich ab, als sich die scharfen grauen Augen ihres Begleiters so ruhig und kühl auf die ihrigen hefteten, als handle es sich zwischen ihnen Beiden um die einfachsten sachlichen Erörterungen, bei welchen ein Affect gar nicht in Frage kommen könne.

„Ganz wie Sie befehlen! Sie hätten vielleicht besser gethan, vorhin meinen Arm zu nehmen. – Teufel, da kommen wir in eine schöne Atmosphäre!“

Zwanzig Schritt vor ihnen bog eine Schafheerde von einem Feldweg her in die Landstraße ein. Der vorangehende Schäfer strickte an einem Strumpfe; die Schafe blökten; zwei Hunde kreisten hin und her. Unendlicher Staub wirbelte auf, den die sinkende Sonne durchleuchtete und der sich bis zu dem Paare hinzog.

„Wir hätten am Ende doch den Wagen benutzen sollen, Cousine,“ brachte der neue Administrator von Pelchow heraus, mit einem Hustenanfall kämpfend. „Aber wer ist auf solche Eventualitäten gefaßt! Warten Sie – ich werde den Menschen veranlassen, auf diese Brache hinüber auszuweichen.“

„Bitte, wir können die Sache kürzer machen, Herr von Boddin,“ sagte die junge Dame rasch; „das Ausweichen ist für uns bequemer als für die Heerde.“

Und froh, sich für eine Minute von ihrem Begleiter losmachen zu können, sprang Anne-Marie von Lebzow leichtfüßig über die schmale Grabenrinne und lief drüben auf der glatten Kleebrache hin. Die blauen Hutbänder und der Saum des hellen Kattunkleides flogen hinter ihr. Jetzt merkte er nicht, wie sie zornig aussah und die Lippen auf einander preßte. Am liebsten wäre sie so fort gelaufen bis nach Pelchow hinein. Was hatte sie für eine Verpflichtung, sich die Gesellschaft dieses Mannes gefallen zu lassen, der von der Natur dazu geschaften erschien, sie beständig zu verletzen und zu beleidigen? Anne-Marie dachte an den Onkel, an die Kämpfe, welche dieser abscheuliche Vetter nach dem ruhigen Pelchow tragen würde, und zugleich stand der Entschluß in ihr fest, ihm Opposition zu machen, wo und wie es ihr Herz ihr gebieten würde. Er war klug – so schien es – aber gefühllos und von einer Rücksichtslosigkeit und Selbstgenügsamkeit, daß sie ihm kaltblütig irgend ein Leid hätte zufügen können. Sie dachte das alles und hätte wohl noch mehr dergleichen gedacht, aber sie hatte in ihrem Eifer nicht beachtet, daß die Kleebrache zu Ende ging und daß an dieselbe frisch gepflügter Sturzacker stieß. Und plötzlich schrie sie halblaut auf: ein Fuß versagte ihr den Dienst, und sie sank in die Kniee und stützte sich mit beiden Händen auf die fettglänzenden Ackerschollen.

„Die reine Natur,“ hatte Curt von Boddin gesagt, während er durch den Klemmer den Bewegungen der Davoneilenden gefolgt war. „Sonst nicht übel, aber die Erziehung dieses Familiengliedes ist total vernachlässigt. Das Mädchen läuft wie eine Bauernmagd; ich glaube, sie wäre im Stande, vor meinen Augen auf Bäume zu klettern.“ Dann war er, einen ironischen Blick auf das Bündel voll Pilze werfend, das er zwischen den Fingerspitzen hielt, ihr mit langen Schritten auf die Brache hinüber nachgegangen. Und „da haben wir’s,“ rief er plötzlich, schlug aber sofort ein anderes Tempo an, als er bemerkte, daß sie keine Anstalten machte, sich zu erheben.

„Was ist Ihnen? Haben Sie sich den Fuß verletzt?“ fragte

[726] er, und bei aller Hast und Härte der Aussprache hatten seine Worte doch eine wärmere Klangfarbe.

Anne-Marie biß sich in die Lippen vor. Schmerz.

„Bemühen Sie sich nicht meinethalben und gehen Sie nur ruhig voraus, Herr von Boddin! Ich werde bald in der Lage sein, Ihnen zu folgen.“

Sie fühlte, daß sie nur mit Anstrengung aller Willenskraft sich würde nach Hause schleppen können, allein um keinen Preis der Welt hätte sie seine Hülfe angerufen. Es war eigentlich ein Wunder, daß er über ihr kindisches Laufen noch keine Glossen gemacht hatte.

„Ich wollte nur wissen, ob Sie sich den Fuß verstaucht haben,“ fragte er kälter. „Haben Sie die Güte, mir zu antworten, Cousine!“

Sie kämpfte einen Augenblick unschlüssig und nickte dann.

„So würden Sie ohne Hülfe einfach hier liegen bleiben, meine Verehrte,“ sagte er. „Himmel, dort kommen diese verwünschten Schafe schon wieder an. Sie, Mann halten Sie Ihre Schafe etwas zurück!“

Und ohne weitere Frage bückte er sich zu Anne-Marie nieder, nahm dieselbe, ehe die Ueberraschte dazu kam, sich zu wehren, wie ein Kind vom Boden auf und trug sie kraftvoll in leichtem Trabe auf die Landstraße hinüber, die er glücklich noch vor Ankunft der Heerde betrat. Das Bündel hatte er dabei nicht aus der Hand gegeben.

„Lassen Sie mich nieder, Herr von Boddin!“ rief das junge Mädchen, dessen Antlitz ein glühendes Roth bedeckte, während sie doch nicht umhin konnte, den Arm um seinen Nacken zu legen. „Das ist ungezogen von Ihnen.“

Er sah mit sicherem Lächeln, das bei ihm immer eine leichte spöttische Beimischung zu haben schien, auf die braunen Mädchenaugen nieder, welche ihn in Scham und Verwirrung anblickten

„So?“ meinte er kühl. „Lassen Sie sich diese Ungezogenheit immerhin gefallen! Sie hatte einen guten Zweck. Und nun versuchen Sie einmal zu stehen, Cousine, indeß ich ein paar Worte mit dem Manne da rede!“

Er ließ sie vorsichtig aus den Boden gleiten, bis er fühlte, daß sie zu stehen vermochte. Dann wandte er sich ab, ging zu dem Schäfer, welcher der Scene mit breitem Lächeln zugesehen hatte, und veranlaßte einstweiliges Hinübertreiben der Thiere in die Brache.

Während dessen hatte Curt von Boddin Anne-Marie den Arm gereicht, den diese wohl oder übel annehmen mußte, und begleitete nun ihre Gehversuche mit ermutigendem Zuspruch. Wie unbeweglich dieser Arm war! Kaum eine Linie breit gab er dem Drucke nach. So gingen die Beiden eine Weile neben einander. Anne-Marie. sprach gar nicht, sondern stieß nur von Zeit zu Zeit leise Schmerzenslaute aus; ihr Begleiter fragte blos hier und da, ob er stehen bleiben solle? Ob sie es bis nach Pelchow hinein aushalten würde? Wenn sie durchaus vorzöge, sich auf den Grabenrain zu setzen und zu warten, wolle er auch voraus gehen und den Wagen für sie besorgen.

Mit dem Gutswagen sei der Onkeln in Branitz zur Jagd; die anderen Gespanne wäre aus dem Felde beschäftigt, meinte Anne-Marie.

Wie zur Antwort erschien Curt’s Demminer Wagen im Gesichtskreise und lockte ein: „Gott sei Dank!“ auf die Lippen der Leidenden. Sie blieben jetzt stehen und ließen das Gefährt herankommen; zehn Minuten später rollte dasselbe zwischen den verwüsteten Thorpfeilern hindurch aus den Gutshof und hielt auf einen Wink Anne-Marie’s neben dem Herrschaftshause.

Eine ältliche Frauensperson bog mit überraschtem Gesicht um die Hausecke, während Curt hinabsprang und Anne-Marie die Hand reichte, um sie schließlich doch noch einmal auf den Arm zu nehmen und herauszuheben.

„Sie dort, kommen Sie einmal her und helfen. Sie meiner Cousine auf ihr Zimmer!“ rief er, die Neugierige gewahrend. „Sie hat sich den Fuß verstaucht. Oder noch besser: holen Sie gleich frisches Wasser und einen Streifen Leinwand. Wohin soll ich Sie geleiten, Cousine Lebzow?“

Anne-Marie deutete die Front des einstöckigen Hauses hinunter, das seine Giebelseite dem Hofe zukehrte. Zwischen dieser Front und der Nesselwüste führte ein rohes Steinpflaster an ein paar auffallend niedrigen, kaum anderthalb Fuß vom Boden entfernten Fenstern vorüber zu einer Thür, welche die junge Dame öffnete.

„So,“ sagte sie, ihren Arm frei machend und sich leicht verneigend, „und nun danke ich Ihnen für Ihren Beistand, Herr von Boddin. Das Weitere werde ich mit Hülfe von Dürten besorgen.“

„Treten Sie nur einstweilen ein! Ich will Ihnen lieber den ersten Verband anlegen, damit Sie’s ordentlich machen lernen. Je bester es geschieht, desto früher wird der Fuß gut.“

Er nickte, ohne eine Antwort abzuwarten und war kaum eingetreten als jene Person, welche die Leidende Dürten genannt, eilfertig das Verlangte durch eine Thür gegenüber hereintrug; in seiner raschen Weise nahm er den Strohhut ab, legte das Bündel mit den Pilzen ans einen Stuhl und nahm der Wirtschafterin, welche fragend von ihm zu dem jungen Mädchen und von diesem zu ihm hin blickte, das Waschbecken und die Leinwand ab.

„Nun setzen Sie sich gefälligst, Cousine!“

Anne-Marie stand finster, auf einen Stuhl gestützt, während Curt von Boddin die Gegenstände aus den Boden stellte und die apfelgrünen Handschuhe abzustreifen begann. Ihre Geduld war zu Ende; eine wahre Erbitterung überkam sie, und sie mußte der erstickenden Empfindung Luft machen.

„Ich sagte Ihnen bereits, Herr von Boddin, daß ich Niemand als Dürten um mich brauche, um die Umschläge herzustellen,“ stieß sie leidenschaftlich heraus. „Sie haben mich wegen einiger Dinge getadelt, welche Sie an mir unschicklich fanden; ich erkläre Ihnen, daß ich Ihre Art, mich zu behandeln, für mehr als unschicklich halte, und rate Ihnen, erst zu lernen, daß ein Mann von Erziehung eine Dame nicht auf offener Landstraße im Arme trägt, noch weniger aber gegen ihren Wunsch sich in ihr Zimmer drängt und sie zwingt, sich Dienstleistungen von ihm gefallen zu lassen, wie Sie mir deren durchaus erzeugen wollen. Ich bin kein Kind, Herr von Boddin, und werde außer meinem Onkel Niemandem gestatten, mich als ein solches zu behandeln.“

Sie hatte mit steigender Aufregung gesprochen und stand, die Augen voll Blitze und die Wangen von Gluth, hoch aufgerichtet vor ihm, und diesmal schlug sie die Blicke nicht nieder, als er, sichtlich verwundert, mit dem Abstreifen der Handschuhe innehielt und sie scharf prüfend ansah.

„Hm!“ sagte er langsamer, als es sonst seine Art war, „ich meinte es gut; wen Sie indessen die Sache so auffassen wollen, kann ich Ihnen das Recht dazu nicht bestreiten. Gestatten Sie mir nur, bevor ich Sie verlasse, ein Wort der Aufklärung und ein paar kurze Frage an diese Person dort.“

„Ich bin keine Person,“ warf Dürten Schoritz schnippisch hin.

„Meinethalben mögen Sie sein, was Sie wollen! Was mich betrifft, so bin ich Curt von Boddin und werde von jetzt ab hier wohnen und das Gut Pelchow verwalten, nebenbei also Ihr Herr sein; verstehen Sie wohl? - Ist Ihnen eine Anweisung gekommen, mir ein Quartier bereit zu halten?“

Dürten Schoritz blickte Hülfe suchend auf Anne-Marie, welche noch immer da stand, die Augen finster auf den Mann vor ihr gerichtet.

„Davon weiß ich nichts,“ antwortete sie endlich kleinlaut.

„Gestern muß ein Brief eingetroffen sein, der meine Ankunft melden sollte.“

„Onkel ist seit vorgestern abwesend, und die inzwischen eingetroffenen Briefe liegen noch uneröffnet da,“ nahm Anne-Marie statt der Wirthschafterin das Wort. „Schicke in’s Dorf hinunter zum Radmacher und schlagt für den Herrn Administrator ein Bett im Eßzimmer für diese Nacht auf! Dürten Schoritz ist die Wirtschafterin,“ wandte sie sich mit erzwungener Kälte zu dem Vetter herum, „wollen Sie ihr nur in Bezug auf Ihre Verpflegung Mittheilung von Ihren Wünschen mache.“

Curt von Boddin ließ den Klemmer von der Nase fallen und griff zu seinem Hute.

„Ich werde in einiger Zeit dieses Haus von drüben her betreten, und Sie werden mir Auskunft über Verschiedenes ertheilen und etwas zu essen schaffen – Leben Sie wohl, Cousine! Ich darf wohl annehmen, daß Sie meiner Theilnahme für Ihr Ergehen zu entbehren wünschen.“

Er nickte steif mit dem Kopfe und ging in die beginnende Dämmerung hinaus.

Es war ein zierlich eingerichtetes Zimmerchen, das er verließ: [727] ein Himmelbett mit purpurblumigen Kattunvorhängen, in demselben Stoffe bezogene Phantasiemöbel mit reicher Vergoldung, ein schöner venetianischer Spiegel über einer Waschtoilette, Schrank und Kommode in Rococo, ein Porcellanofen mit Kaminuntersatz – fremdartig muthete diese Umgebung in dem vernachlässigten Herrenhause von Pelchow an. Neben dem purpurblumigen Himmelbette saß Anne-Marie von Lebzow auf dem Stuhle, und während die Wirthschafterin kopfschüttelnd ihr Schuh und Strumpf von dem verletzten Füßchen zu ziehen begann, rollten zwei schwere Thränen die vollen, jetzt ein wenig blassen Wangen hinab, welche noch immer der breite italienische Strohhut überschattet.




2.

Um dieselbe Zeit oder wenig später fuhr in der ersten Dämmerung der Gutswagen von Pelchow vor das Portal des Branitzer Schlößchens. Dieser Gutswagen war nichts als eine Art Britschka, welche ein Viehhändler ebensogut hätte zum Kälbertransport verwenden können: ein Behältniß im Leiterwagenstil, ohne Federn, mit rohrgeflochtener Verkleidung; ein Kutschersitz war vorn eingehenkt. Für die Mitfahrenden kamen wohl je nach Bedarf noch zwei oder drei dergleichen Sitzböcke hinzu; ein Exemplar wenigstens lag hart an der Rückwand des Wagens auf dem Wagenboden. Den Boden nahm im Uebrigen eine Matratze ein. Wenn der Baron von Boddin auf Pelchow ein Verschwender war, so entsprang diese Eigenschaft sicher nicht einem persönlichen Luxusbedürfniß.

Jochen Pagel, der Rosselenker, hielt die beiden Rappen fest im Zügel und klatschte wiederholt mit der Peitsche als Zeichen, daß er zur Abfahrt gerüstet sei, blickt wohl auch phlegmatisch zu den hellerleuchten Fenstern des hübschen Villenbaues empor, hinter denen man lebhaftes Durcheinandersprechen und Gelächter vernahm. Ein paar Leute vom Gesinde gingen vorüber und redeten Jochen an, erhielten aber höchst einsilbige Antworten. Plötzlich sprang die Hausthür aus; es wurden mehrere Herren sichtbar, von denen zwei große Armleuchter trugen – lauter lachende Gesichter mit dem deutlichen Gepräge animirter Feststimmung.

„Boddin,“ schrie der Eine auf einen alten Herrn ein, welcher in Stulpstiefeln, Jagdjoppe und einer Jockeymütze mit endlos langem Schirme sich gegen einen Thürpfosten lehnte und die Hände über dem Spitzbäuchlein gefaltet hielt, „das Ding muß ich doch ’mal probiren. Glaube gar, ich behielt keine Rippe im Leibe ganz.“

„Da ist guter Häcksel drin; da liegst Du wie in Abraham's Schooß, Pannewitz,“ sagte der Baron schwerfällig auf Plattdeutsch, während sein verknittertes rothes Gesicht nur wenig von dem bärbeißigen Ausdruck verlor, der in jedem Zuge desselben ausgeprägt war. „Daß Du mir aber kein Loch hineinliegst – sonst komme ich zu tief auf den Boden.“

Heer von Pannewitz, der Wirth, war bereits die Treppe hinab zum Wagen geeilt.

„Jochen, ich werde aufsteigen; fahr’ mich ’mal ein Bischen im Hose herum und schlag’ ’nen kleinen Trab an!“

Jochen nickte stumm; Heer von Pannewitz war rasch droben und legte sich ans die Matratze, worauf Jochen abfuhr. „Um den Kuhring herum!“ rief der Insasse dem Alten noch zu; Jochen fuhr steif und gravitätisch um den Kuhring, und kein Mensch sah es, wie Herr von Pannewitz in die Tasche griff und etwas herauszog. Es gab einen schnappenden Ton; dann fuhr die Hand mit dem Gegenstande am einen Rande der Matratze hinunter, worauf Heer von Pannewitz sich beeilte, den Gegenstand wieder in seine Tasche zu befördern. Ein Halloh empfing den heranrasselnden Wagen.

„Nun, was sagst Du, Fritz?“ rief die harte, etwas heisere Stimme des Barons herunter. „Auf’s erste Mal wird Dich das ein Bischen arg durchschuckeln .

„Gotts Donner!“ unterbrach ihn Pannewitz lachend, indem er sich erhob und herabzuklettern begann, „wenn ich so gut wie todt bin, Boddin, soll man mich noch mal auf den Wagen legen und herumfahren; wenn ich da nicht lebendig werde, kann mir kein Professor von Greifswald helfen.“

„Ja, das mag wohl sein, Fritz; na nu laß mich mal ’ran! Ich bin das besser gewohnt. Adschüs allzusammen, adschüs, Hartleben, adschüs, Rexow, adschüs, Fritz! Und grüß Deine Frau noch mal von mir!“

„Und komm bald mal wieder herüber, Boddin, daß ich Dir die zweihundert Thaler wieder abnehmen kann!“ rief Pannewitz, der jetzt an Stelle des Barons oben stand und seinem Nachbar mit verschmitztem Lächeln etwas zugeflüstert hatte. „Wenn Dein Neffe erst in Pelchow sein wird, hast Du ja Zeit die schwere Menge.“

„Fritz.“ scholl es feierlich vom Wagen her, „das ist nicht edelmännisch von Dir, daß Du mir so gleich nach dem Essen die Galle in den Magen treibst; das mußt Du nicht wieder thun – das kann kein Mensch vertragen. Und nun fahr zu, Jochen, daß wir nach Hause kommen!“

Im Wagengerassel erstickten die Abschiedsrufe von der Treppe her. Der alte Baron legte sich mit dem Rücken auf die Matratze, faltete wieder die Hände über den Leib, und so ging’s vom Steinpflaster des Hofes durch das Thor bei sinkender Nacht auf die Landstraße hinaus.

Eine Weile lag der Baron ruhig. Jochen fuhr links die Straße hin, zwischen Park und Wald; dann bog das Gefährt in einen arg zerfahrenen Waldweg ein. Von der Matratze her kamen brummende, knurrende Töne, welche ohne Zweifel großes Behagen ausdrückten. Deutlicher noch bezeugte dies ab und zu ein ausdrückliches „Ah, Jochen, das thut gut, das thut gut“, und zwar geschah dies just in Augenblicken, wo der Wagen auf und nieder stob und in allen Fugen rasselte und knackte. Es handelte sich hier um eine Verdauungsmotion der seltsamsten Art, welche der alte Herr nach reichlich genossener Mahlzeit ausführte oder vielmehr an sich ausführen ließ und welche er sicherlich auf das Angenehmste empfand. Nach einer Weile rief er indeß:

„Du kannst mal was langsamer fahren, mein Sohn!“

Jochen, nebenbei gesagt ein Fünfziger und kaum zehn Jahre jünger als sein Herr, zügelte auf diese Anrede hin die Thiere, was nach der zweitägigen reichlichen Fütterung nicht eben leicht war.

„Jochen,“ hub der Baron nachdenklich ein Gespräch an, „nun kommt in diesen Tagen der Kerl, der Teterower.“

Jochen schwieg.

„Ich kenne den Kerl gar nicht; ich glaube, ich habe ihn mal gesehen, als er noch Knöpfhosen trug, und habe ihm mal die Nase geputzt. Und dieser verdammtige Junge will nun auf Pelchow den Herrn machen, was doch mein Gut ist.“

„Ja, das ist wohl so,“ meinte Jochen Pagel, den der plötzliche Fall des einen Vorderrades in eine Vertiefung aus seinem Phlegma aufgerüttelt hatte. „Das ist ein Teufelsweg hier, wenn man nicht mehr ordentlich sehen kann,“ schloß er brummend.

„Was sagst Du, mein Sohn?“ fuhr der Baron zornig heraus. „Das ist wohl so? – nein, das ist nicht so; denn das ist mein Gut, und das ist eine offenbare Ungerechtigkeit, wenn ich nicht mehr Herr auf meinem Gute sein soll, weil so ein paar ausverschämte Demminer Juden, auf die ich huste, mich beim Gericht verklagt haben und ihr Geld haben wollen. Ich weiß wohl, das ist der Wolfsohn gewesen, der die anderen angestiftet hat. Das will ich ihm aber gedenken. Ich habe dem Hunde im vorigen Jahre meinen ganzen Raps verkauft; nun will ich den Teufel thun und ihm wieder Raps verkaufen.“

„Dann kauft er ihn von dem Teterower,“ erwiderte Jochen gelassen.

„Halt’ Deinen Mund, mein Sohn! Du bist ein großer Esel,“ sagte der Baron emphatisch. „Und was den Teterower Schnüffel betrifft, den werfe ich heraus, wenn er einen Fuß in mein Gut setzt“

„Wenn ihm das Gericht nur nicht hilft“

„Das verstehst Du nicht; die können mir nichts thun, wenn Ihr auf meiner Seite steht und mir helft, und das müßt Ihr wohl, indem daß ich Euer Herr bin. Sie können doch nicht jahraus, jahrein eine Compagnie Soldaten nach Pelchow legen? – Aber was Donner ist das? Was ist das? Ich glaube, das wird hier immer dünner unter mir. Das ist mir doch schon ’ne Weile so gewesen, als ob ich auf die offenbaren Bretter zu liegen käme. Halt mal an, Jochen! Das Ding müssen wir untersuchen; da ist doch nicht wo ein Loch drin, daß mir der Häcksel unter'm Leibe wegläuft? Hast Du Deine Laterne mit, mein Sohn?“

„Die habe ich wohl hier. Aber wie soll das möglich sein?“.

„Steck mal an! Wir wollen gleich sehen.“

Jochen holt die Laterne hervor, entzündete nach ein paar vergeblichen Versuchen, die der Luftzug verschuldet, die Kerze und stieg schwerfällig vom Bocke herab. Der Baron hatte sich halb [728] aufgerichtet und wartete gespannt, bis’ jener die Zügel an den Wagen geschlungen hatte:

„Ich will erst auf den Boden leuchten,“ sagte Jochen.

„Siehst Du was?“

„Da liegt wahrhaftig Häcksel, Herr; auf dieser Seite muß es ’rauslaufen. Da ist ja wohl ein ganzes Stück aufgeschnitten? Na, nun seh mal Einer an!“

„Das ist ein Schabernack, sag’ ich Dir, Jochen; eine ganz unverschämte Bosheit von dem Pannewitz,“ brauste der alte Baron wüthend auf. „Daß er so’n falscher, schieliger Hund wäre und mich so zum Spott von dem ganzen Volke machen könnte, habe ich mir nicht träumen lassen. Nun sieh mal, mein Sohn, die ganze Seite von dem Sack hat der Kerl aufgeschnitten, wie Du ihn um den Kuhring gefahren hast; das war sein Zweck und Ziel bei der ganzen Fahrt. Kehr’ mal um, mein Sohn! Ich will dem Pannewitz nun doch was sagen, daß er seine Ohren für zwei Pauken ansehen soll.“

„Wie ist das möglich? Nein, wie ist das möglich?“ rief Jochen kopfschüttelnd. „Aber wäre das nicht besser, Herr, wenn wir lieber nach Pelchow weiter führen? Der Sack wird immer dünner und das Stück, was Sie nachher auf den bloßen Brettern fahren müssen, immer länger “

„Schweig, Jochen! Soll ich den Schimpf auf mir sitzen lassen? Wo werd’ ich denn hier auf den Brettern mir mein Fleisch und Blut blau liegen, wenn ich den Bock da auf dem Wagen habe? Komm mal ’rauf, mein Sohn, und häng den Bock ein, und dann fahr wieder auf Branitz zu! Dieser Kerl, dieser Pannewitz!“

Und Jochen, welcher sehr wohl an den Bock gedacht hatte, aber gern der Umkehr ausgewichen wäre, stieg brummend auf und hob, den schnaubenden, unruhigen Pferden zum Stillstehen pfeifend, den zweiten Sitz ein, worauf er zu seinem Platze hinüberstieg, die Laterne aufhing und umlenkte. Während der Baron, die Folgen reichlich genossenen Weines spürend, rechts und links das vorstehende Ende einer Wagenrippe ergriff und sich krampfhaft in der neuen Lage festhielt, fuhr der Wagen auf dem immer dunkler werdenden Waldwege zurück, bis Jochen vor dem Hofthore von Branitz hielt.

Die Thorflügel waren geschlossen.

„Sie müssen aufmachen, Jochen,“ rief der Baron, dessen Zorn durch den Anblick des Schlosses wieder voll entflammt wurde.

„Ja, Herr, die sind alle zu Bette,“ sagte Jochen phlegmatisch dagegen, „das ist alles dunkel auf dem Schlosse.“

„Das ist so ’ne infame Finte; die haben die Lichter ausgelöscht oder sind auf die andere Seite gegangen; steig ab, mein Sohn, und tritt mal mit dem Fuß gegen das Thor, bis sie aufmachen!“

Jochen stieg wirklich hinunter und trat ein paar Mal gegen das Thor. Der dumpfe, dröhnende Laut hallte in der Nachtluft weit über den Hof hin und weckte ein wildes Hundegebell. Sonst rührte sich nichts – die Fenster des Schlößchens blieben dunkel wie zuvor.

„Siehst Du, Jochen, wenn ich den Iwert gestern Abend nicht nach Pelchow geschickt hätte; ich ließe ihn über die Mauer steigen; aber unsere alten Knochen sind dafür nicht mehr. Jetzt halt mal die Biester! Ich wette fünfzig Thaler, daß sie da alle hinter den Fenstern stehen und lauern.“ – Und: „Pannewitz!“ schrie er dann mit heiserer Stimme, nachdem er sich im Wagen aufgestellt hatte, und nun folgte eine Fluth nicht wiederzugebender Wünsche und Schimpfworte, welche wie Spülwasser aus einer Küchenrinne quollen und ebenso sauber waren.

„So,“ sagte der alte Herr dann befriedigt. „Nun fahr’ zu, mein Sohn! Fahr’ auch den ebenen Weg auf der Landstraße! Das Vergnügen ist nun doch verdorben.“

Der Baron mochte wohl mit seiner Vermuthung bezüglich der Zuhörer Recht gehabt haben; denn kaum war der Wagen aus dem Gesichtskreise des Schlosses entschwunden, als sich die Fenster plötzlich wieder erhellten und eine Anzahl dunkler Gestalten zeigten, zwischen denen Gelächter und lustige Rede hin und wieder ging.

Die Beiden im Wagen schwiegen lange Zeit. Der Baron fing an schläfrig zu werden, doch hielt ihn die Kühle der Nachtluft munter. Vom Felde her kam der Ruf des Wachtelkönigs und aus der Luft der geheimnißvolle Ton ziehender Kraniche. Der Himmel hatte sich allmählich erhellt, und nach einiger Zeit schwebte langsam der Mond herauf.

Eine halbe Stunde mochte die Fahrt gedauert haben und man war bereits auf Pelchower Revier, als seitlich an einer Waldecke ein Mann auf die mondhelle Landstraße heraustrat und respektvoll grüßend stehen blieb.

„Das ist ja Iwert, Herr!“ wandte sich Jochen herum.

Iwert war der Jäger und Forstwart des Barons.

„Sieh da, mein Sohn – guten Abend auch! Was thust Du denn hier draußen?“

„Ich lauere auf einen Rehbock, der hier in das Kraut ’rüber geht.“

„Schön, mein Sohn. Wie geht es in Pelchow? Ist da was Neues passirt?“

„Ja; ich war vorhin auf dem Hofe und habe gehört, daß sich das gnädige Fräulein den Fuß verstaucht hat und daß der neue Administrator gekommen ist.“

„Was?“ fuhr der Baron wie von der Tarantel gestochen auf. „Der Mensch ist da? Und meine Anne-Marieken hat sich was Weh gethan? Das bleibt doch wahr, daß Unglück nicht allein kommt. Ist das schlimm mit Anne-Marieken?“

„Das glaube ich nicht. Der Herr Administrator hat sie in dem Wagen vom Felde gebracht, mit dem er von Demmin gekommen ist: es war dem lahmen Lorenz seiner.“

„In dem Wagen? Was hat der Kerl meine Anne-Marieken zu fahren? Wie sah er denn aus, Iwert?“

„Dürten sagt, er hätte grüne Handschuhe an den Händen und Augengläser auf der Nase gehabt, und er wäre ein höllisch strammer Herr.“

„So’n Kerl! Was hat er grüne Handschuhe anzuziehen, daß er an den Händen wie ’ne Pogge anssieht? Das sag’ ich Dir, mein Sohn, Du läßt Dich auf nichts ein, was er von Dir will. Ich habe Dich in meinen Dienst genommen und bin Dein offenbarer Herr, und was die Strammheit von dem Teterower anbetrifft, da wollen wir schon damit fertig werden. Fahr’ hin, Jochen! Nein, das arme Anne-Marieken! Gute Nacht auch, mein Sohn!“

(Fortsetzung folgt.)

Rast an der Quelle.

Der Sommer liegt auf dem waldigen Thal;
Durch die Blätter blitzt sein heißer Strahl.

Zwei Rosse traben selbander so sacht
Durch der Buchenhallen gründämmernde Pracht.

5
Es sitzt die Maid auf dem weißen Roß,

Auf dem dunkelfarb’nen der junge Genoß.

„Wie stumm, mein Knappe!“ – „Herrin, verzeiht,
Ich trage im Herzen gar heimliches Leid.“ –

„Und doch war allzeit beredt Dein Mund?

10
Erzähl’ mir ein Märchen zu dieser Stund’!“ –


„Ihr habt zu gebieten; es sei Euch zu Dank
Die Märe, die Meister Gottfried einst sang!“ – -

Von den Lippen rollt’s ihm wie flüssiges Gold;
Er erzählt von Tristan und von Isold,

15
Und wie sie sich liebten so heiß und traut,

Obwohl sie von Cornewals König die Braut.

Wär’ die Seel’ auch verloren und himmlisches Glück,
Sie mußten sich lieben – das war ihr Geschick.

Sie konnten nicht lösen den süßen Bann,

20
Den ein Wundertrank ihnen angethan. –


Der Knab’ hat geendet: nun flüstert er bang:
„Glaubt, Herrin, Ihr an den Zaubertrank?“

Sie lächelt: „Ich wär’ ihn zu trinken gewillt,
Wenn er den Durst mir, den brennenden, stillt.“

[729]

Rast an der Quelle.
Nach einer Photographie des Oelgemäldes von C. Steffeck im Verlage der „Photographischen Gesellschaft in Berlin“.

25
Da späht er umher, und er sieht so hell

Von der Felswand sickern den silbernen Quell.

Er schwingt sich vom Sattel in glühender Hast,
Und Rosse und Reiterin halten Rast.

Statt des Bechers erfaßt sein Barett er im Nu –

30
Die blonde Maid sieht ihm träumerisch zu.


Nun schlürft sie durstig mit rosigem Mund
Das glitzernde Naß vom sammtenen Grund;

Dann schaut sie dem Knaben in’s Angesicht –
Das leuchtet so seltsam; sein Auge spricht:

35
„O, wäre dies Wasser der Zaubertrank,

Der Isolde und Tristan zusammenzwang!“

Und wie sie es liest in des Blickes Gluth,
Da wallt ihr wärmer zum Herzen das Blut;

Erröthend hat sie sich zu ihm geneigt – –

40
Der Wald nur sieht es – der Wald, er schweigt.


 Anton Ohorn.

[730]

Das Leuchten lebender Wesen.

Von Carus Sterne.


2. Die Phosphorescenz im Thierreich

„Welch' leuchtendes Wunder verkläret die Wellen
Die gegen einander sich funkelnd zerschellen?
So leuchtet's und schwanket und hellet hinan:
Die Körper sie glühen auf nächtlicher Bahn,
Und rings ist Alles vom Feuer umronnen -
So herrsche denn Eros, der alles begonnen!
                                                                 Faust.“


Während die Zahl der leuchtenden Pflanzen eine leicht übersehbare bleibt, ist diejenige der Leuchtthiere Legion, und sämtliche Classen des Thierreichs sind unter ihnen vertreten. Namentlich gilt dies von den im Meere lebenden Thiere, unter denen Infusorien, Seefedern, Quallen, Würmer, Seesterne, Krebse, Sackthierchen, Muscheln, Schnecken und Fische, jegliches in seiner Art, zu jenem prachtvollsten aller Feuerwerke beitragen, welches man das Meeresleuchten nennt. Ueberall, von den Polen bis zum Aequator leuchtet das Meer in günstigen Nächten, wenn auch in den warmen Zonen am stärksten, und Dr. Noll in Frankfurt am Main sah im vorletzte Frühjahr sogar sein Seewasser-Aquarium im Zimmer von kleinen Leuchtwesen durchfunkelt, die bei einem hastigen Stoße aufblitzten. Denn eine gewisse Erregung, wie sie sonst der Wellenschlag hervorbringt, befördert das Aufleuchten, und da, wo der Kiel des Schiffes die Meeresfläche durchfurcht, oder eine Schaar Delphine sie im luftigen Getümmel aufwühlt, dort scheint das Wasser zum sprühenden Feuer geworden, und der fliegende Fisch zieht, wie eine Rakete, einen Funkenregen glühender Tropfen nach sich. Inmitten der kleineren Lichtpunkte, die das Wasser bei genauerem Hinschauen allwärts durchfunkeln, ziehen große Leuchtquallen oder Seewalzen und Leuchtfische, wie aus glühendem Metall geformt, daher, und Züge kettenförmig an einander gereihter Salpen bilden an der Oberfläche feuerige Schlangen von ungeheurer Ausdehnung.

Schleiden und andere Autoren haben in neuerer Zeit behauptet, im Alterthum müsse das Mittelmeer, welches jetzt so herrlich leuchtet, diese Fähigkeit nicht besessen haben; denn sonst ließe sich nicht erklären, weshalb weder Homer, noch Virgil, noch selbst Plinius dieser herrlichen Naturerscheinung gedenken. Allein schon im fünften Jahrhundert v. Chr. hat der karthaginiensische Seefahrer Hanno in seinem Periplus berichtet, daß er das Meer an der einen Stelle wie mit Feuerstrahlen brennend gefunden habe, und Plinius wie auch Aelian erwähnen ausdrücklich leuchtender Seethiere. Vom Mittelalter an beginnen dann die Versuche, das Meeresleuchten nach physikalischen Grundsätzen zu erklären. Baco von Berulam und Cartesius meinten, daß das Licht durch die Reibung der Meereswellen entstünde; Papin und Andere dachten an einen chemischen Proceß, der dann bald darauf als mit der Fäulniß abgestorbener organischer Substanz in Verbindung stehend aufgefaßt wurde. Inzwischen hatte man um die Mitte des vorigen Jahrhunderts durch Filtration leuchtenden Seewassers mikroskopische Leuchtwesen entdeckt, und 1760 beschrieb Rigaud bereits das verbreitetste aller Leuchtwesen, die Noctiluca ein Gallertbläschen von weniger als Stecknadelkopfgröße, welches man jetzt zu den Urwesen oder Protisten rechnet und welches wegen seiner großen Häufigkeit den Hauptantheil am gleichmäßigen Leuchten des Meereswassers hat. Unter dem Mikroskope sieht man die Oberfläche dieses kleine Wesens, welches von äußeren Organen nur eine Schwimmgeißel aufweist, ganz mit leuchtenden Pünktchen übersäet, eine Anordnung der Leuchtkörperchen, die man unter Anderem auch bei einer kleinen kiemenlosen Nacktschnecke des Mittelmeeres. (Phyllirhoë bucephala) findet, welche, im Dunklen und unter einer starken Lupe betrachtet, auf ihrer gesammten Hautfläche mit unzähligen kleineren und größeren Leuchtpunkten überstreut erscheint. Bei anderen Leuchtthieren fand man, ähnlich wie bei den Leuchtwürmern und Insecten des Landes, die Leuchtorgane an besonderer Körperstellen localisirt und mit bestimmten Absonderungsorganen in Verbindung stehend; man entdeckte die Reizbarkeit dieser Organe durch mechanische, elektrische und Wärme-Einflüsse; sie wird sichtbar, wenn man das Wasser aufwühlt, aber auch wenn man das betreffende Thier im Dunklen direct einem dieser Reize aussetzt, und es knüpfte sich daran die Theorie einer elektrischen Natur dieser Leuchterscheinungen, die besonders durch Humboldt und andere Forscher über thierische Elektricität angebahnt wurde, aber inzwischen gänzlich wieder aufgegeben werden mußte, da sich die Electricität hierbei nur als ein Reizmittel wie jedes andere erwies.

Im Jahre 1834 stellte Ehrenberg in einer besonderen Schrift alles bisher Bekannte über die schon zu einer ziemlichen Zahl herangewachsenen Leuchtthiere des Meeres zusammen, ohne daß man sagen könnte, daß die Erscheinung dadurch an Verständlichkeit gewonnen hätte. Erst in neuerer Zeit, und zwar namentlich durch die unermüdlichen Forschungen des Professor Panceri in Neapel, des Franzosen A. de Quatrefages und der deutschen Physiologen Max Schultze und Pflüger ist in die Erscheinungen hinsichtlich des anatomischen und physiologischen Vorganges einige Klarheit gekommen. Es stellte sich dabei vor Allem Dreierlei heraus, nämlich daß das Leuchten erstens an einen besonderen, meist fettartigen und in Aether löslichen Stoff gebunden ist, der in besonderen Zellen abgelagert wird, zweitens, daß das Leuchten, respective das Hervortreten dieses Stoffes mit der thierischen Reizbarkeit zusammenhängt, und drittens, daß Lufterneuerungsvorgänge dabei im Spiele sind. Betrachten wir diese drei Grundbedingungen nach einander!

Daß es sich um eine besondere Leuchtsubstanz handelt, die von dem thierischen Körper ausgesondert wird und auch nach der Trennung von demselben noch fortleuchtet, wußten schon die Alten: Plinius beschreibt uns, wie der leuchtende Saft der eßbaren Dattelmuschel (Pholas dactylus), den die Flimmerzellen des oberen Mantelrandes absondern, nicht nur im Munde Derer leuchtet, welche das Thier essen, sodaß sie im Dunkeln wie Feuerfresser erscheinen, sondern auch die Finger leuchtend macht, während die herabfallenden Tropfen des Leuchtsaftes selbst noch am Boden und an den Kleidern leuchten, „sodaß,“ wie er wörtlich hinzusetzt, „klar zu Tage liegt, daß ihr Saft dieselbe Eigenschaft besitzt, die wir an ihrem Körper bewundern müssen“.

Der Leuchtstoff selbst ist namentlich bei dem Johanniswürmchen schon früh durch Macaire, Schnetzler und viele andere Chemiker untersucht worden; der Letztere stellte schon vor mehreren Jahrzehnten fest, daß das Leuchten des vom Körper getrennten Stoffes in Luft und Sauerstoffgas in erhöhtem Grade fortdauert, dagegen ganz wie dasjenige der Leuchtpilze in reinem Wasserstoff-, Stickstoff- und Kohlensäuregase alsbald erlischt. Dieselben Beobachtungen sind in späterer Zeit von Matteucci und anderen Forschern bestätigt worden, und es knüpfte sich früh die Meinung daran, daß das Leuchten durch lebendiges Eiweiß bewirkt werde, welches Phosphor, Phosphorwasserstoffgas oder eine andere phosphorhaltige Verbindung ausscheide, die sich in Berührung mit dem Sauerstoff der Luft oxydire. Diese, wie gesagt, ziemlich alte, aber unhaltbare Ansicht ist noch im vorigen Jahre durch den französischen Naturforscher Jousset de Bellesme in einer Arbeit aufrecht erhalten worden, die er der Pariser Akademie der Wissenschaften vor einigen Monaten vorgelegt hat.

Die Annahme, daß nur die lebende Materie leuchte, wird schon durch das Beispiel der Dattelmuschel widerlegt, deren Saft sich aus dem abgeschnittenen Manteltheil sogar eintrocknen läßt und beim Befeuchten mit Süßwasser mehrmals hinter einander zum Wiederaufleuchten gebracht werben kann, aber unzweifelhaft steht das Leuchten mit dem Lebensproceß in directem Verhältniß, ja scheint sogar, wie Kölliker und Panceri, sowie andere Beobachter gefunden zu haben glauben, unter dem Einflusse des Willens zu stehen. Jouffet de Bellesme hat in dieser Beziehung ein interessantes Experiment gemacht, indem er Johanniswürmchen mittelst eines flachen Schnittes der Kopfganglien, das heißt also der Centralorgane des Willens beraubte. Die noch lebenden Thiere leuchteten dann nicht mehr von selbst, sondern nur in Folge äußerer Reize, und zwar sowohl mechanischer, wie der besonders bequem anwendbaren elektrischen Reize. Auch hierbei leuchtete das elektrisch erregte Organ lebhaft auf, aber nur wenn es sich in atmosphärischer Luft oder Sauerstoff befand, nicht aber in Stickstoff, Kohlensäure oder Wasserstoff. Daß aber der Reiz auch in anderer Weise, als durch den Nerv fortgepflanzt werden kann, beweisen diejenigen Leuchtthiere, welche, wie die Noctiluken und niederen Pflanzenthiere, kaum Andeutungen eines Nervensystems besitzen.

[731] Sehr lehrreich in dieser Beziehung sind Experimente, welche Panceri an der leuchtenden Seefeder (Pennatula phosphorea) des mittelländischen und atlantischen Oceans gemacht hast. Dieses zusammengesetzte Thier gleicht einer Vogelfeder mit dickem, schöngeschwungenem Schaft, welches auf beiden Seiten statt der Federbacken Fiedern mit leuchtenden Polypen trägt. Hierbei läuft nun das Aufleuchten der einzelnen Thiere, wenn die Colonie an einem Ende gereizt wird, so langsam von Nachbar zu Nachbar, daß zwei Secunden vergehen, ehe sämmtliche Thiere ihr Licht leuchten lassen. Da sich der Reiz in den Nerven der Wirbeltiere im Durchschnitt sechshundert mal so schnell fortpflanzt und bei diesen wie vielen anderen Leuchtthieren überhaupt noch keine Nerven entdeckt worden sind, so darf man die Nerventhätigkeit durchaus nicht als einen notwendigen Factor bei dem Leuchten ansehen ebenso wenig wie man in diesen niederen Regionen des Thierreiches auf eine bewußte Willensthätigkeit beim Leuchten rechnen darf. Dieses erfolgt eben als Antwort auf irgend welchen äußeren oder inneren Reiz, und möglicher Weise besteht die ganze Wirkung dieses Reizes darin, daß das Leuchtorgan in Folge desselben eine kleine Menge der Leuchtsubstanz mit dem Sauerstoff der Luft in Berührung treten läßt.

Auf diesen Punkt deutet auch die nicht selten vorkommende unmittelbare Verbindung der Leuchtorgane mit den Athmungswerkzeugen hin. Beim Johanniswürmchen treten die letzten Endungen der Luftröhrenäste (Tracheen) mit in den Leuchtorganen liegenden sternförmigen Zellen in Verbindung, die dadurch gestielt erscheinen. Das leuchtende Fett dieser Zellen, welches nach Panceri's Untersuchungen durchaus keine Eiweißstoffe enthält, wird dadurch gleichsam wie die glühenden Kohlen eines Rostes von einem Sauerstoffstrome angeblasen, und man kann sich denken, daß in Folge der großen Menge eintretender Tracheenäste die mit Leuchten verbundene langsame Verbrennung dieser Fettkörper jene Intensität erreicht, die uns den unvergleichlichen Anblick der fliegenden Sterne bei den Männchen einer unserer Arten verschafft. Möglichenfalls besteht also die Folge dieser Erregung des Leuchtorgans hier nicht in der Befreiung des Leuchtstoffs, sondern in der gesteigerter Sauerstoffzufuhr. Zu ähnlichen Betrachtungen führt die vorhin erwähnte Nacktschnecke, deren ganze Oberhaut, wie der gestirnte Himmel, mit Leuchtzellen bedeckt ist. Diese Schnecke ist ausnahmsweise kiemenlos, und ihre gesammte Oberhaut dient hier als Athmungsorgan , sodaß die Leuchtszenen sich auch hier an dem Orte des energischesten Gasaustausches befinden.

Nach alledem muß die ältere Meinung, daß es sich hier gerade wie beim Leuchten des Phosphors und der im vorigen Artikel erwähnten Pilze um die Oxydation und langsame Verbrennung eines vom Körper ausgeschiedenen Stoffes handle, von Neuem betont werden, und es ist dabei gleichgültig, ob der durch äußere Reize und innere Wirkungen angefachte psychologische Vorgang im gegebenen Falle darin bestehst daß die Leuchtsubstanz aus den Vorrathsorganen herausgedrückt und dadurch in Berührung mit dem in der Luft oder im Wasser enthaltenen freien Sauerstoffe gebracht wird, oder ob dem aufgespeicherten Stoffe in seinen durchsichtigen Behältern durch den Athmungsproceß selbst Sauerstoff zugeführt wird. Es tritt nun an uns die Frage heran: ist wirklich ein phosphorhaltiger Stoff als Grundlage des Leuchtprocesses anzunehmen? Schon vor mehreren Jahrzehnten wies Gmelin in seinem großen Handbuche der Chemie wiederholt darauf hin, daß die Leuchtstoffe der Pflanzen keinen unoxydirten Phosphor enthalten und daß man annehmen müsse, es handle sich hier um organische Kohlenstoffverbindungen die sich bei der langsamen Verbindung mit Sauerstoff gerade wie Phosphor verhalten.

In der That hat man mit der Zeit eine Menge phosphorfreier organischer Verbindungen entdeckt, die bei höheren Temperaturen (über 150 Grad C.) im Dunklen leuchten. Dazu fügte im Jahre 1877 der Lemberger Professor Dr. Radziszewski die Beobachtung, daß das Lophin und einige andere organische Verbindungen schon bei 10 Grad C. sehr stark und anhaltend leuchten, wenn sie in Berührung mit Alkalien der Einwirkung der Luft ausgesetzt werden. Derselbe hat diese interessanten Studien fortgesetzt und, wie er vor einigen Monaten in Liebig’s „Annalen der Chemie“ mittheilte, eine große Menge organischer Substanzen entdeckt, die sich in alkalischer Auflösung schon bei niedrigen Temperaturen unter lebhafter und andauernder Lichtentwickelung mit dem Sauerstoffe verbinden. Dahin gehört die Mehrzahl unserer ätherischen und fetten Oele, und alle höheren Glieder der sogenannten Alkoholreihe, zu denen Wachs, Walrath, Cholesterin (Gallenfett) und andere im Pflanzen- und Thierkörper häufig auftretende Stoffe gehören. Dasselbe gilt auch von einigen Körpern deren chemische Natur noch nicht so genau erkannt ist, um sie einer bestimmten chemischen Gruppe zuzutheilen, die aber im Thierkörper häufig vorkommen, wie die Gallensäuren (Glycochol-Taurochol-Cholsäure) und die im thierischen Gehirn, Eiweiß, in den Nerven, Blutkörperchen etc. vorkommenden Protagonstoffe (Lecithin und Cerebrin). Wenn man ein wenig Leberthran oder einen Körper der höheren Alkoholreihe, oder einen der letztgenannten Stoffe in Benzol, Toluol, Ligroin oder Chloroform auflöst und ein Stückchen Aetzkali oder Aetznatron hinzusetzt, so leuchtet die Mischung bei gewöhnlicher Temperatur tage- und wochenlang, so oft man sie umschüttelt, und noch stärker, wenn man sie ein wenig erwärmt.

Obwohl nun alle die letztgenannten Stoffe im lebenden Körper vorkommen, so würde doch die zum Leuchten gehörige Gegenwart von Alkalien der Erklärung Schwierigkeiten bereiten; denn freies Kali, Natron oder ein anderes unorganisches Alkali kann nicht leicht als in den Leuchtorganen gebildet gedacht werden. Hier hat nun Professor Radziszewski seine Theorie der Phosphorescenz organischer Körpern vollendet, indem er zeigte, daß die Gegenwart in organischer Körpern vorhandener zusammengesetzter Alkalien das Leuchten ebenso gut hervorrufen kann, so z. B. das in der Galle, im Gehirn und Eidotter fertig gebildet vorkommende Cholin oder das durch Zersetzung der Gehirn- und Nervensubstanz entstehende Neurin. Löst man ein wenig Lophin, Leberthran, Protagon, Walrath etc. in Alkohol oder Toluol und setzt einige Tropfen Cholin- oder Neurinlösung hinzu, so leuchtet die Mischung schon bei 10 Grad Celsius und noch stärker bei gelindem Erwärmen. Da es sich in vielen dieser Fälle um im tierischen und pflanzlichen Organismus allgemein verbreitete Stoffe handelt, so wäre damit das Leuchten dieser lebenden Wesen ohne alle Schwierigkeit erklärt.

Die Identität dieses durch einfache chemische Processe hervorgerufenen Leuchtens mit demjenigen lebender Körper wird noch durch viele andere Uebereinstimmungen wahrscheinlich gemacht. So hat die spectroskopische Untersuchung ergeben daß die Lichtqualität der genannten Chemikalien bei ihrer langsamen Verbrennung völlig derjenigen der Leuchtpflanzen und -thiere gleich ist. Es ist in der weitaus größter Mehrzahl der Fälle ein weißgrünliches Licht, welches im Spectroskope einen Farbenstreifen zeigt, dem sowohl das rote als das violette Ende mehr oder weniger vollständig fehlen. Ferner muß man sich erinnern, daß die meisten Beobachter die Leuchtsubstanzen als Fettstoffe charakterisirt haben und daß gerade diese zu den am leichtesten und stärksten leuchtenden gehören. Auch ist aufmerksamen Beobachtern nicht entgangen, daß die Berührung der Leuchtorgane mit alkalischen Substanzen den Leuchtproceß zur höchsten Energie steigerte.

So beobachtete Professor Panceri an der mehrerwähnten Leuchtschnecke (Phyllirhoë), daß die Lichterscheinung am glänzendsten wurde, wenn er sie im Dunklen mit Ammoniak übergoß. Dann erglänzte der ganze Körper des Thieres, der rings mit Leuchtzellen bedeckt ist, im herrlichsten bläulichen Lichte, während elektrische Reize bei diesem Thiere ganz wirkungslos waren. Professor Radziszewski hat auch einen Versuch angestellt, um zu ermitteln, wie viel organische Substanz und wie viel Sauerstoff bei diesem Leuchten der langsam verbrennenden organischen Substanz verbraucht werden möchte. Er löste 1,82 Gramm Lophin in fünfundzwanzig Cubikcentimetern concentrirter alkoholischer Kalilösung auf, und es zeigte sich, daß dieselbe zwanzig volle Tage und Nächte in ihrer ganzen Masse leuchtete, ja daß noch am fünfundzwanzigsten Tage ein schwaches Leuchten vorhanden war.

Nimmt man an, daß die gesammte angewandte Lophinmenge in diesen zwanzig Tagen zersetzt worden sei, so folgt, daß für die Stunde 0,00379 Gramm Lophin und 0,000607 Gramm Sauerstoff (also ganz winzige Mengen) nöthig waren, um die fünfundzwanzig Cubikcentimeter Flüssigkeit leuchtend zu erhalten. Man kann darnach berechnen, wie verschwindend klein der Verbrauch eines Leuchtkäfers etc. in seiner kurzen Glanzzeit sein mag.

Die Betrachtung dieses Leuchtprocesses durch langsame Oxydation der Kohlenstoffverbindungen erweckt nun noch ein besonderes Interesse dadurch, daß sie eine fast vollständige Analogie mit dem Leuchten des Phosphors in anderer Beziehung darbietet. Wenn man Phosphorstangen mit feuchter Luft in ein Gefäß bringt, das mit einer Glasglocke zugedeckt ist, so bemerkt man, daß während [732] des Leuchtens dieser Stangen im Dunklen der unter der Glocke enthaltene Sauerstoff ozonisirt wird, um sich darnach um so lebhafter mit dem Phosphor zu verbinden. Es hängt das damit zusammen, daß der Phosphor bei seiner langsamen Verbrennung drei Atome Sauerstoff, also eine ungerade Zahl von Atomen, gebraucht, sodaß, da der gewöhnliche Sauerstoff aus paarigen Atomen besteht, immer unpaariger, dreiatomiger Sauerstoff (Ozon) oder auch oxydirtes Wasser entstehen müssen, Körper, welche die langsame Verbrennung steigern und eben dadurch wahrscheinlich das Leuchten erzeugen, das sonst nur schneller Verbrennung eigen ist.

Nun ist es gewiß kein Zufall, daß gerade die vorerwähnten ätherischen und fetten Oele und Fettstoffe sich in diesem Punkt genau ebenso verhalten wie Phosphor, nämlich den Sauerstoff der Lust ozonisiren und oxydirtes Wasser bilden. Und hier tritt noch die lehrreiche Thatsache hinzu, daß diese Substanzen in Berührung mit Alkalien und Sauerstoff nur so lange leuchten, wie Ozon zugegen ist; die Mischung ätherischer und fetter Oele mit Alkali hört alsbald auf zu leuchten, sobald das gewöhnlich in diesen Oelen aufgelöste Ozon verbraucht ist, und wird erst wieder leuchtend, wenn diese Substanzen einige Zeit in nicht vollgefüllten Gefäßen (namentlich im Sonnenschein) mit der Luft in Berührung gestanden haben. Ferner besitzen aber auch die Blutkörperchen die Fähigkeit, den Sauerstoff der Athemluft zu ozonisiren, und möglicher Weise besitzen die höchst energisch leuchtenden Insecten, bei denen sich zahlreiche Luftröhrenäste in die Leuchtorgane erstrecken, die Fähigkeit, den Leuchtstoff mit ozonisirter Luft anzublasen.

Zum Schlusse haben wir noch zu fragen, wozu die Leuchtorgane den lebenden Wesen nützen? Denn nach der neueren Weltanschauung kann man sich nur die Ausbildung solcher Organe und Fähigkeiten vorstellen, die den Inhabern von irgend einem Nutzen sind. Bei dem Johanniswürmchen hat man seit langer Zeit angenommen, es handle sich für das bei einigen Arten dieser Käfer allein leuchtende ungeflügelte Weibchen darum, dem geflügelten Männchen seinen Aufenthalt in der Ferne zu verrathen, und in der That genügt es, nach den Beobachtungen einiger Naturforscher, ein leuchtendes Weibchen an einem warmen Frühsommerabend auf der offenen Hand zum Fenster hinauszuhalten, um sogleich einige Männchen anzulocken. Auch bei einigen anderen Thieren scheint das Leuchten nur zur Zeit der Geschlechtsreife stattzufinden, allein bei den Johanniswürmchen leuchten auch die Larven, und die Pilze nebst unzähligen Seethieren leuchten immerfort. Die Naturforscher der englischen Tiefsee-Expeditionen, welche eine Menge neuer Leuchtthiere aus Regionen emporgezogen haben, in welche kaum noch ein Sonnenstrahl dringt, haben wiederholt die Meinung ausgesprochen, daß dort unten die meisten Thiere ihr Grubenlicht am Kopfe trügen, und daß es vielleicht dieser allgemeinen Selbstbeleuchtung zu danken sei, daß sich drunten in der ewigen Nacht auch schöne Farben entwickelten. Ich glaube aber, daß man nach einem viel allgemeineren Vortheil des Leuchtens für die Pflanzen und Thiere selbst suchen muß, der wahrscheinlich darin besteht, daß mit dieser Fähigkeit begabte Thiere und Pflanzen dadurch andere Thiere abhalten sie zu verzehren, gewiß der größte Vortheil, den es für sie geben kann. Dadurch würde sich erklären, daß flügellose Insecten, die weniger leicht ihren Verfolgern entwischen können, wie z. B. Johanniswürmchen und Skolopender, am häufigsten leuchten, und namentlich, daß bei allen Leuchtthieren jede Berührung, jeder Angriff das Leuchten hervorruft oder vermehrt. Es ist, als sollte durch das plötzliche Aufleuchten jeder Angreifer erschreckt werden. Natürlich wird dieser wahrscheinlich ebenso, wie das sogenannte „Sichtodtstellen der Käfer“, unbewußte Kunstgriff nicht immer helfen; denn wenn der Insectenliebhaber z. B. erst dahinter gekommen ist, daß das Leuchten der Johanniswürmchen ein unschuldiges Feuer ist, so wird er nur desto bequemer seinen Fang machen. So soll man in Amerika den auf Feuerfliegen lüsternen Ochsenfrosch mit hingeworfenen glühenden Kohlen fangen. Daher wird das Leuchten, ebenso. wie die auffallende sogenannte Trutzfarbe vieler Thiere, nur solchen Leuchtthieren nützlich sein, die zugleich einen ekelhaften Geruch oder Geschmack haben, indem sie irgend einen auf Beute lauernden Feind schon von fern warnt, sie nicht mit wohlschmeckenden Thieren zu verwechseln und gleichsam aus Versehen zu verschlucken. In der That sind die Johanniswürmchen und viele der hierhergehörigen leuchtenden Seethiere von Geruch und Geschmack widerlich, wenn nicht gar giftig. Und so mögen die mikroskopischen Leuchtwesen in ihrer mikroskopischen Welt ebenso gemieden werden, wie die leuchtenden Quallen, Salpen und Fische in unserer Sehsphäre, und dieser bedeutsame Vortheil würde leicht die ungemeine Häufigkeit leuchtender Pflanzen und Thiere erklären. Diese Nützlichkeit würde es ferner erklären, daß bei einigen kleinen Knochenfischen der Tiefsee, die man erst in neuester Zeit studirt hat, die Leuchtapparate eine so große Vollkommenheit erreicht haben, daß ein solcher Fisch, der bei der Challenger-Expedition gefangen wurde, so hell wie ein Stern im Netze funkelte. Es scheint, daß die Leuchtorgane dieser Fische wie die Apparate der Leuchttürme und physikalischen Cabinete mit Hohlspiegel und Linsen versehen sind, durch welche das phosphorische Licht mit höchstem Glanze nach außen geworfen wird.




Feuerländer in Berlin.

In dem Augenblicke, wo die nachstehende Culturskizze in die Presse gelangt, hat voraussichtlich der prächtige zoologische Garten in der Hauptstadt des deutschen Reiches die wilden Gäste bereits aufgenommen, welche unser Bild darstellt, jene Bewohner der ewig feuchten, gleichmäßig kühlen Magellansstraße, welche nach Oscar Peschel von allen Seefahrern als „Schreckbilder der Menschheit“ beschrieben werden. Auf Fürsprache des Gouverneurs von Punta Arenas, des Herrn Wood, hat die chilenische Regierung dem Capitain G. Schweers gestattet, auf dem Hamburger Dampfer „Theben“ elf Feuerländer, die von einer der Inseln der südlichsten Inselgruppe von Südamerika (Hermite) stammen, nach Europa überzuführen, und zwar unter der Garantieleistung, daß dieselben nach einer gewissen Zeit in ihre Heimath zurückgebracht werden. Am 18. August dieses Jahres landeten die Pescherähs, wie sie noch Bougainville nennt, ehe sie Charles Darwin „Feuerländer“ getauft, in Havre und wurden im Acclimatisationsgarten zu Paris untergebracht. Dort erregten sie – vier Männer, vier Frauen und drei Kinder, von denen leider dasjenige, das sich durch ein besonders intelligentes Gesicht und Wesen auszeichnete, plötzlich starb – das lebhafteste Interesse der Pariser Bevölkerung.

Auch ihre primitiven Canoes, Waffen und andere Utensilien haben die Feuerländer aus ihrer feuchten Heimath mitgebracht. Die Berichte, welche über sie in französischen Zeitungen veröffentlicht wurden und durch Correspondenten nach Deutschland gelangten, weichen nicht wesentlich ab von den Mittheilungen der Reisenden, welche die Wilden in ihrem Lande beobachteten und schildern sie übereinstimmend als widerliche Geschöpfe, die noch im Uranfange menschlicher Cultur stehen, wenn von solcher überhaupt bei ihnen die Rede sein kann. Sie sind etwa fünf Fuß groß, von dunkler, schmutziger Kupferfarbe, während ihr Haupt mit schwarzen struppigen Haaren bedeckt ist, die zum Theil auf das Gesicht herabfallen. Sie kennen anscheinend nicht einmal die reinigende Eigenschaft des Wassers, also noch weniger den Gebrauch der Seife; sie gehen – Männer, Frauen und Kinder – völlig nackt. Nur als Schutzmittel gegen die rauhe Witterung benutzen sie ein Seehundsfell, welches sie mittelst einer Sehne am Halse befestigen und, je nach der Richtung des Windes, entweder auf der Brust oder auf dem Rücken tragen. Muschelthiere und Seehundsfleisch dienen ihnen als Nahrung, aber gekochte Speisen deren Genuß sie krank macht, verschmähen sie durchaus. Dagegen soll es ein Fest für die Feuerländer sein, wenn die Fluth den Leichnam eines Walfisches an ihre Küsten treibt, dessen Körpertheile sie in rohem Zustande verschlingen.

Die Feuerländer sind die einzigen Südamerikaner vom Aequator bis zum Cap Horn und vom Cap Horn bis weit über den La Plata, die das Meer in hohlen Baumstämmen befahren. Von dem beständigen Feuer, welches sie auf diesen Kähnen unterhalten, haben Land und Leute den Namen erhalten.

Die Bewohner der Magellan'schen Inselwelt, denen es bei der hohen Dampfsättigung der Luft schwer werden würde, Holz in Brand zu stecken gehören zu den wenigen Menschenstämmen, welche Funken aus Felsenkiesen schlagen und sie in Zunder auffangen.

[733]

Feuerländer-Typen.
Originalzeichnung von J. Bungartz.

[734] Neben dieser Erfindung erwähnt Peschel als einen Beweis dafür, daß auch diesen geringsten aller Menschen nicht gänzlich der Scharfsinn fehlt, noch die von Darwin gemachte Beobachtung, daß die Feuerländer bei der Vermehrung ihrer Jagdhunde die Regeln der Rassezüchtung befolgen. Peschel hebt außerdem die Thatsache hervor, daß es, vom La Plata angefangen, bis zum Cap Horn und vom Cap Horn längs der Westküste Südamerikas bis fast zur Landenge von Panama zur Zeit der Entdeckung keinen Volksstamm gegeben hat, der auf den Einfall gerathen wäre, andere Fahrzeuge zu verfertigen als Flöße; folglich mußte die Erbauung von Kähnen in den Magellan’schen Gewässern von Neuem erfunden werden, und die Erfinder waren eben die Feuerländer, bei denen die eigenartige Küstengestaltung gewisse Lebensgewohnheiten und Fertigkeiten hervorgerufen hat.

Ursprünglich besaßen sie, wie Capitain Wilkes erzählst freilich auch nur Kähne aus Baumrinden, die über ein Gestell gespannt und zusammengenäht waren, des Ausschöpfens aber fortwährend bedurften. Später sind jedoch bei ihnen bessere Fahrzeuge gesehen worden, und es wird sogar ihre Kalfaterung gerühmt. Immerhin sind die Feuerländer nur als Anfänger im Seemannshandwerk zu betrachten, und Peschel schließt aus ihren schwachen Versuchen, so wie aus der in ihren Händen befindlichen Waffe, der Schleuder, welche sonst selten bei maritimen Stämmen angetroffen wird, daß sie früher auf dem Festland, wie die ihnen verwandten Araucaner oder Patagonier, von der Jagd gelebt haben, und schließlich, von stärkeren Nachbarn aus ihren Revieren verdrängt, zu dem Wagniß einer Ueberfahrt nach dem nächsten Küstenland und zur Jagd auf Seethiere genötigt worden sind.

Nach der allmählichen Ausrottung der Seehunde, an denen das Feuerland sehr reich war, müssen sich jetzt die Feuerländer meist mit Schalthieren und Fischen begnügen.

Darwin, der, als Begleiter des Capitain Fitzroy auf seiner großen Reise um die Erde im Jahre 1832, auch das Feuerland besucht und in seinen am Bord des Kriegsschiffes „Beagle“ verfaßten Tagebüchern die scharfsinnigsten und wertvollsten Beobachtungen niedergelegt hat, schildert das Feuerland als ein Bergland, welches zum Theil in das Meer versunken ist, sodaß tiefe Buchten die Stellen einnehmen, wo früher Thäler sich ausdehnten Die bergigen Strecken sind, mit Ausnahme der exponirten westlichen Küste, vom Wasserrande aufwärts mit einem großen Walde bedeckt. Die Bäume wachsen auf den Bergen bis zu einer Höhe von 800 bis 450 Meter über dem Meeresspiegel; auf diese Zone folgt dann ein Streifen Land mit kleinen niedrigen Alpenpflanzen und diesem wieder die Linie des ewigen Schnees, welche in der Magellans-Straße bis zur Höhe von circa 1000 Meter herabsteigt.

Man findet nur äußerst selten einen Acker ebenen Bodens in irgend einem Theile des Feuerlandes. Ueberall aber ist die Oberfläche desselben von einer dicken Schicht morastiger Torfes bedeckt. Selbst innerhalb des Waldes wird der Boden durch eine Masse langsam faulender vegetabilischer Substanzen verborgen, welche, weil sie vom Wasser durchleuchtet sind, dem Fuße nachgeben. Ein anderes Mal schildert Darwin beim Besteigen des etwa 600 Meter hohen Mont Taru die düstern Waldungen, deren jedes Markzeichens entbehrende Dichtigkeit den Wanderer zwingt zum Compaß seine Zuflucht zu nehmen.

„In den tiefen Schluchten,“ sagt unser Gewährsmann, „ging die todtenartige Scenerie der ödesten Stille über alle Beschreibung; draußen blies ein heftiger Sturm, aber in diesen Hohlwegen bewegte nicht einmal ein Windhauch die Blätter der höchsten Bäume. Alles war so düster, kalt und naß, daß selbst nicht die Pilze und Moose gedeihen konnten. In den Thälern war es kaum möglich fortzukriechen, so vollständig waren sie von großen modernden, nach allen Richtungen hin umgestürzten Baumstämmen verbarricadirt. Ging man über diese natürlichen Brücken, so wurde man oft dadurch aufgehalten, daß man knietief in das verfaulte Holz einsank; wenn man ein andermal versuchte, sich an einen festen Stamm anzulehnen, so erschrak man, eine Masse zerfallener Substanz zu finden, bereit, bei der geringsten Berührung umzustürzen. Endlich befanden wir uns zwischen den verkümmerten Bäumen und erreichten dann bald den kahlen Rücken, der uns auf den Gipfel führte. Hier hatten wir eine für das Feuerland charakteristische Aussicht: unregelmäßige Bergketten, gefleckt durch Haufen von Schnee, tiefe gelblich-grüne Thäler und Meeresarme, welche das Land in vielen Richtungen durchschnitten. Der starke Wind war durchdringend kalt und die Atmosphäre etwas dunstig, sodaß wir nicht lange auf dem Gipfel blieben. Das Herabsteigen war nicht ganz so mühsam wie das Hinaufsteigen; denn das Gewicht des Körpers erzwang sich einen Weg, und alles Ausrutschen und Fallen geschah in der gewünschten Richtung.“

In diesen düsteren, immergrünen Wäldern wächst an den Buchenstämmen in ungeheurer Menge ein kugliger hellgelber Pilz von schleimigem, ein wenig süßem Geschmack, der ein Hauptnahrungsmittel der Feuerländer bildet.

Von Säugethieren erwähnt Darwin außer Walfischen und Robben eine Fledermausart, einige Maus- und Fuchsarten, dann die Seeotter, das Guanaco oder das wilde Llama und eine Hirschart, die sich indeß meist in den trockenen östlichen Theilen des Landes aufhält.

Die düsteren Wälder sind nur von wenig Vögeln bewohnt; am häufigsten begegnet man dem Baumläufer, der überall in den Buchenwäldern, hoch oben und tief unten, in den allerdüstersten, nassen und unzugänglichsten Schluchten zu finden ist. Eigentümlich ist die Abwesenheit fast aller Reptilien; selbst der Frosch kommt dort nicht vor.

Das Klima des Feuerlands schildert Darwin als gleichmäßig feucht und windig. Aus einer kleinen vergleichenden Tabelle über die Temperaturverhältnisse, die er mitteilt, geht hervor, daß die Durchschnittstemperatur des centralen Theils des Feuerlandes im Winter kälter und im Sommer um nicht weniger als 91/2 Grad kühler ist als in Dublin.

Dieses unwirthliche Land wird nun von einem sehr elenden Menschenschlage bewohnt. Nach Darwin's Schilderung, die auch von anderen Reisenden bestätigt wird, scheinen die Feuerländer den benachbarten Patagonier der Magellansstraße nahe verwandt zu sein. Die Wilden, die ihm bei der Landung zuerst begegneten, bestanden aus Leuten, auf welche die oben von uns angedeuteten Merkmale zutreffen. Der Hauptsprecher war ein alter Mann, der ein Stirnband aus weißen Federn rund um den Kopf gebunden hatte, welches zum Theil sein schwarzes, verwildertes Haar zusammenhielt. Quer über sein Gesicht zogen sich zwei breite Streifen; der eine, hellroth gemalt, reichte von einem Ohr zum andern und schloß die Oberlippe mit ein; der andere, weiß wie Kreide, lief parallel mit dem ersten, sodaß selbst die Augenbrauen des Mannes weiß gefärbt waren.

„Die Gesellschaft war,“ fügt Darwin hinzu, „durchaus den Teufeln ähnlich, welche in Stücken, wie der ‚Freischütz‘, auf die Bühne kommen.“ Diese Wilden begrüßten die Landenden in eigenthümlicher Weise. Durch das Geschenk eines rothen Tuches, welches die Feuerländer sofort um ihren Hals banden, ward zunächst die gegenseitige Freundschaft begründet. Dies drückten die Wilden so aus, daß der schon erwähnte alte Mann den Ankömmlingen die Brust beklopfte und eine Art glucksendes Geräusch machte, wie die Leute thun, welche Hühnchen füttern. Diese wiederholten Beweise der Freundschaft wurden mit drei Schlägen beschlossen, welche gleichzeitig auf die Brust und auf den Rücken gegeben wurden.

Die Sprache der Feuerländer verdient nach europäischen Begriffen kaum articulirt genannt zu werden. Capitain Cook hat sie mit den Lauten verglichen, die ein Mensch beim Reinigen seiner Kehle macht – aber, bemerkt dazu Darwin, sicher hat kein Europäer jemals seine Kehle mit soviel Gutturalen und glucksenden Geräuschen gereinigt. Darwin schildert an weiteren Stellen seines Tagebuches andere Gruppen der Eingebornen noch weit abschreckender. So bezeichnet er einmal sechs Feuerländer, die in einem Canoe neben ihm und seinen in der Nähe der Wollaston-Insel an’s Land gehenden Gefährten sich befanden, als die elendsten Geschöpfe, die er irgend wo gesehen. Während die Eingebornen an der Ostküste Guanaco-Mäntel und die auf der Westküste Robbenfelle, bei der centralen Stämmen die Männer meist eine Otternhaut oder doch irgend einen ähnlichen, freilich zur Bedeckung nicht hinreichenden schmalen Streifen als Bekleidung tragen, waren die Feuerländer in dem Canoe völlig nackt, und selbst eine ganz erwachsene Frau in Eva’s Costüm. Diese armen elenden Geschöpfe waren in ihrem Wachsthum verkümmert; ihre häßlichen Gesichter hatten sie mit weißer Farbe beschmiert; ihre Haut war schmutzig und fettig, ihr Haupthaar verwirrt, ihre Stimme mißtönend.

„Erblickt man solche Menschen,“ sagt Darwin, „so kann man sich kaum zu dem Glauben bekehren, daß sie unsere Mitgeschöpfe und Bewohner einer und derselben Welt sind.“ Und doch geht aus den persönlichen Beobachtungen des berühmten Forschers hervor, [735] daß auch in diesen elenden Geschöpfen das Licht der Vernunft stammt, wenn das Flämmchen auch noch so schwach und unentwickelt ist. Darwin schildert die Neugierde und Ueberraschung der Eingebornen recht drastisch; in einer Gesellschaft von achtundzwanzig Mann, die unter dem Commando des Capitain Fitzroy nach der östlichen Mündung des Canals aufgebrochen war, landete er eines Tages – es war um die Mittagszeit unter einer Gruppe von Feuerländern.

„Anfangs,“ berichtet er, „waren sie nicht geneigt, freundlich zu sein; denn bis der Capitain an der Spitze der anderen Boote heranruderte, hielten sie ihre Schleudern in der Hand. Wir entzückten sie aber bald durch unbedeutende Geschenke, z. B. durch ein rothes Band, das sie um ihre Köpfe banden. – Es war ebenso leicht, diese Wilden zu amüsiren, wie es schwer war, sie zufrieden zu stellen. Junge und Alte, Männer und Kinder hörten nicht auf, das Wort „Yammerschooner“, was ‚gieb mir‘ bedeutet, zu wiederholen. Nachdem sie fast jeden Gegenstand, einen nach dem andern, selbst die Knöpfe an unsern Röcken bezeichnet und ihr Lieblingswort in soviel Ausdrucksweisen wie nur möglich gesagt hatten, sprachen sie es dann in einem neutralen Sinne aus und wiederholen tonlos: ‚Yammerschooner‘. Nachdem sie für jeden einzelnen Gegenstand sehr eifrig geyammerschoonert hatten, wiesen sie, einen sehr einfachen Kunstgriff gebrauchend, auf ihre jungen Frauen und kleinen Kinder, was soviel heißen sollte als: ‚wenn ihr’s mir nicht geben wollt, dann werdet ihr’s doch denen geben‘.“

Darwin macht auch auf die außerordentliche Fähigkeit dieser Wilden, alle Bewegungen, Geberden und selbst die Sprache der fremden Ankömmlinge nachzuahmen, aufmerksam. Sobald diese husteten und gähnten, ahmten es die Feuerländer augenblicklich nach. Sie wiederholten auch mit vollständiger Correctheit jedes Wort in irgend einem Satze, der an sie gerichtet wurde, und erinnerten sich sogar eine Zeit lang solcher Worte, spanischer und auch deutscher und englischer. Sie baten nur Messer, die sie mit dem spanischen Worte cuchilla bezeichneten. Vom Tausch hatten sie deutliche Begriffe. Darwin gab einem Manne einen großen Nagel, ohne irgend ein Zeichen zu machen, daß er eine Gegengabe erwarte. Der Feuerländer suchte sofort zwei Fische aus und überreichte sie ihm auf der Spitze seines Speeres.

Der einem Heuschober in Größe und Gestalt ähnliche Wigwam der Feuerländer besteht nur aus einigen wenigen abgebrochenen in die Erde gesteckten Aesten und ist in der Regel an der einen Seite sehr unvollkommen mit ein paar Gras- und Binsenschichten bedeckt. An der Westküste sind indeß, wie Darwin berichtet, die Wigwams im Ganzen besser; denn sie sind dort mit Robbenfellen ausgekleidet. Des Nachts schlafen in diesen Räumen fünf oder sechs nackte und kaum vor dem Winde und Regen dieses stürmischen Klimas geschützte Wesen auf der Erde, wie Thiere zusammengekauert. So oft Ebbe ist, müssen sie – sei es Winter oder Sommer, Tag oder Nacht – aufstehen, um Muscheln von den Felsen zu sammeln. Wird eine Robbe getödtet oder das treibende Aas eines Walfisches entdeckt, so giebt es ein Fest, und solche elende Nahrung wird nur durch einige wenige geschmacklose Beeren und Pilze gewürzt. Geistige Getränke verschmähen die Feuerländer; dagegen ist ihr eifriges Bestreben auf die Erwerbung von Tabak gerichtet, für den sie alle ihre Geräthe bereitwillig hingeben.

Leider kann nach den Berichten aller Reisenden kaum noch gezweifelt werben, daß die Feuerländer Menschenfresser sind, wenn sie auch vielleicht nur durch die bei ihnen allerdings sehr häufige Hungersnot zu dieser entsetzlichen Entwürdigung des Menschengeschlechts veranlaßt werden. Darwin erwähnt die Mittheilungen von Eingeborenen, nach welchen diese, wenn sie im Winter vom Hunger geplagt werden, eher ihre alten Weiber tödten und verzehren, als ihre Hunde schlachten, da die letzteren Ottern fangen.

Die Waffen der Feuerländer bestehen zumeist aus Bogen und Pfeilen, von denen der Marine-Stabsarzt Dr. Essendorfer im vorigen Jahre in der „Berliner anthropologischen Gesellschaft“ einige Exemplare vorgezeigt hat. Der Schaft des Bogens ist von sehr hartem Holz, die Sehne ein gedrehter Robbendarm. Die Pfeile, aus leichtem Holz angefertigt, sind an einem Ende gefiedert, am anderen stumpf und mit einer kleinen Spalte versehen, in welche die Pfeilspitzen erst beim Gebrauch eingesetzt werden. Die Pfeilspitzen bestehen aus einer grünen glasartigen Masse und stehen bei den Eingeborenen in hohem Werthe; sie geben dieselben nur ungern und für verhältnißmäßig hohe Tauschobjecte her. Auch eines primitiven messerartigen Instruments, dessen Griff aus einem etwa spannelangen Stück Holz besteht, an welches ein mandelförmiges grünes, an den Rändern geschärftes Stück einer glasartigen Masse befestigt war, erwähnt Dr. Essendorfer. Im Uebrigen stimmt seine Schilderung der Feuerländer, denen er im Sommer des Jahres 1878 begegnet ist, mit derjenigen Darwin’s dem Wesen nach überein. Ueber die Religion der Feuerländer konnte Darwin nichts Bestimmtes ermitteln. Sie begraben ihre Todten zuweilen in Höhlen, doch kennt man die Ceremonie nicht, die sie dabei beobachten. Daß sie, wie alle Wilden, abergläubische Gebräuche haben, geht indeß aus der Thatsache hervor, daß jede Familie oder jeder Stamm einen Zauberer oder Beschwörungsmeister besitzt.

Eine eigentliche Regierungsform kennen die Feuerländer nicht. Sie leben in anarchischer Gleichberechtigung der Eine neben dem Andern. Die gegenwärtig in Berlin weilenden Feuerländer sind indeß nicht die ersten, welche mit europäischer Cultur in Berührung kommen. Dasselbe Kriegsschiff „Beagle“, auf dem Darwin sich befand, als er das Feuerland besuchte, hatte drei Bewohner jenes Landes an Bord, welche wenige Jahre vorher durch den Capitain Fitzroy nach England gebracht und dort auf Kosten der englischen Regierung erzogen und unterhalten worden waren. Einer dieser Feuerländer, Jenning Button getauft, war sogar eine Zeitlang in vornehmen Gesellschaften als Schooßkind verhätschelt worden, hatte in Europa stets Handschuhe und blankgeputzte Stiefeln getragen und sprach sogar englisch. In seine Heimath zurückgebracht und mit seinen Verwandten vereinigt, wurde er aber bald wieder der frühere nackte, ungewaschene und ungekämmte Feuerländer.

Wir dürfen übrigens hoffen, daß der diesmalige Aufenthalt der Feuerländer in Europa, und insbesondere in Deutschland, dazu beitragen wird, unsere bisherigen Kenntnisse über diesen uncivilisirtesten Menschenstamm richtig zu stellen und zu erweitern.

Heinrich Steinitz.




Mutter und Sohn.

Von A. Godin.
(Fortsetzung.)


Siegmund wich erschrocken zurück. Im Ausdruck der beiden schönen Gesichter, die einander wie entgeistert anblickten, lag etwas Furchtbares. Genoveva’s Züge wurden fahl; sie wendete ihren Kopf langsam von ihrem Sohne ab, ging mechanisch einer Thür im Hintergrund des Zimmers zu und verschwand.

Siegmund schwankte einen Moment wie trunken; seine Blicke begegneten Horn’s scannendem Auge; brennende Röthe bedeckte sein vorhin aschfahl geworbenes Gesicht; er ließ einen schnellen wilden Blick über die Gruppe hinirren, welche ihn wortlos umstand, hob dann plötzlich den Kopf und folgte seiner Mutter auf dem Fuße.

Er hatte nicht weit zu suchen. Genoveva stand unbeweglich mitten im anstoßenden schwach erleuchteten Cabinet. Als sie ihren Sohn erblickte, kam Leben in die starre Gestalt; sie streckte ihm, wie beschwörend, beide Hände entgegen. Siegmund trat hinweg, als fürchte er von diesen stehenden Händen berührt zu werden. Seine arbeitende Brust war noch immer keines Lautes fähig, aber um so gewaltsamer sprach die zusammengezogene Stirn. Genoveva ertrug nicht den Blick von Entsetzen in diesen Augen, die sie allezeit liebend angeschaut.

„Siegmund!“

Sein Name, mit einem Ton gerufen, den er von dieser Stimme nie gekannt, riß ihn aus der lähmenden Starrheit. Er trat dicht zu ihr heran.

„Hier finde ich meine Mutter,“ sagte er dumpf „In einem Spielhause.“ Das Wort drohte ihm die Kehle zusammen zu schnüren; er schauderte und schloß einen Moment die Augen. So sah er nicht, welche unaussprechliche Qual sich in Genovevas schöne, stolze Züge grub. Ihre ausgestreckten Hände sanken kalt und leblos [736] nieder. Plötzlich richtete sie sich mit leidenschaftlichem Ausdrucke hoch auf und rief fast befehlend:

„Mein Sohn!“

„Du hast keinen Sohn mehr,“ sagte er finster und trat hinweg. Dann wandte er sich, um nach der Möglichkeit zu spähen, dieses Haus zu verlassen, ohne noch einmal durch das Fegefeuer fremder Blicke zu gehen. Das kleine Zimmer hatte keinen eigenen Ausgang. Ein leises Geräusch, wie aus weiter Ferne kommend, wie eine dumpfe Erinnerung an etwas schon Gewußtes, berührte sein Ohr. Es fiel ihm ein, daß es das Plätschern des Springbrunnens war. Sein Blick flog nach dem offenen Fenster.

Im nächsten Momente hatte er sich hinausgeschwungen, mit wenigen Schritten den Hof durchmessen und sich in eines der Cabriolets geworfen die vor dem Gitter hielten. – –

Das Gefühl, fliehen zu müssen welches Siegmund nach seinem Hôtel zurückgeführt, stachelte ihn ebenso unbarmherzig in dessen vier Wänden. „Fort, nur fort!“ war sein einziger. bewußter Gedanke, alles Andere ein wildes Chaos. Doch wohin? Als diese Frage vor ihm aufsprang, nahm sein Elend plötzlich Gestalt an: er sah sein Leben wie mit einem scharfen Schnitt in zwei Stücke zertrennt. Was es gewesen, war dahin, unwiderruflich zerstört. Wohin konnte er wohl gehen? An den Ort, von dem er gekommen, zurück in seinen Beruf? Unmöglich! Was ihm über Allem stand, seine persönliche Ehre war beschimpft. Er warf beide Hände vor sein brennendes Gesicht, und ein Stöhnen brach aus der gequälten Brust. Doch gab er sich keinem Brüten hin; er wollte ja fort; ihm graute vor dem Anbruch des Tages, vor der Möglichkeit, von seiner Mutter, von Horn, hier gesucht und gefunden zu werden. Entschlossen das Hôtel sofort zu verlassen und den nächsten Bahnzug zu benutzen, der aus Paris hinwegführte, gleichviel nach welcher Richtung, warf er hastig Einiges, was er diesen Mittag herausgenommen, in den Koffer zurück. Die Nacht mußte weit vorgerückt sein; er sah nach seiner Uhr. Da ging es ihm auf einmal wie ein Nebel über die Augen, daß er die Zahlen nicht mehr unterschied. Diese Uhr, ein Kleinod ihrer Art, war ein Geschenk seiner Mutter, das ihn sehr erfreut hatte. Nun faßte ihn ein Grauen davor. Alles, Alles was er besaß, der verhältnißmäßige Luxus, in welchem er seit Jahren hingelebt, um den die Cameraden ihn manchmal beneidet hatten, Alles entstammte einem Sumpfe. Es überlief ihn, als hätte er sich im Dunklen von einer eklen Speise genährt und sähe nun im neuen Lichte des Tages, wovon er genossen. Nie, niemals konnte er Einem von Denen, mit welchen er schöne, stolze Jahre zusammen verlebt, vor die Augen treten – unter der Erde hätte er sich verbergen mögen. Und weshalb nicht das? Wozu die Bürde eines Lebens weiter tragen, das ihm keine Güter mehr zeigte, an dem Alles ihn anwiderte? Aber auch in der Vorstellung des Aufhörens fand er keinen Trost. Das war keine Lösung; die Schande blieb haften Wüßte er nur erst, wohin jetzt! Da fiel ihm die Moosburg ein, und der Gedanke war wie ein Lufthauch für einen Erstickenden. Dorthin wollte er gehen; dieser Fleck Erde war sein, sein einziger unbesudelter Besitz. Am Tage, als er mündig geworden, hatte Genoveva ihrem Sohne den Kaufact der Burg als Eigenthum übergeben. An diesem Erbe seines Vaters klebte keine schmähliche Erinnerung; denn dort lag und stand heute noch Alles wie in seiner Kinderzeit, in der Zeit, als die Hände seiner Mutter noch rein gewesen.

Im blassen Zwielicht des ersten Morgengrauens fuhr er nach demselben Bahnhof, aus dem er gestern mit Befürchtungen eingetroffen war, die ihn sehr gequält. Was lag ihm heute daran, ob schon sein erster Athemzug mit Schande zusammengehangen oder nicht? Es hatte das nichts mehr zu bedeuten. Er legte die wechsenden Stationen seiner Reise zurück, ohne in seiner Stumpfheit darauf zu achten wie Orte und Tageszeiten vorübergingen.

Als er in Lahnegg eintraf, war der Abend schon herein gebrochen Er beauftragte den Postilion sein Gepäck auf der Post einzustellen und ging im Schutze der Dunkelheit unerkannt seinem Hause zu. Es kostete einige Mühe, dessen Hüter herauszuklopfen, welche bereits zu Bette gegangen waren. Seit Jana’s Verheirathung war Klas, der frühere Knecht, zur Aufsicht über die Moosburg bestellt worden. Er und sein Weib staunten nicht wenig, als sie gewahr wurden, es sei „der junge Herr“, welcher so spät und ungemeldet Einlaß begehrte. Sein verstörtes Aussehen fiel selbst diesen Leuten auf, aber sie unterstanden sich nicht, ihn zu fragen, ob die anderen Herrschaften nachkämen. Die Zimmer waren in guter Ordnung. Rasch besorgte die Frau das für die Nacht Nothwendigste und ließ Siegmund dann allein.

Hier in diesem trauten alterthümlichen Zimmer, das für den Knaben eingerichtet worden, seit er nicht mehr in dem seiner Mutter schlief, hier sprengte unbändiger Schmerz die Starrheit, welche den Unglücklichen bisher nahezu versteinerte. Schluchzend wie ein Kind, warf er sich über das Bett hin, dessen Kissen die Hand seiner Mutter so oft geglättet, wo er noch als reifender Knabe oft ihren Gute-Nacht-Kuß empfangen hatte. Jede Stunde dieser Nacht füllte sich ihm mit Bitternissen des Todes.

Am nächsten Morgen äußerte er sich gegen Klas darüber, daß er einige Zeit hier verweilen würde, sich nicht wohl befände und deshalb für etwa anfragende Besucher nicht zu sprechen sei. Dann setzte er in vorschriftsmäßiger Form ein Gesuch um Verabschiedung als Officier auf, couvertirte und sandte Klas damit nach Lahnegg, um das Schreiben heute noch der Post zu übergeben. momentan lag eine gewisse Erleichterung für ihn darin, etwas Nöthiges, Dringliches gethan zu haben. Nun gab es aber nichts mehr zu thun.

Als er gegen Abend neben dem offenen Mittelfenster des Terrassenzimmers saß und die Augen auf den goldig beglänzten Strom geheftet hielt, öffnete sich die Thür, und Lois trat ein. Siegmund, der das Klopfen überhört hatte, fuhr zusammen, ging aber ohne Zögern dem Caplan entgegen, dessen ruhige Stimme von der Schwelle her sagte:

„Für mich wird die Ordre, Niemand herein zu lassen, doch wohl nicht gelten?“

Die Freunde boten einander die Hand und sahen sich schweigend an. Selbst in dieser Stunde ward Siegmund durch die Veränderung betroffen, welche seit seinem letzten Hiersein mit Lois vorgegangen. Er war hager geworden, sein Gesicht eingefallen; die Augen lagen noch tiefer, waren noch tiefblickender geworden, als früher. Tiefe forschenden Augen hafteten ernst auf Siegmund, als er sagte:

„Klas meint, Du wärst vorerst krank, und wirklich, Du siehst elend ans.“

„Das Compliment muß ich Dir zurückgeben“ antwortete Siegmund; „mir fehlt übrigens nichts. Erzähle mir, wie es hier mit Euch Allen steht! Wir haben uns lange nicht gesehen, und ich weiß gar nichts mehr von Land und Leuten. Da war es wohl Zeit, sich einmal selbst umzuschauen.“

Er sprach das hastig hin, mit abgewendetem Gesicht, rückte einen Stuhl herbei und warf sich wie ein Todtmüder, der nicht länger zu stehen vermag, auf den Sitz am Fenster.

„Siegmund,“ sagte Lois, die Hand auf seiner Schulter. „Dir ist etwas geschehen. Denke daran, wie wir mit einander groß geworden, und wenn ich Dir auch nicht helfen kann, laß mich es mit Dir tragen!“ .

Ein Schauer lief über Siegmund hin.

„Ja wohl,“ nickte er, „etwas geschehen!“

Er hielt inne. Das Fremde, Starre, was Lois im ersten Moment an ihm erschreckt hatte, schnitt jedes Fragen und Drängen ab. Tiefe Sorge ergriff den jungen Priester; er legte still den Arm um ihn und sagte in sanftem Tone:

„Sigi!“

Dieser Kindheitsklang, das Liebeswort frühester Jahre, erschütterte das arme Herz tiefer, als jedes Zusprechen vermocht hätte. Er stützte die Stirn an des Jugendfreundes Schulter.

„Ich kann es Keinem sagen – Keinem!“

„Keinem Andern vielleicht, keinem Fremden. Dem Priester, Sigi, kannst Du Dein Herz entladen. Das Wort erlöst und heilt. Ich flehe Dich an, vertraue mir!“

Er schüttelte den Kopf. Die Schande seiner Mutter zu enthüllen – diesem, der sie gekannt und geliebt – Alles in ihm sträubte sich dagegen. Und doch war ihm die Nähe, das stille Wesen des Freundes wie Balsam. Und die stumme Qual der jüngsten Tage und Nächte rang nach Befreiung.

Minuten waren vergangen – da sagte Siegmund mit gebrochener Stimme:

„Du wirst es nicht fassen, aber sagen will ich es Dir. Denke, es sei eine Beichte, und verschließe es wie auf Deinen Eid!“

Und nun kam sie hervor, die jammervolle Geschichte, stockend erst und abgebrochen in wachsender Bitterkeit, alles Erlebte, Erlittene, vom ersten Zweifel an bis zum schaurigen Ende.

[737]

Ein Wahlphilister.
Originalzeichnung von Ferdinand Lindner.

[738] Lois hörte dem Unseligen in tiefer Betroffenheit zu. Als die schmerzliche Beichte zu Ende war, sagte er lebhafter, als in seiner Weise lag:

„Dir muß ich ja glauben – jeden Anderen hätte ich schändlicher Verleumdung geziehen. Vergiß aber nicht, daß Du ihr keine Zeit gelassen, sich zu rechtfertigen! Deine Mutter, die wir Alle kennen so lange Jahre, die edle, auserlesene Frau – unmöglich, unmöglich!“

„Das ist es ja,“ athmete Siegmund schwer hervor. „Die Lüge ist es, die lange, lange, ungeheure Lüge. Jedes Verbrechen hat seine Grenze – die Lüge hat keine. Und sie hat mich belogen Jahr um Jahr, hat mich zur Ehre angefeuert und inzwischen ihre und meine Ehre gebrandmarkt. Wir haben nichts mehr mit einander gemein.“

„Dennoch mußt Du sie anhören, sobald sie es fordert,“ sagte der junge Priester ernst. „Das ist Jeder dem Andern schuldig, und der Sohn ist es seiner Mutter dreifach schuldig. Wie es geschah, daß eine Frau wie diese so tief sinken konnte, ist mir nicht begreiflich, das aber weiß ich: Liebe zu Dir ist eine ihrer Triebfedern gewesen.“

„Liebe –“ wiederholte Siegmund mit unendlicher Bitterkeit.

„Ich sage nicht, daß Du ihr Dank schuldest, weil sie Dich durch schnöde Mittel bereicherte; mit der Schuld läßt sich nicht unterhandeln, gegen den Schuldigen muß man aber Erbarmen üben. Die Mutter, welche uns im Schooße getragen und tausendfache Liebe erwiesen, dürfen wir nicht aus unserem Leben streichen, weil sie fehlte, und sei es noch so Schweres, das sie beging. Dein Gemüth ist jetzt zu tief erschüttert – aber Du wirst einsehen, was Noth thut. Wenn Scham und Verzweiflung, so vor Dir gestanden zu haben, Deine Mutter verstummen lassen, dann ist es an Dir, nun ihr Erklärung über die Lage zu fordern, in der Du sie getroffen.“

„Nie!“ rief Siegmund in starkem Ton. „Jeder Schritt ihr entgegen wäre ein Compromiß mit Schande und Verbrechen. Wir sind von einander geschieden, als wäre es durch den Tod.“

„Siegmund,“ sagte Lois mit namenlos traurigem Blick, „glaubst Du denn, der Tod trennte? O, ich spreche jetzt nicht zu Dir als Priester, der Dir Wiedersehen und Ewigkeit in Erinnerung bringen will, ich spreche als ein armer Menschensohn, der an sich erfahren hat, was Leben und Tod bedeuten.“

„Du?“

„Ich verstehe Dich wohl, Du denkst, ich hätte gar Weniges erfahren, was mir ein Verständniß für Deine Schmerzen gäbe. Aber Du irrst. Willst Du, so sage ich Dir, was Niemand weiß als mein Gewissen und Eine, deren Tod ich verschuldet habe.“

Siegmund sah betroffen auf.

„Ihr saht es Alle nicht,“ fuhr Lois fort, „was zwischen mir und Maxi vorging. Sie war noch halb ein Kind, als sie sich schon meiner Gedanken bemächtigt hatte, und doch wollte ich Priester werden. So ging ich ihr aus dem Wege, kam nicht mehr in den Ferien nach Hause und dachte den Feind in mir bezwungen zu haben. Du weißt, der Mutter Krankheit rief mich heim; da fing es wieder an und schlimmer. Beim Alpbachsturz, als wir Beide zu sterben meinten, kam es zu Worte, und ich ließ mich zum Versprechen hinreißen, meinen priesterlichen Beruf um ihretwillen aufzugeben. Nun folgte harte Zeit; denn ich wußte gut, daß mich nur die heißen Sinne zu ihr rissen, und verzehrte mich in Reue um meinen Beruf – fürchtete mich vor dem Leben mit ihr, die so anders geartet war und sich von Keinem bändigen ließ. Wir hatten häufig Streit; sie versprach mir zu gehorchen und that es nicht, und einmal, als ich ihr deshalb Vorwürfe machte, warf sie mir mein Versprechen vor die Füße und hieß mich zurückgehen in mein Seminar. Sie that das in rascher Aufwallung, in kindischer Weise; dennoch faßte ich sie beim Worte und löste mich von ihr ab. Ich glaubte Recht zu thun oder redete mir das wenigstens ein, weil wir doch nie zusammen glücklich geworden wären und weil ich als Priester Hohes zu wirken meinte. Und so verhärtete ich mich, als ich erfuhr, sie sei krank, und meinte immer noch das Rechte gethan zu haben. Du weißt, wie sie gestorben ist, Siegmund. Seitdem ist sie neben mir und wird da bleiben, bis ich selbst meine Augen schließe. Und so bin ich schuld geworden, daß ein junges Leben zu Grunde ging, an dem gerade ich bestimmt war ein Priesteramt zu üben. Mit solchem Bewußtsein geht es sich schwer durch Tage und Nächte, Siegmund. Dein Schicksal ist ein anderes: Du bist rein von Schuld, aber ich beschwöre Dich: sei nicht hart, wie ich es gewesen! Durchschneide nicht, woran Du unzerreißbar gebunden bleibst, bedenke, daß die Gestalt Deiner Mutter einst so neben Dir hergehen könnte, wie Maxi neben mir! Erbarme Dich der Schuldigen, hilf ihr, sich wieder aufzurichten, ringe den Stolz nieder, der sich in Dir empört gegen Deine eigene Pflicht als Mensch und als Sohn!“

Siegmund sprang auf; sein ganzer Körper bebte. Den dringenden Augen des Mahners auszuweichen, trat er hinweg, blieb dann aber stehen und sagte düster:

„Gegen Schatten kann man sich wehren. Weshalb bleibst Du hier?“

„Wo ich an einem Grabe vorbei muß, so oft ich mein geistliches Amt in der Kirche verrichte, meinst Du? Ich bleibe, weil meine Mutter langsam hinstirbt und ich ihre Augen zudrücken will. Nachher denke ich allerdings zu gehen, hinaus in unsere Berge – zu den Armen und Elenden.“

„Pfarrer im Hochgebirge?“ fragte Siegmund. „Ich hörte oft, das sei ein Märtyreramt. Nun gut! Ich denke in meiner Art zu thun wie Du – nur erwarte sonst nichts von mir! Dir ziemt es, Versöhnung und Vergebung zu empfehlen, aber hier kannst Du mir nicht folgen, der Priester nicht dem Offcier. Lois, sie hat mich selbst dazu erzogen, das Gemeine zu verabscheuen. Das wäscht kein Gott und kein Mensch hinweg – laß es ruhen!“




32.

Während der nächsten Tage brach der Frühling mit Macht in das Thal, welches über und über in Blüthen stand. Die Leute der Gegend, die „den jungen Herrn“ sahen, meinten zwar Alle, er müsse recht krank gewesen sein, weil er gar so verfallen ausschaue, das würde sich aber bald wieder geben. Er ginge ja fleißig spazieren mit dem Herrn Caplan, und wenn man an der Moosburg vorüber käme, höre man ihn Clavier spielen nach Herzenslust. Siegmund brachte wirklich einen guten Theil des Tages am Flügel zu, war überhaupt unablässig beschäftigt – am Schreibtische oder mit Büchern. Tief in die Nacht hinein schimmerte noch das Fenster seines Zimmers. Kam ein verspäteter Wanderer zu Fuß oder Roß das Thal entlang, so mochte sich dieser wohl des friedlichen Scheines freuen, ohne zu ahnen, welche unaussprechliche Qualen sich dort in Einsamkeit ausbluteten. Die stolze junge Seele wollte ihre Wunden Keinen sehen lassen, nicht einmal den Freund, der von ihnen wußte.

Gegen Abend, wenn der Caplan frei war, kam Siegmund hinab, ihn abzuholen; dann wanderten Beide weit hinaus, thaleinwärts, waldauswärts und sprachen über alles Mögliche, was ihre Studien, was Welt und Menschen in ihnen angeregt hatten, nur nicht von Dem, was ihnen am Herzen zehrte. Oft kehrten sie erst bei eingebrochener Nacht zurück, wenn das Dunkel schon den rauschenden Inn bedeckte und die Funken der Schmiedehämmer farbiger sprühen ließ. Beiden ward die Bürde, die sie trugen, gleichsam gelüftet, während sie beisammen waren.

Als Siegmund eines Abends nach solcher Wanderung heimkehrte, sah er zu seiner Verwunderung schon von Weitem die Wohnzimmer der Moosburg erleuchtet. Klas empfing ihn vor der Thür mit der Meldung, Herr Fügen sei angekommen.

Siegmund’s Stirn verdunkelte sich; es war ihm äußerst unlieb, Fügen hier zu sehen, während er sich noch nicht hatte überwinden können, ihm Nachricht zu geben. Es fuhr ihm durch den Kopf, dieser könnte durch Max Friesack oder den Oberst selbst von seinem Abschiedsgesuche gehört haben und käme nun, ihn deshalb zu examiniren. So trat er mit kaum beherrschter Verstimmung ein und erkannte bei seinem ersten Blick auf den alten Freund, daß auch dieser ziemlich finster drein schaute. Ohne ihn erst zu Worte kommen zu lassen, bot Siegmund ihm die Hand und sagte in hastigem, gezwungenem Ton:

„Willkommen auf der Moosburg lieber Meister! Das ist unverhofft – fast vermuthe ich, daß eine von Max colportirte Sensationsnachricht Sie hierher geführt.“

„Nicht eben das,“ erwiderte Fügen etwas trocken. „Es hätte sich wohl zu Hause abwarten lassen, bis solche Novelle direct an mich gelangen würde. Daß Du hier bist, habe ich allerdings durch Max erfahren, was mich herführt, ist aber ein Auftrag Deiner Mutter.“

[739] Siegmund fuhr zusammen. Erst jetzt, wo das volle Licht der Lampe aufs ihn fiel, gewahrte Fügen, wie elend und verfallen er aussah. Alle Empfindlichkeit war im Nu verweht.

„Siegmund,“ sagte er in ganz verändertem Ton, „was hat das Alles zu bedeuten? Du sagst uns, daß Du nach Paris zur Mutter reisen wolltest; kaum bist Du einige Tage fort, so erfahre ich, daß Du von hier aus plötzlich Deinen Abschied eingegeben, und erhalte fast zu gleicher Zeit einen Brief Deiner Mutter mit einer Einlage, die ich Dir zugehen lassen sollte, falls ich wisse, wo Du Dich aufhältst. Frei heraus: es hat mich verdrossen, daß ich von Fremden zuerst erfahren mußte, welchen abfallenden Entschluß Du gefaßt hast; ich hätte Dich nicht aufgesucht, führte mich nicht ein zweiter Auftrag Deiner Mutter nach der Moosburg. Ich will mich nicht in Deine Angelegenheiten drängen, aber ich darf Dich daran erinnern, wie ich für Dich gesonnen bin.“

Des jungen Mannes Augen wurzelten am Boden.

„Was schreibt Ihnen meine Mutter?“ fragte er düster.

„Das kannst Du erfahren, nachdem Du ihren an Dich selbst gerichteten Brief gelesen. Hier!“

Er nahm ein verschlossenes Couvert aus seiner Brusttasche und reichte es Siegmund hin, dessen Hand sich so zögernd ausstreckte, daß der Brief zur Erde glitt. Siegmund hob den Brief nun auf, aber legte ihn uneröffnet auf den Tisch. Ohne weitere Bemerkung nahm der Capellmeister ein brennendes Handlämpchen vom Seitentische und ging, die Thür hinter sich offen lassend, in das anstoßende Zimmer. Siegmund, der ihm mechanisch nachblickte, sah dort das Schreibpult seiner Mutter, dessen Schlüssel sie stets bei sich führte, geöffnet und einige Häufchen Briefe und Papiere auf dessen Platte geordnet, womit Fügen sich nun beschäftigte.

Siegmund schaute ihm einige Augenblicke mit stumpfer Verwunderung zu; dann wandte er den Blick wieder auf den vor ihm liegenden Brief. Bei der bloßen Vorstellung, was er enthalten möge: Worte der Rechtfertigung, der Erklärung, erfaßte ihn Grauen und Ekel. Da klang plötzlich, wie von fern her, Alles das an sein inneres Ohr, was Lois so eindringlich von ihm gefordert. Er preßte die Lippen auf einander und öffnete das Couvert. Das herausfallende Blättchen enthielt nur wenige Zeilen:

„Siegmund!

Du verdammst mich, und ich werde Dich niemals wiedersehen. Ich bereue nicht, daß ich Dich mehr geliebt habe, als mein Glück und meine Ehre.

Deine eigene Ehre beruhst auf Dir selbst. Lebe wohl!

          Deine Mutter Genoveva.“

(Fortsetzung folgt.)




Von der Wiener Literaturwoche.
Ein Rückblick.

Es sind Gegenstände von nicht geringer Wichtigkeit, welche alljährlich von dem internationalen literarischen Congresse und dem deutschen Schriftstellertage berathen werden. Das literarische Eigenthum, welches gegen Plünderung und Ausbeutung durch Uebersetzer und Verleger gar lange schutzlos war, soll mit gesetzlichen Bürgschaften umgeben werden, damit dasjenige, was mit dem Kopfe ersonnen und mit der Feder gestaltet wird, ebenso der rechtliche Besitz seines Schöpfers sei und bleibe, wie Hand- und Maschinenarbeit, welche des Patent- und Musterschutzes genießen, wie Geld und Geldeswerth, woran diebische Gelüste sich mir auf die Gefahr hin, mit den Strafgesetzen in Conflict zu gerathen, vergreifen dürfen. Das ganze Jahr hindurch arbeiten Literaten und Schriftsteller rastlos im Dienste der allgemeinen Bildung, im Dienste der Kunst und Wissenschaft, auf dem Schriftstellertage aber, der die deutschen, auf dem internationalen Congresse, der die Schriftsteller aus aller übrigen Herren Ländern vereinigt, wird gemeinsame Umschau gehalten über die Fortschritte der literarischen Eigenthumsfrage, und es stellt sich dabei – leider Gottes! – meistens heraus, daß die Gesetzgebungen noch immer nicht die geistige Production mit der nämlichen Elle messen wie die gewerbliche und industrielle. In Frankreich ist es freilich schon besser geworden; dort darf beispielsweise die Verdi’sche Oper „Ernani“ nicht abgeführt werden, weil der Verfasser des Textbuches es unterlassen, sich vorher mit Victor Hugo aus einander zu setzen, dessen gleichnamiger Roman ihm zu seinem Libretto den Stoff hergab. In Deutschland aber ist das literarische Eigenthum noch immer kein unbestrittener Besitz, obwohl seit jener Zeit, in welcher Berthold Auerbach zum ersten Male wegen der dramatischen Bearbeitung seiner „Frau Professor“ durch Charlotte Birch-Pfeiffer die öffentlichen Gerichte in Anspruch nahm, nun schon mehr als dreißig Jahre verflossen sind. Und in Rußland, in Skandinavien, in Amerika steht es gar wirklich noch so, als wäre Proudhon’s ungeheuerlicher Satz „Eigenthum ist Diebstahl“ die Norm und Regel auf dem Gebiete des literarischen Schaffens.

Recht eigentlich um sich ihrer Haut zu wehren, kommen also die Schriftsteller auf ihren Congressen zusammen. Aber da sie allzumal schlechte Geschäftsleute sind, so fördern sie zumeist nur geringe praktische Resultate zu Tage; sie sind wie die Aerzte, von denen der Talmud sagt, sie verständen Andere zu heilen, aber nicht sich selbst. Das gilt von dem deutschen Schriftstellertage nicht minder als von dem internationalen literarischen Congresse, welch letzterer in Paris, London und Lissabon große Anläufe nahm, bei denen es aber auch im heurigen September in Wien verblieben ist. Anläufe, Anregungen, Impulse – es ist die Sache der Gesetzgeber, sich derselben zu bedienen, sie zu benutzen. Der Schriftsteller kann immer nur klagen und sagen, wie hart und ungerecht es sei, daß Andere mit seinem Eigenthum ungestraft wuchern dürfen; er hat kein Mittel sich dagegen zu wehren, wenn der Staat ihm nicht den mächtigen Arm des Gesetzes leiht.

Aber ob sie auch ohnmächtig sind, diese literarischen Congresse, auf denen viel gesprochen und wenig gewirkt wird – unfruchtbar sind sie nicht. Das war in diesen wunderschönen Septembertagen zu erkennen, während welcher gleichzeitig der deutsche Schriftstellertag und der internationale literarische Congreß in Wien zu Gaste waren, zu Gaste bei dem Wiener Schriftsteller- und Journalistenverein, welcher nicht mit Unrecht den Namen „Concordia“ führt. Da konnte man sehen, was treffliche Wirthe zu thun vermögen zur freundlichen Annäherung und Vereinigung ihrer Gäste, wie der Traum einer internationalen Verbrüderung wenigstens für kurze Frist sich verwirklichen mag. Es ist ja nicht viel mit allgemeinen Schlagworten gesagt, auch wenn sie noch so volltönig sind; die „Weltliteratur“ ist ein großer, schöner Begriff, der vermuthlich niemals auf dem Gebiete des theoretischen Denkens in die reale Welt hinübertreten wird; der „Ritter vom Geiste“ ist allemal ein Priester, aber jeder dieser Priester hat seinen eigenen Gott. Doch immerhin ist es ein hoher Gewinn, wenn diejenigen welche berufen sind, in der Seele ihres Volkes zu lesen, von Angesicht zu Angesicht einander begegnen und eine Weile in trautem Vereine verkehren, wenn persönliche und nationale Vorurtheile sich zum mindesten bei Einzelnen abstreifen, wenn gemeinsame Ziele gemeinsam in’s Auge gefaßt mld besprochen werden.

Und die genußfrohe Kaiserstadt an der Donau war der rechte Ort zu solchem internationalen Stelldichein. Sie ist deutsch, und zugleich ein Durchgangspunkt für die verschiedensten Nationalitäten; sie ist gastfreundlich und von der Natur mit den Reizen einer herrlichen Lage und Umgebung begnadet; sie hat eine ehrwürdige Geschichte und dabei eine unvergleichliche Empfänglichkeit für alles Moderne und Gegenwärtige. Ihre Schönheit ist international, ihre literarische und künstlerische Entwickelung vielgestaltig und mannigfach; sie darf auf ihre Frauen stolz sein und sich berühmen, daß sie des Zusammenhanges mit dem großen nationalen Ganzen, dessen Sprache sie redet, niemals verlustig gegangen, obwohl der Versucher nicht rastete, um sie dem Deutschthum abwendig zu machen.

Im Allgemeinen zeigen Feste dieser Art stets die nämliche Physiognomie, der Wiener aber besitzt einen Spruch, in welchem zugleich sein Können und sein Selbstbewußtsein sich ausdrückt; er sagt, wenn er etwas Schönes vollbracht, mit schalkhafter Selbstgefälligkeit: „Sollen’ s uns nachmachen!“ Und das ist freilich schwer. Wo immer der deutsche Schriftstellerverband der internationale literarische Congreß in Zunkunft tagen werden, es wird ihnen Gleiches kaum geboten werden können, wie es ihnen in diesen Wiener Septembertagen geboten ward. Das Verdienst aber, ein Fest von unverlöschlichem Reize veranstaltet zu haben, gebührt der „Concordia“, für welche deren Präsident, Johannes Nordmann, und als Obmann des Festcomités deren Mitglied Edgar Spiegl mit voller Kraft eintraten, welcher in dankenswerther Bereitwilligkeit der Bürgermeister von Wien, Dr. Julius von Newald, zu Hülfe kam. So wurde das Fest zugleich ein Fest der Stadt Wien und des Wiener Schriftstellerthums, und wer dieser doppelten Gastfreundschaft genoß, durfte sagen, er habe sich nicht blos bei den Wiener Berufsgenossen sondern in Wien selbst wahrhaft zu Hause gefühlt.

Da liegt das zierliche Büchlein vor mir, welches als Festprogramm den Gästen überreicht wurde, die niedliche goldene Feder, welche den Festtheilnehmern als Abzeichen diente, und das Cigarrenetui, das wohlgefüllt einem jeden Gaste zu Theil ward, der zu dem Bankett der Commune erschien. Und daneben liegen Photographien alter und neugewonnener Freunde, Festgedichte, Visitkarten und Sträußlein von herrlichem Edelweiß. Vorbei, vorbei! Es sind ja gewesene Tage, aber ihr Glanz bleibt unvermindert in der Erinnerung. Ich sehe sie vor mir, die Gestalten welche in den Vordergrund traten, und auch die Orte, wo es geschah. Eine lange Tafel, mit Blumen geschmückt, flankirt den Mittelsaal in der „Gartenbaugesellschaft“, unter deren Portal sich die Wagen drängen, welche von der prächtigen Ringstraße dahergefahren kommen. An dieser Tafel, von der aus der Blick in die beiden buntbelebten Seitensäle schweift, sitzen die Honoratioren unter den literarischen Gästen, Männer und Frauen verschiedenen Alters, aber fast allesammt im Besitze klangvoller Namen. Ich sehe Friedrich Bodenstedt, der schmunzelnd die Huldigungen poesiebeflissener Damen entgegennimmt, was ihn, den liebenswürdigen Epienräer, nicht hindert, dazwischen eine respectable Portion Fisch zu verzehren. Nicht weit davon thront Louis Ulbach aus Paris, der einem Cardinal ähnelt und das Band der Ehrenlegion trägt, welches Jules Lermina, der Generalsecretär des internationalen Congresses, an sich vermissen läßt, vermuthlich, weil es seine schier wunderbare Beweglichkeit beeinträchtigen und zu seinem blatternarbigen schnurrbärtigen Gesichte eine falsche Zuthat [740] bilden würde. Dann weiter Emil Rittershaus, der Lyriker mit den blitzenden Augen in dem vollen, lebensfrohen Antlitze, der die Frauen in reizenden Improvisationen wie kein Anderer zu preisen versteht; Professor Lazarus, der Völkerpsychologe, mit der durchgeistigten Physiognomie und der weichen Kathedermiene; Jules Oppert, der kleine unstäte Pariser Akademiker, der von den Keilinschriften das Siegel löste; Robert Schweichel, der treffliche Romanschreiber, der von heiterer Harmlosigkeit sein kann wie ein Kind, obwohl ihm das Schicksal seine Sprache in das Gesicht geprägt; der polnische Dichter J. I. Kraszewski, noch geistig frisch trotz der Jahre voll Ruhm und voll Leid, die er durchlebt, selbst ein „Moriturus“ und ein „Resurrecturus“, wie er seine „sterbenden“ und „wieder auferstehenden“ Landsleute in seinen beiden großen Romanen geschildert hat; Adolphe Belot, der bonapartistische Verfasser von „Mademoiselle Giraud ma femme“, von „La femme de feu“ und „Article 47“, ein Autor, den die Frauen nur im Geheimen lesen, aber dafür vor aller Augen umschwärmen, obzwar er in seinem Aeußeren nichts hat, wodurch nicht auch ein wohlbekleideter Unterofficier in Civil die Gunst des anderen Geschlechts sich zu erwerben vermöchte. Und dieser Honoratiorentisch sammelt nicht etwa Alles, was sich mit literarischem Ruhme eingefunden. Zum Beipiel Hans Hopfen „wimmelt“ behend, ein echter Neffe seines „Onkel Don Juan“ zwischen den kleineren Tischen umher, überall herzlich begrüßt und zu munterer, witziger Antwort aufgelegt, und unsere heimischen „Poeten“, die Mautner, Frankl, Weilen, Franzos bewegen sich, je nach Temperament und Körperfülle, durch das festliche Gedränge.

Es ist feierliche Begrüßung. Johannes Nordmann, der Präsident der „Concordia“, betritt die Balustrade, welche mit Guirlanden und Emblemen reich verziert ist. Er hat in Gestalt, in Rede und in Aussehen etwas Hartes, Eckiges, Charaklervolles; man möchte ihn in dem Schmucke seiner weißen Haare für einen alten unbeugsamen Republikaner halten, und es ist ihm ja auch manches Leid geschehen für seine Mannhaftigkeit und Gesinnungstreue. Heute klingt dennoch seine Rede weich, fast empfindsam; das Herz tönt siegreich durch den Charakter hindurch, und nach ihm spricht Friedrich Friedrich, der Präsident des deutschen Schriftstellerverbandes, beifällig aufgenommene Worte, von dem Berufe des deutschen Schriftstellers und der Gastlichkeit der „Concordia“; Louis Ulbach declamirt, mehr pathetisch als gefällig, von der Völkerverbrüderung; Lazarus verkündigt ein Zeitalter der Weltvereinigung so schön und nachdrücklich, daß man ihm gerne glauben möchte, wie tief auch die Ueberzeugung gewurzelt ist, daß Franzosen und Deutsche auch literarisch wohl niemals mit einander gehen werden, sondern im besten Falle stets nur neben einander.

Doch die Reden verhallen, und der Geselligkeitstrieb siegt. Die echte, die „fesche“ Wienerin besitzt die Gabe nicht, stille zuzuhören; sie flattert umher und „plauscht“ und kichert und mustert mit ihren großen dunklen Augen diese vielen Schriftstellerinnen, die weit dahergereist kamen in den verschiedensten Exemplaren, nicht lauter Blaustrümpfe mit Brillen und tiefem Organ, aber auch nicht durchweg von Apollo weihevoll geküßt. Oder sie schwingt einen zierlichen Holzfächer wie einen Dolch mit anmuthiger Geberde und verlangt von den Berühmtheiten dieses Abends einen Tribut in Form eines Antographs, das just einen Stab des verhängnißvollen Fächers ausfülleu soll. Und die armen „Selbstschrift“-Märtyrer thun, was sie müssen. Friedrich Bodenstedt schreibt:

„Das Glück sagt man, sei nur ein Schein,
 Und so ist es;
Bilde dir ein, glücklich zu sein,
 Und du bist es.“

Haus Hopfen setzt darunter die allerliebste Strophe:

„Wer’s wie so ’n Fächer wüßte zu machen:
Abzukühlen und anzufachen!
Freilich, wenn man’s recht überlegt,
Ist’s Frauenhand, die ihn wie uns bewegt.“

Die glückliche Besitzerin dieses Schatzes zeigt strahlend ihre Beute und ein eingefleischter Congreßler bemerkt hyperklug:

„Schreiben Sie doch darauf: Nachdruck verboten!“

„Pfui,“ erwidert die ahnungslose Seele, „das wäre ja, wie wenn von der Polizei darauf geschrieben stände: Hier darf nicht gestohlen werden.“ –

Doch genug von den beiden Begrüßungsabenden, die nur das Vorspiel herrlicherer Dinge waren! Wir sollten ja, wie es unsere Wirthe von der „Concordia“ zu wollen schienen, an uns selbst das Goethe’sche Wort erproben, daß nichts so schwer zu ertragen sei, wie eine Reihe von schönen Tagen. Es strahlt feenhafter Lichterglanz nieder auf die Prachträume im Cursalon, der mitten im Grün des Stadtparkes steht; hunderte von heiter angeregten Menschen drängen bunt durch einander oder plaudern in kleinen Cirkeln an runden Tischen; Champagner belebt Rede und Gegenrede; Toaste verklingen ungehört, französische wie deutsche. Das ist das Bankett der Stadt Wien.

Der Bürgermeister entbietet den Gästen seinen Gruß; Nordmann will erwidern, Friedrich Friedrich will danken, Louis Ulbach will sich erkenntlich zeigen – bah! Mall ist hier, um zu genießen, nicht um zu hören, ja, nicht einmal die beiden Burgschauspieler Robert und Meixner, jener mit dem wunderbar fein geschnittenen Römerkopf, dieser mit der Physiognomie eines Satyrs, vermögen sich Aufmerksamkeit zu erzwingen, obwohl es Allen bekannt ist, daß Robert eine pathetische Begrüßung in Versen Joseph Weilen’s, Meixner ein humoristisches Willkomm vorzutragen gedenkt.

Das Personenbild bleibt ja selbstverständlich immer das nämliche; es sind dieselben Sprecher, dieselben Tischkarten, dieselben entzückten Mienen. Bei der Festvorstellung im Karl-Theater sieht man sich wieder, beklatscht die Ballettänzerin Cerale, lauscht dem unvergleichlichen Dialog Sonnenthal’s und der Frau Gabillon in Schlesinger’s Lustspiel-Einacter „Mit der Feder“, erlustigt sich an den „Flotten Burschen“. Ein besonderer Reiz ist es nur, daß der Dichter jenes Lustspiels wie der Componist dieser Operette unter den Festtheilnehmern sich befinden.

Aber dann steigert sich der Genuß, sobald die Natur selber dem Festcomité zu Hülfe kommt. Man fährt zu Schiff an den Fuß des Kahlenbergs und mit der Zahnradbahn auf die Höhe. Der Stephansthurm winkt uns allerwegen zu; wir bewundern die großartigen Regulirungsarbeiten, das Sperrschiff, welches zur Ueberschwemmungszeit dem Eisgange wehrt, die Lagerhäuser der Stadt Wien. Und droben vom Kahlenberge herab schweift der Blick über das ganze Marchfeld hinweg, bis zu den Karpathen und dem Leithagebirge.

Es ist aber noch nicht Alles. Erst die Fahrt auf den Semmering erschöpft unsere Genußfähigkeit. Auf der Höhe dieses gewaltigen Gebirgsüberganges, zu dem die Bahn in einer Steigung von 1 : 40 emporkeucht, halten wir Rast. Tief zu unseren Füßen liegt die grüne Steiermark, die uns ihren Dichter Rosegger zur Begrüßung geschickt hat und ihren Sängerchor von Mürzthal. So herrlich ist dieses Panorama, so mächtig bei hereinbrechendem Abend die Wirkung eines Feuerwerks, welches fern und nah die Alpengipfel zauberhaft erleuchtet, daß wir still und andächtig den Rückweg nehmen. Wir haben getrunken und gescherzt, geredet und Reden gehört, aber es ist Alles wie untergetaucht in dem Zauber, mit dem die Natur uns empfing.

Wien kann Alles, da es die Alpen so nahe hat; es darf schon bisweilen mit gerechtem Stolze sagen: „Sollen’s uns nachmachen!“

Und da die sieben Tage um waren, so hatte das Fest ein Ende. Freilich, freilich - was hätte denn nicht ein Ende auf dieser schönen, weiten Welt? Und wir gingen aus einander, der Eine nach links, der Andere nach rechts. Aber eine gemeinsame Erinnerung von ungetrübtem Glanze hält uns fortan im Geiste zusammen, und das ist das Ergebniß dieser unvergeßlichen Literaturwoche. Getrost, mit allen Gesetzen der Welt wird man die Diebe und Freibeuter nicht abschaffen, am allerwenigsten aus dem Gebiete der Literatur, wo es keine Polizei giebt als dieienige des Gewissens. Schreibt nur fort und fort euer stereotypes „Nachdruck verboten“ auf eure literarischen Producte! Bestiehlt man nicht euch, so werden Andere bestohlen. Aber trotz alledem: Literarische Congresse und Schriftstellertage werden doch immer ihren Werth und ihren Reiz darin behalten, daß die Meister sich den Adepten von Angesicht zu Angesicht zeigen, daß die Lehrlinge sich kennen und lieben lernen. Und so auch geschah es in Wien, das trotz der Czechen eine wunderbar schöne Stadt ist und trotz der Polen und Slovenen auch eine mächtige deutsche Stadt bleiben wird. Das walte Gott!

Wilhelm Goldbaum.


Blätter und Blüthen.

Der Wahlphilister. (Abbildung S. 737) Wir führen heute unsern Lesern ein Bild vor, das sich am nun hinter uns liegenden Wahltage vor Tausenden von Thüren abgespielt hat. Da steht Einer! Es ist ein armer Handwerksmann, dem die im Kampfe mit einander begriffenen Parteien heute die Wahl zur Qual machen. Er lebt das ganze Jahr so still mit seinen Sorgen dahin; Niemand von den höchst verschiedenartigen Herrschaften, welche ihn jetzt bestürmen, kümmert sich sonst nur im Geringsten um ihn. Da kommt der Tag, der ihn, neben dem Steuerzettel, daran erinnert, daß er ein deutscher Reichsbürger sei – und siehe da: er ist plötzlich ein umworbener, ein angesehener Mann. Der Herr Rath mit der goldenen Brille versichert ihm, daß er ihn immer als braven Bürger geschätzt, der auch fernerhin „Gott, der hohen Obrigkeit und der Kirche“ treu und gehorsam bleiben werde, und das könne er auf’s Neue bethätigen durch Benutzung dieses Wahlzettels etc. Während der vornehme Herr vertraulich die rechte Hand auf seine linke Schulter legt, hat ein Anderer seinen rechten Arm mit der Linken gefaßt und nöthigt ihm mit Faust und Zunge wahrscheinlich auch einen Wahlzettel der Linken auf, und indem der stattliche Herr hinter ihm mit dem behandschuhten Finger ihn vorsichtig auf die Achsel pocht und ihm offenbar sehr Wichtiges in die Ohren schreit, ballt der Wähler mit dem Arbeitsmaß in der Rocktasche die Faust gegen ihn, und man hört’s, wie schwer er ihn bedroht, wenn er sich „von der ruppigen Bourgeoisie anleimen“ lasse. Der Wahlbetreiber zur Rechten aber hat bereits all sein Pulver vergeblich verschossen, und er steht, welcher Faction oder Fraction er auch diene, nun selbst als „gemacht und gebrochen“ da. – Und warum, du armer geplagter Wahlphilister, widerfährt dir diese seltene Auszeichnung? Sie gilt nicht dir, mein Bester, sie gilt nur deiner Stimme – aber diese Stimme – o wenn du das zu schätzen wüßtest! – sie zählt für einen Mann.

Ja, jede Stimme zählt für einen Mann. Ebendarum sollte sich Jeder als ein Mann fühlen, der das hohe Recht hat, eine Stimme abzugeben. Dieser Gedanke zwingt uns, unser Bild ernster zu nehmen, als es der Künstler vielleicht genommen, dem es darum zu thun war, den Contrast zwischen dem Wähler und den Parteiwerbern in drastisches Licht zu stellen. Um uns einen Wahlphilister zu zeigen, hätte er seine Gestalt auch aus „der besser situirten“ Gesellschaft wählen können; denn gerade da sitzen in Uederzahl jene behäbigen Leute, denen jede Entscheidung so schwer fällt, daß sie bei jeder Gelegenheit, wo der Mann sich mit einer eigenen festen Meinung öffentlich zeigen soll, lieber daheim bleiben. Wenn aber ein solcher dennoch bis zur Thür des Wahllocales sich wagt, dann steht er noch viel trauriger da, als der arme Arbeitsmann in unserem Bilde. – Sind wir doch nicht einmal ganz sicher, ob nicht hinter den tiefen Falten dieses Angesichts der Schalk lauert, der seinen Zettel längst in der Tasche trägt und nur die Lust genießt, sich auch einmal anschmeicheln zu lassen.