Die Gartenlaube (1880)/Heft 34
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No. 34. | 1880. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
„Thalatta! Thalatta!
Sei mir gegrüßt, du ewiges Meer,
Sei mir gegrüßt zehntausendmal
Aus jauchzendem Herzen!
„Könnte ich gleich ein Fuhrwerk nach dem Eichenhof haben?“ fragte ich den Wirth „Zur goldenen Sonne“, indem ich den letzten Fuß von der hohen Stufe des Marterkastens herabzog, dem ich meine armen Glieder auf der letzten Station hatte anvertrauen müssen. „Der Baron hat doch keinen Wagen geschickt?“
Der kugelrunde Wirth mit dem kirschbraun angelaufenen, jovialen Gesicht schüttelte den dicken Kopf; dann wühlte er sich nachdenklich in dem Kraushaar und rief laut über den Hof fort nach „Jochen“, der mit der gehörigen Langsamkeit in der Stallthür erschien. Die Leute hier zu Lande schienen alle übermäßig viel Zeit zu haben.
Jochen kam schwerfällig, einen Strohhalm zwischen den Zähnen kauend, auf uns zu, gab als Zeichen des Grußes der Mütze noch einen leisen Ruck, daß sie vollends im Genick saß, glotzte uns aus runden hellblauen Augen ziemlich ausdruckslos an und hatte auf das Examen seines Herrn immer dasselbe phlegmatisch langsame:
„Neeh, dat gäht nich, Herr.“
Die „Liese“ wurde beschlagen; der „Foss“ war mit dem Milchwagen nach Grauwald; an der Chaise war die Deichsel caput, und den kleinen Kremser hatte ja Na'ber (Nachbar) Ohlerich geliehen, kurz, es stellte sich heraus, daß meine übergroße Eile wahrscheinlich umsonst gewesen, wenn sich bei irgend einem der Ackerbürger des Oertchens nicht Pferd und Wagen auftreiben ließ. Mit dem nächsten Zug erwartete man mich ohne Zweifel auf dem Edelhof und schickte ein Fuhrwerk an die Bahnstation. Was nützte mir das aber? Sollte ich in dem fürchterlichen Omnibus noch einmal den Weg zurück machen? Bei allen Göttern nicht! Lieber den Weg zu Fuß nach Eichenhof antreten. Ich fragte den Wirth, welcher sich rathlos hinter dem Ohre kratzte, wie weit es bis dort sei?
„Zwei Meilen.“ Und der Abend brach schon herein. Zu Wasser sei es freilich nur eine Viertelstunde quer über die Bucht hin, erklärte der Wirth. Die Lichter, die ich da drüben schimmern sähe, wären die vom Dorfe Eichenhof; er wolle 'mal gleich nachsehen, ob einer der Knechte mit dem Boot zu Hause sei; denn selber rudern (und dabei sah er mit geringschätzendem Mitleid meine geschonten Hände an) könne ein Stadtherr doch wohl nicht.
Dem Jochen mußte ein Einfall – etwas Seltenes in seinem Leben – gekommen sein. Er brauchte eine geraume Zeit, sich mit dem Einfall vertraut zu machen; denn er ließ seinen Herrn und mich während einer Weile noch hin- und herberathen, nachdem sich herausgestellt, daß keiner der Fischerknechte zur Hand sei.
„I, Herr,“ meinte er gedehnt, „dat Frölen is jo man eben irst hier west, ward denn wol noch nich furt sin, dat Eichenhof-Frölen, Herr.“
Für mich waren diese Worte natürlich ohne Bedeutung, während sie für den Wirth eine zu haben schienen; denn sein Vollmondgesicht glänzte noch einmal so freundlich, und urgemüthlich meinte er:
„Na, Herr Doctor – Sie sind ja wohl der Herr Doctor oder Professor, den sie auf dem Schloß erwarten? – dann könnten wir ja Courage fassen; ich werde 'mal laufen und nachsehen, ob das Eichenhofboot noch unten liegt. Oder kommen Sie man lieber gleich mit, Herr Doctor!“
Den Mann mit den kurzen Beinen „laufen“ zu sehen, wäre zu anderen Zeiten ein unbezahlbares Vergnügen gewesen. Mir aber war furchtbar ernst zu Muthe, und der Boden brannte mir unter den Füßen. Meine Finger knitterten das bedeutungsvolle Telegramm, das mich aus meinen Berufspflichten, aus meiner Ruhe und Behaglichkeit herausgerissen, in der Rocktasche, während wir den langen schmalen Bauerngarten entlang dem Strande zu gingen. Mein Wirth hielt die beiden hohlen Hände wie eine Trompete gegen den Mund und rief ein kräftiges „Hallo“ nach dem andern.
„Ho – ho!“ antwortete es schallend; mein Begleiter spähte erwartungsvoll in das Halbdunkel hinaus und schien wirklich in der Ferne etwas zu sehen – und dann sah ich auch etwas, ein dunkles unförmiges Etwas, das sich nachher als schwerfälliger Kahn kundgab, eine hochragende Gestalt, die unbeweglich am Steuer saß, und einen Mann, der, die Hosen in den hohen Wasserstiefeln, den Südwester im Nacken, überrascht in der Beschäftigung inne hielt, das Fahrzeug vom seichten Ufer über den knirschenden Meeressand fort in's Wasser zu schieben. Seine braunen sehnigen Hände – ich sah es jetzt, als ein bleiches Mondviertel die dunkle Wolkenschicht durchbrach – stemmten sich fest gegen den Bootsrand, während er den Kopf rückwärts uns zugewandt hielt.
„Na, Herr Jürs, denn man fixing!“ rief er uns aus voller Kehle entgegen.
Mein Wirth, der außer Athem war und pustete und keuchte, ohne zu Worte kommen zu können, brachte nur „Professor, Hauptstadt!“ hervor. Das wirkte wie ein Zauberwort. Mit einem Rucke war das Boot zurück am Ufer, und der Mann hielt mir [546] diensteifrig die braune Hand zur Hülfe beim Einsteigen hin. Er lächelte stillzufrieden in sich hinein, als sein Blick meine Hünengestalt überlief. So etwas imponirt den Söhnen des Meeresstrandes mehr, als Titel und Würden. Die Kraft, die rohe elementare Kraft ist Capital; sie schätzen diese daher naturgemäß am höchsten.
Das „Frölen“ saß bereits im Boot; sie war aufgestanden. Ich bewunderte, wie fest und sicher sie sich auf ihren Füßen hielt, während der Bootsknecht uns in das zischende Element hinein schob. Sie reichte mir eine kräftige weiße Hand über die Bänke fort und setzte sich erst wieder, als nun Korl (so nannte sie ihn) sich zu uns hinein über den Bootsrand schwang, daß das Fahrzeug einen Moment gefährlich von einer Seite zur anderen kippte. Viel von ihr sehen konnte ich bei der schwachen Beleuchtung nicht: zwei handbreite, helle Zöpfe, die ihr im Nacken bis über die Hüften hinunter hingen, ein Auge, das klar und hell wie Diamant zu leuchten schien, und ungewöhnlich kräftige Gliedmaßen, die ein dunkler Regenmantel von schwarzem Wachstuche übrigens vollständig verhüllte.
„Frölen, segeln?“ fragte Karl.
Sie nickte. Er wickelte das Tau um das Focksegel schnell vom Maste los, und das Frölen hatte die feste, unbekleidete Hand sofort auf dem Steuer. Unser Boot legte sich auf die Seite; zischend durchschnitt der Kiel die aufbäumenden Wogen. Wie ein Aar durch die Lüfte schossen wir blitzschnell dahin, und falkengleich scharf durchdrangen des Mädchens helle Augen aufmerksam das Halbdunkel.
Ich hätte an das Mädchen die Frage richten können, die mir in der Seele brannte, aber sie saß so ernst und still am Ruder, wie eine Nonne – und dann giebt es Fragen, vor deren Antwort es einem bangt.
Um uns heulte unheimlich der Wind. In den Segeln pfiff er und die Raa ächzte und knarrte beunruhigend.
Wie in dunkler stürmischer Octobernacht tobten die Elemente – eine passende Begleitung des Familiendramas, dem ich entgegen ging! Ein paar Mal schossen die Spritzwellen am Kiel empor und versprengten sich gleich Sprühregen über unser Boot hin. Gleichmüthig trocknete das „Frölen“ mit dem Rücken der linken Hand die Salzdouche von der Stirn, während die rechte nicht einen Moment das Steuer losließ.
„Möchten Sie mir wohl die Kapuze über den Kopf ziehen, Herr Professor,“ sagte sie mit ihrer klangvollen hellen Stimme, als verstünde sich das von selbst. Sie zuckte auch nicht prüde zurück, als meine Finger zufällig dabei ihren warmen Hals berührten; sie dankte auch nicht einmal. Ohne alle Ziererei und übertriebene Anerkennung nahm sie einen Dienst hin, den sie wohl ebenso bereitwillig mir und jedem Anderen geleistet hätte.
Wir sprachen kein Wort mehr mit einander, und ich hatte Zeit, meine Gedanken wandern zu lassen, weit, weit fort in eine längst versunkene Vergangenheit:
So werde ich also – sprach ich zu mir selbst – die kleine Ina wiedersehen. Aber aus der kleinen Ina Maltiz ist inzwischen eine große Baronin Bassowitz geworden. Sie hatte mich rufen lassen; sie hatte also wieder einmal, nach Jahren einmal, ihren Hans „gebraucht“, und mit der Herrschsucht, die sie dem guten Jungen gegenüber immer geübt, hatte sie einfach commandirt. Als sie rief, hatte der Professor Hans natürlich bereitwillig seine Memoranda für den nächsten Vortrag bei Seite geworfen, gerade so wie vor Jahren der Primaner Ovid’s Metamorphosen. O, ich erinnere mich noch deutlich der Scene von damals: während ich eifrig las, lugte das Dämchen, auf den Fußspitzen stehend, in das Parterrefenster des Pfarrhauses und rief den Studirenden weinerlich als Retter an. Ina – ich weiß noch, wie sie damals aussah – hatte das große graue Perlhuhn, den Liebling ihres Vaters, mit einem kühnen Wurfe mitten in den Ententeich geschleudert – es sollte durchaus schwimmen lernen, wie die jungen Enten. Als es nicht wieder zum Vorschein kam, wurde ihr angst und bange, und sie rief jämmerlich nach mir. Natürlich warf ich, schnell bereit, den Rock ab und watete bis zur Brust in das ziemlich tiefe Wasser, rettete ihren halbtodten Liebling, wickelte ihn ihr in die Schürze und erhielt dafür ein gnädiges Kopfnicken.
Das ist nun lange, lange her; wir hatten uns sehr lieb damals, und als wir herangewachsen waren, nahm wohl Jeder in unserer Umgebung stillschweigend an, daß wir für’s Leben zusammengehören würden. Ob es meinem Vater ganz recht war, das feine zierliche Edelfräulein als künftige Tochter betrachten zu sollen, habe ich manchmal bezweifelt. Er war aus reicher Schulzenfamilie, und obschon ein grundgelehrter und studirter Herr Pfarrer, hatte er doch seinen echten, starren Bauernstolz, der es nicht gern sah, wenn Einer sich über ihn stellte. Graf Maltiz, Ina’s Vater, hätte nichts gegen die Partie gehabt, glaube ich. Er war der jovialste, gutmüthigste Kerl, den meine Augen je gesehen; er lebte und ließ leben und war jedem ein guter Camerad, der mit ihm „Rothspohn“ trank und auf die Jagd ging. – – Als ich nach dem dritten Semester in den Ferien nach Hause kam, fand ich alles verändert: Ina’s Vater war plötzlich gestorben. Der Verkehr zwischen dem Schloß und der Pfarre hatte fast gänzlich aufgehört, und das fremde kühle Wesen der Familie Maltiz hielt mich fern. Heimliche Rendezvous im Schloßgarten gab es wohl noch, aber Ina war doch verändert, verlegen oder herrisch in seltsamer Abwechselung, und ich, der gute dumme Michel, der unter den Commilitonen für ein Licht galt, ich ließ mir das Alles harmlos gefallen, und als dann wieder eine hübsche Zeit in’s Land gegangen war – ich befand mich gerade im Staatsexamen – erhielt ich die Anzeige von der Verlobung der Comtesse Iduna von Maltiz mit einem Andern – und dann wurde sie Baronin Bassowitz – ich weiß wohl: ohne Liebe.
„Komm, Hans, hilf mir!“ hatte sie mir nun telegraphirt. Ihr Nothschrei rührte mich. Nichts gab es, was mich halten durfte. Noch ehe man mich dort im Eichenhof selbst erwartete, war ich unterwegs.
Aber was war mir, im Grunde genommen, heute noch die Baronin Bassowitz? Und doch begann mein Herz immer heftiger zu klopfen, je näher ich die hellerleuchteten Schloßfenster herüberglänzen sah. – –
Als wir am Dorfe landeten, griff gleich ein Dutzend rüstiger Hände vom Steg herab nach dem schaukelnden Boot. „Das Frölen“ schwang sich behende hinauf, befahl Korl kurz, mich zu begleiten, und bewegte sich schnell die Eichenallee entlang, die auf den Edelhof mündete. Korl, eine Stalllaterne, die man ihm gegeben hatte, hin und her schaukelnd, in der ein qualmender Docht glomm, ging schweigend neben mir unter den uralten weitschattenden Bäumen.
Ich hielt es für an der Zeit, endlich zu erfahren, welcher Ursache ich die schleunige Herbeirufung verdankte.
„Ist Jemand im Schlosse krank?“ fragte ich zögernd den Mann.
„Neeh,“ sagte er gedehnt.
Sollte ich weiter forschen? Immer angstbeklommener wurde mir zu Muthe. Mein Gott, was konnte Ina geschehen sein, daß sie mich zu ihrer Hülfe herbeirief? Behandelte ihr Mann sie unzart? Meine Phantasie arbeitete kräftig. Die Leute hier zu Lande kannte ich ja; unter ein wenig äußerer Politur verbirgt sich bei ihnen ein gut Theil rücksichtsloser Brutalität – und meine arme zarte zerbrechliche Blume in rohen Fäusten! Fix und fertig stand das tragische Schicksal meines Lieblings mir vor Augen, ehe ich noch den Fuß auf die Freitreppe des Schlosses gesetzt. Meine Voreingenommenheit gegen den Schloßherrn war so groß, daß ich kühl und steif die artige Verbeugung des imposanten Herrn erwiderte, der, ein Windlicht in der Hand, von einer stattlichen Reihe von Dienern umgeben, im Portal stand. Natürlich werde ich der Willkür dieses Wütherichs meine holde Ina entreißen, sagte ich mir; meine Hand werde ich schützend über sie breiten. Wehe dem, der eines ihrer seidenen Haare zu berühren wagt!
Ich nahm es dem Baron beinahe übel, daß er mich mit feinster Höflichkeit willkommen hieß. Zögernd legte ich meine Fingerspitzen in seine mir entgegengestreckte Hand. Er war kein junger Mann mehr, aber von so stattlichem und herzgewinnendem Aeußeren, daß man sein vorgeschrittenes Alter darüber schier vergaß und mein Zorn schnell verrauchte. Er war, was man einen „schönen Mann“ zu nennen pflegt: groß, mit breiten Schultern und breitgewölbter Brust, auf die der krause Vollbart hinabwallte, mit ein paar hellblauen, intelligent und treublickenden Augen und einer lichten, hohen Stirn, die von der energischeren Färbung des übrigen Gesichts marmorweiß abstach.
Trauer, eine würdevoll und ruhig getragene Trauer lag in diesem Augenblick auf dem männlichen Gesicht; unterdrückter Schmerz kämpfte auch in der Stimme, als er mir gedämpften Tones sagte: [547] „Herr Professor, ich bedaure außerordentlich, daß Sie die weite Reise vergeblich machten und Ihre kostbare Zeit uns zwecklos opferten. Es ist schon Alles vorüber.“
„Was ist vorüber?“ mag ich so entsetzt herausgestoßen haben, daß er mich befremdet ansah.
„Was? – Malte hat ausgerungen. Dann überwältigte ihn der Schmerz. Er lehnte sich an die Granitwand im Treppenhaus und legte die Hand beschattend über die Augen. Ich glaube, der große, feste Mann weinte. Dann raffte er sich entschlossen auf. „Der Brief meiner Frau kann Sie nicht mehr erreicht haben; sonst wären Sie nicht schon hier, und das Telegramm, das ich dem ersten nachschickte, ebenfalls nicht; sonst hätten Sie natürlich die Reise nicht gemacht. Wollen Sie – –? Aber vielleicht möchten Sie sich erst waschen und umkleiden. Ingeborg sagt mir, daß Sie abwechselnd von Regenschauern und Spülwasser durchnäßt worden sind. Baum, sorgen Sie für des Herrn Professors Bequemlichkeit – die Baronin wünschte ja wohl das Gobelinzimmer? Lassen Sie die Reisetasche sogleich hinaufbringen! Auf Wiedersehen beim Thee, Herr Professor!“
Er machte mir, auf der untersten Stufe der breiten Marmortreppe stehend, eine tiefe ceremoniöse Verbeugung. Auf mich drangen die überstürzenden Eindrücke so überwältigend ein, daß ich zu gar keinem klaren Gedanken kommen konnte und mechanisch dem Haushofmeister in schwarzer Kleidung, weißer Halsbinde und Escarpins, der mit zurückgewandtem Kopfe und Candelaber die Treppe hinaufglitt, in die erste Etage folgte.
Wer war Malte, wer Ingeborg? Sollte ich den würdevollen Alten fragen, dessen faltiges Gesicht die Schweigsamkeit selbst war, oder den Kammerdiener, der, auf dem Teppich knieend, meine Reisetasche aufschloß und reine Wäsche und den einzigen schwarzen Abendanzug herausnahm, den vorsorglicher Weise meine gute Wirthschafterin hineingelegt? Der richtige Tact verbot Beides. Ich unterwarf mich also schweigend den ungewohnten Hülfeleistungen des gewandten Kammerdieners und ließ mich von dem ernsthaften Schwarzgekleideten nach vollendeter Toilette wieder hinabführen, ich weiß nicht durch wie viele Säle, Hallen, Cabinete, bis er eine dunkle Sammetportière zurückhielt, um mir den Eintritt in ein hohes düsteres Gemach, den sogenannten Ahnensaal, freizugeben.
Von dem eichengetäfelten gefächerten Plafond hingen schwärzlich-gebeizte Holzzapfen in massiver Arbeit herab. Aus dem Halbdunkel funkelten auf dem mächtigen Buffet riesige silberne Humpen und Trinkgeschirre, und in dem beinahe eine Wandseite einnehmenden Kamine lohten ganze Holzklötze. Von den Wänden herab lächelten, still und stolz, hochmüthig und ernst, in voller Rüstung oder in holder Frauenlieblichkeit die Bilder der Ahnherren und Ahnfrauen – sie lächelten herab auf ein lebendes Genrebild inmitten des nur halb erleuchteten Saales: denn dort erblickte ich einen mit Silbergeschirr und Krystall bedeckten Tisch, auf dem die Theemaschine dampfte, im tief zurückliegenden Sessel den Schloßherrn, die Füße auf dem schlummernden Jagdhund ruhend, die Stirn in die aufgestützte Hand gelegt und mit den Fingern der rechten Hand nervös den langen grauen Schnurrbart wirbelnd, in einem zweiten Sessel Ina's graziöse schlanke Mädchengestalt, dasselbe feingeschnitzte Elfenbeingesichtchen mit dem kindlichscheuen Ausdruck, dieselben hellbraunen wie Atlas glänzenden Scheitel, über die meine Hand so gern liebkosend hingestreichelt, dieselben süßen Gazellenaugen wie früher. Nein, dieselben Augen waren es nicht mehr – es war etwas Scheues, Zurückhaltendes in Ina's Blick.
Hoch und groß stand Fräulein Ingeborg, das „Frölen“, mit der ich die Fahrt über die Bucht gemacht, über die Baronin gebeugt und näßte ihre Stirn mit Eau de Cologne. Eine gewisse Vornehmheit, die Vornehmheit der Kraft, sprach sich in den ruhigen Bewegungen des Mädchens aus, in der leichten Verbeugung, mit der sie mich begrüßte, als der Hausherr mich ihr vorstellte: „Professor Ebert – meine Pflegetochter Ingeborg!“
Die Baronin streckte mir matt die Hand entgegen, die ich herzlich ergriff.
„Sie – Du –“ sagte sie, und eine fliegende Röthe stieg in ihr feines Gesicht.
„Meine Frau fühlt sich leidend,“ entschuldigte der Baron sie, „die traurigen Vorgänge haben ihre Nerven heftig alterirt – – Sieh da, unsern Hofrath!“ begrüßte er einen ältlichen rundlichen, stutzerhaft gekleideten Herrn, den der Haushofmeister eben anmeldete und der die ganze Länge des Saales bis an den Theetisch in devoten Bücklingen heranchauffirt kam. „Die Herren kennen sich nicht? Hofrath Lenz, früherer Leibarzt des Fürsten X. (er nannte einen der Potentaten der kleinen mitteldeutschen Staaten), der berühmte Professor Ebert aus der Residenz!“
Des kleinen Mannes zwinkernde Aeuglein starrten mich unter der Brille nicht eben freundlich an; dennoch verbeugte er sich vor dem jüngeren Collegen fast bis zur Erde, sprach süßlich mit den Damen, ließ sich sehr nöthigen, um dann einer der schlimmsten Vertilger unter den guten Sachen des Theetisches zu sein, während der Schloßherr und die Damen nur zum Scheine mit Gabel und Messer spielten.
Nach aufgehobener Tafel zog mich der kleine Hofrath unter die schweren Vorhänge einer der Fensternischen und übergoß mich mit einem Wortschwalle ärztlicher Weisheit, aus dem ich nur zusammenlas, daß der verstorbene Junker ein zu Krämpfen neigendes Kind mit der schwachen Constitution seiner Mutter, der ersten Baronin, gewesen, sich aber später herausgemacht und zu den besten Hoffnungen berechtigt; der Schicksalsschlag hatte die Familie also um so unerwarteter und fürchterlicher getroffen.
„Ist dem Tode des Jünglings eine heftige Erregung vorausgegangen?“ fragte ich.
Der höflich geschmeidige Hofmann hüstelte discret, lächelte und zuckte geheimnißvoll die Achseln. Ich stellte seine Discretion natürlich auf keine weitere Probe.
Da man ihn gleich darauf zu einem Kranken in's Dorf rief, verabschiedete er sich mit dem Versprechen, in der Frühe wieder da zu sein. Das Männchen drehte sich mit unglaublicher Schnelligkeit und rastloser Lebendigkeit wie ein Kreisel um sich selbst, die gnädig überlassene Hand der Baronin küssend, dem Haushofmeister ein vertraulich Wort zuflüsternd, rückwärtsgehend, unter einer Unzahl von Verbeugungen, bis er etwas unfreiwillig rasch über die Schwelle hinausstolperte. Der schmerzlich gepreßte Mund des Barons verzog sich unwillkürlich zu dem Schatten eines Lächelns. Die Gnädige war in ohnmachtartiger Ermattung wieder an die Lehne ihres Sessels zurückgesunken. Fräulein Ingeborg ging ab und zu und ertheilte der Dienerschaft leise Befehle, trotz des gedämpften Tones so bestimmt und klar, daß mein Auge voll Interesse jeder Bewegung des seltenen Mädchens folgte. Wie jungfräulich herb und stolz sie erschien, kühlanwehend, wie der Odem des Meeres, der hier durch jeden Spalt zu dringen schien! Aber der Seewind thut nicht weh durch seine energische Kraft; er erfrischt nur und fegt alle unreinen Dünste fort.
Ich bat um Erlaubniß, mich zurückziehen zu dürfen, um mich von der Reise auszuruhen. Die Baronin sah mich von unten herauf mit einem ich möchte sagen: schmeichelnden Blicke an, wenn dieser Ausdruck für die Situation nicht gar zu frivol klänge. Wie seltsam, daß dieser lange auf mir haftende warme Blick, der, hätte er mich vor Jahren getroffen, mein Blut in Bewegung gesetzt haben würde, mich völlig kühl ließ! Sie nickte mir halb gönnerhaft, halb vertraulich zu, und dabei zuckte es eine Secunde beinahe schalkisch um den feinen Mund dieser Sphinx.
„Mit wem von uns spielte sie eigentlich Komödie?“ so fragte ich mich, aber als dem nervösen Spiel der Gesichtsmuskeln ein hysterisches Schluchzen folgte, bat ich ihr, als ich mich verabschiedete, innerlich meine Gedankensünden, meinen freventlichen Argwohn ab.
Morgen dachte ich bei Zeiten wieder aufzubrechen. Jeder hier müßig verbrachte Augenblick war ein Raub an meinen Berufspflichten. Dem Baron konnte ich, der Fremde, eine tröstende oder auch nur willkommene Gesellschaft unmöglich sein. Ina? – sie war mir plötzlich seltsam fern gerückt – fremd, ganz fremd geworden.
„Am besten, Du wartest das Familienfrühstück gar nicht erst ab,“ sagte ich mir und dann laut zu dem mich begleitenden Diener: „Wann geht der erste Zug von B. ab? Acht Uhr schon? Ich danke.“ Ich nahm meine Visitenkarte heraus und kritzelte neben dem p. p. C. . . ein paar artige Abschiedsworte.
„Wollen Sie so gut sein, dies den Herrschaften zu geben und zu veranlassen, daß ich spätestens um Fünf geweckt werde und ein Wagen bereit gehalten wird, der mich zur Haltestelle bringt?“ bat ich den im Vestibül mich respectvoll erwartenden Haushofmeister.
„Wollen der Herr Professor nicht –“ begann er zurückhaltend; [548] ich schnitt durch eine energisch verneinende Kopfbewegung das Wort ab.
„Ich muß nothwendig morgen Abend zurück in die Residenz.“
„O ihr Götter, anders war's in eurem Rath da oben bestimmt. Welch eine Nacht lag zwischen dem Heute und Morgen!
In meinem düstern gothischen Zimmer wob sich aus Mondschein und Kerzenlicht eine seltsam spukhafte Beleuchtung. Eben schlug es im Thurm über mir elf. Ich hatte meinen Abendanzug abgelegt und in den Reisesack gepreßt, als es außen wie von schleppenden Frauengewändern an meiner Thür ein paar Mal vorbeirauschte. Man hatte mir gesagt, daß diese Etage ganz unbewohnt, lediglich den Prunk- und Gasträumen gewidmet sei. Das Geräusch mußte mich also befremden – nun ließ es sich sogar hinter den Gobelins vernehmen, welche die Wände des Zimmers schmückten – aber nein, meine erregte Phantasie spielte mir sicherlich einen Streich. „Vielleicht beginnen die traditionellen Gespenster alter Schlösser ihr Wesen hier etwas früher, als es sonst Mode ist,“ sagte ich in scherzendem Selbstgespräch, gleichsam zu meiner Beruhigung. Aber doch! Es rauscht schon wieder hinter den Gobelins. Ich brenne mir eine Cigarre an, nehme den vielarmigen Kandelaber vom Tisch und leuchte an den etwas verblaßten, aber künstlerisch gearbeiteten Bildern hin. Immer dasselbe Gesicht mit den zarten Rubens'schen Fleischtönen, der goldigen Haarpracht und den strahlenden Blau-Augen, immer dieselbe nordische Schönheit und Kraft, hier als Freia, dort als Brunhild, auf dem dritten Bilde als Isolde, auf dem vierten als Schildjungfrau – eine etwas bunte Gesellschaft freilich, aber überall dieselbe kraftstrotzende Gliederpracht, derselbe vornehmstolze, freie Ausdruck der Züge, überall eine eigenthümliche Aehnlichkeit mit – Ingeborg.
Was ist das?! Ich habe gute Nerven und nicht die geringste Anlage zu abergläubischem Grauen, aber beinahe wäre mir vor Schreck doch der Armleuchter aus der Hand gefallen, als sich jetzt plötzlich leise knarrend die umpanzerte Schildjungfrau aus einander thut und aus dem klaffenden Spalt eine ganz weiße Gestalt hervortritt.
„Wie Du mich erschreckt hast, Ina! Frau Baronin was soll das?“ Die Tapetenthür schnappte mit leichtem Knacken in die Feder zurück; die Schildjungfrau hielt ihren Schild wieder fest in der Hand; der Helm saß, wie vorher, auf den vereinigten Hälften des schönen ernsten Kopfes, und die Baronin Maltiz trat mit einem kindlichen Lächeln auf den rosigen Lippen, als freue sie sich eines gelungenen Scherzes, weiter vor in das Gemach und bedeutete mich, den Armleuchter auf den Tischteppich zu setzen.
Ich gehorchte stumm vor Ueberraschung und blieb dann abwartend vor der jungen Frau stehen, die sich in einem der weitbauchigen Armstühle niedergelassen hatte. Sie kicherte leise in sich hinein, wie sie das schon als Mädchen zu thun pflegte, wenn sie mir irgend einen Streich gespielt; dabei drehte sie, erröthend und die Augen niedergeschlagen, an den Quasten der dicken Seidenschnur, die ihr weißes, spitzendurchbrochenes Negligé zusammenhielt. Wenn Ina je in ihrem Leben verführerisch ausgesehen hatte – in diesem Augenblicke war sie geradezu unwiderstehlich. Aber der Zauber war schnell gebrochen: über dem gaukelnden Falter hier vor mir schwebte ja der stolze Aar, über Ina's Kinderkopfe das sonnige Haupt der nordischen Göttin, sieghaft in Klarheit, Reinheit und Wahrheit – das Ebenbild Ingeborg's.
Ina schlug die mandelförmigen Augen unter dunkler Wimper mit einem Ausdrucke auf, der mich früher zu ihren Füßen geworfen hätte. Sie schien auch einigermaßen erstaunt, daß nichts dem Aehnliches geschah, daß ich, den Rücken an den kunstvoll geschnitzten Kaminmantel gelehnt, ganz ruhig auf das hübsche Bild im altmodischen Sessel hier vor mir niedersah.
Zu den stimmungsvollsten Gedichten Freiligrath's gehört die „Wüstencarawane“, die Einöde der Sahara, bis zum Morgengrauen von Schatten und Gespenstern belebt – das ist ein großartig gedachtes Landschaftsbild, und wenn wir hier daran anknüpfen, so geschieht es, weil die Scenerie, welche wir im Folgenden darzustellen gedenken, trotz aller localen Verschiedenheit eine auffallende Aehnlichkeit mit jener hat: hier wie dort eine trostlose Wüste mit ihren drohenden Gefahren, ihren Stürmen, ihrer Fata morgana, ihren Trümmern, den Zeuge verzweifelter Katastrophen. Während es sich bei der afrikanischen Wüste um eine glühende Landschaft am Aequator handelt, wollen wir von der feuchte Einöde einer durch Wolken und Nebel oft genug umschatteten nordischen Küste erzählen und zwar von keiner anderen, als unserer heimatlichen Nordseeküste.
Wenn man eine Specialkarte dieses Strandgebietes betrachtet, so kann man genau die Linie verfolgen, welche das Festland nach dem Meere zu abschließt, aber jenseits derselben, schon im Bereiche des Meeres, erblickt man noch eine Reihe unregelmäßiger, durch Punkte oder Farbe hervorgehobener, mit der Küste parallel laufender Flecken. Dies ist das Terrain, auf dem sich unsere Darstellung bewegen wird; hier, wo die Wissenschaft des bei weitem größten Theiles unserer binnenländischen Leser wohl aufhört, soll unsere Schilderung beginnen.
Zu der Zeit, als der Canal noch geschlossen, die Nordsee ein nur nach Norden offener Meerbusen war und die vom Westen kommenden Fluthwellen nur in schwächeren Ausläufern auf die Küste trafen, in dieser Zeit konnten die großen deutschen Flußsysteme mit aller Ruhe ihren aus dem Oberlande abgeführten Schutt an der Mündung abladen und damit eine mächtig ausgedehnte Marschbildung erzeugen. Als aber die bis dahin noch zusammenhängenden Gebiete des jetzigen Frankreich und England durchbrochen wurden und der Canal entstand, ergossen sich die Fluthwellen des Oceans in den weit hinaus mit Marschland und Schlamm erfüllten Meerbusen und begannen ihr Zerstörungswerk, theils unausgesetzt das Marschland benagend, theils in wilden Sturmfluthen weite Strecken fortreißend. Wir können die Reste desselben bis in die Mitte der Nordsee verfolgen, bis an jene von den Schiffern so sehr gefürchtete Strecke, wo bei Sturm eine höchst gefährliche und unregelmäßige See steht – die Doggerbank, welche sich bis zu 12 bis 13 Faden Tiefe unter dem Niveau der See erhebt, während das Terrain daneben auf 30 bis 40 Faden Tiefe abfällt. Von den an die Küsten sich anlehnenden Resten des Schwemmlandes wurde ein Theil in späterer historischer Zeit durch kühne seevertraute germanische Stämme urbar gemacht und zu üppigen Landschaften umgestaltet; der andere Theil umzieht in weitem Bogen, nach der See zu von einer Inselkette umgrenzt, als „Watt“ die Küsten von Holland und Jütland, unserer Nordseeküste den ihr eigenthümlichen, nichts weniger als einladenden, ja fast drohenden Charakter verleihend.
Das Watt zu schildern, erscheint so einfach und ist doch, soll es anschaulich und lebenswahr geschehen, überaus schwer; denn jeder Vergleich, jede Beziehung auf ähnliche oder verwandte Scenerie läßt uns im Stich; es ist nicht Land und nicht Meer, nicht Sumpf und nicht Sand, und doch ist es wiederum dies Alles zusammen, ein düsteres, feucht schimmerndes Gemenge, als tauche der Meeresgrund soeben zum ersten Male über dem Ocean empor. Man würde sich aber täuschen, wenn man glaubte, das Watt zeige uns immer nur dasselbe einförmige Gesicht – im Gegentheil: ganz wie das Meer ein Wiederspiegeln der ewig wechselnden Luftgebilde, ist auch das Watt ein Proteus, der uns in den mannigfaltigsten Gestalten erscheint. Wenn das schwere trübe Regengewölk des nordischen Himmels über das Watt zieht, dann gewährt es in seiner starren Ruhe einen Anblick, so traurig und unheimlich, so finster und drohend, wie das Verderben selbst; weit, weit draußen läuft eine weiße unregelmäßig bewegte Linie, der Schaumkranz der dort wogenden See; noch weiter hinaus zieht ein Dampfer, eine lange Rauchsäule hinter sich, am Horizonte hin, sodaß es fast aussieht, als glitte er über das Watt selbst. Nicht weniger gespenstisch
[549][550] schaut das Watt drein, wenn schwere Nebelmassen darüber lagern und seine matt und trüb schimmernde Oberfläche fernhin in den feuchten Schwaden sich gleichsam aufzulösen scheint, als befände man sich, um mit den Alten zu reden, am Ende des Okeanos, wo Erde, Meer und Luft in einander verschwimmen. An den Flußmündungen liegen einzelne kleinere Flächen vom Strome umflossen, wie schleimige, schlüpfrige Riesenquallen, welche die Fluth an den Strand warf, und wer bei solch „mistiger“ Witterung, wie der Seemann sagt, unsere Flußmündungen passirte, wird sich mit leisem Grauen dieser schmutzig bleifarbenen Bänke erinnern, welche so unheimlich über den Gewässern emporragen und auf deren Rücken schon so manch wackeres Schiff geborsten ist.
Mit einem Schlage aber ändert sich die ganze Scenerie in dem Augenblicke, wo die Sonne hervortritt. Bei Mittagssonne liegt das Watt wie eine leuchtende gleißende Metallfläche vor uns, welche das Auge blendet, sodaß es unmöglich ist, längere Zeit hinauszublicken. Eine wundervolle Stimmung aber breitet sich des Morgens und Abends darüber aus, und selbst die kühnste Phantasie würde auf der bei trübem Wetter so finster und mürrisch dreinschauenden Fläche nicht jenen Farbenreichthum vermuthen, welchen die tieferstehende Sonne darüber ausstreut. Dies erklärt sich aus der Gestaltung des Watt. Dasselbe ist nämlich durchaus nicht etwa eine gleichmäßig glatte Fläche, wie es vom Strande aus erscheint, sondern im Gegentheil ein ziemlich stark coupirtes Terrain von sehr verschiedener Zusammensetzung. Risse, Rinnsale, tiefere Spalten, muldenförmige Vertiefungen kreuzen sich überall und bilden zum Theil wirkliche kleine Flußbetten, die sogenannten „Prielen“. Im Terrain selbst aber schieben sich zwischen theils gehärtete, theils noch weiche und nachgebende Schlick- und Schlammmassen gewaltige Strecken festen harten Thones, Muschelbänke und Sanddünen, auf denen das Spiel der ebbenden Wellen die zierlichsten Figuren zurückläßt. Wenn nun Himmel und Wolken in reichem Farbenschmucke leuchten, so spiegelt das feuchte Watt diese nämlichen Farben wieder, jeden Theil aber in seinem Localtone, den Schlamm anders als den Thon und diesen wieder anders als den Sand – fast alle Farben der Palette sind vertreten, namentlich aber ein intensives Violett in allen seinen Nüancen. Da aber, wo das Tagesgestirn über dem Horizonte steht, sendet es eine wahre Feuergarbe funkelnder, glitzernder und blitzender Lichtatome übers Watt, während die Prielen, vom Wasser erfüllt, wie leuchtende Schlangen sich hindurchwinden, ein Schauspiel, das namentlich von der Höhe, z. B. von einem Leuchtthurme aus gesehen, mit imponirender Großartigkeit und Eigenart wirkt.
Bei stillen warmen Frühlings- oder Sommertagen, oder auch wenn sich in der schwülen Luft ein Gewitter zusammenbraut, erscheint plötzlich über dem Horizonte, auf einer weißen Dunstschicht thronend – die Fata morgana. Schiffe schweben, ihr Bild verkehrt nach unten spiegelnd, in der Luft; entfernte, zum Theil unter dem Horizonte befindliche Gegenstände heben sich herauf und rücken näher, ja der Felsen von Helgoland wurde an der Küste oft so deutlich, über dem Watt emporsteigend, erblickt, daß man sogar die tiefliegende Düne erkennen konnte.
Um dem Bilde des Watts, sowie speciell dem unserigen gerecht zu werden, sei noch der Mondnacht gedacht! Man kann sich nach dem Gesagten wohl vorstellen, welch magischen Eindruck die Scenerie macht, wenn die breiten Wolkenschatten wie Gespenster über die im bleichen Lichte des Mondes geheimnißvoll schimmernde Fläche streichen. Der Mond aber ist es zugleich, der uns an eine Unterlassungssünde gemahnt; wir müssen nämlich darauf aufmerksam machen, daß es das Watt der Ebbezeit ist, welches wir schilderten; zweimal am Tage ebbt und fluthet das Meer darüber hin; zur Fluthzeit aber ist jene ganze Scenerie, die wir soeben beschrieben haben, verschwunden, und soweit wir blicken können, wogt die See.
Es ist nicht der wenigst interessante Moment, wenn die Fluth über das weite Watt herankommt. Ein frischer Luftzug geht ihr als Bote vorauf; dann naht ein leichtes Wellengeriesel, das sich leise zischend auflöst, um sofort wieder von Neuem zu beginnen; jetzt rauscht es da drüben an der Muschelbank auf; tiefe Stille – wiederum ein Rauschen – jetzt hier und da und dort; in langen Athemzügen naht die Fluth – nun wird es in den Rissen und Prielen lebendig, verworrene flüsternde Geräusche wie von tausend fliehenden Geistern tönen hervor, und unmittelbar darauf schießen dunkle schäumende Bäche und Flüsse heran, als wollte eine Welle die andere überflügeln, und ehe man noch recht weiß wie, ist Alles bereits eine graue schäumende Wassermenge; nur da, wo höhere Bänke liegen, hebt sich noch ein unregelmäßiges Gewoge und dringt ein dumpfes Gemurmel herüber, aber auch dieses verliert sich in der immer höher steigenden Fluth und endlich rollen in gleichmäßigen Pausen langgezogene Wellen dem Strande zu.
Anders freilich ist es, wenn zur Zeit der Tag und Nachtgleiche, vom heulenden Weststurme gepeitscht, das Meer mit stürmender Hand gegen die Deiche heranbraust: das ist die Zeit, wo jene Katastrophen eingetreten sind, denen gegenüber der Untergang von Städten wie Pompeji, Lissabon, Szegedin immer noch als ein kleineres Unglück erscheint.
Ueberall an unseren Küsten giebt es Wattstrecken, wo einst nicht die See wogte, nicht blos Schalthiere und Vögel eine Wüste belebten, sondern wo in blühenden Landschaften ein tüchtiges Geschlecht sich seines Daseins freute. Es würde uns zu weit führen, wollten wir hier von den Sturmfluthen berichten, welche unsere Küsten heimsuchten; die Geschichte dieser Jahrhundert um Jahrhundert wiederkehrenden „Manntränke“ ist so furchtbar, so großartig, daß sie eine Schilderung für sich erheischt, aber wer das Watt darstellen will, muß ihrer auch vor Allem gedenken, damit man wisse, daß meilenweite Strecken unserer Watten nichts anderes sind, als die düsteren Gräberstätten eines untergegangenen Culturlandes; allenthalben könnten wir Glocken von Vineta erlauschen, und es nimmt uns nicht Wunder, wenn auf den Inseln, wie z. B. auf Sylt, die Bevölkerung sich erzählt, daß in den Dünen am Watt Geister und Gespenster ihr Wesen treiben.
Die Erinnerung aber an jene Katastrophen führt uns überhaupt in die Vergangenheit zurück und damit auf ein Gebiet, das ein hohes Interesse beanspruchen darf. Von keiner Gegend unseres Vaterlandes nämlich besitzen wir so uralte Ueberlieferungen, wie von der Nordsee. Aus dem Mythencyclus der Hellenen dringt verschollene Sage auch von der Nordsee zu uns. Hier, im Norden des deutschen Meeres ist das Land, wo Nacht und Morgen so nahe an einander grenzen, daß der eintreibende Hirte dem austreibenden begegnet; hier geräth die Argo in so seichtes Meer, daß sie weiter gezogen werden muß; hier sinkt Phaëthon nach seiner tollen Fahrt nieder und seine herbeieilenden Schwestern, in Bäume verwandelt, erzeugen den Bernstein. Die Phönicier sind es vor Allem, deren Berichte sich in diesen durchaus localgetreuen Bildern widerspiegeln, denn schon im achten Jahrhundert v. Chr. dürfen wir sie auf ihren kühnen Fahrten an der britannischen Küste vermuthen, und wenn unter den Berichten, welche vermeintlich die anderen Nationen abschrecken sollten, ihren Handelswegen zu folgen, wenn unter diesen die Schilderung von dem im Westen immer seichter werdenden Meere erscheint, so lehrt uns ein Blick auf das Watt, daß sie ihre Angaben durchaus nicht aus der Luft griffen; denn von ihren Factoreien an der britannischen Küste aus besuchten sie die Nordsee-Inseln des Bernsteinhandels wegen und lernten das seichter werdende Meer aus eigener Anschauung kennen.
Haben wir es hier mit mehr sagenhaften Angaben zu thun, so sind wir andererseits im Besitze einer überaus interessanten Reisebeschreibung des ersten Weltumseglers, den die Geschichte kennt. Um die Zeit, da Alexander der Große griechische Cultur in das Innere Asiens trug, unternahm ein kühner Seefahrer aus Massilia, Pytheas mit Namen, eine Umsegelung der damals bekannten Welt jenseits der Säulen des Hercules, und was er sah und erlebte, legte er in einer Reisebeschreibung nieder, von der uns Bruchstücke erhalten geblieben sind.
Das höchst originelle Bild, welches wir von der Nordsee und ihren Küsten aus diesen Berichten und den Schriften derjenigen, die sie benutzten und ergänzten (unter ihnen Tacitus), erhalten, ist kurz gedrängt Folgendes: Nach einer Fahrt an der Küste hin über Island und die Westküste Britanniens gelangt Pytheas nach dem sagenhaften Thule, jedenfalls eine der Shetland-Inseln. Hier zeigen ihm die Eingeborenen am äußersten Horizonte die Stelle, wo die Sonne sich zur Ruhe legt, um nach kurzer Rast von wenigen Stunden sich wieder zu erheben. Hier beginnt auch das geronnene Meer, ein träges, beinahe unbewegliches und dunkel gefärbtes Wasser, das den Erdkreis umgürtet, von keinem Winde bewegt; ringsum ein Gemisch von Erde, Meer und Luft, wo man weder gehen noch fahren kann, einer Seequalle vergleichbar. Von hier aus kommt man in den Meerbusen Montonomon (die Nordsee), an dessen Ufern die Teutonen [551] wohnen. Der Meerbusen ist von großen und kleinen Inseln erfüllt; nirgends ist offenes Meer; bei der Ebbe scheinen die Inseln mit dem Festlande verbunden zu sein. Im Frühjahr werfen die Fluthen hier den Bernstein, eine Ausscheidung des geronnenen Meeres, aus; die Einwohner sammeln ihn und verhandeln ihn theils nach dem Festlande, theils benutzen sie ihn als Feuerung. Auf den Inseln giebt es verschiedene wunderbare Bewohner – solche, welche nur von Eiern leben; dann die Hippopoden, Menschen mit Pferdefüßen; endlich die Panotier, welche solche große Ohren haben, daß sie ihren ganzen nackten Körper damit bedecken.
Man hat früher angenommen, Fahrt und Beschreibung des Pytheas habe der Ostsee gegolten, weil ein so reichlicher Bernsteinfund, wie er ihn angiebt, in der Nordsee nicht vorkomme, aber abgesehen davon, daß man auch in der Nordsee einen nicht unbedeutenden Bernsteinfund in alter Zeit nachweisen kann, giebt vor Allem die Schilderung ein so getreues Bild der Nordseeküste, daß an die Ostsee überhaupt gar nicht gedacht werden kann. Auch die wunderliche Nachricht von der Benutzung des Bernsteins als Feuerungsmaterial findet in der Neuzeit eine Parallele, indem berichtet wird, daß noch im vorigen Jahrhundert arme Leute angezündete Bernsteinstücken als Beleuchtungsmaterial benutzten. Nicht weniger zutreffend sind die Eieresser – wer Nordsee-Inseln während der Brutzeit besucht hat, wird sich der dort lagernden Eiermassen und ausgebrüteten Vögel erinnern.
Etwas wunderlicher schaut sich der Bericht von den Pferdefüßlern an, aber auch hier giebt uns die Gegenwart die sogar sehr nahe liegende Möglichkeit der Erklärung. Wenn irgend ein Bekleidungsstück, so bietet der niederdeutsche Holzschuh Formen von wahrhaft vorhistorischem Charakter dar – hier tritt aber nun der wichtige Umstand in den Vordergrund, daß gerade, wie ja auch J. G. Kohl ausführt, das Gebiet der Nordseeküste die eigentliche und alleinige Heimath dieses in Wirklichkeit pferdefußartigen Möbels ist, während seine Verbreitung nach Frankreich aus verschiedenen Gründen als eine secundäre erscheint. Bedenkt man ferner, wie treu sich Formen, welche wir schon bei den alten Schriftstellern geschildert finden, auf niederdeutschem Gebiete bis zu unserer Zeit vererbt haben, so kann man nicht mit Unrecht vermuthen, daß in diesen Hippopoden des Pytheas die früheste Spur des gerade für diese Gegenden zweckmäßigen Holzschuhes zu suchen ist.
Jeder Anhalt fehlt uns dagegen bei der dritten Art Inselbewohner, derjenigen, welche so große Ohren haben, daß sie ihnen zugleich als Toilette dienen. Solchen Ohren gegenüber müssen freilich diejenigen unserer gegenwärtigen Küstenbewohner als höchst rudimentäre Organe erscheinen, und wenn man nicht annehmen will, daß mit der fortschreitenden Bekleidungskunst eine entsprechende Rückbildung der Ohren eingetreten ist, so bleibt Nichts übrig, als das zu thun, wozu sich der Gelehrte so schwer entschließt – nämlich zu gestehen, daß wir Nichts darüber wissen. Die Vermuthung ist höchstens berechtigt, daß es sich hier um ein Kleidungsstück, eine Art Kappe im niederdeutschen Sinne handelt.
Waren, mit Ausnahme des eben erwähnten, fast alle Einzelheiten jener alten Beschreibung zu erklären, so bleibt doch ein Theil, der allerdings Schwierigkeiten bereitet – die Erzählung vom geronnenen Meere und was damit zusammenhängt. Man muß hier eine scharfe Scheidung von zwei ganz verschiedenen Scenerien vornehmen. Das geronnene Meer, von dem später auch noch die Römer und deutschen Seefahrer sprechen, verlegt man, und wohl mit Recht, in die Nähe der Orkneys- und Shetland-Inseln, wo starke Strömungen, schwerer Seegang, Nebel und Windstillen häufiger, als in den angrenzenden Meeren der Fall ist, die Schifffahrt erschweren. Für die weitere Schilderung aber, wie „Erde, Meer und Luft in einander übergehen, ein Gemisch, das man nicht betreten und beschiffen kann, einer Seelunge vergleichbar“, müssen wir uns nach einer Localität umsehen, welche dem Bilde zu Grunde gelegen haben mag; denn dasselbe trägt so viel Localfarbe an sich, daß man nicht blos an ein allgemeines phantastisches Bild denken kann. Die Schilderung selbst aber paßt so vortrefflich auf das Watt, daß wir uns oben bei Beschreibung desselben sogar jener Vergleiche bedienen konnten.
Mit dem Bilde der „Seelunge“ als einem Mitteldinge zwischen Thier und Pflanze, wählte Pytheas einen trefflichen Vergleich zur Bezeichnung eines Mitteldinges zwischen Land und Meer, wie es das Watt ist. Das übrige, sagt Pytheas, habe er von Hörensagen – hier haben wir also eine alte Tradition der Eingeborenen auf den britischen Inseln und damit zugleich die denkbar älteste Ueberlieferung vom Watt und der Nordseeküste vor uns. Abgesehen davon, daß in vorhistorischer Zeit die Ausdehnung des Schwemmlandes eine viel größere gewesen sein wird als heute, besaßen die frühesten Bewohner der britannischen Inseln sicher ein Bild der gegenüberliegenden Küste und ihrer Wattscenerie, wohin wohl so mancher von ihnen in seinem Lederschiffe bei düsterem Wetter verschlagen worden war – wo Erde, Luft und Himmel sich vermischten, und wo auch für sie die Welt aufhörte. Dieses Bild der gegenüberliegenden östlichen Küste übertrugen sie dann im weiten Bogen auf den ganzen Horizont ihrer Weltanschauung.
Erscheint die Beschreibung des Pytheas immerhin noch in etwas sagenhaftem Gewande, so tritt unsere Landschaft in das helle Licht der Geschichte mit dem Beginn der Römerzüge gegen die germanischen Stämme der Küste, welche sich hier in ihrer ganzen wilden Großartigkeit zeigt.
Den Reigen eröffnet Drusus im Jahre Zwölf vor Christus mit seiner sowohl in den Zielen wie in den Resultaten ziemlich dunkeln Seefahrt. Nachdem er – ein riesiges Werk, eine Verbindung zwischen Rhein und dem jetzigen Zuidersee (damals ein kleiner Archipel) hergestellt und die Bundesgenossenschaft der Friesen erworben hatte, ging er mit der Flotte in das Wattenmeer und eroberte die Insel Burchanis, das jetzige Borkum, welche damals einen weil größeren Umfang hatte, als gegenwärtig. Nach einem Kampfe mit den Bructerern auf der Ems finden wir ihn plötzlich am Gebiet der Chauken im Wattenmeere festsitzen, „da die Schiffe im Ocean auf das Trockene geriethen. Von den Friesen, welche als Fußmannschaft den Zug mitmachten, aus dieser Noth befreit, kehrte er, da es Winter ward, um und begab sich nach Rom.“ Diese kurze Angabe des Dio Cassius ist ziemlich dunkel; es sieht fast darnach aus, als habe das Watt schon damals beim ersten feindlichen Angriff auf unsere Küsten sich als jener mächtige Bundesgenosse in der Vertheidigung derselben bewährt, wie dies späterhin und zuletzt noch im siebenziger Kriege der Fall war.
Der nächste Zug war der des Tiberius, der mit großartigeren Mitteln durchgeführt auch zu dem gewünschten Resultate führte, indem die durch das Wattmeer fahrende Flotte und das zu Lande vorrückende Heer sich im Gebiet der Langobarden an dem rechten Elbufer, und zwar in seinem der Mündung nahe liegenden Theile trafen. Details über diese Wattfahrt besitzen wir nicht. Desto interessanter für uns gestaltet sich der Zug des Germanicus im Jahre Fünfzehn nach Christus. Von der Insel der Balaver an der Rheinmündung zog er mit einer Flotte von tausend für die Fahrt auf dem Wattmeer besonders gebauten Fahrzeugen aus, passirte den Drusus-Canal und segelte dann durch das Watt in die Ems ein, wo die Flotte vor Anker ging, während das Heer über die Weser rückte und die Schlacht von Idistaviso schlug. Germanicus wählte zur Rückbeförderung der Armee wiederum das Watt, und hier sollte ihm das Gefährliche seiner Fahrt zum vollen Bewußtsein kommen; denn um ein Haar hätte er im Aufruhr der Elemente sämmtliche Legionen verloren. Von Böen mit Hagelwetter überfallen, wurde die Flotte schließlich durch einen schweren Südsturm in die Nordsee geschleudert, Pferde, Lastvieh, Gepäck, die Waffen wurden über Bord geworfen, um die Schiffe zu erleichtern, die Sturzseen erhielten und Wasser zogen. „Soviel, als der Ocean großartiger ist als andere Meere, soviel übertraf das Unglück alles durch seine Neuheit und Größe: ringsum feindliche Küsten, und das Meer so weit und tief, daß man annimmt, es sei das Ende der Welt.“
Im Anschluß an diesen Kampf mit den Elementen sei noch einer anderen ganz eigenartigen Thatsache erwähnt: daß die Römer an den Flußmündungen, als wollte selbst das Binnenland am Kampfe gegen die fremden Eindringlinge Theil nehmen, von schwimmenden Inseln angefallen wurden, auf denen riesige Eichen standen, deren Aeste wie das Takelwerk von Schiffen aussahen. Die Römer mußten diesen Stämmen, wie Plinius sagt, förmliche Seeschlachten liefern, da sie sonst kein Sicherungsmittel wußten. Vor längerer Zeit erzählten wir in der „Garlenlaube“ (vergl. Jahrg. 1861, S. 666) von dem wunderlichen schwimmenden Lande in Niederdeutschland – hier finden wir es im Berichte der Alten wieder.
Eine Heerfahrt von dem Umfange der römischen hat das Wattmeer nicht wieder gesehen, ausgenommen höchstens die Flotte der Sachsen, als sie unter Hengist und Horsa von der Nordseeküste [552] zur Eroberung Englands auszogen. Pipin und Karl der Große, welche beide in ihren Kämpfen mit den Sachsen bis in diese Gegenden vordrangen, haben gewiß auch Flotten an der Küste hingeführt, doch wissen wir nichts weiter darüber.
Wohl aber ist hier der Punkt, wo wir das, was wir oben andeuteten, nochmals besonders hervorheben müssen: das Watt als mächtigen Schutz unserer heimischen Küsten – das bedeutendste Beispiel hierfür ist noch in unser aller Gedächtniß – bei der Unfertigkeit unserer Küstenvertheidigung hätten die Franzosen 1870 mit der überlegenen Flotte uns unberechenbaren Schaden zufügen können, eine bei weitem größere Truppenmasse wäre der Armee im Felde entzogen worden, die Situation eine nicht unwesentlich andere gewesen – aber da lag das Watt weit hinausgestreckt in See auf der Lauer, den ersten Franzosen, der sich heranwagen würde, an seinen Bänken zu zerschellen, und die Herren Franzosen hielten es denn auch für gerathener und zuträglicher, diesem unheimlichen Vertheidiger der deutschen Küste in weitem Bogen aus dem Wege zu gehen – denn daß alle Seezeichen eingezogen waren, brauchen wir wohl nicht erst anzudeuten.
Durch alle Jahrhunderte bis in die neuere Zeit stand die Seeräuberei in dem Wattmeer in schönster Blüthe, und die Hamburger und Bremer konnten sich ihrer trotz Schiffsmacht und Bündnisse, trotz Köpfen und Pfählen selbst bis in’s siebenzehnte Jahrhundert hinein nicht ganz erwehren. Die früheste Nachricht besitzen wir durch Plinius über die Seeräuberei der Chauken, von denen er erzählt, daß sie in ausgehöhlten Baumstämmen, deren einer dreißig Mann faßte, an den Küsten hinfuhren und besonders diejenigen Galliens plünderten. Diesen folgten später Sachsen und Franken, die, wie die Britannier, sich lederüberzogener Schiffe bedienten, Friesen, Dänen und Normannen, Oldenburger, Wurstner, Dithmarschen, Engländer, Franzosen, kurz, Seeräuber von den heimischen Küsten wie aus aller Herren Ländern.
Der Musikhistoriker, der es unternimmt, Wesen und Charakter der einzelnen Perioden in der Entwickelung der Tonkunst darzulegen, wird die gegenwärtige, wie die ganze Nach-Beethoven’sche Epoche überhaupt, als eine von poetischer Tendenz erfüllte bezeichnen dürfen. Seit Beethoven in der Riesenthat seiner neunten Symphonie die Schranken der absoluten Musik durchbrach und im instrumentalen Kunstwerk die Hülfe des dichterischen Wortes in Anspruch nahm, hiermit eine neue Phase seiner Kunst einleitend, einigten sich die Schwesterkünste Poesie und Musik zu immer innigerem Bunde. Ein Blick auf die musikalische Dramatik Weber’s und Wagner’s, auf die instrumentale und vocale Lyrik der letzten fünf oder sechs Jahrzehnte belehrt uns darüber zur Genüge. Die letzten, mehr im declamatorischen Stil gehaltenen Lieder Schubert’s, die Concertouvertüren und Lieder ohne Worte Mendelssohn’s, die Symphonien Berlioz’, die Clavier- und Liederpoesie Schumann’s, Chopin’s, Franz’, die Orchester- und Kirchenwerke Liszt’s veranschaulichen auf das Deutlichste den Weg, den die Tonkunst nach dieser Richtung eingeschlagen, und zeigen die Consequenzen dieses poetischen Princips am schärfsten in den Schöpfungen Liszt’s entwickelt. Die gleichen Bestrebungen, die sein Freund und Kunstgenosse Wagner auf der Bühne verfolgte, brachte er in Concertsaal und Kirche zur Geltung. Es war ihm nicht genug, der größte Virtuos zu sein, den die Welt gesehen, auch in einer lange Reihe schöpferischer Thaten sollte sich sein Genius bezeugen, während er zugleich als Dirigent und Lehrer für Verlebendigung seiner Ideale wirkte und ein Hauptvertreter der Schule ward, die sich die neudeutsche oder neuromantische nennt.
Wie er als Pianist auf seinem Instrument gleichsam eine neue Welt entdeckte, die in ihm schlummernden orchestralen Kräfte erweckte und dessen eigentlichste Glanzzeit herbeiführte, mußte er auch als Componist neue selbstständige Bahnen wandeln. Wenn auch nicht so rasch wie dem vom ganzen musikliebenden Europa gefeierten Clavierbeherrscher, so wandte sich doch auch dem schaffenden Meister Liszt die Gunst des Erfolges zu. Die Musikgeschichte erzählt kaum von einem Künstlerdasein, das sich an Glanz und Erfolg mit dem seinen zu messen vermöchte. –
Im Kometenjahr 1811 ward Franz Liszt am 22. October in dem Dorfe Raiding bei Oedenburg in Ungarn geboren.[1] Sein Vater Adam Liszt, der Nachkomme einer adeligen Familie, die sich jedoch bei zurückgekommenen Vermögensverhältnissen ihres Adelsrechtes begeben hatte, war daselbst als Rechnungsführer des Fürsten Esterhazy angestellt. Als eifriger Musikfreund, der selbst mehrere Instrumente spielte, erkannte er die sich frühzeitig kundgebende Begabung seines Kindes und begann auf seine dringenden Bitten im sechsten Jahre mit ihm den Clavierunterricht. Drei Jahre später erspielte der kleine Franz sich bereits in Oedenburger und Preßburger Concerten die Bewunderung der Zuhörer in solchem Maße, daß einige ungarische Magnaten sich sofort erboten, durch ein Stipendium von tausend Gulden sechs Jahre hindurch die Kosten seiner Ausbildung zu tragen.
Dieselbe ward nun in Wien, wohin Vater und Sohn sich nach Aufgeben der Stellung des Ersteren wandten, unter Führung Czerny’s und Salieri’s in Clavierspiel und Composition energisch betrieben, und am 13. April 1823 hörte die musikliebende Kaiserstadt Franz Liszt zum ersten Male. Das äußerst günstige Resultat dieses ersten Concerts, das dem genialen Knaben eine Umarmung des ihm zu Ehren anwesenden Beethoven als höchsten Lohn eintrug, lieferte in Verbindung mit einem zweiten die Mittel, seine künstlerische Ausrüstung in Paris zu vollenden. Auf dem Wege dahin ward er bei seinem Auftreten in Stuttgart und München als „ein zweiter Mozart“ begrüßt. Die sehnlich gehoffte Aufnahme in das Pariser Conservatorium zwar blieb ihm, als einem Ausländer, trotz eines glänzend bestandenen Examens, von Cherubini versagt, doch fand er in Paer und Reicha thätige Förderer und Leiter seiner jugendlichen Bestrebungen. Bald war er der gefeierte Held des Tages, der Liebling der musikalischen Aristokratie, und die Pariser Blätter ergingen sich in Lobpreisungen des phänomenalen Talentes, das „keinen Nebenbuhler mehr kannte“. Auch als Componist, als welcher er bereits in Wien die Aufmerksamkeit Salieri’s erregt hatte, trat er nun an die Oeffentlichkeit, und eine einactige Oper: „Don Sancho, oder das Schloß der Liebe“, die er im Jahre 1825 in der Académie royale zur Aufführung brachte, ward so beifällig aufgenommen, daß Nourrit, der Repräsentant der Hauptrolle, den jugendlichen Componisten auf seinen Armen dem jauchzenden Publicum entgegentrug.
Reisen in die Provinzen, nach England und der Schweiz brachten ihm neue Triumphe. Da starb plötzlich sein treuer fürsorglicher Vater, und der sechszehnjährige Jüngling sah sich auf sich selbst gestellt. Schleunig rief er seine Mutter, an der er bis an ihr Ende mit der ganzen Innigkeit seines Herzens hing, zu sich nach Paris und legte ihr als Willkommengruß seine bisherigen Ersparnisse, 100,000 Franken zu Füßen, die ihren Lebensabend vor Sorgen sicher stellen sollten.
Religiöse Scrupel und innere Kämpfe, politische Prinzipien- und Parteifragen, philosophische und allgemeine Studien, welche letztere ihn die vielbewunderte Universalität seiner Geistesbildung gewannen, beschäftigten ihn während der nächsten Jahre. Nicht nur eine künstlerische Begabung und Entwickelung, sondern mit ihr gemeinsam eine allgemeine Ausbildung des Geistes und Charakters sind ja nach seiner Ansicht Träger und Bedingniß wahren Künstlerthums. Alle Virtuosität wollte er „nur als Mittel, nicht als Endzweck“ betrachtet wissen. War das Virtuosenthum vor ihm auf nicht viel mehr als bloße Fingerfertigkeit hinausgelaufen, so erschien er, laut Dehn’s, des berühmten Harmonikers, Zeugniß, als „der Erste, welcher der ganz vorzugsweise durch ihn ausgebildeten Technik eine innere Bedeutung gab, der sie zu einem höheren Zwecke benutzte“. Die hohe Ueberlegenheit seiner Künstlerschaft [553] bezeugte sich auch alsbald, als er sich, durch Thalberg’s Erscheinen in Paris veranlaßt, in einen Wettkampf mit ihm einließ, der mit seinem Siege endete. „Thalberg ist der Erste, Liszt aber der Einzige“, lautete die Entscheidung der Gesellschaft, der sich die Kritik ohne Zögern anschloß. Und der Einzige ist er geblieben bis auf den heutigen Tag.
Vor seinem Wettstreite mit Thalberg hatte Liszt längere Zeit zurückgezogen in Genf gelebt, wozu seine freundschaftliche Verbindung mit der unter dem Schriftstellernamen Daniel Stern bekannten Gräfin d’Agoult – der Mutter von Richard Wagner’s Gattin – die Veranlassung gab. Dann verweilte er zwei volle Jahre (1837 bis 1839) concertirend und studirend in Italien. Glanzvolle Erfolge in Wien stellten hierauf auch in Deutschland seinen Künstlerruf fest und leiteten die Virtuosenreisen ein, die ihn nun vom Norden bis zum Süden, vom Osten bis zum Westen Europas, durch alle Lande und alle musikpflegenden Städte führten. Aller Orten begeistert gefeiert, erlebte er zumal in Ungarn und Deutschland die größten Huldigungen. Fürsten schmückten ihn mit Titeln und Orden; der österreichische Kaiser stellte seinen Adel wieder her, wie er ihn später zum kaiserlichen Rath mit einem Ehrensold und zum Präsidenten der Pester Musikakademie ernannte; Städte erhoben ihn zu ihrem Ehrenbürger; Pest überreichte dem Meister den Ehrensäbel, und die Universität Königsberg verlieh ihm den Doctortitel. Ein Begeisterungsrausch folgte allenthalben seinen Spuren. Da – die Welt sah es staunend – hielt er plötzlich ein in seinem Siegeslaufe und schloß, auf der Sonnenhöhe seines Ruhmes stehend, seine Laufbahn als Virtuos, um sie mit dem dornenvolleren Berufe des Componisten zu vertauschen.
Siegesmüde, sich nach einem Heim, einem concentrirteren Wirkungskreise sehnend, der ihm die nöthige Muße zum Schaffen bot, ließ er sich in dem kleinen Weimar fesseln und nahm dort, einem Rufe des Großherzogs als Hofcapellmeister folgend, im November 1847 bleibend seinen Wohnsitz. Auf der „Altenburg“ ließ er sich in Verbindung mit der ihm aus Rußland gefolgten Fürstin Caroline Sayn-Wittgenstein, einer Frau von hoher geistiger Bedeutung, nieder und versammelte mit ihr bald einen Kreis vornehmer Geister um sich. Eine neue Kunstblüthe rief er hier auf dem alten classischen Boden hervor und entfaltete eine Wirksamkeit, die für das gesammte Musikleben der Gegenwart von weittragender Bedeutung wurde. Wie sein Erscheinen als Virtuos ein epochemachendes gewesen, so war es auch sein Auftreten als Dirigent, als Lehrer und als Componist. Dort wie hier, in allen Richtungen seiner Thätigkeit, war es ein kühner, kraftbewußter Geist des Fortschritts, der aus seinen künstlerischen Leistungen sprach und der Kunst neue Bahnen eröffnete. Neben der Pflege classischer Werke ließ er sich vor Allem die Förderung der aufstrebenden musikalischen Generation angelegen sein. Unberechenbare Verdienste erwarb er sich um Wagner, dessen Opern er, während Niemand des in der Verbannung lebenden Meisters und seiner Kunst gedachte, auf der Weimarer Bühne eine Heimath gründete; er brach ihnen so durch sein energisches Vorgehen Bahn. Keine neue musikalische Erscheinung irgend welcher Bedeutung blieb von ihm unberücksichtigt, und die allsonntäglich in seinem Hause veranstalteten Matinéen übten bis in die weite Ferne ihre Anziehungskraft.
War es sein Grundsatz als Dirigent, daß „die Aufgabe eines Capellmeisters darin bestehe, sich thunlichst überflüssig zu machen und mit seiner Function möglichst zu verschwinden“, so ließ er auch in seiner Thätigkeit als Lehrer der Individualität die größte Freiheit in der Entwickelung. Da war und ist von keiner Schablone die Rede; die volle Eigenthümlichkeit und Selbstständigkeit blieb jedem Einzelnen gewahrt, dem er die unschätzbaren Reichthümer seiner Erfahrung in der Technik seiner Kunst erschloß. Läßt sich der individuelle seelische Zauber seines Spiels auch auf keinen Anderen übertragen, seine Schule geht, längst in alle Welttheile verbreitet, nicht mehr verloren. Aus ihr gingen die berühmtesten Namen der jüngeren Pianisten, an ihrer Spitze Rubinstein, Hans von Bülow, von Bronsart, Tausig, Sophie Menter, Anna Mehlig, Ingeborg von Bronsart, Laura Rappoldi, hervor, denen sich ein weiterer Kreis von Capellmitgliedern und Musikern, wie Joachim, Laub, Singer, Coßmann, Cornelius, Lassen, anschloß.
Schon während seines Wander- und Virtuosenlebens hatte Liszt eine ansehnliche Reihe von Werken geschaffen, die, für das Clavier geschrieben, zunächst seiner Virtuosität dienen sollten; gleichzeitig mit der neuen, im Vergleich zu dem bisher Vorhandenen unerhört vervollkommneten Technik, die sie begründeten, brachten sie meist ein poetisches Element zum Ausdruck. So seine Studien und Transscriptionen (namentlich Schubert’scher Lieder), seine Paraphrasen, Phantasien und Polonaisen, seine „ungarischen Rhapsodien, die „Consolations“, „Années de pélerinage“, „Harmonies poétiques et religieuses“, die Clavierpartituren und Bearbeitungen der Beethoven’schen Symphonien und der phantastischen Symphonie von Berlioz, wie Wagner’scher, Rossini’scher, Weber’scher, Schubert’scher, Bach’scher und anderer Werke, in denen er Unnachahmliches leistete.
Größere, umfänglichere musikalische Thaten reiften nun während seines Weimarer Aufenthaltes. Als Beherrscher großer orchestraler Formen trat Liszt jetzt hervor und überraschte die musikalische Welt mit seinen zwölf „Symphonischen Dichtungen“. Völlig neue Erscheinungen ihrer Art, waren sie der Idee wie der Form nach seine eigensten Geschöpfe. Irgend einen poetischen Gegenstand, eine Dichtung, einen dichterischen Charakter oder Vorgang nimmt er zum Grundgedanken und bringt ihn, indem er ihm seine musikalische Seiten abgewinnt, zu tonkünstlerischer Darstellung. Die äußere Gestalt wächst aus dem Inhalte heraus; sie ist so mannigfaltig, wie dieser Inhalt selbst und eher der Ouverture als der Symphonie verwandt. Der Sonatensatz, auf dem die Letztere beruht, erwies sich als nicht elastisch genug zur Aufnahme eines neuen poetischen, einen fortlaufenden Ideengang repräsentirenden Inhaltes, und so griff Liszt zur freien Variationenform, wie sie Beethoven im Vocalsatz seiner neunten Symphonie – dem Ausgangspunkte für Liszt’s gesammtes instrumentales Schaffen – anwandte. Aus einem oder zwei gegensätzlichen Themen – oder Leitmotiven, wenn man will – heraus entwickelt er eine ganze Folge verschiedenartigster Stimmungen, die durch rhythmische und harmonische Veränderungen in immer neuer Gestalt erscheinen, dem Gesetze des Wechsels, des Gegensatzes und der Steigerung entsprechend.
Das auf diesem Gesetz beruhende Princip des Sonatenbaus ist also trotz der thematischen Einheit und der eine freiere Periodengliederung aufweisenden einsätzigen Form auch hier wirksam, ja die Umrisse der herkömmlichen vier Sätze blicken, freilich zusammengedrängt, mehr oder minder kenntlich noch immer hervor. Bei seinen beiden umfangreichsten und großartigsten Instrumental-Dichtungen „Dante“ und „Faust“, die er als Symphonien bezeichnete, behielt Liszt auch die selbstständige Theilung der Sätze bei, aber er schaltet innerhalb derselben auf seine eigene Weise. In beiden, welche die tiefsinnigsten Dichterwerke, die wir besitzen, „Die göttliche Komödie“ und Goethe’s „Faust“, in Tönen verlebendigen, brachte er, wiederum nach dem Vorbild der neunten Symphonie, im Schlußsatz Chöre in Anwendung. Den einzelnen Sätzen fügte er erläuternde Titel (z. B. Faust, Gretchen, Mephistopheles) bei, wie er auch seinen symphonischen Dichtungen, um Genuß und Verständniß derselben zu erleichtern und uns über den Gedankengang, den er beim Schaffen im Wesentlichen verfolgte, aufzuklären, Programme beifügte. Er giebt uns in denselben entweder selbstständige kleine Dichtungen, wie die Verse Victor Hugo’s und Lamartine’s zur „Bergsymphonie“, zu „Mazeppa“ und den „Préludes“, oder den Hinweis auf bekannte größere Dichterwerke, wie im „Tasso“ und „Prometheus“, oder er führt uns im „Orpheus“ eine vertrauliche mythische Gestalt entgegen und läßt uns in der „Heldenklage“ das große historische Ereigniß ahnen, das er darin feierte. Die „Festklänge“ und „Hungaria“, sowie „Hamlet“, die „Hunnenschlacht“ (nach Kaulbach) und „Die Ideale“ (nach Schiller) hat er ohne Programm gelassen, da er durch die Titel die ihn leitenden Ideen genugsam bezeichnet zu haben glaubte.
Eben diese ihre poetisch-musikalische Doppelnatur in Verbindung mit der Neuheit der Form, die doch lediglich das Resultat dieses Inhalts ist, war dem Verständniß der großen Orchesterschöpfungen Liszt’s besonders ungünstig und hat durch ihre ungewöhnlich hohen Anforderungen an das Publicum die Verbreitung derselben erschwert. An sie heftete sich trotz ihres instrumentalen Glanzes und der in ihnen zu Tage tretenden harmonischen und contrapunktischen Kunst die erbitterte Opposition, von der die seinem Virtuosenthum dienenden Claviercompositionen nichts erfahren hatten. Aber diese Opposition konnte nicht hindern, daß die von Liszt vertretene poetische Richtung in allen Gattungen [554] der Musik zur Herrschaft gelangte und daß sich in der Popularisirung seiner Werke ein stetiger Fortschritt geltend macht. Dringen namentlich die eingänglichsten seiner symphonischen Dichtungen, wie die „Préludes“, „Tasso“, „Orpheus“ etc., und andere seiner Instrumentalwerke, wie seine auf das gleiche thematische Einheitsprincip basirten Clavierconcerte, nicht schon in alle Concertsäle ein? Und werden nicht auch seine Lieder und Kirchencompositionen mit wachsender Vorliebe gehört?
Im Liede vertritt Liszt die Durchführung des poetischen Princips bis zu seinen äußersten Consequenzen. Dem Dichter ordnet sich der Musiker völlig unter; ein freies declamatorisches Element waltet vor, das Wagner’s „Sprechgesang“ ähnlich sieht. Es sei hier nur an das schöne „Ich liebe Dich“ (von Rückert) erinnert; wogegen sich das populärste von allen Liszt’schen Liedern „Es muß ein Wunderbares sein“ der älteren Liedform am meisten nähert.
Das poetische charakterisirende Princip, das Liszt im Liede und in seinem Schaffen überhaupt, das thematische Einheitsprincip, das er in seinen Instrumentalschöpfungen verfolgte, gelangt auch in seinen Kirchenwerken zu vollem Rechte. Die Leitmotive, aus denen Wagner das Gewebe seines musikalischen Dramas spinnt, bringt Liszt nun zuerst auch in Messe und Oratorium zur Geltung. Alle modernen Errungenschaften der Instrumentation und des freien Formenspiels läßt er ihnen zu Gute kommen.
Auch hier schafft er, den Bedürfnissen seiner Natur gemäß, Neues, Großes. Wie überall, gab er auch hier, wo es ihm um nichts weniger als um die Regeneration der katholischen Kirchenmusik zu thun ist, mit vollen Händen. Wir können bei der Fülle des Gegebenen hier nur der Graner Festmesse, der für die Krönung des österreichischen Kaiserpaares in Pest geschriebenen ungarischen Krönungsmesse, der Missa choralis, der Messe und des Requiems für Männerstimmen, der Psalmen und Hymnen und der Oratorien: „Die heilige Elisabeth“ und „Christus“ gedenken. Dies letztere Werk, eine Schöpfung voll unvergleichlicher Originalität und Geistestiefe, ist Liszt’s gewaltigste That im Gebiete der kirchlichen Kunst.
Weitaus die Mehrzahl seiner geistlichen Compositionen aber entkeimte nicht mehr dem weimarischen, sondern dem römischen Boden. Als im December 1859 die Oper „Der Barbier von Bagdad“ von Cornelius, einem Schüler des Meisters, als Opfer einer Coterie, die sich gegen Liszt gebildet hatte, durchfiel, trat der Letztere für immer von der Direction zurück. Ohnedies war seit Dingelstedt’s Eintritt in die Intendantur des Weimarischen Theaters das Hauptgewicht der dortigen Bühnenleitung auf das Drama gelegt worden, während andererseits die Gründung der Malerschule zu viel Mittel in Anspruch nahm, um bei dem beschränkten Hofbudget noch für Oper und Orchester Ersprießliches so fördern zu können, wie es eines Liszt würdig war. Genug, im September 1861 verließ er Weimar und begab sich nach Rom. Dort empfing er am 22. April 1865 von Cardinal Hohenlohe in der vaticanischen Capelle die Weihen, die ihm den Rang eines Abbate verliehen, zu dem man neuerdings noch die Würde eines Canonicus fügte.
Seinem künstlerischen Beruf aber blieb der Liebling Pio Nono’s dennoch getreu. Seit 1869 kehrte er auch alljährlich für mehrere Monate wieder in Weimar und zwar in der „Hofgärtnerei“ daselbst ein. Seither lebt er abwechselnd in Rom, Weimar und Pest, wo er sein Amt als Präsident der Musikakademie im Februar 1876 officiell antrat.
Wir müssen es als zu den schönsten Verdiensten Liszt’s gehörig hier hervorheben, daß er Unzähligen den Weg in die Oeffentlichkeit gebahnt hat, wie er allen künstlerischen Bestrebungen immerdar ein offenes Herz und offene Hände zeigt. Er ist der erste und thätigste Förderer des Bayreuther Unternehmens, der Hauptbegründer des „Allgemeinen deutschen Musikvereins“. Und für wie viele humanitäre Zwecke setzte er von je seine Künstlerschaft ein! Machte er schon während seiner Virtuosenlaufbahn seinen Genius ungleich mehr dem Vortheil Anderer als seinem eigenen dienstbar – denn von den Millionen, die er erspielte, erübrigte er für sich selbst nur eine bescheidene Summe, während er allein für den Ausbau des Kölner Doms, das Bonner Beethoven-Denkmal und die Hamburger Abgebrannten viele Tausende opferte – so war nach Abschluß seiner Pianistencarrière seine öffentliche künstlerische Thätigkeit ausschließlich dem Besten Anderer, sei es künstlerischen Bestrebungen, oder mildthätigen Zwecken oder dergleichen, geweiht. Seit Ende 1847 floß weder durch Clavierspielen und Dirigiren, noch durch Unterrichten ein Heller in seine eigene Tasche. Dies Alles, was Andern reiche Capitalien und Zinsen eintrug, kostete ihm selbst nur Opfer an Zeit und Geld.
Auch in seiner schriftstellerischen Wirksamkeit, in seinen berühmten Arbeiten „Lohengrin“ und „Tannhäuser“, „F. Chopin“, „Robert Franz“ und seinen zerstreuten Aufsätzen, bekundete er, von dem Glanz der Darstellung, der Fülle geistreicher Gesichtspunkte und Ideen abgesehen, den schönen Zug seiner Natur: für das unverstanden gebliebene Schöne und Große mit seiner Autorität einzutreten und ihm, kraft derselben, zu besserem Verständniß zu verhelfen. Darum, von welcher Seite wir dieses thatenreiche Künstlerleben auch betrachten – es zeigt uns das erhebende Bild nicht nur eines großen, sondern auch eines der edelsten Menschen.
Seit einem Vierteljahrhundert geht durch die tonangebenden Culturvölker Europas ein mächtiges Streben und Ringen, der Kunst wieder Eingang zu schaffen in’s Gewerbe, daraus sie fast vertrieben war, die Kunstindustrie zu hegen und zu pflegen. In Deutschland ist diese Bewegung erst nach der zweiten Pariser Weltausstellung im Jahre 1867 zum Durchbruch gekommen; denn was bis dahin in den einzelnen Staaten, wie in Baiern und Württemberg, geschehen war, hatte sich seitens der Allgemeinheit fast gar keiner Beachtung zu erfreuen und verlor sich in der großen Strömung der Tagesinteressen.
Seitdem hat ja in Folge der Mißergebnisse auf den verschiedenen Weltausstellungen die Erkenntniß von dem gottverlassenen Zustande unserer Industrie in Bezug auf guten Geschmack immermehr Platz gegriffen und eine große Anzahl hervorragender Kräfte veranlaßt, den Grund des Verfalles aufzudecken und die Mittel zur Abhülfe zu erforschen. Da ergab sich denn, daß die Ursachen der bedauerlichen Geschmacksverwilderung unserer Tage erstens der historischen Entwickelung angehören und zweitens auf die großartigen Erfolge der Maschinentechnik zurückzuführen sind. Dieser Mangel an Schönheitssinn ist also keine bleibende Eigenschaft des deutschen Nationalcharakters, dem die Natur Liebe und Enthusiasmus für den edelen Reiz der Formen und der Farben vielleicht versagt hätte; nein, eingetreten ist dieser Mangel in erster Linie durch gewaltige, vernichtende Begebenheiten der Geschichte und ihrer Folgen für Cultur und Kunst.
Blicken wir zurück auf die Werke unserer Ahnen im Mittelalter und in der Zeit der Wiedergeburt, der Renaissance, die noch heute unsere Sehnsucht und unseren stillen Neid erweckt! Welche Fülle von Schönheit erschließt sich uns! Wir nehmen die gewaltigen, zum Himmel ragenden Dome mit dem zierlichen Meißelwerk, mit der Scheiben bunter Pracht, die in den Strahlen der Sonne wie flüssiges Gold, Smaragd und Rubin leuchten, Herz und Sinn gefangen! Welch glänzende Kunst weisen die Priestergewänder auf, die Kasel (casula), Stolen und Mitren, die frommer Eifer mit farbiger Seide bestickte und mit Edelgestein verzierte; welche Kunst das aus Edelstein gefertigte und mit Email und Steinen geschmückte Kirchengeräth, die Monstranzen, Ciborien, Kelche, Meßbuchdeckel, Reliquienschreine etc.! Wie reich und behaglich erscheinen in der späteren Zeit, im sechszehnten Jahrhundert, die Wohnungen und Paläste des Adels, der Patricier und des wohlhabenden Bürgers! Welche Fülle von schönem Geräth, von prächtigen Teppichen, Decken, buntbestickten Leinen und anderen Geweben, von edlen Gefäßen, farbigen Krügen, Humpen, grauen Pinten, bemalten Schalen und bunten Gläsern, von reich geschnitzten, eingelegten Möbeln und von Goldtapeten! Unsere Prunkgemächer schmücken wir noch heute, um die eigene Armuth zu verdecken, mit jenen reich ornamentirten Stühlen, Tischen und Schränken, welche einst des wohlhabenden Bauern Hauseinrichtung bildeten.
Niemals gab es eine herrlichere Vereinigung von Kunst und Gewerbe und niemals war die Kunst volksthümlicher, als in dieser [555] Zeit. Die Künstler, selbst dem Handwerk entwachsen, blieben ihm ihr Lebelang treu und, fast in jedem Materiale schöpferisch thätig, verstanden sie das allgemeine Kunstbewußtsein ihres Volkes in mustergültige Formen zu gießen. Auch der weniger begabte und ausgebildete Handwerker stand unter dem Einfluß eines gesunden und geläuterten Geschmacks. So strebte denn Alles mit Entschiedenheit einem einheitlichen künstlerischen Ziele zu.
Da kam der Dreißigjährige Krieg. Seine wuchtigen Schläge trafen das deutsche Land bis in’s innerste Mark, vernichteten den Wohlstand des Bürgers und Landmanns, lähmten die Lust und Freudigkeit am Schaffen, brachen das Unabhängigkeitsgefühl und hemmten den Schwung der Gedanken. Die nationale Kraft des Volkes erstarb; Gleichgültigkeit und Mißmuth traten an die Stelle der früheren Thätigkeit, und um Kunst und Handwerk war’s geschehen. Die Zeit des tiefsten Verfalls begann; dem deutschen Volke ging das politische Bewußtsein verloren. Jetzt erhob sich das französische Königthum zur europäischen Herrschaft, und französisches Wesen und französische Kunst, nur auf die Verherrlichung der fürstlichen Gewalt gerichtet, gleichsam eine Apotheose des Monarchenthums, hielten ihren siegreichen Einzug in unser Land, und unsere Väter wurden gewohnt, die Normen des Geschmacks aus der Fremde, von Frankreich zu empfangen.
Länger als ein Jahrhundert hatte diese Abhängigkeit in ungeschwächter Kraft gedauert. Aus dem Barokstil hatte sich inzwischen das Rococo und aus diesem unter Ludwig dem Sechszehnten der sogenannte Zopf entwickelt, ein Stil, der die allmählich in dem Rococo eingerissene Verwilderung durch Anlehnen an die antike, ornamentale Formenwelt zu bekämpfen suchte. Da fuhren wie ein Donnerwetter die Stürme der französischen Revolution dahin; Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ward die Losung; dem citoyen schien principielle Einfachheit die oberste republikanische Tugend; Rococo und Zopf mit ihrem höfischen Flitter und Tand wurden in den Bann gethan, und der Faden der alten Tradition ward gewaltsam abgerissen.
Dafür wurden nach dem Rathe „philosophischer Künstler“ die Musen aus dem stillen Frieden des Alterthums an das blutige Licht des Tages geschleppt und alles im reinsten griechischen Geschmack gebildet. Aber unter dem Schrecken der Guillotine konnte die Kunst nicht heimisch werden; sie gestaltete sich zu einer Carricatur der Antike, und auch das folgende Kaiserreich vermochte hieran wenig zu ändern. Die restaurirte Monarchie, in dem Glauben, die welterschütternden Begebenheiten der letzten fünfundzwanzig Jahre ignoriren zu müssen, knüpfte an das Rococo wieder an, aber dies blieb eine überlebte Kunstform, weil sich der Zeitgeist gegen jede Rückkehr zum Alten sträubte. Trotz seines Bündnisses mit der Blumenliebhaberei vegetirte es nur kümmerlich und reizlos fort bis in unsere Tage. Einzelne hervorragende Geister, wie Asmus Carstens, Betel Thorwaldsen und Friedrich Schinkel, flüchteten sich aus diesem Jammerthal in’s reine Griechenthum, aber vergebens war ihr Streben, das Verständniß ihrer Zeitgenossen für seine edlen Bildungen zu fördern; Letzterer unternahm sogar, hellenische Formen auf die Gebilde der Kunstindustrie zu übertragen, ohne jedoch dem nöthigen Interesse in weiteren Kreisen zu begegnen. In Folge der langen Abhängigkeit von französischem Geschmack und französischer Kunst unfähig, sich zu eigener That emporzuraffen und selbstthätig zu erfinden, verdarb der an und für sich nur noch geringe Geschmack des deutschen Industriellen vollständig und gleichzeitig der des deutschen Publicums.
Anders in Frankreich! Als der Wohlstand wieder stieg und ebenso das Bedürfniß nach Form und Farbe, empfand man schmerzlich die Verwüstungen, welche der republikanische Radicalismus des „citoyen“ im Tempel der Kunst angerichtet hatte; eifrig machte man sich in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts an die Arbeit, um alle jene verloren gegangenen Kunstfertigkeiten früherer Jahrhunderte wieder zu gewinnen.
„Wir müssen Europa mit unserem Geschmacke bekriegen und durch die Mode uns die Welt unterwerfen,“ hatte der große Colbert einst gesagt – und diese Worte nahm man sich zur Richtschnur. Und in der That, die Pariser Industrie gebot sehr bald der Welt, Paris bestimmte den Geschmack; Paris ward Mode. Die Luxusgegenstände, die der Deutsche wünschte, sie kamen alle aus der Seinestadt; die Etiquette „Paris“ genügte, um auch das minder Gute, das von dort her kam, geistreich erfunden, graciös, „entzückend schön“ etc. zu finden. Da suchte nun der biedere deutsche Industrielle des Franzmannes Muster nachzuahmen, aber vorwärts kam er dabei nicht; war er mit der Arbeit eben fertig, so hatte der erfinderische College an der Seine schon „was Neues“ auf den Markt gebracht, und die deutsche Copie hinkte nach, war veraltet, oder, um mit unserer schönen Welt zu sprechen, war „unmodern“ geworden.
In Folge dieses ewigen Copirens hatte unser deutscher Michel keine Zeit, selbstständige Muster zu entwerfen, auch fehlte ihm die nöthige Erfindungsgabe, der gute Zeichner und das wohlhabende Publicum, welches einen künstlerisch gebildeten Geschmack besessen hätte. Es führten diese Zustände, unterstützt von anderen Verhältnissen des nationalen Lebens, das deutsche Volk in seiner ästhetischen Haltung während der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts reißend bergab. Der feinfühlige Sinn für edle Verhältnisse, für den Reiz schöner Formen und Linien, für die Poesie der Farbe – der feinfühlige Sinn unserer Väter war dahin; die Modekönigin mit ihrem schnell wechselnden, überraschenden, bizarren und unnatürlichen Wesen wurde vergöttert; ihren launenhaften Gesetzen unterwarf man sich in blinder Ergebung. Das waren die Nachwehen des Dreißigjährigen Krieges und die directen Folgen der französischen Revolution.
Diese traurigen Verhältnisse wurden wesentlich verschlimmert durch die Maschinentechnik. Sich dieses neuen Hülfsmittels vernünftig zu bedienen, vermochte die Kunstindustrie, ungesund und zerfahren wie sie war, nicht. Man fühlte sich befriedigt durch das Mehr der Arbeit und vergaß die Kunst – die Massenproduction nach der Schablone war die Losung. Statt die gefügige Maschine den Anforderungen des eigenen Schönheitsgefühls zu accommodiren, verfuhr man umgekehrt und paßte die Formen des Modells für so und so viel tausend Stück dem Gange der Maschine an. So kamen jene in der Ausführung liederlichen und gemeinen Dutzendwaaren auf den Markt, bei denen die schaffende Thätigkeit der Menschenhand in ein oder zwei sich stets wiederholenden Griffen bestand, die den Arbeiter mit der Zeit stupide machen mußten. Und wer waren diese Arbeiter? Meistens Handwerker, die der grausamen Concurrenz mit der Maschine unterlegen waren und nun in geisttödtender Weise ihr Brod verdienen mußten. Dem Handwerk war eine Menge von Kräften und ein großes geistiges Capital entzogen worden. Im Handwerk selbst riß der Fabrikbetrieb ein – die Arbeitstheilung kam. Die eine Tischlerei macht nur noch geschweifte, die andere gradlinige Stuhlgestelle, die eine nur Sophagestelle, die andere Schränke etc.; die eine Tischlerei hobelt nur; die zweite schnitzt; die dritte fournirt, und die vierte polirt, sodaß jedes Stück vor seiner Vollendung ein Dutzend Hände passirt und von einer einheitlichen Behandlung nicht mehr die Rede ist. Das umfassende Können des alten Handwerks, die Solidität der alten Arbeit ging verloren, und das tägliche Geräth des Lebens war zur gewöhnlichen Fabrikarbeit geworden – nothwendige Consequenzen der alles nivellirenden Maschine, der man kein allgemeines, im Volke wurzelndes Kunstbewußtsein als Gegengewicht entgegenstellen konnte.
Nach Erkenntniß aller in der historischen Entwickelung und in der Technik liegenden Ursachen der Geschmacksverwilderung und des Verfalls der deutschen Kunstindustrie ging man energisch an die Heilung, in deren Anfangsstadium wir uns heute noch befinden.
Das geeignetste Heilmittel schien die Schule. Dort sollte der gewerbliche Arbeiter unter der Leitung tüchtiger Männer den feinfühlenden Sinn, das gebildete Auge und die geschickte Hand wiedererhalten; dort sollte an der Hand historischer Betrachtung durch systematische Stillehre und durch Nachzeichnen guter Muster und Uebung im Entwerfen kunstindustrieller Gegenstände Hülfe geschafft, sollten der Industriebevölkerung neue Bahnen erschlossen werden. Solche Unterrichtsanstalten sind von den verschiedenen Staaten, Gemeinden und Corporationen in großer Menge gegründet worden und werden noch gegründet.
Sie sind theils als einfache Zeichenschulen organisirt, in denen junge Leute, ohne in ihrer Werkstattthätigkeit behindert zu werden, während der Freistunden im Zeichnen und Modelliren ausgebildet und mit den Elementen der Kunstformensprache bekannt gemacht werden, um sie zum künstlerischen Betriebe ihres Gewerbes zu befähigen; theils sind sie Fachschulen, die einem bestehenden Industriezweige dienen, theils höhere Schulen, in denen sich der Industrielle mit Aufwendung seiner vollen Arbeitskraft und Zeit zu einem [556] selbstständigen schaffenden Künstler seines Faches, das heißt zu einem Musterzeichner oder Modelleur für Werkstatt und Fabrik, auszubilden vermag.
Dort, wo Mittel vorhanden waren, ging man einen Schritt weiter und gründete Museen; ihnen wurden Kunstschulen zur Seite gestellt, sodaß der Schüler seine Kenntnisse und seinen Schönheitssinn an den mustergültigen Erzeugnissen der Vergangenheit vervollkommnen konnte. Gleichzeitig sollten diese Sammlungen auf das Publicum einwirken und seine Theilnahme für die neue Bewegung gewinnen; denn nicht allein der Geschmack des Producenten, des Kunstindustriellen, sollte gebildet werden, sondern auch der des Consumenten, des gesammten Volkes, damit sein Interesse und seine Liebe für schönes Geräth erwache und somit die für den gedeihlichen Bestand jeder Industrie erforderliche Kauflust zunehme. Freilich, bis jetzt erfreuen sich nur wenige größere Städte, wie Berlin, Hamburg, Breslau, Leipzig, München etc., dieser Institute, wiewohl ihr Einfluß auf die weiteren Volkskreise unwiderleglich ist, ihre Vermehrung daher durchaus erwünscht wäre.
Neben diesem gesammten Unterrichts- und Anschauungsapparat bildeten sich allmählich Kunstgewerbevereine, freie Vereinigungen von Industriellen und Interessenten, die im gegenseitigen Austausch von Erfahrungen und Ansichten ihre Kenntnisse zu bereichern suchten, veranstalteten Behörden und Corporationen Preisbewerbungen für kunstindustrielle Arbeiten, um in den betheiligten Kreisen den Wetteifer und den Ehrgeiz anzuregen, veranstaltete man in kleineren Städten sogenannte Wanderausstellungen, zu denen Museen und begüterte Privatpersonen die in ihrem Besitz befindlichen Gegenstände aus alter Zeit leihweise hergaben, und wendete man schließlich den Local- und Landesausstellungen eine vermehrte Aufmerksamkeit zu.
Gleichzeitig nahm die bezügliche Literatur einen gewaltigen Aufschwung. Bücher, Zeitschriften und Vorlagen erschienen in nie geahnter Menge.[2] Leider ist aber in diesem literarischen Wettrennen die Herausgabe von einfachen, elementaren Vorlagewerke, die den Lehrbedürfnissen der Schule entsprechen, fast vollständig vergessen worden. –
Das sind im Großen und Ganzen die Heilmittel, durch welche unsere deutsche Kunstindustrie genesen soll.
Mehr als ein Jahrzehnt eifriger Arbeit ist verflossen. In Berlin vereinigte eine großartige Gewerbe-Ausstellung die Producte der Residenz und in Leipzig eine nicht minder bedeutende diejenigen Erzeugnisse, welche das Kunstgewerbe des Königreichs Sachsen, der preußischen Provinz Sachsen und der thüringischen Staaten zur Anschauung bringen; eine Menge kleinerer Städte, wie Plauen, Schandau, Wernigerode, Offenbach etc., sind schleunigst nachgefolgt, und gegenwärtig ist es besonders Düsseldorf, welches durch seine ähnlichen Zwecken gewidmete Ausstellung die öffentliche Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt.[3] Da liegt die Frage nahe: Welchen Eindruck macht dort unsere Kunstindustrie, was für Erfolge haben alle Anstregungen gehabt?
Angesichts der ausgestellten Gegenstände muß der Vernünftige zur Erkenntniß kommen, daß die im Laufe von zwei Jahrhunderten eingerissene Geschmacksverwilderung nicht im Handumdrehen auszurotten ist, daß nur das hingebende Schaffen vieler, vieler Jahre die begangenen Sünden wieder gut machen kann, ja, daß unsere jetzige Generation das angestrebte Ziel kaum erreichen, vielmehr die kommende sich erst der rechten Früchte freuen wird. Und um so ferner wird das Ziel gerückt, wenn viele Kunstindustrielle verschmähen, sich auf die breite Masse des Volkes zu stützen, wenn sie ihre Thätigkeit lediglich auf Objecte concentriren, die, für den geringen Mann unerschwinglich, allein auf den begüterten berechnet sind.
Nur ein winziger Bruchtheil unseres Volkes vermag sich eine Zimmereinrichtung im Preise von 5000 bis 12,000 Mark anzuschaffen. So macht die Kunstindustrie auf jenen Ausstellungen wesentlich den Eindruck einer Luxusindustrie, während sie doch streben soll, auch das bis in die ärmste Hütte verbreitete Geräth des täglichen Lebens durch Form und Farbe zu verschönen, den Sinn der Menge für das Schöne zu wecken und zu läutern und so zur Bildung des Geschmacks, zur sittlichen Erziehung unseres Volkes beizutragen.
Und wie sieht es außerhalb der Ausstellungen aus? Nun, da hängen in den Schaufenstern der für den gewöhnlichen Bedarf berechneten Läden noch immer jene vorwiegend anilinroth gefärbten Veloursleppiche mit quellenden, dicken Blumen und Früchten, mit springenden Panthern und zähnefletschenden Löwen in wirklicher Größe, deren Naturwahrheit wirklich Besorgniß erregt; da hängen noch immer die alten Stickereien mit den wie Malerei oder Kupferstich ausgeführten Abbildungen von romantischen Liebespärchen, würdigen Pudeln und zärtlichen Katzen; da stehen noch immer die alten Tassen, Teller, und Vasen mit Abbildungen von Blumen, so naturgetreu und unkünstlerisch, daß sie in ein Buch über Botanik gehörten, – kurz, da ist von Flachmuster keine Rede; da herrscht nach wie vor ein wilder Naturalismus und zeigt sich in crasser Weise die Unfähigkeit, aus den Dingen der Wirklichkeit das Ornament durch die gestaltende Kraft der Phantasie zu entwickeln. Und in den Möbelhandlungen stehen noch immer die alten, lüderlich hergestellten Mahagoni- und Birkenmöbel: Schränke, deren Aeußeres im Glanze der blank polirten Fournitur strahlt, deren Inneres ein erbärmliches Brettergerüst von schlecht gehobeltem Kienholz zeigt; Tische, deren unpraktische, ovale und fournirte Platte nach kurzem Gebrauch Risse und Sprünge bekommt, sogenannte „antike Stühle“ mit steifen, hohen und unbequemen Lehnen und schlechter Schnitzerei, Büffets, aus deren Füllungen Schnitzereien von todten Enten, Hühnern, Hasen, von Allem, was da kreucht und fleugt, in plastischer Brutalität herausspringen. Das sind noch immer die Geräthe für den Mittelstand, für unsere Beamten, Officiere, Kaufleute, Handwerker; die für den untersten Stand bestimmten sehen noch schlimmer aus.
Geben wir uns doch angesichts dieser Thatsachen keinen Illusionen hin, lassen wir uns durch die blendende Etiquette der Ausstellungen nicht täuschen, sondern gehen wir von dem Grundsatze aus, daß Selbsterkenntniß der mächtigste Hebel zum Fortschritt ist, und gestehen demgemäß ein, daß unsere Kunstindustrie auf falschem Wege ist und gerade dort, wo die Noth am größten ist, noch so gut wie gar nichts erreicht hat.
Eine ausschließliche Luxusindustrie wollen wir nicht. Eine Luxusindustrie wird immer ungesund sein, denn die zum echt künstlerischen Schaffen nothwendige Freiheit hat sie mit der Abhängigkeit von den Launen der „oberen Zehntausend“ vertauscht. Sie schafft Prachtstücke und verfällt zumal in unserem Falle, wo der gesunde Boden des Könnens noch fehlt, durchgehends dem Fehler, die zweckliche Bestimmung der Geräthe zu vernachlässigen und unbequemen Prunk als die Hauptsache zu betrachten, sodaß überflüssiger, häufig sinnloser, ja widersinniger Zierrath die Unfähigkeit, den Gegenstand dem Material, der Technik und dem Zwecke gemäß zu gestalten, verdecken muß. Hier ein Beispiel: Ein Büffet soll bekanntlich Tisch und Kasten zugleich sein; der Kasten soll zum Aufbewahren und Schaustellen von Tischservice und die den Unterbau abschließende Tischplatte zum Aufstellen von Terrinen, Schüsseln, Tellern etc. während des letzten Anrichtens der Speisen dienen. Diese zweckliche Bestimmung ist in erster Linie bei dem Aufbau eines Büffets maßgebend. Demgemäß muß der untere Theil mit der Tischplatte recht breit und niedrig, um ein bequemes Aufstellen großer Schüsseln zu gestatten, der obere kastenartige Aufsatz aber möglichst hoch und geräumig sein, um das Tischgeräth und einige hübsche Schaustücke, wie Krüge, Kannen, Majoliken etc., bergen zu können. Nun verfährt man gerade umgekehrt. Der untere Theil wird hoch und schmal gemacht, die an und für sich schon schmale Tischplatte durch aufgesetzte Säulchen und Console, welche den oberen, vorspringende Kastenaufsatz tragen, noch mehr beengt und der räumliche Inhalt des letzteren durch Spiegel und andere Decorationsmittel so beschränkt, daß er völlig unbrauchbar ist. So ist der Beruf des Geräthes
[557][558] durchaus verfehlt. Der Grund liegt in der Vorliebe für leeren Prunk, für alle jene Säulchen Karyatiden, Console, die nichts zu tragen haben, für alle jene Gliederungen, Verkröpfungen und Schnitzereien, mit denen das ganze Möbel von oben bis unten in verschwenderischer Fülle überladen ist, sodaß die Construction nicht ausgeprägt wird und die Verzierung in den seltensten Fällen den höheren Ausdruck der Construction giebt. Das bestechende Aeußere ist eben Hauptzweck.
Die Gründe nun, weshalb unsere eben aufblühende Kunstindustrie wesentlich den Charakter einer Luxusindustrie trägt, liegen in der gänzlich falschen Auffassung, als ob nur gewisse Gewerbe einer künstlerischen Veredelung zugänglich wären, als ob nur ein silberner oder goldener Pokal, eine Elfenbeinschnitzerei, ein Damastgewebe oder ein Mobiliar in imitirtem Ebenholze eine künstlerische Behandlung zulasse. O bewahre! Die sämmtlichen Gewerbe, sogar diejenigen der Schuhmacher und der Schneider, werden von der Kunstindustrie umschlossen. Die Formen aller gewerblichen Producte werden durch ihre zweckliche Bestimmung, durch die Natur des Materials und die dem Material entsprechende Hantirung nur in allgemeinen Umrissen vorgeschrieben, bieten also der Bethätigung künstlerischen Vermögens noch immer einen weiten Spielraum; denn wo es sich um Form und Farbe handelt, kommt überhaupt mehr oder minder die Kunst in Betracht.
Jene aristokratische Auffassung von dem Wesen der Kunstindustrie ist recht verderblich gewesen. Sie hat zur Folge gehabt, daß die neuen Reformbestrebungen vorzugsweise nur in jenen Gewerbekategorien Platz gegriffen haben, welche wegen ihres kostspieligen Rohmaterials eine bedeutende Zahlungsfähigkeit des Consumenten voraussetzen, daß ferner viele kleine, für die breite Masse des Volkes arbeitende Gewerbetreibende in der Ansicht, die Domäne der Kunstindustrie sei die auf das Große und Kostbare gerichtete Production, der neuen Bewegung vollständig fern bleiben und die Majorität des Publicums für Reformen noch wenig Interesse verräth, deren Erfolge sich bisher fast ausnahmslos in der Herstellung kostbarer Schaustücke manifestiren.
Es bleibt nunmehr noch der ästhetische Punkt übrig, der einige Worte verdient.
Wie Schinkel einst eine Wiedergeburt unserer modernen Kunst von der Antike, der Romantiker der dreißiger Jahre hingegen von der Gothik erwartete, so hat man heutigen Tages das Heil der Kunstindustrie in einem engen Anschluß an die Renaissance erblickt. Die Gründe hierfür sind mannigfacher Art. Die letzte Hauptstation vor dem allmählich eintretenden Geschmacksverfall bildend, hat die Renaissance vor allen rückwärtsliegenden Stilarten naturgemäß voraus, daß sie den heutigen Lebensgewohnheiten am nächsten steht. Wir wissen ja, wie in jenen Tagen ein allgemeiner Enthusiasmus für Erhabenheit und Schönheit die Geister ergriff, wie die Kunst das Leben durchdrang und sogar das gewöhnlichste Geräth verschönte. Diese Epoche bietet daher viele Vorbilder, welche bei der Befriedigung der gegenwärtigen Bedürfnisse sehr beachtenswerth sind. Allein im Laufe von dreihundert Jahren wechseln die Anschauungen der Menschen; demgemäß haben sich die Anforderungen vielfach geändert – ja, neue sind hinzugetreten, für welche die Renaissance, da sie dieselben nicht kannte, keinen Rath geben kann. Also müssen wir uns selbst zu helfen und die passenden Formen für das Neue zu finden suchen, oder uns nach anderen Stilarten umsehen, welche Beispiel und Lehre geben. Daraus folgt, daß jene Absicht, Gegenstände in reinem Renaissancestil zu bilden, durchaus verfehlt ist. Und weiter, daß jenes Bestreben, von der uns heute nicht mehr genügenden Renaissance das italienische und französische Gebiet noch abzuschneiden und sich ausschließlich an die deutsche zu halten, nur um einen nationalen Stil zu bilden, barer Unsinn ist.
Das hindert Alles nicht, daß auf den Ausstellungen die meisten Zimmereinrichtungen und Gegenstände in deutscher Frührenaissance und in deutscher Renaissance ausgeführt sind. Der entwerfende Künstler sollte doch selbst gestehen, daß sein in deutscher Frührenaissance entworfenes Sopha, wenn es der Bank dieses Stils entsprechen soll, den heutigen Bequemlichkeits-Anforderungen durchaus nicht entspricht, daß hingegen das Sopha, wenn es wirklich bequem ist, mit der Frührenaissance auf sehr gespanntem Fuße steht und höchstens einige unwesentliche Ornamente mit ihr gemein hat. Aber Frührenaissance muß sein, und darum wird der Alterthümlichkeit zu Liebe das Sopha unbequem und unpraktisch gemacht. Wie mit dem Sopha, so geht's mit den meisten andern Geräthen. Lieber sollte man sich von dem Vorsatze leiten lassen, Schönes und Brauchbares zu schaffen. – Das sind die Eindrücke, welche wir auf den Ausstellungen empfangen haben.
Wenn es der Reform unserer Kunstindustrie nicht wie dem Bergbache ergehen soll, der in stolzer Jugendlust von den Felsen herabbraust, um nach seinem Eintritt in die Ebene zu verrinnen, so ist dafür Sorge zu tragen, daß sie zur Volkssache wird.
„Der Graf stand früher gar nicht besonders mit seiner Tante,“ wandte sich Rüstow an seine Cousine, „aber seit dem Unglück, das sie betroffen hat, ist er die Aufmerksamkeit und das Zartgefühl selbst gegen sie. Er hat sich überhaupt merkwürdig verändert. Er kann jetzt sogar liebenswürdig sein, und was seine Wirthschaft in Ettersberg betrifft –“
„So ist er ein landwirthschaftliches Genie,“ ergänzte das Fräulein. „Das haben Sie ja schon vor Jahren entdeckt, als noch Niemand seine zukünftige Bestimmung als Majoratsherr ahnte.“
„Es wäre aber auch unverantwortlich gewesen, wenn das Schicksal einen solchen Menschen zum Juristen gemacht hätte,“ sagte der Oberamtsrath feierlich. „Ich denke noch jetzt mit Vergnügen daran, wie er damals in Ettersberg aufräumte, sobald er nur erst die Zügel in Händen hatte, wie er dem alten Schlendrian, der unsinnigen Verschleuderung in der Verwaltung ein Ende machte. Das ging Schlag auf Schlag. In drei Monaten hatte er all den alten Ballast hinausgeworfen, der auf seiner Herrschaft lastete und ihr jahrelang das Mark aussog. Und wie griff der Mann zu, als es darauf ankam, Neues zu schaffen! Davor muß ich mit meinem ganzen Unternehmungsgeist zurücktreten. Ich habe nie geglaubt, daß sich die Güter in so kurzer Zeit dermaßen heben könnten, und eigentlich sollte mich das ärgern; denn bisher galt Brunneck in der ganzen Gegend als die alleinige Musterwirthschaft, und nun wird ihm Ettersberg bald den Rang streitig machen.“
„Es wird ihm noch manches Andere streitig machen, fürchte ich. Aber Sie werden ganz geduldig zusehen, Erich; denn Graf Oswald ist ja von jeher Ihr erklärter Liebling gewesen.“
„Ja, das ist er, aber einen großen Fehler hat er doch: er will durchaus nicht heirathen. Die ganze Umgegend spricht bereits darüber. Ich werde ihm einmal ernstlich in das Gewissen reden.“
„Lassen Sie das lieber bleiben!“ meinte Fräulein Lina. „Es ist wirklich gar nicht nöthig und noch dazu von Ihrer Seite.“
Rüstow verstand nicht den geheimen Sinn der Worte; er nahm sie als ein Mißtrauen in seine diplomatischen Fähigkeiten und war höchst beleidigt darüber.
„Sie glauben wohl, in Heirathsangelegenheiten dürften nur Frauen mitsprechen? Ich werde Ihnen zeigen, daß ich denn doch auch Einiges davon verstehe. Graf Oswald giebt sehr viel auf meine Ansichten.“
„In diesem Punkte ganz gewiß. Ich bin sogar überzeugt, daß er gar nicht heiraten wird, ohne Sie zuvor um Ihre Einwilligung zu fragen. Fahren Sie doch nicht gleich wieder auf, Erich! Es ist mein voller Ernst – und überdies sehe ich eben den Wagen des Grafen in unseren Hof einbiegen. Ich wußte es, daß er heute kommen würde.“
„Wie können Sie das wissen?“ fragte Rüstow, noch gereizt über den vermeintlichen Spott. „Sie haben sich ja doch gar nicht um meine Dampfmaschine gekümmert.“
„Um welche Dampfmaschine?“
„Eine ganz neue und höchst praktische Erfindung, die ich erst [559] ganz kürzlich aus der Residenz kommen ließ. Sie hatten, wie gewöhnlich, gar kein Interesse dafür, aber der Graf, dem ich vorgestern bei unserer Rückkehr davon erzählte, brennt vor Begierde, sie kennen zu lernen. Sie sehen, wie pünktlich er ist.“
Die alte Dame schien ihre eigenen Ansichten über diese Pünktlichkeit und diesen brennenden Eifer zu haben; denn sie zuckte sehr bezeichnend die Achseln, während der Oberamtsrath im vollen Eifer hinauseilte, um seinen Gast zu empfangen, mit dem er wenige Minuten später wieder eintrat.
Oswald hatte sich äußerlich nicht verändert, und doch war der Eindruck seiner Persönlichkeit ein ganz anderer, als früher. Mit dem Druck der ehemaligen Verhältnisse, mit dem fortwährenden vergeblichen Ringen dagegen war auch jene Verbitterung gewichen, die diesen stolzen, reizbaren Charakter vollständig zu bewältigen drohte. Erst in der Freiheit, in der eigenen Bedeutung war er zur vollsten Entwickelung gelangt. Der herbe Zug in seinem Antlitz hatte sich verloren ebenso wie die einstige Schroffheit und Kälte seines Wesens. Er hatte freilich nicht jene offene, heitere Liebenswürdigkeit, mit der sich einst Edmund alle Herzen eroberte, aber seine ernste, überlegene Ruhe, seine bei aller Einfachheit doch imponirende Haltung zeigten, daß der jetzige Majoratsherr besser zum Herrschen und Befehlen geschaffen sei, als sein verstorbener Vetter es war.
Der Graf kam natürlich einzig und allein der berühmten Dampfmaschine wegen, und einer gewissen Erregung nach, die er zu verbergen sich vergebens bemühte, mußte sein Interesse für diese nützliche Erfindung ein wahrhaft leidenschaftliches sein. Trotzdem hörte er sehr zerstreut der enthusiastischen Schilderung des Oberamtsrathes zu und wandte den Blick nicht von der Thür ab. Er schien von Minute zu Minute irgend etwas zu erwarten, bis ihm endlich die Geduld riß und er sich an die Cousine wandte mit der höchst unbefangen hingeworfenen Aeußerung:
„Fräulein Hedwig befindet sich wohl im Parke? Ich glaube sie beim Vorüberfahren dort bemerkt zu haben.“
Die alte Dame warf ihm einen Blick zu, der deutlich sagte: „dann wärst Du sicher nicht hier bei uns!“ laut aber entgegnete sie mit derselben Unbefangenheit:
„Sie sind im Irrthum, Herr Graf. Meine Nichte ist leider gar nicht zu Hause. Sie hat einen Spaziergang gemacht, wahrscheinlich um die alten Lieblingsplätze ihrer Heimath nach der langen Trennung wieder aufzusuchen.“
Die alten Lieblingsplätze ihrer Heimath! Graf Oswald ließ sich das gesagt sein. Er machte urplötzlich die Entdeckung, daß er eigentlich sehr wenig Zeit habe und schleunigst nach Ettersberg zurück müsse, aber das half ihm wenig. Rüstow nahm das als ein neues Compliment für seine Dampfmaschine, die sein Gast trotz der so sehr beschränkten Zeit in Augenschein nehmen wollte, und schleppte ihn unerbittlich dorthin. Oswald mußte eine ganze Weile die Erklärungen und Auseinandersetzungen des begeisterten Landwirthes anhören, während ihm der Boden unter den Füßen brannte, bis es ihm endlich gelang, sich loszumachen.
Etwas verstimmt über den ungewöhnlich kurzen und eiligen Besuch, kehrte der Oberamtsrath in das Haus zurück.
„Mit dem Grafen ist heute gar nichts anzufangen,“ sagte er zu seiner Cousine. „Er war vollständig zerstreut und hat die Maschine kaum angesehen; jetzt fährt er wie mit dem Sturmwind nach Ettersberg zurück. Wegen eines so flüchtigen Besuchs lohnt es sich ja gar nicht den weiten Weg zu machen.“
„Sie haben den armen Grafen aber auch unverantwortlich gequält,“ spottete das Fräulein. „Eine volle Viertelstunde haben Sie ihn bei Ihrer langweiligen Dampfmaschine festgehalten. Er ist gar nicht deswegen gekommen – er fährt auch gar nicht nach Ettersberg zurück.“
„Und wohin sollte er denn sonst fahren?“ fragte Rüstow, der in seinem Erstaunen über diese Behauptungen sogar die Beleidigung übersah, die man seiner geliebten Dampfmaschine mit dem Beiwort „langweilig“ anthat.
„Wahrscheinlich fährt er gar nicht, sondern schickt unten im Dorfe den Wagen fort und macht gleichfalls einen Spaziergang in den Wald oder in die Berge oder sonst wohin – was weiß ich, wo Hedwig jetzt herumstreift.“
„Hedwig? Was soll das heißen? Sie meinen doch nicht etwa –“
„Ich meine, daß Hedwig nun einmal vom Schicksal dazu bestimmt ist, Gräfin Ettersberg zu werden, und diesmal wird sie es unter allen Umständen. Verlassen Sie sich darauf!“
„Lina, ich glaube, Sie sind nicht recht bei Sinnen,“ fuhr Rüstow auf. „Hedwig und Oswald? Sie haben sich ja niemals leiden können; sie sind über Jahr und Tag getrennt gewesen und haben sich ja auch vorher, während der ganzen Trauerzeit, kaum einige Male bei der Gräfin in Schönfeld gesehen. Das ist unmöglich, absolut unmöglich. Das ist wieder eine von Ihren romantischen Einbildungen.“
„Nun so warten Sie, bis die Beiden zurückkommen,“ sagte das Fräulein mit Nachdruck. „Aber machen Sie sich dann auf den väterlichen Segen gefaßt; denn der wird jedenfalls von Ihnen verlangt. Graf Oswald wird keine Zeit mehr verlieren wollen, und er hat auch lange genug gewartet. Ich fand, es war ein übertriebenes Zartgefühl Hedwig's, daß sie die Heimath und sogar den Vater verließ, um jede frühere Annäherung von jener Seite unmöglich zu machen.“
„Was? Deswegen ist sie mit der Gräfin nach Italien gereist?“ rief der Oberamtsrath, wie aus den Wolken gefallen. „Sie wollen doch nicht behaupten, daß diese Neigung schon bei Edmund's Lebzeiten bestanden hat?“
„Von einer bloßen Neigung ist hier gar nicht die Rede,“ belehrte ihn die Cousine, „sondern von einer glühenden, unbezwinglichen Leidenschaft, die Kämpfe und Qualen genug gekostet haben mag auf beiden Seiten. Hedwig hat mir freilich nie eine Andeutung darüber gemacht; sie verschloß sich hartnäckig auch vor mir, aber ich habe es doch gesehen, wie sie litt unter dem Worte, das sie unüberlegt, ohne sich und ihr Herz zu kennen, einem Andern gegeben hatte. Ich zweifle nicht daran, daß sie es ihm gehalten haben würde, aber was dabei aus ihr und Oswald geworden wäre, das weiß der Himmel.“
Der Oberamtsrath faltete die Hände und sah seine Cousine mit dem tiefsten Respect an.
„Und das alles haben Sie blos beobachtet? Lina, ich finde, Sie sind ungeheuer klug!“
„Sehen Sie das wirklich ein?“ fragte die alte Dame mit Genugthuung. „Sie kommen etwas spät zur Erkenntniß meiner Fähigkeiten.“
Rüstow blieb die Antwort schuldig, aber sein Gesicht verklärte sich förmlich bei dem Gedanken, seinen Liebling, sein vielbewundertes landwirthschaftliches Genie in Zukunft als Schwiegersohn zu besitzen, und in der Freude seines Herzens umarmte er seine Cousine in ungestümer Weise.
„Ich sehe alles Mögliche ein, Lina. Alles, was Sie wollen,“ rief er. „Aber so schnell, wie Sie meinen, wird die Sache doch nicht gehen. Der Graf kann unmöglich Hedwig nachgelaufen sein. Er weiß ja nicht einmal, wo sie ist, so wenig wie wir das wissen.“
Fräulein Lina machte sich lachend aus der Umarmung los. „Das ist seine Sache; darüber wollen wir uns nicht weiter den Kopf zerbrechen. Verliebte haben ein ganz unerhörtes Glück in solchen Dingen: das Ahnungsvermögen pflegt da eine große Rolle zu spielen. Ich glaube es auch nicht, daß Graf Oswald weiß, wo sich Hedwig befindet; denn dann wäre er schwerlich erst nach Brunneck gekommen, aber finden wird er sie, und wenn sie mitten im tiefsten Walde oder oben auf der höchsten Spitze des Gebirges säße. Sie kommen zusammen zurück – darauf gebe ich Ihnen mein Wort, Erich.“
Die mit so großer Zuversicht ausgesprochenen Vermuthungen erfüllten sich beinahe buchstäblich. Oswald war in der That nur bis zum Dorfe gefahren, hatte dort den Wagen fortgesandt und eilte nun zu Fuß den Bergen zu. Das gerühmte Ahnungsvermögen mußte bei ihm wohl besonders stark entwickelt sein; denn ohne auch nur einen Augenblick zu schwanken und zu zögern, schlug er den Weg ein, der zu einer gewissen Waldhöhe führte. Sein Schritt ward immer schneller, immer stürmischer, je näher er seinem Ziele kam, und als er es endlich erreicht hatte, fand er auch, was er suchte. Er hatte es errathen, wohin sich Hedwig's erster Gang in der Heimath richten würde.
Wieder waren die Schwalben gekommen. Aus weiter Ferne trug sie der Flug zurück nach den alten geliebten Stätten. Mit leichten Schwingen zogen sie durch die sonnige Luft, umkreisten Berge und Wälder und flatterten dann nach allen Richtungen hin aus einander, als wollten sie ihre alte Heimath grüßen – die ersten Boten des Frühlings.
[560] Aber diesmal weckte ihr Gruß nicht eine in Reif und Nebel schlummernde Erde; sie war längst erwacht aus ihrem Winterschlafe. Ueber dem sonnendurchleuchteten Walde lag wie ein zarter, durchsichtiger Schleier das erste Grün, das aus den Knospen hervorbrach; auf Wiesen und Feldern drängte und keimte es empor aus jeder Scholle, und über Erde und Himmel war ein förmliches Meer von goldig strahlendem Lichte ausgegossen. Ueberall wehte Frühlingsluft und Frühlingsathem; überall jubelten die Stimmen des neu erstandenen Lebens.
Auch für die Beiden, die dort oben auf der sonnigen Höhe standen, war es Frühling geworden. Sie hatten lange auf ihn harren müssen, nun aber kam er ihnen auch in seiner ganzen Pracht. Die Worte der Liebe, die hier ausgesprochen worden, mochten wohl stürmischer und leidenschaftlicher gewesen sein, als jene, die Hedwig vor drei Jahren von anderen Lippen gehört hatte, und tiefernst waren sie auch gewesen – das sprach aus Oswald's Zügen, als er sich zu seiner Braut niederbeugte, aus der Thräne, die noch an Hedwig's Wimpern hing. Ihre dunkelblauen Augen waren so tief, so seelenvoll geworden, seitdem sie die Thränen kennen gelernt hatten.
„So lange habe ich harren müssen,“ sagte Oswald, und es klang wie ein Vorwurf mitten durch die leidenschaftliche Zärtlichkeit seiner Worte. „So endlos lange! Weit über ein Jahr hinaus hast Du Dich mir entzogen, und nicht einmal schreiben durfte ich Dir. Bisweilen glaubte ich, ganz vergessen zu sein.“
Hedwig lächelte, noch durch Thränen. „Nein, Oswald, das hast Du nicht geglaubt. Du wußtest ja, daß ich ebenso schwer unter dem nothwendigen Schweigen gelitten habe wie Du, aber ich war dieses Schweigen dem Andenken Edmund's und dem Schmerze seiner Mutter schuldig. Du hast sie ja gesehen bei der Ankunft, und ihr Anblick wird Dir erklärt haben, weshalb ich nicht den Muth hatte, glücklich zu sein, so lange ich an ihrer Seite war.“
„Sie ist allerdings furchtbar verändert. Der Aufenthalt im Süden hat also gar keine Besserung gebracht?“
„Nur einen Aufschub. Ich fürchte, sie kam nur, um hier zu sterben.“
„Ich wußte es, daß sie den Schlag nicht überwinden würde,“ sagte Oswald. „Weiß ich doch, was Edmund mir war – wie viel mehr der Mutter!“
Hedwig schüttelte leise das Haupt. „Den Schmerz lernt man tragen, und er mildert sich mit der Zeit, aber was an diesem Leben nagt, das ist etwas so Ruheloses, so qualvoll Verzehrendes, daß ich bisweilen versucht bin, es für eine – Schuld zu halten.“
Oswald schwieg, aber die finstere Wolke auf seiner Stirn gab die Antwort, die er schuldig blieb.
„Du hattest mir bei unserer Abreise das Versprechen abgenommen, nicht mit Fragen und Bitten in die damals schon todtkranke Frau zu dringen,“ fuhr das junge Mädchen fort. „Ich habe es gehalten und mit keinem Worte das berührt, was doch so schwer auf mir lag. Es ist mir so Vieles dunkel und räthselvoll in Dem, was dem Tode Edmund's voranging und was ihm folgte. Ich ahne nur das Eine – daß er den Tod gesucht hat. Warum? Das ist mir ein Geheimniß geblieben, bis zu dieser Stunde. Aber zwischen uns darf sich das nicht auch drängen, Oswald! Du mußt mir antworten, wenn ich Dich jetzt bitte, mir die Wahrheit zu sagen. Auf Deiner Stirn dulde ich diese finsteren Wolken nicht.“
Hier konnte sie bitten, mit der ganzen Innigkeit und der ganzen Macht der Liebe, und hier war sie auch ihres Sieges gewiß. Oswald zog sie fester in seine Arme.
„Nein, meine Hedwig! Zwischen uns darf nichts liegen; da muß Alles klar und offen sein. Aber nicht jetzt und nicht hier kann ich Dir dieses unselige Gewebe von Schuld und Verhängnis enthüllen. Meiner Braut kann ich es noch nicht sagen. Wenn Du erst mein Weib bist, sollst Du erfahren, was Edmund in den Tod getrieben hat, und was die Mutter jetzt unaufhaltsam ihm nachzieht. Der dunkle Schatten gehört nicht in das Glück dieser Stunde, von der ich oft geträumt, von dem Augenblicke an geträumt, in dem sich dieses Antlitz zum ersten Male mir entschleierte, da Du mitten im Schneesturme plötzlich vor mir standest wie ein lebendig gewordener Frühlingstag mit all seinen Verheißungen von Leben und Glück. Damals durfte ich ja nicht hoffen, daß sie sich je erfüllen würden.“
Hedwig blickte zu ihm auf. Sie hatte das alte, neckische Lächeln doch noch nicht verlernt; es spielte jetzt wieder um ihre Lippen mit seinem ganzen bezaubernden Reize, als sie erwiderte:
„Weshalb denn nicht? Es war ja ein Frühlingssturm, in dem wir uns zum ersten Male begegneten, und hier, an dieser Stelle, habe ich es Dir zugerufen, als Du so düster von dem Leben und der Vergangenheit sprachest: 'Es wird doch endlich Frühling.'“
Wie eine Antwort tönte der leise, grüßende Ruf der Schwalben nieder, die um die Höhe flatterten, wie damals im Nebelgeriesel. Aber heute tauchten sie ihre Schwingen in vollen Sonnenschein. Sie hoben sich hoch und immer höher, bis sie verschwanden in dem unabsehbar tiefen Blau des Frühlingshimmels. Die kleinen geflügelten Boten, die der Erde nach langen Winterträumen die Verheißung von neuem Licht und Leben bringen, sie hatten diesmal nach langem Sehnen und Ringen einen Lebensfrühling gebracht.
„Noblesse oblige“– „Adel verpflichtet“. (Siehe Abbildung, Seite 557.) Unser Künstler stellt uns ein Stückchen Thierfabel dar, die uns ebenso ein Beispiel von der so oft beobachteten und bewährten Freundschaft der Thiere, wie auch einen Act der Großmuth des Starken gegenüber dem Schwachen, des Großen gegen den Kleinen vor Augen stellt. Das stolze Roß schaut ruhig zu, wie der Haushahn ihm die Körner seines Lieblingsmahles wegpickt, und der Hahn, der uns in etwas jugendlichem Alter zu stehen scheint, behauptet seinen Posten mit der Würde, die ihm als absolutem Hofherrn angeboren ist. Ein Kampf zwischen beiden ist nicht zu befürchten, da Jeder von ihnen dazu sich selbst viel zu hoch achtet. Die Thierfabeln sind zur Belehrung der Menschen gedichtet und gemalt; es wäre schön, wenn die Menschen von so klugen Thieren manchmal etwas lernen möchten.
Reclame. Eine seit einiger Zeit in allen Zeitungen auftauchende Annonce lautet: „Pyrogramm. Die interessanteste Erfindung der Neuzeit. Die wunderbaren Glimmbilder. Diese neueste epochemachende, in den meisten Ländern bereits geschützte Erfindung übertrifft alle in der Neuzeit bekannt gewordenen Unterhaltungsspiele und ist die interessanteste Zerstreuung für Jung und Alt.“ Der ganze „Zauber“ besteht darin, daß auf einem rosenfarbigen Octavblatt mit chromsaurem Ammoniak oder einem andern chromsauren Salze die Umrisse eines Thieres oder sonst einer Figur aufgedruckt sind, denen ein mit einer Lunte eingebrannter Funken folgt, bis das ganze Bild aus der Fläche herausgesengt ist. Die „epochemachende“ Seite dieser Erfindung vermögen wir nicht einzusehen; man wird des Spiels im Gegentheil überdrüssig, ehe man noch das letzte der zehn Blätter, welche das Paket enthält, verbraucht hat. Viel hübscher ist das bereits vergessene „Graswachsenlassen“, welches ebenfalls aus verglimmendem mit chromsaurem Ammoniak getränktem Fließpapier besteht, das sich dabei in zarte grüne Fäden wie frisches Gras zertheilt.
Ein Deutscher, welcher sich „Anton Assadaly“ nannte und im Jahre 1868 in der Armee der Vereinigten Staaten und zwar im 7. Cavallerieregiment diente, blieb in der Schlacht bei Big Horn, in welcher die Hälfte des Regiments mit dessen Obersten von den Indianern niedergemetzelt wurde, ebenfalls auf dem Feld der Ehre. Er hinterließ eine Baarschaft von 250 Dollar (über 1000 Reichsmark), für welche von dem schwedisch-norwegischen Viceconsul, Herrn H. Sahlgaard in St. Paul (St. Minnesota), die wahrscheinlich in Deutschland wohnenden Erben gesucht werden. Möchten diese, falls sie sich finden, die Vermittelung der eben angegebenen St. Paul-Adresse in Anspruch nehmen!
G. St. in Schweinfurt. Sie haben bei gewitterhafter Luft von den Baumwipfeln einer im Maine liegenden Insel braunschwarze Rauchsäulen aufsteigen sehen und fragen, ob das wohl Elmsfeuer gewesen sein könnten. Wir glauben dies nicht; denn Elmsfeuer sind am Tage entweder völlig unsichtbar oder schwach leuchtend, wenn der Wolkenschatten stark genug ist; wahrscheinlich handelte es sich um Insectenschwärme, die aus der Ferne leicht das Aussehen eines bräunlichen Rauchwölkchens annehmen.
H. H. in Wellington, New-Seeland. Da die Ameise auch Emse heißt, so schreibt man ebenso richtig „emsig“ wie „ämsig“, welch letzteres Wort erst als eine Zusammenziehung von „ameisig“ erklärt werden müßte.
F. S. Fr. O. Ungeeignet.
Ernst K. in Riga. Natürlich der General.
Johanna in Prag. Schwindel.
Ein Abonnent der „Gartenlaube“. Es ist wiederholt und deutlich an dieser Stelle ausgesprochen worden, daß anonyme Einsendungen keine Beachtung finden, da die Redaction stets wissen muß, mit wem sie es zu thun hat. Darauf muß aber noch weit entschiedener gedrungen werden, wenn es sich um „das Annehmen eines Kindes“ handelt. Wie sollen wir Ihnen das Schicksal eines Kindes anvertrauen, wenn Sie uns nicht einmal Ihren Namen anvertrauen wollen?
- ↑ Eingehenderes über Liszt’s Leben und Schaffen siehe in: La Mara, „Musikalische Studienköpfe“, 1. Band, 5. Auflage. (Leipzig, Schmidt und Günther.)
- ↑ Wir weisen bei dieser Gelegenheit auf zwei neuerdings erschienene Publicationen dieses Genres rühmlich hin, auf Georg Hirth's: „Das deutsche Zimmer der Renaissance, Anregungen zu häuslicher Kunstpflege“ (Leipzig und München, G. Hirth) und „Unser Heim im Schmuck der Kunst“ (Leipzig, E. Schloemp).D. Red.
- ↑ Nicht weniger Aufmerksamkeit lenken in letzter Zeit die Fachausstellungen auf sich, die, wenn sie Material, Bearbeitungsweisen und Erzeugnisse auch hinsichtlich des Ursprungs und der allmählichen Entwickelung zur Anschauung bringen, für allgemeine Kenntnißbereicherung und Geschmacksbildung gleich vortheilhaft wirken können. In Leipzig sah man – um nur Eines zu erwähnen – im Frühling dieses Jahres eine Drechslerwaaren-Ausstellung, die nach der ebengenannten Richtung Vortreffliches bot; als noch ansehnlicher erweist sich die gegenwärtig vielbesuchte allgemeine deutsche Wollen-Industrie-Ausstellung namentlich hinsichtlich ihrer nationalwichtigen Bedeutung, weshalb wir derselben einen besondern Artikel zu widmen gedenken.D. Red.