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Die Gartenlaube (1880)/Heft 26

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1880
Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[413]

No. 26.   1880.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Alle Rechte vorbehalten.
Frühlingsboten.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)


Rüstow sah bedenklich vor sich hin. Er schien nicht sehr erbaut von der vielleicht unabsichtlichen Charakteristik seines künftigen Schwiegersohnes, welche ihm hier in Oswald's Worten entgegentrat.

„Edmund ist noch so jung,“ sagte er endlich wie entschuldigend, „und er ist bisher noch wenig auf seinen Gütern gewesen. Mit dem Besitze wird auch die Freude daran kommen und das Interesse dafür. Vor allen Dingen aber muß der unsinnigen Wirthschaft in den Forsten ein Ende gemacht werden.“ Damit fing der Oberamtsrath an, seine wirthschaftlichen Pläne und Ansichten aus einander zu setzen, und vertiefte sich so darein, daß er es gar nicht bemerkte, wie er fast allein sprach und wie schweigsam sich sein Zuhörer verhielt. Erst als die Antworten Oswald's immer einsilbiger ausfielen, seine Zustimmung immer matter wurde, begann Rüstow aufmerksam zu werden.

„Fehlt Ihnen etwas, Herr von Ettersberg?“ fragte er. „Sie sehen ja so bleich aus.“

Oswald zwang sich zu einem Lächeln und fuhr mit der Hand über die Stirn.

„Es ist nichts von Bedeutung, nur ein Kopfschmerz, der mich schon seit heute Morgen plagt. Ich wäre am liebsten dem Feste ganz fern geblieben.“

„Dann hätten Sie wenigstens nicht tanzen sollen,“ meinte Rüstow. „Das steigert nur ein derartiges Uebel.“

Die Lippen des jungen Mannes zuckten. „Ganz recht! Ich hätte nicht tanzen sollen. Es wird auch nicht wieder geschehen.“

Seine Stimme klang so dumpf und gepreßt, daß Rüstow im vollen Ernste besorgt wurde und ihm rieth, auf die Terrasse hinauszugehen; in der freien Luft werde sich der Kopfschmerz eher verlieren. Oswald ergriff hastig den ihm gebotenen Vorwand und ging. Der Oberamtsrath schaute ihm kopfschüttelnd nach und bedauerte, daß das Gespräch schon endigte. Die „immensen landwirthschaftlichen Anlagen“ des jungen Ettersberg waren heute gar nicht recht zur Geltung gekommen.

Der Abend verlief, wie das bei solchen Festen üblich ist, geräuschvoll und sehr glänzend. Ettersberg rechtfertigte auch heute seinen alten Ruf in dieser Hinsicht; denn die Gräfin war nun einmal Meisterin in der Anordnung wie in der Repräsentation derartiger Festlichkeiten. Die Nacht war schon weit vorgerückt, als die Gäste das Schloß verließen und die Wagen davon rollten. Auch die Familienglieder trennten sich bald. Edmund begleitete seinen zukünftigen Schwiegervater, der mit seiner Verwandten nach Brunneck zurückkehrte, bis an den Wagen, während Hedwig, die noch einige Tage in Ettersberg bei der Gräfin bleiben sollte, dieser bereits „Gute Nacht!“ gesagt und sich in ihr Zimmer zurückgezogen hatte.

Die vor Kurzem noch so geräuschvoll belebten Räume des Schlosses waren jetzt völlig leer und einsam, obwohl sie noch im vollen Licht- und Festesglanze strahlten. Nur die Gräfin war hier zurückgeblieben. Sie stand, wie in Gedanken versunken, vor dem Bilde ihres Gemahls, das dieser ihr bei der Vermählung zum Geschenk gemacht hatte und das jetzt den großen Empfangssalon zierte. Es war ein gütiges, mildes Antlitz, das da aus dem reich vergoldeten Rahmen hervorblickte, aber es war das Antlitz eines Greises, und die Frau, die vor ihm stand, konnte noch jetzt Anspruch auf Schönheit erheben. Diese stolze, fast königliche Gestalt, in dem reichen Atlaskleide, mit dem kostbaren Diamantschmucke an Hals und Armen, wäre noch heute keine passende Gefährtin für einen Greis gewesen – und vor mehr als fünfundzwanzig Jahren war sie ihm angetraut worden! Es lag eine ganze Lebens- und vielleicht auch Leidensgeschichte in dem Contrast dieser Erscheinung mit jenem Bilde.

Auch der Gräfin mochte sich das in dieser Stunde aufdrängen. Ihr Blick, der auf dem Gemälde haftete, wurde immer düsterer, und als sie sich jetzt abwandte und ihr Auge die Zimmerreihe durchflog, die eine prachtvolle Einrichtung zeigte, da legte sich ein unendlich bitterer Ausdruck um ihre Lippen. Der Glanz und die Pracht dieser Umgebung bekundeten so deutlich die Lebensstellung, welche die Gräfin Ettersberg einnahm und in welcher sie lange Jahre hindurch Alleinherrscherin gewesen war. Vielleicht galt jene Bitterkeit dem Gedanken, daß die Zeit der Alleinherrschaft vorüber war, wenn eine neue, jüngere Herrin hier einzog, vielleicht auch anderen Erinnerungen. Es gab doch Momente, wo die sonst so stolze, selbstbewußte Frau trotz der glänzenden Rolle, die ihr im Leben zugefallen war, es nicht verzeihen konnte, daß man sie – geopfert hatte.

Die Stimme Edmund's, der soeben zurückkehrte, riß die Gräfin aus ihren Träumereien.

„Papa Rüstow läßt sich Dir nochmals empfehlen,“ sagte er heiter. „Du hast eine vollständige Eroberung an ihm gemacht. Er stürzte sich ja förmlich in die Galanterie um Deinetwillen und war den ganzen Abend hindurch von einer so unerhörten Liebenswürdigkeit, daß ich ihn gar nicht wiedererkannte.“

[414] „Es läßt sich besser mit ihm auskommen, als ich dachte,“ entgegnete die Gräfin. „Er ist eine etwas rücksichtslose, aber offene und energische Natur, die man in ihrer Eigenthümlichkeit hinnehmen muß. – Deine Braut hat ja heute förmliche Triumphe gefeiert, Edmund. Du hast freilich in ihrer Erscheinung den besten Fürsprecher für Deine Wahl.“

Edmund lächelte. „Ja, Hedwig sah heute Abend unendlich reizend aus. Es gab in der ganzen Gesellschaft nur eine einzige Dame, die es mit ihr aufnehmen konnte – meine Mutter!“

Seine Augen, die mit zärtlicher Bewunderung an dem schönen Antlitze der Mutter hingen, bezeugten, daß die Worte keine bloße Schmeichelei waren. Auch die Gräfin lächelte flüchtig; sie wußte sehr gut, daß sie noch so viel jüngere Frauen und Mädchen überstrahlte und selbst vor ihrer vielbewunderten Schwiegertochter nicht in den Schatten trat. Aber ihre Genugthuung darüber verschwand jetzt vor einer tieferen Regung, als sie dem Sohne die Hand hinstreckte und fragte:

„Bist Du denn jetzt zufrieden mit Deiner Mutter?“

Der junge Graf zog leidenschaftlich die dargebotene Hand an seine Lippen.

„Das fragst Du heute, wo Du mir jeden Wunsch erfüllst? Ich weiß, daß Du mir ein Opfer gebracht hast mit Deiner Einwilligung, weiß, welche Kämpfe Du um meinetwillen mit dem Onkel zu bestehen hattest.“

Die Gräfin unterdrückte einen Seufzer bei der Erwähnung ihres Bruders.

„Armand wird mir meine Nachgiebigkeit nie verzeihen. Er mag ja Recht haben. Es wäre wohl meine Pflicht gewesen, die Traditionen unseres Hauses um jeden Preis zu wahren. Ich habe trotz alledem Deinen Bitten nicht widerstehen können. Ich wollte wenigstens Dich glücklich sehen.“

Ihr Blick streifte bei den letzten Worten unwillkürlich das Bild des alten Grafen. Edmund fing diesen Blick auf und verstand den Ton, der auf jenem Worte lag.

„Du bist es nicht gewesen?“ fragte er leise.

„Ich habe in meiner ganzen Ehe nie einen Grund zur Klage gehabt. Mein Gemahl ist stets die Güte und Nachsicht selbst gegen mich gewesen.“

„Aber er war ein Greis,“ sagte Edmund, dessen Auge jetzt auch auf den freundlichen und doch so welken Zügen des Vaters haftete, „und Du warst jung und schön, wie Hedwig, und hattest wie sie ein Recht, Glück vom Leben zu fordern. Meine arme Mutter!“ seine Stimme bebte in unterdrückter Bewegung. „Erst seit ich selbst so glücklich bin, begreife ich, wie öde Dein Leben gewesen sein muß an der Seite des Vaters, trotz all seiner Güte. Er konnte Dir ja nicht mehr das Herz und die Liebe der Jugend geben. Du hast freilich Dein Loos so stark und fest getragen, aber es ist trotz alledem ein hartes Loos, sich ewig nur dem Gebote der Pflicht zu beugen und jede Stimme zu ersticken, die nach Glück und Leben ruft –“

Er hielt inne; denn die Gräfin zog plötzlich mit einer raschen Bewegung ihre Hand aus der seinigen und wandte sich ab von ihm und dem Bilde.

„Laß das, Edmund!“ sagte sie hastig abwehrend. „Du peinigst mich.“

Der Sohn schwieg betreten; es war das erste Mal, daß er sich eine derartige Hindeutung erlaubt hatte. Er hatte nicht geglaubt, daß sie die Mutter verletzen könnte.

„Verzeih!“ sagte er nach einer Pause. „Es sollte kein Vorwurf gegen das Andenken meines Vaters sein. Seine Schuld war es sicher nicht, wenn Du an seiner Seite etwas entbehrtest.“

„Ich habe nichts entbehrt,“ rief die Gräfin aufwallend. „Nichts; denn ich hatte Dich, mein Edmund. Du bist mir Alles gewesen, hast mir Alles ersetzt; ich fragte nach keinem anderen Glücke mehr, seit ich die Liebe meines Sohnes hatte. Bisher freilich“ – hier sank ihre Stimme – „besaß ich diese Liebe allein, jetzt muß ich sie mit einer Anderen theilen, die fortan den ersten Platz in Deinem Herzen einnimmt.“

„Mama!“ fiel der junge Graf halb bittend, halb vorwurfsvoll ein. „Du bleibst ja doch, was Du mir stets gewesen.“

Die Gräfin schüttelte leise das Haupt. „Ich habe ja längst gewußt, daß die Zeit kommen werde, wo die Mutter der Braut weichen muß, und nun sie da ist, trage ich es doch schwer, so schwer, daß ich bisweilen ernstlich daran denke, bei Deiner Vermählung Ettersberg zu verlassen und mich in Schönfeld einzurichten, das mir zum Wittwensitze bestimmt ist.“

„Niemals!“ fuhr Edmund ungestüm auf. „Das kannst, das wirst Du mir nicht anthun. Du darfst nicht von mir gehen, Mama; Du weißt, daß ich Dich nicht entbehren kann, auch um Hedwig’s willen nicht. So sehr ich sie liebe, sie würde mir doch nie ersetzen können, was ich mit Dir verlieren würde.“

Die Gräfin hörte seinen Worten mit geheimem Triumphe zu. Sie wußte, daß Edmund die Wahrheit sprach; diese Stunde bewies es ihr auf’s Neue. Für seine Braut hatte er nie etwas Anderes, als Scherze und Tändeleien; sie kannte nur die liebenswürdige, aber oberflächliche Seite seines Wesens, die er aller Welt zeigte. Was er wirklich an Ernst, an Tiefe und Innigkeit besaß, das gehörte nach wie vor einzig und allein seiner Mutter, das strömte ihr auch jetzt wieder so warm und voll entgegen, daß sie triumphirend erkannte, wie der erste Platz in dem Herzen ihres Sohnes ihr gewahrt blieb. Sie hatte es freilich längst gewußt, und vielleicht verdankte Hedwig nur diesem Bewußtsein die Freundlichkeit, mit der sie von ihrer zukünftigen Schwiegermutter aufgenommen wurde. Eine glühend und leidenschaftlich geliebte Braut hätte an der mütterlichen Eifersucht einen schweren Gegner gefunden, dieses junge, schöne Wesen, das eine tiefere Neigung weder gab noch verlangte, wurde geduldet, weil es die Herrschaft der Mutter nicht gefährdete.

„Still, still! Laß das Niemand hören!“ sagte die Gräfin scherzend und doch mit überströmender Zärtlichkeit. „Es schickt sich wenig für einen Bräutigam und Majoratsherrn, wenn er so unumwunden erklärt, nicht ohne seine Mutter leben zu kämen. Glaubst Du denn, daß es mir leicht werden würde, von Dir fort zu gehen?“

„Und glaubst Du, ich würde Dich gehen lassen? Die Form meiner Mündigkeitserklärung ändert ja nicht das Geringste an unserem beiderseitigen Verhältniß.“

„Doch, Edmund!“ sagte die Gräfin ernst. „Der heutige Tag bedeutet Dir mehr als eine bloße Form. Bisher warst Du nur mein Sohn, nur der Erbe, über den ich die Vormundschaft führte: Von heute an bist Du der Chef des Hauses, das Haupt; Du hast jetzt den Namen und das Geschlecht der Ettersberg zu vertreten. Möge es in Glück und Glanz geschehen! Dann soll mir kein Opfer zu groß gewesen sein, dann will ich gern Alles ertragen und erduldet haben – um Deinetwillen.“

Es sprach eine tiefe, innere Genugthuung aus diesen Worten, und sie hatten vielleicht noch einen anderen Sinn, als Edmund ihnen beimaß. Er dankte nur für das Opfer der Einwilligung zu seiner Vermählung, als er sich niederbeugte und die Mutter küßte. Die Gräfin erwiderte seine Umarmung mit vollster Innigkeit, aber plötzlich zuckte sie zusammen, und ihre Arme schlossen sich fest und angstvoll um den Sohn, als müsse sie ihn vor einer Gefahr schützen.

„Was hast Du?“ fragte Edmund unbefangen, indem er der Richtung ihres Auges folgte. „Es ist ja nur Oswald.“

„Oswald – ja wohl!“ murmelte die Gräfin. „Er und immer nur er!“

Es war in der That Oswald, der von außen die Glasthür geöffnet hatte, die nach der Terrasse führte, und etwas befremdet schien, als er seine Verwandten erblickte.

„Ich glaubte, es sei Niemand mehr in den Sälen,“ sagte er näher tretend.

„Und ich glaubte, Du hättest Dich längst zurückgezogen,“ entgegnete die Gräfin. „Wo bist Du denn gewesen?“

„Im Parke,“ versetzte der junge Mann lakonisch, ohne den herben Ton der Frage beachten zu wollen.

„Jetzt, nach Mitternacht?“ fiel Edmund ein. „Wenn es nicht eine Beleidigung wäre, Dir Mondscheinschwärmereien zuzutrauen, so würde ich glauben, daß eine der Damen des heutigen Festes Dein Herz gerührt hat. Man fühlt in solchem Falle stets eine unwiderstehliche Reizung, den Sternen sein Glück oder Unglück vorzuseufzen. – Nimmst Du das schon wieder übel? Oswald, die Mama hat mich soeben feierlichst zum Chef des Hauses und zum Haupte der Familie proclamirt. In dieser erhabenen Eigenschaft verbiete ich Dir diesen finsteren Blick und befehle mit aller Strenge ein freundliches Gesicht. Ich will nur Glück in meinem Ettersberg sehen.“

[415] Er wollte in der alten vertraulichen Weise den Arm um die Schulter seines Vetters legen, aber die Gräfin trat plötzlich zwischen Beide. Es war ein stummer, aber so energischer Protest gegen die Vertraulichkeit der jungen Männer, daß Edmund unwillkürlich zurücktrat. Oswald sah seine Tante an, und sie gab ihm den Blick zurück; keines von Beiden sprach ein Wort, aber der Ausdruck unversöhnlichen Hasses, der in ihren Augen sprühte, sagte genug.

„Nur Glück!“ wiederholte Oswald kalt. „Ich fürchte, Du dehnst die Machtvollkommenheit in Deinem Hause doch allzuweit aus. Das anzubefehlen, dürfte nicht einmal dem 'Chef der Familie' und dem 'Haupte des Hauses' möglich sein. – Gute Nacht, Edmund! Ich will Dich und die Tante nicht länger stören.“

Er verneigte sich vor der Gräfin, ohne ihr wie sonst die Hand zu küssen, und verließ den Saal. Edmund blickte ihm halb verwundert, halb unwillig nach.

„Oswald wird jeden Tag herber und unzugänglicher. Findest Du das nicht auch?“

„Warum hast Du ihn gezwungen, zu bleiben?“ sagte die Gräfin kurz und bitter. „Du siehst, wie er Dir Deine Liebe lohnt!“

Der junge Graf schüttelte den Kopf. „Das ist es nicht. Mir gilt dieses seltsame Wesen nicht. Es lastet etwas auf Oswald, irgend etwas Schweres. Ich sehe es ganz deutlich, wenn er mir auch nie Rede stehen will. Dir gegenüber kehrt er freilich immer im Trotze die herbsten Seiten seines Charakters heraus; ich kenne ihn, wie er wirklich ist, und deshalb habe ich ihn lieb.“

„Und ich hasse ihn,“ brach die Gräfin aus. „Ich weiß, daß er etwas gegen uns im Schilde führt. Vorhin, als sich mir der Segenswunsch für das Glück Deiner Zukunft so heiß auf die Lippen drängte, da tauchte er plötzlich auf wie ein Schatten, da trat er dazwischen wie ein Unglücksbote. Weshalb hast Du ihn zurückgehalten, als er gehen wollte? Ich kann nicht aufathmen, so lange er in Ettersberg weilt.“

Edmund blickte seine Mutter ganz erschreckt an. Leidenschaftliche Ausbrüche waren bei ihr etwas so Ungewöhnliches, daß er sie in diesem Augenblicke gar nicht wieder erkannte. Ihm war ja ihre Abneigung gegen Oswald nicht fremd, aber diese furchtbare Gereiztheit vermochte er sich doch nicht zu erklären.

Der Eintritt Eberhard's und noch eines Dieners machte dem Gespräch ein Ende. Sie hatten drüben im Tanzsaal die Lichter gelöscht und wollten nun das Gleiche hier thun. Die Gräfin, gewohnt, sich in Gegenwart der Dienerschaft zu beherrschen, faßte sich auch jetzt schnell. Sie gab noch einige Befehle und nahm dann den Arm Edmund's, der sie nach ihrem Zimmer geleitete. Sie schien es bereits zu bereuen, daß sie sich ihrem Sohne gegenüber so weit hatte fortreißen lassen, und auch diesem war die Störung willkommen gewesen. In der Beurtheilung Oswald's verstanden er und die Mutter sich nun einmal nicht.

In den Festräumen wurde es gleich darauf still und dunkel; die Thüren wurden geschlossen, und die Dienerschaft zog sich zurück. Auch in den Zimmern der Gräfin und Edmund's erlosch das Licht bald, nur zwei Fenster waren noch hell im ganzen Schlosse, das Erkerzimmer im Seitenflügel, das Oswald von Ettersberg bewohnte, und ein anderes Gemach, das im Hauptgebäude neben der Wohnung der Gräfin lag.

Auch die junge Braut war noch nicht zur Ruhe gegangen. Sie saß in den Armstuhl zurückgelehnt, das Haupt in die Polster gedrückt, und achtete nicht darauf, daß sie die Spitze und Rosen ihres Seidenkleides zerdrückte. Vor ihr auf dem Tische lag das Brautgeschenk ihres Verlobten, ein kostbares Perlenhalsband, das sie heute zum ersten Mal getragen hatte, aber auch nicht ein einziger Blick fiel darauf, und doch hatte sie es vor wenigen Tagen mit solcher Freude empfangen.

Der heutige Abend war ja überhaupt so reich an Freuden gewesen. Hedwig war zum ersten Mal als Braut in die Gesellschaft getreten; zum ersten Mal hatte sie sich in dem neuen, glänzenden Rahmen bewegt, der ihr Leben fortan umschließen sollte. Es war immerhin ein beneidenswerthes Loos, als Herrin in das stolze Ettersberg einzuziehen, selbst für eine reiche Erbin und ein so verwöhntes Schooßkind des Glückes, wie Hedwig Rüstow war. Sie hatte noch nie so viel Triumphe gefeiert, so viel Huldigungen empfangen, wie sie heute der künftigen Gräfin Ettersberg zu Theil wurden.

Und doch zeigte sich kein Lächeln des Glückes oder der befriedigten Eitelkeit auf dem Gesichte des jungen Mädchens. Unbeweglich, die Hände im Schooße gefaltet, blickte sie mit träumendem Ausdrucke vor sich hin. Der Schleier, der auf ihrer Seele lag, wollte nicht weichen; der Traum hielt sie noch immer umsponnen. Er führte sie fort von all den glanzvollen Bildern des Festes, weit hinweg, bis zu einer einsamen Waldhöhe, wo ein trüber, dicht umschleierter Himmel niederblickte, wo die Schwalben durch die regenschwere Luft zogen und ihre Grüße niedersandten.

Sie hatten damals wirklich den Frühling gebracht. Mitten unter Reif und Kälte keimte das noch tief verborgene, aber mächtige Frühlingsleben, und ringsum regte es sich lautlos und unsichtbar, wie das Weben geheimnißvoller Kräfte. Ja wohl, es wird doch endlich Frühling, in der Natur wie im Menschenleben – aber bisweilen kommt er zu spät.




Das Fest in Ettersberg war im Hochsommer gefeiert worden; jetzt befand man sich bereits im September. Der junge Majoratsherr hatte nunmehr selbst die Verwaltung seiner Güter übernommen, aber es ließ sich nicht behaupten, daß irgend etwas dadurch anders oder besser geworden wäre – im Gegentheil: es blieb Alles beim Alten. Dem Administrator war zwar auf energisches Andrängen Rüstow's gekündigt worden, aber er blieb bis zum Beginn des nächsten Jahres noch in seiner Stellung, und weder ihm noch den übrigen Beamten wurde der so nothwendige Zügel auferlegt; denn Graf Edmund fand es sehr überflüssig und unbequem, sich um dergleichen zu kümmern. Er hörte zwar stets mit der liebenswürdigsten Bereitwilligkeit den Vorschlägen und Pläne seines Schwiegervaters zu, gab ihm in allen Stücken Recht und versicherte regelmäßig, er werde gleich morgen die Sache in Angriff nehmen, aber dies „morgen“ kam niemals. Oswald's Vorhersagung bestätigte sich; der Oberamtsrath sah bald genug ein, daß er selbst ergreifen mußte, wenn irgend etwas geschehen sollte.

Edmund seinerseits wäre auch ganz einverstanden damit gewesen, dagegen stieß Rüstow auf unerwarteten Widerstand bei der Gräfin, die es höchst überflüssig fand, daß man ihren Sohn bevormunden wollte, und durchaus nicht geneigt war, dem Schwiegervater desselben eine Machtvollkommenheit einzuräumen, die sie bisher allein ausgeübt hatte.

Ueberdies waren die Aenderungen, die der Oberamtsrath vorschlug, durchaus nicht nach dem Geschmack der Dame. Einrichtungen und Anlagen, die für das bürgerliche Brunneck paßten, waren für das aristokratische Ettersberg nicht geeignet. Mochte ein Theil der Beamten auch noch so überflüssig, mochte die Art der Bewirthschaftung auch noch so kostspielig sein, das war seit langen Jahren so gewesen, das gehörte zu dem großen Stil, in dem man zu leben gewohnt war. Eine Einschränkung des Beamtenpersonals, eine peinliche Controlle über die Details der Verwaltung, die Rüstow forderte, erschienen der Gräfin als eine Art von Herabsetzung, und da sie nach wie vor die entscheidende Stimme in Ettersberg hatte, so drang ihre Opposition durch. Es hatte bereits sehr lebhafte Debatten zwischen ihr und dem Oberamtsrath gegeben, und wenn Edmund auch noch stets dazwischen getreten war und Frieden gestiftet hatte, so blieb doch eine gewisse Verstimmung zurück.

Die Bewunderung Rüstow's vor der imposanten Dame hatte merklich abgenommen, seit er erfahren hatte, wie imposant sie ihre Privilegien zu vertheidigen wußte, und die Gräfin ihrerseits fand, daß der Oberamtsrath doch Eigenthümlichkeiten habe, die man nicht so ohne Weiteres hinwegnehmen könne, kurz, die Harmonie des Verhältnisses war gestört, und es zogen bereits Wolken an dem bisher so klaren Himmel des Familienfriedens auf.

Oswald hatte sich von all diesen Erörterungen consequent fern gehalten. Er schien sich bereits als ein Fremder in dem Hause zu betrachten, das er nun bald verlassen sollte. Ueberdies nahmen ihn seine Studien für das bevorstehende juristische Examen vollständig in Anspruch und gaben ihm den Vorwand, sich von allen Besuchen und Einladungen zurückzuziehen, mit denen das Brautpaar und dessen Familie überschüttet wurde.

Jetzt war das Ende des September und damit der zur Abreise nach der Residenz bestimmte Termin herangekommen. [416] Die Vorbereitungen waren getroffen, die Abschiedsbesuche gemacht und die Reise selbst auf den zweitnächsten Tag festgesetzt worden. Nur in Brunneck galt es noch, sich zu verabschieden; das konnte bei dem jetzigen verwandtschaftlichen Verhältniß nicht umgangen werden, wenn Oswald es auch bis zuletzt aufgeschoben hatte. Er beabsichtigte in Begleitung Edmund’s hinüber zu fahren, aber der Graf hatte gerade für diesen Tag eine Einladung zur Jagd angenommen, und so blieb seinem Vetter nichts übrig, als die Fahrt allein zu machen. Trotz der wiederholten freundschaftlichen Einladungen des Oberamtsrathes hatte Oswald dessen Haus seit jenem Tage nicht wieder betreten, wo dort die Verlobung gefeiert wurde, der er nothgedrungen beiwohnen mußte. Trotzdem hatte er die Braut seines Vetters häufig gesehen; denn Hedwig kam sehr oft mit ihrem Vater nach Ettersberg. Man begann dort bereits einen Theil des Schlosses zur Wohnung für das künftige Ehepaar einzurichten.

Der Gutsherr von Brunneck saß im Balkonzimmer und las die Zeitungen, während seine Cousine vor einem Seitentische stand und mit prüfender Miene verschiedene elegante Toilettengegenstände musterte, die dort ausgebreitet waren. Es waren Muster und Proben, vor Kurzem erst aus der Residenz angelangt und für die Tochter des Hauses bestimmt, mit deren Ausstattung man bereits eifrig beschäftigt war.

Der Oberamtsrath schien nicht sehr von seiner Lectüre in Anspruch genommen zu sein; er blätterte zerstreut in den Zeitungen; endlich blickte er davon auf und sagte ungeduldig:

„Sind Sie denn mit Ihrem Wählen und Prüfen noch nicht fertig, Lina? Warum lassen Sie sich nicht von Hedwig helfen?“

Die Angeredete zuckte die Achseln:

„Hedwig hat wie gewöhnlich erklärt, daß sie mir Alles überlasse. Ich werde wohl allein die Auswahl treffen müssen.“

Ich begreife nicht, wie das Mädchen so wenig Interesse dafür haben kann,“ sagte Rüstow. „Es handelt sich ja um ihre eigene Ausstattung, und sonst war ihr die Toilette ja doch eine Haupt- und Staatsangelegenheit.“

„Ja – sonst!“ sagte das Fräulein mit Betonung.

Es trat eine Pause ein; der Oberamtsrath schien etwas auf dem Herzen zu haben; plötzlich legte er die Zeitungen weg und stand auf.

„Lina, ich muß etwas mit Ihnen besprechen – Hedwig gefällt mir nicht.“

„Mir auch nicht,“ sagte die alte Dame halblaut, aber sie vermied es dabei, ihren Cousin anzusehen, und betrachtete angelegentlich ein Spitzenmuster.

„Nicht?“ rief Rüstow, der, wenn er sich ärgerte, stets auch streitsüchtig wurde. „Nun, ich dächte, Ihnen müßte sie doch jetzt ausgezeichnet gefallen. Hedwig war Ihnen ja immer zu oberflächlich; nun ist sie so ungeheuer tief geworden, daß sie sogar das Lachen darüber verlernt hat. Nicht einmal Widerspruchsgeist, nicht einmal Unarten hat sie mehr. Es ist zum Davonlaufen.“

„Weil der Widerspruch und die Unarten aufgehört haben?“

Rüstow beachtete den ironischen Einwurf nicht; er stellte sich in drohender Haltung vor seine Cousine hin.

„Was ist mit dem Mädchen vorgegangen? Wo ist mein lebensfrohes, übermüthiges Kind hingekommen, mein Wildfang, der sich vor Tollheiten und Neckereien nicht zu lassen wußte? Ich muß das wissen.“

„Sehen Sie mich nicht so wüthend an, Erich!“ sagte Fräulein Lina gelassen. „Ich habe Ihrem Kinde nichts gethan.“

„Aber Sie müssen wissen, was diese Veränderungen hervorgebracht hat,“ rief der besorgte Vater diktatorisch. „Sie müssen es wenigstens in Erfahrung bringen.“

„Auch das kann ich nicht; denn Ihre Tochter hat mich nicht zur Vertrauten gemacht. Nehmen Sie doch die Sache nicht so schwer! Hedwig ist allerdings sehr ernst geworden, aber es ist ja auch ein ernster Schritt, der ihr bevorsteht, die Trennung vom Vaterhause, der Eintritt in ganz neue Verhältnisse und Umgebungen. Sie mag ja noch Manches durchzukämpfen und zu überwinden haben, aber wenn sie nur erst vermählt ist, wird ihr das Pflichtgefühl den nöthigen Halt geben.“

„Pflichtgefühl?“ wiederholte der Oberamtsrath, ganz starr vor Erstaunen. „Ist der Verlobung denn nicht ein vollständiger Liebesroman vorhergegangen? Haben die Beiden nicht ihren Willen durchgesetzt, mir und der Gräfin zum Trotze? Ist Edmund nicht der zärtlichste, aufmerksamste Bräutigam? Und da reden Sie von Pflichtgefühl? Das ist jedenfalls eine sehr vortreffliche Eigenschaft, aber wenn eine junge Frau von achtzehn Jahren ihrem Manne nichts Anderes entgegenbringt, so giebt das eine ganz jammervolle Ehe – darauf können Sie sich verlassen.“

„Sie mißverstehen mich,“ beruhigte die Cousine. „Ich meinte nur, daß der Ernst und die Pflichten auch an Hedwig herantreten werden, wenn sie erst in Ettersberg lebt. Die Verhältnisse dort scheinen doch nicht ganz so dornenlos zu sein, wie wir im Anfange voraussetzten.“

Rüstow merkte nicht das sichtbare Bestreben, ihn von dem eben besprochenen Thema abzulenken. Er ging sofort auf die hingeworfene Bemerkung ein.

„Nein, wahrhaftig nicht!“ sagte er heftig. „Wenn das so fortgeht, gerathe ich mit der Gräfin noch einmal ernstlich zusammen. Was ich auch anfangen und vorschlagen mag, ich stoße immer wieder auf diese verwünschten aristokratischen Mucken, denen sich Alles unterordnen muß. Es ist der Frau nicht klar zu machen, daß der drohende Verfall der Güter nur durch energische Mittel aufzuhalten ist; es soll Alles in dem alten Schlendrian bleiben. Die nothwendigsten Maßregeln werden verworfen, sobald sie sich nicht mit dem sogenannten Nimbus des alten Grafengeschlechtes vertragen, und mit dem verträgt sich überhaupt nichts, was Ordnung und Sparsamkeit heißt. Der eigentliche Herr und Gebieter von Ettersberg thut überhaupt gar nichts. Er glaubt schon das Aeußerste geleistet zu haben, wenn er sich einmal von seinem Administrator einen halbstündigen Vortrag halten läßt – und im Uebrigen liegt er anbetend vor seiner Frau Mama auf den Knieen und hält sie für den Inbegriff aller Weisheit und Vollkommenheit. Hedwig wird sich ihres Mannes ernstlich versichern müssen, wenn sie nicht von der Schwiegermutter vollständig in den Hintergrund gedrängt werden will.“

Dex Oberamtsrath hätte seinem Herzen wahrscheinlich noch mehr Luft gemacht; denn er war nun einmal im Zuge, aber das Geräusch eines vorfahrenden Wagens unterbrach ihn.

(Fortsetzung folgt.)




Im Banne des Mittelalters.


Aus Spaniens fernen Tagen, aus der Zeit
Des Mittelalters, trotzig, wüst und blutig,
Klingt ein Geheul von ungeheurem Leid,
Bricht Flammenlodern, grell, zerstörungsgluthig;
Stets wächst das Elend, das zum Himmel schreit,
Und ob dein Auge noch so fest und muthig:
Die Wimper zuckt, willst du das Bild erfassen
Des Unglücksvolkes, das sein Gott verlassen.

Das ist der störr’sche Nachwuchs Ahasver’s,
Der inbrunststark der Väter Erb’ umfaßte;
Zerbrochen war der Schutz des Maurenspeers
Von jenen Christen, die sein Glaube haßte;
Kein Wunder hielt die Fluth des rothen Meers,
Bis daß Jehova’s Volk bei Palmen raste:
Zerfleischend traf’s, zum Christenschwert erkoren,
Das Kreuz der Liebe, das sein Schooß geboren.

Das schwang der Wahnwitz und die Beutegier
Und finstre Rachlust, glaubenshaßverbündet;
Das hob zerstörungsfroh die Rohheit hier,
Und dort die Lust der Sinne, frech entzündet;
Mit allen Lastern regte sich das Thier;
Und vor dem Zeichen, das Versöhnung kündet,
Vor dem Verrath, vor Folter und Vernichtung
Floh Israel in aller Winde Richtung, –

Jüngst träumte mir – mit Schaudern denk’ ich dran –
Als hätt’ in ihren weltverborgnen Grüften
Die Schreckenszeit gelöst des Todes Bann
Und stieg’ gespenstisch aus erbrochnen Klüften.
Nachtfinster kam’s – ein Brodem ging mich an,
Wie ein Gemisch aus Blut- und Moderdüften,
Und gräßlich sah ich jener Zeit Gestalten
Weithin und weiter ihres Wesens walten.

[417]

Aus der Zeit der spanischen Judenverfolgung.
Nach dem Oelgemälde von M. v. Zichy.

[418]

Ein ferner Angstschrei scholl von allem Land,
Ein wilder Schrei, wie aus Verlorner Munde;
Und um mich rief’s nach Ketten und nach Brand,
Nach neuen Schlägen in die alte Wunde –
Und wie ich qualvoll vor dem Räthsel stand,
Da – – wacht’ ich auf; und tief von Herzensgrunde
Sog ich den Athem, noch des Spuks verwundert. –
Es war ein Traum – – im neunzehnten Jahrhundert!

O beßre Zeit – gelobt, gesegnet sei,
Und, heil’ge Duldung, du auf deutscher Erde!
Gesetz und Vaterland, die hehre Zwei
Faßt alle Bürger fest zu Einer Heerde;
Jedweder ringt, weß Glaubens er auch sei,
In seiner Weise, daß er glücklich werde,
Und jene Schmach barbarischer Gerichte
Versiegelt uns der Fluch der Weltgeschichte.

Victor Blüthgen.


Die internationale Fischerei-Ausstellung in Berlin.
Von Gustav Schubert.
Mit Illustrationen von H. Lüders.
(Schluß.)

Daß unsere deutschen Flüsse auch noch andere Schätze als Fische enthalten können, zeigt die Collectiv-Ausstellung des königlich sächsischen Perlfischereiregals und der aus ihm erwachsenen Zweige, vermittelt durch Professor Nitsche-Tharand. Die Flußperlmuschel findet sich in dem oberen Flußgebiet der Donau und wird außerdem besonders gepflegt im Königreich Sachsen, wo sie fast die ganze weiße Elster, bis Elsterberg abwärts bewohnt. Die Frage nach der Entstehung der Perle, des ältesten und geschätztesten Schmuckgegenstandes aller Völker, beschäftigte die Menschen schon in den Urzeiten. Nach der altindischen Sage entglitten dem Himmel in milden, lauen Sommernächten zarte Thautropfen, um in dem Busen der klaffenden Muschel durch wärmende Strahlen der Sonne zu Perlen heranzureifen. Die neuere Naturwissenschaft konnte indeß von dieser poetischen Erklärung keinen Gebrauch machen. Als Perle bezeichnet man jetzt jede frei innerhalb der Weichtheile der Perlenmuschel befindliche Ablagerung von Schalensubstanz der Muschel, deren Kern, wie die sächsische Ausstellung in vorzüglichen Präparaten und Durchschnitten zeigt, irgend ein in die Muschel eingedrungener fremder Körper (Sandkörner, Eier von Parasiten, Fadenalgen etc.) ist. Das Thier sucht den störenden Gegenstand in seinem Innern unschädlich zu machen und überzieht ihn zu diesem Zweck mit der kostbaren Perlmuttersubstanz (kohlensaurem Kalk), das heißt macht ihn zur Perle, die mithin als einem Acte der Nothwehr entsprungen zu denken ist.

Auf Grund dieser Erkenntniß hat man versucht, die Muscheln künstlich zur Erzeugung von Perlen zu veranlassen, doch sind mit dieser Methode im Elstergebiet keine Resultate erzielt worden. Daß indeß die Möglichkeit eines solchen Zwanges vorhanden ist, lehrt die Thatsache, daß der Naturforscher Linné ein Verfahren kannte, es aber leider als sein Geheimniß behielt.

In nutzbringender Weise verstehen es die Chinesen, künstliche Perlen zu erzeugen, und wie weit das Weichthier in der Thätigkeit der Absonderung jenes glänzenden Materials getrieben werden kann, zeigen einige Muscheln in der japanischen Abtheilung. Diese enthalten eine Anzahl reliefartiger, auf der Schale festgewachsener Götzenbilder (aus Blei), die von dem Thier mit einer feinen Schicht überzogen worden sind. Ja, in der von Berliner Hofjuwelieren veranstalteten Perlen-Ausstellung (Produkte der Seeperle), die mit den Objecten des „Grünen Gewölbes“ in Dresden einen Werth von vielen Millionen repräsentiren, befindet sich in einer Muschel als kostbare perlmutterschillernde Mumie eine deutlich erkennbare Eidechse.

Die sächsische Perlenfischerei, durch Kurfürst Johann Georg den Ersten im Jahre 1621 zum Regal erhoben, tritt begreiflicher Weise gegen die Seeperlenfischerei zurück, doch hat sie immerhin erfreuliche Resultate zu verzeichnen. Das ausgestellte berühmte Elsterperlen-Collier des „Grünen Gewölbes“ hat einen Werth von 30,000 Mark; seit 1719 sind im Ganzen 22,723 Perlen aufgefunden, darunter einige, die pro Stück mit 250 Mark verkauft wurden. Mit welchem Ernste das Perlensuchen in früherer Zeit betrieben wurde, geht aus einem der Collectiv-Ausstellung beigegebenen „Juramente“ (Schwur) aus dem Jahre 1643 hervor. Derselbe lautet:

„Ich Abraham Schmirler, schwehre zu Gott dem Allmächtigen einen leiblichen Eydt, daß ich perlensuchens nach meinem besten Verstande zu Jederzeit warten Niemandeß derothalben Unterschleif verstatten und da ich etwas vermercken würde, solches sobalden im Ambte Voigtsbergk anmelden, alle Zeitigen Perlen aber dem Baumeister Sebastian Walthern nach Dresden, oder an wen ich sonst gewiesen werde treulich und ohne Betrug überliefern, das Bekenndnuß auch hergegen Jedesmahl im Ambte allhier vorzeigen, und mich im Uebrigen dergestalt erweisen soll und will, Allermaßen es recht und billich sein wird, So wahr mir Gott helfe, Amen.“

Es war ein glücklicher Gedanke, den Werth der Muschel nicht allein in den Perlen zu suchen; seit 1850 unternahm es ein Mitglied der historischen Familie Schmerler, das Aeußere der Schale zu schleifen und daraus kleine Galanteriewaaren (Portemonnaies, Täschchen etc.) herzustellen. Die Artikel fanden großen Beifall, und heute blüht in Adorf (Königreich Sachsen) eine viele Menschen ernährende Perlmutter-Industrie (vergl. den Artikel „Bei den Muschelarbeitern im Voigtlande“ in Nr. 7, 1878), die ihre Erzeugnisse in alle Welt hinaussendet und sich durch die Berliner Ausstellung viele neue Freunde erworben hat. –

Mit voller Berechtigung durfte einem der nutzbarsten Wasserproducte, dem Bernstein, ein hervorragender Platz auf der Fischerei-Ausstellung eingeräumt werden. Der Firma Stantien und Becker zu Königsberg in Preußen gebührt das Verdienst, uns in ebenso übersichtlicher wie lehrreicher Anordnung die Erzeugnisse einer Industrie vorgeführt zu haben, die in wissenschaftlicher wie in national-ökonomischer Beziehung eine gleich hohe Bedeutung hat. Was die Naturforscher aller früheren Jahrhunderte geahnt und als wahrscheinlich angenommen, hat unsere Zeit mit Gewißheit festgestellt: der Bernstein, das Elektron der Griechen, ist das Product vorweltlicher, unserer Fichte und Tanne verwandter Nadelhölzer, unter denen die Bernsteinfichte (Pinites succinifer) die Haupterzeugerin des kostbaren Harzes ist. Die Heimath der untergegangenen Wälder war nachweislich ein längst versunkenes und zerwaschenes Land, welches einst in dem Bereich unserer jetzigen Ostsee lag.

Durch vorzügliche Modelle und Zeichnungen wird veranschaulicht, daß die Gewinnung des Bernsteins theils durch Baggern, Schöpfen und Tauchen, wie in Schwarzort, südlich von Memel, theils auf bergmännischem Wege (Palmnicken an der samländischen Küste) geschieht, wobei die genannte Firma gegen 3000 Arbeiter nebst 50 Dampfmaschinen von 1500 Pferdekraft beschäftigt. Der jährlich an den Staat zu zahlende Pacht von 600,000 Mark deutet auf die Ergiebigkeit der Quellen, welcher wiederum ein kolossaler Geschäftsverkehr nach allen Theilen der Welt entspricht.

Die Ausstellung zeigt in mehreren größeren mit dem „Strandsegen“ angefüllten Abtheilungen, wie verschieden die Ansprüche einzelner Nationen an den Bernstein sind. Frankreich consumirt eine andere Qualität als Deutschland, Rußland, Amerika, und England entwickelt wieder einen andern Geschmack als China, Japan und die Türkei. Von besonderem Interesse sind die sogenannten Capitalstücke, große und schöne Funde von unberechenbarem Werthe, darunter eines im Gewichte von dreizehneinhalb Pfund, sowie die gewiß einzige, aus mehreren tausend Nummern bestehende Sammlung der Inclusa (Einschlüsse). Trefflich erhalten geben uns hier die eingeschlossenen und wohlerhaltenen Thiere und Pflanzen das Bild einer Fauna und einer Flora, die vollständig ausgestorben sind. Mücken, Motten, Spinnen, Fliegen, Milben, Käfer, Grashüpfer, Raupen und Schmetterlinge wechseln mit Holztheilen, Nadeln und Blättern einer Vegetation, welche eine große Ähnlichkeit mit der heutigen nordamerikanischen gehabt haben muß. Daß die Menschen auf der niedrigsten Culturstufe das gelbe Harz schon als Schmuckstein suchten und [419] schätzten, davon legen einige altheidnische, in dem Alluvium von Schwarzort ausgebaggerte Götzenbilder und durchbohrte Stücke, desgleichen Halsperlen aus deutschen und italienischen Grabstätten (in einem andern Raume von dem Märkischen Museum ausgestellt) beredtes Zeugniß ab. –

Außer den Perlensammlungen und dem Bernsteinsaal erfreute sich keine Separatausstellung so lebhaften und andauernden Besuchs von Seiten der Damenwelt, wie jenes Eckzimmer mit seinen Korallenschätzen, auf welche Italien mit Recht stolz sein kann. Mehrere große Firmen haben sich vereinigt, Deutschland das Bild einer Industrie zu geben, wie es bunter und reichhaltiger wohl noch nie gesehen worden ist. Die in den herrlichsten Farbennüancen schillernden und mit dem feinsten künstlerischen Geschmack verarbeiteten Meeresproducte der Edelkoralle (Corallium rubrum) entstammen dem mittelländischen Meere und überzeugen den unbefangenen Beschauer nur schwer von ihrem thierischen Ursprunge, und doch sind diese blutrothen Zweige und Aeste nichts weiter als die gemeinschaftliche Körpersubstanz unzähliger kleiner Polypen, die ihre Fangarme gleich Octopus und Eledone in die nährende, salzige Fluth hinausstreckten. Hunderte von Fahrzeugen, wie das in Thätigkeit befindliche ausgestellte kleine Modell einer starken, halbgedeckten Barke, Tausende italienischer Fischer sind in der heißen Jahreszeit thätig, die Korallen an bestimmten, einer gewissen Schonzeit unterworfenen Stellen des Mittelmeeres einzuheimsen. Hierzu bedient man sich eines nach seiner Construction uralten, an zwei über Kreuz gelegten Balken befestigten Schleppnetzes, das oft genug in den Felsvorsprüngen haften bleibt und nur mit unsäglicher Mühe wieder flott gemacht werden kann. Als Kunstwerk von unschätzbarem Werthe verdient eine blaßrothe Koralle in Form eines Petschaftes hervorgehoben zu werden, das die in großer Naturwahrheit ausgearbeiteten Brustbilder der italienischen Königsfamilie zeigt und letzterer vom Hause Mazza in Torre del Greco gewidmet wurde.

Es ist eine erfreuliche Thatsache, daß es einer deutschen Firma (M. Mayer-Mainz) gelungen ist, sich einen großen Theil des Marktes, der früher von Italien und Frankreich beschickt wurde, zu erobern. –

Große Aufgaben harren des Vereins in Bezug auf die Zucht eines Seethieres, das berufen erscheint, auf dem Gebiete der Volksernährung eine wichtige Rolle zu spielen – es ist die Auster. Obgleich man nicht chemisch nachweisen konnte, daß die unscheinbare Muschel mit ihrem Nährwerth die besten Fleischsorten von Säugethieren und Vögeln überragt, wurde sie doch gewissermaßen instinctiv von den Völkern des Alterthums gesucht und geschätzt, und es ist für den Historiker nichts Neues mehr, daß man in den uralten Küchenabfällen untergegangener nordischer Stämme, wie zwischen den Marmortrümmern des classischen Römer- und Griechenthums Spuren der Auster findet. Professor Möbius-Kiel hat es unternommen, uns Binnenländer auf der Ausstellung mit der Naturgeschichte dieser nutzbaren Muschel in anschaulicher Weise bekannt zu machen. Vor unsern Augen streckt sich eine kleine Austernbank, die einen Theil des deutschen Austerngebiets (Wattenmeer, Westküste von Schleswig-Holstein) darstellt.

Es ist zunächst auffällig, wie wenig marktfähige Muscheln auf einem Raume von circa zehn Quadratmeter gefunden werden (es sind deren vielleicht zwanzig), verfolgen wir indeß die durch ausgestellte Präparate trefflich illustrirte Naturgeschichte des Schalthieres, so mag uns die Zahl doch nicht zu winzig erscheinen. Die Auster (bekanntlich ein Zwitter) entläßt jährlich aus ihrem Mantel über eine Million bereits ausgebrüteter mikroskopischer Junger, die mit Hülfe zahlreicher schwingender Wimperchen solange in der Fluth umherirren, bis sie einen festen Anhaltspunkt gefunden haben; welche Gefahren sie aber auf dieser ihrer ersten Reise zu überstehen haben, möge der von Möbius aufgestellte Satz beweisen, daß auf eine marktfähige holsteinische Auster etwa eine Million zu Grunde gegangener Junger kommen. Es ist begreiflich, daß solche Verhältnisse den Scharfsinn der „Wasserwirthe“, wie man jetzt neben „Forstwirthe“ und „Landwirthe“ sagen muß, herausfordern, und man ist in Folge dessen auf dem besten Wege, der Auster wie den Fischen künstlich zu Hülfe zu kommen, das heißt, sie zu züchten. Das geschieht durch Aufhängung von Reisigbündeln und Stricken im Wasser, „Aussäen“ an geeigneten Stellen, verschiedene Schutzmaßregeln gegen die zahlreichen Feinde, Versandung, Ueberführung in geschlossene Bassins, Anlegung von Parks, Anwendung von Zuchtkästen mit verschiedenen Abtheilungen von geflochtenem Netzwerk etc., und man hat dadurch in Italien, Frankreich, England und Amerika, wo die Auster längst Volksnahrungsmittel geworden, großartige Resultate erzielt. Die Gewinnung der Austern geschieht mit einem aus Metalldraht gefertigten Schleppnetze, das durch ein flottes Fahrzeug über die „Bänke“ gezogen wird. Die eßbaren, circa fünf bis zehn Jahre alten Thiere werden durch einen Cirkel nach ihrer Größe bestimmt und zurückbehalten, während die jüngeren dem Meere wiedergegeben werden. Austernessern und „solchen, die es werden wollen“, giebt Professor Möbius den Rath, die Austern nicht ganz zu verschlucken sondern sie zu zerbeißen und zu kauen, um ihre wohlschmeckenden Stoffe frei zu legen und zur Wirkung zu bringen. Wer übrigens vom Glück begünstigt ist, kann dabei wie jener Hamburger eine Perle entdecken, für welche dem erstaunten Feinschmecker sechsundsechszig Mark ausgezahlt wurden.[1]




Zur Geschichte der Socialdemokratie.
Von Franz Mehring.
7. Der Gothaer Vereinigungscongreß.

Unter den unermeßlich reichen Gaben, mit welchen das unvergeßliche Jahr 1870 unser Vaterland begnadete, war nicht die geringste die gänzliche Zerschmetterung der deutschen Socialdemokratie – nicht die geringste, aber leider die am wenigsten beachtete. Statt die letzten Keime des Uebels besonnen und vorsichtig auszurotten, ließ man sie ungestört sich erholen und wieder in üppiges Unkraut schießen. Viele Umstände entschuldigen diese Saumseligkeit, aber deshalb bleibt sie nicht weniger zu beklagen. Es war ein sehr böses Dilemma, in welches die communistischen Demagogen durch die französische Kriegserklärung geriethen. Die große Masse der Arbeiter, auch wo ihr gesunder Sinn durch utopistische Zukunftsträume schon verwirrt war, stand unter dem mächtigen Eindrucke des frevelhaften Friedensbruchs sofort fertig und klar auf Seiten des gefährdeten Vaterlandes. Der innere Zusammenhang der beiden socialdemokratischen Secten war mit einem Schlage zerstört. Die Lassalleaner thaten immerhin noch das Klügste, was sich unter solchen Umständen thun ließ; konnten sie sich doch auch auf die besten Ueberlieferungen ihres Stifters berufen, wenn sie mit dem allgemeinen Strome schwammen! Schweitzer und seine näheren Gesinnungsgenossen stimmten im Reichstage für die Bewilligung der Kriegsanleihe.

Um so kläglicher schwankte der deutsche Zweig des internationalen Arbeiterbundes hin und her. Zwar, daß Marx bei Ausbruch des Krieges Frankreich von Paris und Deutschland von – Braunschweig aus, wo damals das Hauptquartier seiner deutschen Anhänger war, habe insurgiren wollen, ist ein reactionäres Märchen, für welches noch keine Spur von Beweis erbracht worden ist und auch niemals erbracht werde kann. Im Gegentheil, der Londoner Generalrath rieth in seinen Manifesten namentlich den französischen Arbeitern von jeder vorzeitigen Schilderhebung ab; er sah den Erfolg der deutschen Waffen voraus, und er wünschte ihn auch, wenigstens vorläufig. Natürlich nicht um der gerechten [420] Sache willen, sondern in der schlauen Berechnung, daß ein französischer Sieg die deutschen Herzen in der Gluth vaterländischen Zorns nur noch fester zusammenschmieden werde, während ein deutscher Triumph unfehlbar zum Sturze des zweiten Kaiserreichs führen müßte.

Trotzdem konnte sich Liebknecht, der deutsche Apostel des Bundes, als Reichstagsmitglied, nicht entschließen, in der Stunde der höchsten Gefahr für sein Vaterland einzutreten. Er, wie auch leider der von ihm beeinflußte Bebel, enthielt sich der Abstimmung, als die Mittel zur Kriegführung gegen Frankreich bewilligt wurden. Beide erklärten schriftlich, daß eine Zustimmung zur Kriegsanleihe ein Vertrauensvotum für die preußische Regierung sein würde, welche 1866 den gegenwärtigen Krieg vorbereitet habe, während ihre Verweigerung als Billigung der verbrecherischen Politik Bonaparte’s aufgefaßt werden könnte. Erfreulicher Weise erregte diese unwürdige Neutralität im eigenen Lager vielfach den lebhaftesten Unwillen; höchst unzufrieden war namentlich auch der leitende Partei-Ausschuß in Braunschweig, dessen Seele der kürzlich verstorbene Bracke war, eine der edelsten, liebenswürdigsten und reinsten Gestalten, welche jemals in der socialdemokratischen Bewegung aufgetreten sind. Bracke bewirkte, daß der Ausschuß, um die Haltung von Bebel und Liebknecht wieder gut zu machen, einen Aufruf an die Partei erließ, welcher zwar nicht frei war von mancherlei schiefen und verworrenen Wendungen, aber doch patriotische Hingebung athmete.

So drohte innerer Zwist vollends zu zerstören, was noch von fester Partei-Organisation vorhanden war. Da trat in dem Kriege die Wendung ein, auf welche Marx gerechnet hatte; die Schlacht von Sedan stürzte den Thron des dritten Napoleon und die Republik wurde seine Erbin. In einer Republik Gambetta-Thiers sah Marx freilich nicht sein Ideal, aber trotz alledem – es gab wieder eine französische Republik mit unberechenbaren Chancen für proletarische Aufruhrneigungen; ihre weitere Schwächung oder gar Vernichtung durch ein monarchisches Reich widersprach allen revolutionären Interessen. So gab denn Marx das Feldgeschrei aus, daß um jeden Preis Friede geschlossen, daß namentlich die Annexion von Elsaß-Lothringen gehindert werden müsse.

Inzwischen hatte es der gleißende Name der Republik auch schon von selbst dem schwärmerischen Gemüthe Bracke’s angethan; er fügte sich ohne Weiteres, als die neuen Befehle aus London eintrafen. Der Braunschweiger Ausschuß erließ einen zweiten Aufruf an die Partei, in welchem er zu Massenkundgebungen des Volkes für einen ehrenvollen Frieden mit der französischen Republik und gegen die Annexion von Elsaß-Lothringen aufforderte; in seinem wesentlichen Inhalte bestand das Manifest aus dem Briefe, den Marx an den Ausschuß gerichtet hatte. Nichts ist bezeichnender für die vielgerühmte „Loyalität“ und „Vaterlandsliebe“ der communistischen Demagogie, als die Schimpfworte, die der große Häuptling des Umsturzes über das deutsche Volk in der größten Krisis seiner Geschichte ausschüttete. So schrieb er: „Ich fürchte, die Schurken und Narren werden ihr tolles Spiel ungehindert treiben, wenn die deutsche Arbeiterclasse nicht en masse ihre Stimme erhebt.

Was Wunder, daß Liebknecht mit einem jubelnden „Hurrah!“ dieser ruchlosen Beschimpfung aller patriotischen Elemente beistimmte; ein ernsterer und klügerer Parteigänger schrieb freilich besorgt über die Wirkung des Aufrufs nach Braunschweig: „Man wird uns todt schlagen wie tolle Hunde, und man wird dazu noch Recht haben.“

Nun, diese düstere Prophezeiung erfüllte sich glücklicher Weise nicht, wohl aber ließ General Vogel von Falckenstein als Generalgouverneur der Küstenlande Bracke und seine Collegen vom Ausschusse kurz nach Erlaß ihres Aufrufs aufheben und in die Veste Boyen bei Lötzen einthürmen. Einige Monate später wurden auch Bebel und Liebknecht unter der Anklage des Hochverraths verhaftet, unmittelbar nachdem im December 1870 die letzte Session des Norddeutschen Reichstages geschlossen worden war, welche über die Bewilligung neuer Kriegsanleihen, die Versailler Verträge mit den süddeutschen Staaten, die Schöpfung von Kaiserthum und Reich zu berathen und zu beschließen hatte. In allen diesen grundlegenden Fragen bildeten die socialdemokratischen Abgeordneten eine unversöhnliche Opposition, einschließlich der Lassalleaner, welche nun auch eine klingende Schelle, der Name der französischen Republik, so unwiderstehlich in hoffnungslose Wirrniß lockte, wie die Pfeife des Rattenfängers einstmals die Kinder von Hameln.

Im März von 1871 ergaben die Wahlen zum ersten deutschen Reichstage unwiderleglich den gänzlichen Niedergang der socialdemokratischen Bewegung. Von den bisherigen sieben Abgeordneten der Partei siegte nur Bebel in dem Wahlkreise Glauchau-Meerane, der allein unter allen deutschen Wahlkreisen seit Einführung des allgemeinen Stimmrechts bis auf den heutigen Tag sich den seltsamen Ruhm gewahrt hat, immer socialdemokratisch zu wählen. Nach beendeter Wahl wurden die Braunschweiger und Leipziger Gefangenen aus der Untersuchungshaft entlassen. Später haben sie bekanntlich vor Gericht gestanden und sind verurtheilt worden, Bracke und Genossen in Braunschweig zu einer geringen Gefängnißstrafe wegen Theilnahme an einem gesetzwidrigen Vereine, Bebel und Liebknecht durch ein Leipziger Schwurgericht zu zweijähriger Festungshaft wegen Vorbereitung des Hochverraths. Das letztgedachte Verfahren hat einschneidender Kritik reichen Stoff geboten; sei es nun mit Recht oder Unrecht – in jedem Falle war der Gewinn des Einsatzes nicht werth; die beiden Agitatoren hatten als Parteiführer so gründlich verspielt, daß sie als „Märtyrer“ nicht einen Theil der Partie wieder zu gewinnen vermochten.

Ein fast noch schwererer Schlag, als er dieser Fraction durch die gerichtlichen Verfolgungen zugefügt wurde, traf die Lassalleanische Seite durch den Rücktritt Schweitzer’s. Weshalb der gewandte und kluge Mann plötzlich die Hand von dem Pfluge zog, den er ein halbes Jahrzehnt mit bemerkenswertem Geschicke geführt hatte, ist noch nicht hinlänglich aufgeklärt; ein geistreicher Abenteurer, wie er war, fand er vermuthlich das ganze Treiben nach den zerschmetternden Schlägen von 1870 zu hoffnungslos und zu thöricht. Jedenfalls ist die Annahme, daß er ein bestochener Agent des Fürsten Bismarck war, eine lächerliche Einbildung, so weit sie ihn selbst, eine böswillige Verleumdung, so weit sie den Reichskanzler betrifft.

Zwar wenn man Liebknecht und Genossen reden hört, so ist die Sache „bewiesen“ und „notorisch“. Aber man frage nur nicht wie? Erst die letzten Wochen haben wieder einen schlagenden Beweis dafür geliefert, daß mit gleichem Recht das Gleiche in Betreff Liebknecht’s selbst bewiesen werden könnte. Was als Hauptgrund für Schweitzers Achselträgerei angeführt wurde, war seine maßvolle Haltung im Norddeutschen Reichstage; eben dies „Parlamenteln“ erklärte Liebknecht für „Verrat“ in einer noch gedruckt vorliegenden Flugschrift, in welcher er selbst den nackten Waffenaufruhr predigte. Inzwischen sind zehn Jahre in’s Land gegangen, und die Dinge haben sich mannigfach geändert. Heute versucht Liebknecht im Reichstage so maßvoll zu sprechen, wie es Schweitzer seiner Zeit that; dagegen ist Hasselmann, der damalige Adjutant Schweitzer’s, in die abgelegte Garderobe Liebknecht’s gefahren; er verurtheilt, geradezu mit denselben Worten, das „parlamentarische Geschwätz“ als unnützen Zeitverderb, verkündet schauerliche „Thaten“ des Proletariats und wird eben darauf hin von Liebknecht öffentlich beschuldigt, daß er vom Fürsten Bismarck bezahlt werde oder doch bezahlt zu werden verdiene. Man sieht, diesen Gerechten müssen alle Dinge zum Besten dienen. Aber von zwei Dingen Eins! Entweder hatte Liebknecht gegenüber Schweitzer Recht – dann handelt er heute, oder er hat gegenüber Hasselmann Recht – dann handelte er vor zehn Jahren als agent provocateur. Ein moralischer Selbstmord dieses Calibers wird einstweilen schwerlich als vollgültiger „Beweis“ dafür angesehen werden können, daß der große Staatsmann des deutschen Reichs sich die communistische Landplage mit schwerem Gelde großgezogen hat.

Am lächerlichsten von Allem ist, wenn Hasselmann von jener Seite vervehmt wird, weil er sich mit den französischen Communards in dieselbe Reihe stellte. Auch hierin ist er nur der plumpe Nachahmer viel keckerer Vorgänger. Im Mai von 1871, in denselben Tagen, da ein Flammenmeer über der prächtigsten Stadt des Erdballs zusammenschlug und ein Schrei des Entsetzens durch die gesittete Welt scholl, verkündete Bebel feierlich von der Tribüne des Deutschen Reichstages, daß die deutsche Socialdemokratie die moralische Verantwortung für alle Thaten des französischen Aufstands übernähme. Damals war eben nichts mehr zu verlieren; man konnte nur noch versuchen, arglose und unerfahrene Arbeiter über die moralische und politische Zerrüttung der Partei zu

[421]

Motiv aus dem Hasbruch.
Originalzeichnung von F. Presuhn.

[422] täuschen, und man glaubte diesen Zweck dadurch am sichersten zu erreichen, daß man keine Spur von Reue verrieth, sondern die alten demagogischen Trümpfe womöglich verzehnfachte.

Leider trog diese dreiste Rechnung nicht. Das einfache und unbefangene Gemüth der großen Masse mag nichts vom Schwanken und Zweifeln wissen; es verlangt greifbare Gewißheit, und nur zu leicht imponirt ihm jene hartnäckige Frechheit, welche, ohne auch nur mit den Wimpern zu zucken, Schwarz für Weiß und Weiß für Schwarz erklärt. Man kann sagen, daß vom Tage des Friedensschlusses mit Frankreich an die socialdemokratische Bewegung sich wieder hob, anfangs langsam, dann schneller und immer schneller. Freilich: die emsige Sorgfalt der Führer vermochte nur die noch matt flackernde Flamme zu hüten und zu schüren, daß sie nicht völlig verlösche; außerhalb ihrer Macht lag, sie weiter zu leiten, sodaß sie mit gieriger Zunge sich immer tiefer in den edlen Leib des Vaterlandes fraß. Diese Wirkung entsprang, wie immer in solchen Fällen, anderen Ursachen allgemeiner Natur.

Außer jenen Umständen, welche bereits früher als maßgebend für die Entstehung der deutschen Socialdemokratie angeführt worden sind, trat namentlich ein verhängnißvolles Moment hervor, dessen Einfluß auf die sociale Vergiftung unseres nationalen Lebens gar nicht hoch genug angeschlagen werden kann: jene niederträchtige Gründer-, Schwindel- und Wucherperiode, die auf den französischen Krieg folgte wie ein freches Satyrspiel auf eine erschütternde Tragödie. Zunächst freilich schien dieses Treiben nicht ungünstig auf die Lage der unteren Volksschichten zu wirken; es führte unausweichlich zu mehr oder minder erheblichen Lohnerhöhungen. Nicht nur daß die Arbeitgeber geneigter dazu waren, weil ihr eigener Verdienst erheblich wuchs, sondern die starke, anscheinend gar nicht zu befriedigende Nachfrage nach Arbeitern trieb die Löhne schon von selbst in die Höhe.

Aber es haftet nun einmal wie ein unauslöschlicher Fluch an solchem Katzengolde; das uralte Loos unseres bedürftigen und gebrechlichen Geschlechtes will, daß nur die langsam reifende Frucht mühsamer Arbeit den Menschen gedeiht. Jener günstige Umschwung trat viel zu schroff und unvermittelt ein, als daß die Arbeiter von ihm zunächst nicht hätten berauscht werden sollen, und ehe sie sich noch ernüchtern konnten, kam schon der Krach, welcher sie nun doppelt und dreifach unzufrieden machte, weil einerseits ihre Bedürfnisse erheblich gestiegen waren, und andererseits die Löhne meist noch tief unter die Grenze sanken, welche sie vor der Schwindelperiode eingehalten hatten.

Man braucht sich nur die tausendfältigen Wirkungen eines so jähen Auf- und Niederganges in den arbeitenden Classen vorzustellen, um zu erkennen, eine wie unverwindliche Einbuße das in ihnen vorhandene Maß von Fleiß und Kraft, von Geduld und Treue, von Einsicht und Ueberlegung erleiden mußte, das heißt wie leicht nunmehr die herrliche Verheißung eines süßen Schlaraffenlebens unheimliche Gewalt aber ihre Seelen gewinnen konnte. Diese Gefahr war um so drohender, als es sich bei der ganzen Erscheinung nicht sowohl um die moralische Verwilderung der einzelnen Arbeiter, als um die socialpolitische Zerrüttung der Arbeitermasse handelte. In ersterer Beziehung ist außerordentlich viel übertrieben worden; die besitzenden Classen haben nur zu oft in pharisäischem Hochmuthe es vorgezogen, über die Splitter im Auge der Arbeiter zu schelten statt den Balken im eigenen Auge zu sehen; jene Maurer, die einmal in einer Droschke auf ihren Arbeitsplatz gefahren sein, oder jene Steinträger, welche einmal Austern und Sect gefrühstückt haben sollen, sind in unbilliger Weise zu Tode gehetzt worden. Solchen zweifelhaften Reportergeschichten steht eine Reihe von Thatsachen gegenüber – beispielsweise wurde im Jahre 1872 die kolossale Summe von 83,6 Millionen Thaler in die preußischen Sparcassen neu eingelegt – welche es in hohem Grade wahrscheinlich macht, daß die Lohnerhöhungen der Schwindelperiode wenigstens zu einem erheblichen Theile von den einzelnen Arbeitern in ehrenwerther und nützlicher Weise verbraucht worden sind.

Ganz anders steht es mit den socialpolitischen Wirkungen dieser Zeit auf den Arbeiterstand als solchen. Gerade in seinen einsichtigsten und vorgeschrittensten Elementen entwickelte sich ein Selbstbewußtsein und eine Siegeszuversicht, die gar keine vernünftigen Schranken mehr kannten. Nicht zufrieden mit den erreichten Erfolgen, wollten die Arbeiter sich einen noch immer höheren Antheil an dem nationalen Gesammteinkommen erringen, und sie wählten für diesen Zweck das sehr zweischneidige Mittel der Arbeitseinstellungen.

An diesem Punkte setzte die communistische Demagogie ein. Sie benutzte die Strikes gleichsam als Canäle, um den in unzähligen Rinnsalen durch die arbeitenden Classen sickernde Strom der Leidenschaften in eine gemeinsame Richtung zu lenken und auf ihre eigenen Mühlräder zu treiben. An sich steht die Arbeitseinstellung in unheilbarem Widerspruche mit ihrem unfehlbaren Credo, ein Satz, der namentlich von Lassalle wieder und wieder mit größtem Nachdrucke betont wurde. Und in der That – wenn das „eherne Lohngesetz“, das heißt die Beschränkung des Arbeitslohns auf den nothwendigen Lebensbedarf des Arbeiters, in der modernen Gesellschaft unabänderlich herrschen soll, was kann der Versuch, durch Einstellung der Arbeit den Lohn zu erhöhen, anders erzielen, als daß die Arbeiter sich das schmerzliche Joch höchstens noch tiefer in den Nacken drücken? Deshalb rieth Lassalle, so viel er konnte, stets von Arbeitseinstellungen ab.

Gewissenloser, als er, verfuhren seine kleineren Nachfolger. Sie waren sich zwar vollkommen klar über die verhängnißvollen Wirkungen systematischen Strikens, aber sie wußten auch, daß die Arbeitseinstellung nächst dem Bürgerkriege die heftigste Form des inneren Zwistes darstellt, daß sie, wie kein anderes Mittel, geeignet ist, unversöhnliche Feindschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitern zu säen oder, wie die Agitatoren es nannten, das „Classenbewußtsein“ der letzteren zu fördern. Natürlich sind aber Strikes nur möglich unter Arbeitern derselben Gewerbe, und so hatten beide Secten der deutschen Socialdemokratie sich schon vor 1870 bemüht, ihre Anhänger „behufs planmäßiger, zusammenhängender Organisation der Strikes“ je nach den einzelnen Gewerken zu sondern.

Diese Gewerkvereine socialdemokratischer Richtung nahmen einen gewaltigen Aufschwung, als während der Schwindelperiode das Strikefieber in breiten Schichten des Arbeiterstandes ausbrach. Sie kamen der thörichten Leidenschaft schmeichelnd entgegen und waren bereit, jede Arbeitseinstellung zu unternehmen, wie aussichtsvoll oder wie aussichtslos sie immer war. So wurden sie außerordentlich ergiebige Werbeplätze für die Partei des Umsturzes. Unzählige Arbeiter, welche sich ihnen zunächst nur aus Strikelust anschlossen, blieben in ihren Netzen hängen, ob nun die einzelne Arbeitseinstellung glückte oder nicht. Im erstere Falle fesselte sie Uebermuth, in letzteren Verzweiflung an ihre neue Freunde; ist es doch ein unerreichbarer Vortheil, den eine revolutionäre Arbeiterpartei vor allen anderen Parteien hat, daß der Rausch wie der Katzenjammer gleich erfolgreich für sie werben.

Unter solchen Um- und Zuständen gewann die socialdemokratische Partei binnen weniger Jahre nach 1870 einen viel breitere Boden in Deutschland, als sie je vorher gehabt hatte. Während das öffentliche Urtheil sich vielfach in der alten Selbstverblendung wiegte und von ihrem „Rückgange“ träumte, warf sie bei den Reichstagswahlen vom 10. Januar 1874 Zahlen auf den Tisch, die ihr gestatteten, grimmigen Spott über ihre kurzsichtigen Gegner auszuschütten. Sie gewann neun Reichstagssitze und gelangte in elf Wahlkreisen zur engeren Wahl. Noch glänzender trat ihr Triumph hervor, wenn man die Zahl der Stimmen musterte, welche sie davongetragen hatte; es waren ihrer nicht weniger, als – in runder Summe – 340,000, mehr als sechs Prozent aller gültig abgegebenen Stimmen.

Dieser namhafte Wahlerfolg pflückte für die Partei aber noch eine andere Frucht, welche an Werth ihn selbst fast übertraf: er schenkte ihr nämlich den inneren Frieden. Schon seitdem Schweitzer in’s bürgerliche Leben zurückgekehrt war, Bebel und Liebknecht in Hubertusburg ihre Strafe absaßen, hatte der ewige persönliche Krakehl erheblich nachgelassen; man schimpfte wohl noch auf einander, aber der echte und rechte Demagogenneid fehlte, der solch elendes Gezänk auf die Dauer allein gedeihen lassen kann. Mit der Minderung der persönlichen Kämpfe wuchs aber zugleich die sachliche Annäherung der beiden Flügel. Die Lassalleanische Secte hatte unter den unfähigen Nachfolgern Schweitzer’s ihren eigentümlich nationalen Charakter nach und nach verloren; sie war mehr und mehr in das Fahrwasser des internationalen Arbeiterbundes geglitten; von neuem bewährte sich die Erfahrung, daß in revolutionären Parteien die wüthendere regelmäßig über die gemäßigtere den Sieg davonträgt.

Nun kamen die Wahlen, und auch das blödeste Auge mußte [423] erkennen, daß, wenn die Partei eine so ansehnliche Macht erworben hatte, es das ABC aller politischen Taktik erheischte, daß man die volle Kraft gegen den gemeinsamen Gegner richte, statt sich gegenseitig in häuslichem Zwist lahm zu legen – dies um so mehr, als die Gegner gar keinen Anstand nahmen, die feindlichen Brüder über einen Kamm zu scheeren; alsbald nach den Wahlen verfolgten die Polizeibehörden und Staatsanwaltschaften mit gleichem Eifer die Anhänger von Lassalle wie diejenigen von Marx. Nichts eint so sehr, wie gemeinsames Leid; das gegenseitige Mißtrauen schwand, und der Verschmelzung beider Fractionen stand kein ernstliches Hinderniß mehr im Wege.

Diese Verschmelzung fand nach mancherlei Verhandlungen im Mai 1875 auf einem Parteicongresse zu Gotha statt. Man kann dabei eigentlich weniger von einer Vereinigung, als vielmehr nur von einer völligen Aufsaugung der Lassalleanischen Secte durch den deutschen Zweig des internationalen Arbeiterbundes sprechen.

Obgleich jene 15,000 dieser nur 9000 aus dem Congresse durch Abgeordnete vertretene Anhänger musterte, so enthielt das neue Programm der Gesammtpartei doch kaum noch die leiseste Spur von den Gedanken Lassalle’s, dagegen enthüllte es den nacktesten Communismus in seiner ganzen Schönheit.

Mit diesem Congresse endete der zweite große Abschnitt in der Geschichte der deutschen Socialdemokratie. Er umfaßte gewissermaßen die Kinderkrankheiten der Partei, von denen sie nach schwerem Ringen endlich gesundete. Hinfort konnte sie sich in ihrer schwefelgelben Glorie voll entfalten, konnte sie ihre ganze, nicht mehr durch innere Kämpfe verzehrte Kraft gegen die moderne Cultur, das reiche Erbe reicher Jahrtausende, zu Gunsten einer düsteren und ungewissen Zukunft wenden. Und volle drei Jahre hindurch hat sie diesen Kampf geführt mit einer Hartnäckigkeit und Rücksichtslosigkeit, wie sie in der modernen Culturgeschichte bisher ohne Beispiel sind.




Der Hasbruch.
Ein deutsches Waldbild.
Von Ferdinand Lindner.

So schwierig es ist, den Charakter eines Volkes im Allgeinen zu bestimmen, so leicht lassen sich einzelne Eigenthümlichkeiten desselben herausfinden. Von denjenigen, welche bei uns Deutschen in Frage kommen, nimmt die Liebe zum Walde eine hervorragende Stelle ein. Unser Wald! Welches deutsche Leben wäre so arm, daß es nicht eine erquickende Stunde reinen Frohsinnes im Schatten unseres Waldes sein nennen könnte! Aber auch die antike Welt, wenngleich sie in der Auffassung des Waldes durchaus nicht die Innigkeit der unserigen erreicht, hat uns doch in der Sage von den Hainen, an deren Gebiet die Furien ihr Opfer verlassen mußten, eines jener goldenen Bilder hinterlassen, welche noch heute das kostbare Erbtheil unseres Phantasielebens bilden. Wer hätte nicht schon in tiefster Seele die Wahrheit dieser Sage empfunden, wenn er, die Sorgen des Tages in der Brust, zum Walde kam, dessen Bäume ihm tröstend ihre Aeste entgegenstreckten und mit ihrem Blätterdache wie ein Asyl winkten, das mit der Abwehr der Sonnengluth zugleich Sänftigung und Kühlung für das heiße Herz versprach!

Ein Freund der Seele, ein Arzt des Körpers, ein Segenspender unserer Aecker – was ließe sich Alles vom Walde sagen – doch sind das Dinge allgemeinen Werthes, auch dem Angehörigen jeder andern Nation verständlich. Das Band aber, welches den Deutschen mit seinem Walde verbindet, ist ein viel engeres – es schlingt sich in die Tiefen seines ganzen Denkens und Fühlens und vererbt sich von Geschlecht zu Geschlecht; denn die Geschichte seines Volkes knüpft allenthalben an den Wald an. Wie sich in den Nebeln, welche über den deutschen Wäldern lagerten, der Blick des Geschichtsforschers verliert, bis ein ernster Römer den Schleier lüftet und uns ein Volk zeigt, das in, mit und durch den Wald lebt, an Sitten rein wie die Natur, die es umgiebt, so beginnt auch unser Eintritt in die große Weltgeschichte mit einer riesenhaften entscheidungsschweren Waldschlacht, und das Christenthum führt sich bei uns ein, indem es als Symbol, daß ein neuer Glaube in die Wälder einziehe, Axt und Feuer an die heiligen Bäume legt. Und unsere Sage, tritt sie nicht vor uns, ausgestattet mit allem Zauber des Waldes; sind die Gaben, welche unser Märchen mit blauem Auge und lachendem Kindermunde uns darbietet, sind sie nicht zwischen den Farren und Kräutern des Waldes gesammelt? Allenthalben, wir mögen blicken, wohin wir wollen, ragt diese grüne Welt in unser nationales Leben herein – tragen doch selbst jene vierundzwanzig modernen Gnomen, welche die Schätze unseres Wissens geschäftig aller Welt vermitteln, die Buchstaben (d. h. Buchenstäbe) – tragen doch auch sie in ihrem Namen die Reminiscenzen des Waldes und eines seiner schönsten Geschlechter. Darum – wer mit uns einstimmt in „das hohe Lied vom Walde“, der wird uns heute mit Freuden in einen ehrwürdigen heiligen Hain begleiten, den ältesten und schönsten, der seines Gleichen nicht hat in ganz Deutschland.

Nicht weit von da, wo die Oldenburger Geest in der Nähe der alten Cisterzienser-Abtei Hude an die Marsch grenzt, liegt mitten in Waldungen jüngeren und jüngsten Datums wie ein Allerheiligstes der Hasbruch. Gewöhnlich pflegt man ihn mit dem Namen eines Urwaldes zu bezeichnen, doch ist er dies nicht, insofern man als Charakteristikum eines solchen die wildverschlungene Mannigfaltigkeit landschaftlicher Scenerie auffaßt. Diese Bezeichnung kommt vielmehr dem Neuenbürger Urwald zu, der, gleichfalls einzig in seiner Art, hauptsächlich das malerische Element vertritt, während der Hasbruch einen friedlichen, durchaus historischen Charakter trägt.

Ursprünglich war der Hasbruch wohl ein heiliger Hain, der wahrscheinlich noch größere Ausdehnung hatte als heute; denn im weiten Umkreise des gegenwärtigen liegen viel Opfersteine und Hünengräber, „de groten Steene“, wie sie die Leute dort nennen. Ja, daß er unter demselben Namen, unter dem wir ihn heute noch kennen, in historisch überlieferter Zeit eine mehr als gewöhnliche Bedeutung genoß, beweist seine Erwähnung durch Karl den Großen im Jahre 786, der ihn als Grenze für das Bremer Gebiet nach Nordwesten bestimmte – er heißt in der Urkunde: Aschbrouch.

Unter dem Schutze ihres geweihten Ansehens mögen die Bäume nun erstarkt und bereits zu so gewaltigem Umfange gelangt sein, daß nur bei Vereinigung von Arbeitskräften die aufgewandte Mühe dem Nutzen des Weghauens entsprechen konnte. Aber die Höfe lagen, wie zum größten Theile noch heute, vereinzelt umher, und jeder kümmerte sich nur um sich. Danach kamen die herrschenden Grafengeschlechter und nahmen den Wald als ihren Jagdgrund in Anspruch – und da braucht wohl nicht hinzugefügt zu werden, daß derselbe nun erst recht verschont blieb. Und als nun endlich in neuerer Zeit eine ernste Gefahr durch die rationelle Forstwirthschaft drohte, da war inzwischen die Zeit der Romantik. herangekommen – der Sinn für Naturschönheit und die Verehrung für unsere Vorzeit hielten Axt und Säge zurück.

Aber für weitere Kreise des Publicums wurde der Hasbruch eigentlich erst gegen die Mitte unseres Jahrhunderts neu entdeckt; Kohl erzählt darüber folgende hübsche Geschichte. Der oldenburgische Maler Willers hatte nach Studien aus dem Hasbruch gemalte Eichenbilder in München ausgestellt, wo sie der König Ludwig sah; dieser wollte jedoch durchaus nicht glauben, daß solche fabelhafte Eichen in Wirklichkeit existirten. Die Sache interessirte ihn aber doch so, daß er seinen Hofmaler in den Hasbruch schickte, um sich von der Wahrheit zu überzeugen – dieser mußte natürlich die Angaben Willers’ vollinhaltlich bestätigen. Von da ab wurde der Hasbruch zu einem vielbesuchten Punkte; Fürsten und Künstler kamen hin, und in den Werkstätten unserer Landschaftsmaler werden wir oft alten Bekannten aus dem Hasbruch begegnen.

In der That, demjenigen muß das Herz zu und der Sinn todt sein, der beim Eintritt in diesen ehrwürdigen Wald nicht den Schauer empfindet, der uns in den feierlichen Räumen eines Domes zu erfassen pflegt. Ein geheimnißvolles Halbdunkel empfängt uns, das sich weiterhin in den Wald zu tiefer Nacht verdichtet – nur hier und da, soweit der Blick vorzudringen vermag, bricht durch das dichte Laubdach, wie durch bemalte

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„De holle Eek“ (die hohle Eiche) im Hasbruch.
Nach einer Skizze von F. Lindner.

Kirchenfenster, ein gedämpfter warmer Lichtstrahl der die tiefen Schatten daneben nur noch heimlicher erscheinen läßt, ja auf vielen Strecken erreicht der scharfe Wechsel zwischen Dunkelheit und Licht einen solchen Grad, daß man buchstäblich bei hellem Tage Mondscheineffecte vor sich hat.

Wesentlich tragen zu der absonderlichen Beleuchtung des Hasbruch die Hain- oder Kopfbuchen bei, die sich allenthalben, um die Eichen geschaart oder für sich einen kleinen Hain bildend, vorfinden; sie verdanken ihre wunderlichen Formen zum nicht geringen Theil – Napoleon dem Ersten. Die Sache ist ganz einfach: während der napoleonischen Invasion hatte allmählich jede Forstverwaltung aufgehört, und die Landleute in der Nähe des Waldes machten sich das zu Nutze, da sie aber den alten Riesen nicht gut beikommen konnten, hielten sie sich an die Hainbuchen. Diese haben bekanntlich die Eigenschaft, je mehr sie oben abgehauen werden, desto mehr vielgestaltige Triebe anzusetzen, und so finden wir hier eine phantastische Gesellschaft voll der eigenthümlichsten, oft ganz gespenstischen Formen beisammen: hier einen Candelaber, auf dem die neuen Schößlinge wie Kerzen aufsitzen, dort ein vielköpfiges Ungeheuer, das wie zum Sprunge geduckt am Boden hinkriecht, dann wieder einen hochgereckten Stamm, der drohend einen langen Arm mit geballter Faust hinausstreckt oder drei, vier Arme über dem Kopfe zusammenschlägt, Drachen, fabelhafte Wesen, dazu die Stämme und Aeste zum Theil mit Epheu und Moos bedeckt oder durch breite Risse gespalten.

Auf der westlichen Seite des Hasbruch hat, wie bei allen niederdeutschen großen und kleinen Wäldern, der Nordweststurm gehaust und einen Windbruch von großartiger Romantik hervorgebracht. Gleich im Anfang treffen wir auf eine unter einem durchbrechenden Sonnenstrahle magisch schimmernde umgebrochene Hainbuche, die, mitten aus einander gespalten, mit der einen morschen Hälfte aufrecht steht, mit der andern am Boden liegt, wo sie zwischen Stechpalmen fortgrünt; weiterhin ist der Sturm Sieger über einen jener Riesen geblieben, der im Sturze das ganze Terrain mit allem, was an Büschen und Bäumchen daraufstand, rings um sich mit herausgerissen hat: da und dort liegen

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Die Amalien-Eiche im Hasbruch.
Nach einer Skizze von F. Lindner.

verstreut heruntergebrochene Aeste, die, zum Theil von Rinde entlößt, Ueberresten vorweltlicher Riesenthiere gleichen.

Uebrigens sind die Kronen fast aller Eichen des Hasbruchs gebrochen, mit ganz wenigen Ausnahmen (z. B. der Friederikeneiche), aber weit entfernt, den Eindruck zu beeinträchtigen, erhöht dieser Umstand vielmehr das Bild der Großartigkeit – es sind die Fußstapfen der Jahrhunderte, welche mit ihren Stürmen darüber hingezogen sind. Auf Lichtungen stehen, dem Sturme am meisten ausgesetzt, graue verwetterte Gesellen, welche oft einen geradezu tragischen Anblick gewähren – zerzaust, zerspalten, mit zersplitterten Aesten aber fest im riesigen Stamme und das greise Haupt noch von einer spärlichen Locke grünen Laubes umweht.

Auf weichem Moosboden, in dem wir bis an die Knöchel versinken schreiten wir weiter; freilich, wenn die Zeit kommt, wo der herbstliche Himmel neugierig hineinschaut in die sonst dunklen Waldecken, wenn die Niederschlage beginnen, dann ist für den menschlichen Fuß hier kein Pfad und selbst zu Pferd schwer durch den Morast des Bodens zu gelangen; manche Stellen des Hasbruch trocknen selbst im Sommer nur bei sehr anhaltender Hitze aus; in der nassen Jahreszeit aber bildet der größte Theil einen schwer zugänglichen Sumpf.

Je tiefer wir in den Wald gelangen, desto mehr der alten Riesen tauchen um uns auf, theils aus den Büschen mit breiten Schaltern sich vordrängend, theils aus dem Moosteppich frei und hoheitsvoll auf mächtigen Wurzelknollen emporsteigend; immer feierlicher wird es rings umher. Da sind sie, die schon standen, ehe ein Karl der Große seine Waffen in diese Länder trug, und noch stehen werden, wenn die Geschichte unseres großen Jahrhunderts schon aus ferner Vergangenheit leuchtet. Während draußen die veränderliche Welt ihre bunten Kreise zog, setzten sie gelassen Ring an Ring im geheimnißvollen Zwielicht des Urwaldes; die Opferfeuer sahen sie erlöschen, die alten Götter fortziehen über das graue Meer in die Dämmerung der nordischen Heimath, fortziehen vor dem neuen Gotte aus dem fernen Morgenlande; sie sahen der Menschen Geschlechter kommen und gehen, Jahrhundert um Jahrhundert über die Erde schreiten, und immer noch setzten [426] sie Ring an Ring; selbst die Blitze des Himmels vermochten ihnen nur tiefe Narben in die mächtigen Leiber zu schlagen, der Sturm nur ihre Kronen zu brechen; immer noch stehen sie unentwegt, und voll Scheu blicken wir zu den Ehrwürdigen empor.

Der Deutsche vergleicht deutsches Leben gern der Eiche; sie hauptsächlich ist ihm der nationale Baum, und ein tiefer Sinn liegt diesem Vergleiche zu Grunde: wie ein eigenwilliger, eigensinniger Individualismus, im Einzelnen wie im Stamme, den Deutschen charakterisirt und ihm zum Segen wie zum Unheil geworden ist, so giebt es allerdings keinen Baum, der diesen Charakter in höherem Grade sein Eigen nennen könnte, als die Eiche; jede Wurzel, jede Furche des Stammes ist ein Charakter; jedes Blatt hat seine krause Eigenart; jeder Ast springt in eigensinnigen, trotzigen Windungen vom Stamme ab. Die Aufgabe, einen ganzen Wald solcher uralter Charaktere schildern zu wollen, wäre unmöglich zu lösen; wir müssen uns darauf beschränken, Einzelnes herauszuheben, und hier stehen wir wieder rathlos vor dem mächtigen Reichthume an Formen und Gestaltungen rings um uns: Wurzeln, bald wie eine Riesenklaue in den Boden geschlagen, bald wie eherne Pfeiler den Stamm stützend, bald wie ein aufbäumendes Thier scheinbar daran emporkletternd; Stämme in allen möglichen Formen, mit tiefgefurchter, von Rillen zerrissener Rinde, zwischen den Streifen derselben Knorren, alte Astansätze, Aststumpfe, auf denen neuer Samen Wurzel geschlagen, oder klaffendschwarze Höhlungen, aus denen der Sturm den Ast mit Stumpf und Stiel gebrochen hat. Ganz besonders wunderbar aber gestalten sich die Risse, welche durch den Frost oder anderweite Verletzungen der Epidermis entstanden sind und um welche Jahrhundert auf Jahrhundert eine neue Schicht gelagert hat, sodaß sie jetzt als Wülste erscheinen, die eingesprengten Felsblöcken gleichen. Interessant ist es übrigens, daß die hier und da herabhängenden Stücken der Epidermis, so lange sie, wenn auch nur durch ein schwaches Band, mit dem Stamme zusammenhängen, Jahrhunderte lang der Fäulniß widerstehen, während sie, losgelöst, binnen weniger Jahre zerfallen.

Und nun das Astwerk! Indem die Eiche immer die Entwickelung der Nebenknospe begünstigt, entstehen jene fabelhaften phantastischen Bewegungen und Verschlingungen der Aeste, die wir schon an jeder einzelnen Eiche bewundern – man denke sich nun die wilde Mannigfaltigkeit in diesem knorrigen Eichenhaine!

Hier bäumt sich ein Ast hinaus und greift dann, plötzlich geradeaus schießend, in das Astwerk des Nachbars; dort wächst ein anderer in sanfter Biegung aus dem Stamm hervor, neigt sich hinunter zu den schmeichlerisch emporrankenden Brombeerbüschen und springt dann plötzlich mit höhnischem Schwunge steil nach oben, wo ihn ein Nachbar in den tollsten Schlangenwindungen förmlich anzufallen scheint. Ganz besonders malerisch sind die kahlen, von jeder Rinde entblößten und oft fast blank polirten Aeste, welche wie die Knochen eines Gerippes, ein Bild des Todes, aus dem frischen, lebendigen Grün hervorragen. Ein großer Theil derselben ist hohl; manchmal fährt man erschrocken herum; denn dicht hinter Einem ertönt ein laut durch den Wald schallendes Klopfen – aber nichts ist zu sehen. Da ertönt es wieder, und nun entdecken wir zu unserem Erstaunen, daß ein winziger Specht das Geräusch hervorbringt; der Ast, auf dem er hämmert, ist durch und durch hohl, und seine Wände sind so dünn, daß er bei seinem gewaltigen Umfange wie ein riesiger Resonanzboden das schwache Picken des Vogels als lauten Schall weit hinaus in den Wald sendet.

Neben den kraftstrotzenden Bäumen aber stehen die Stumpfe sterbender und abgestorbener voll melancholischer Poesie. Gleich dem Menschen, welcher die sterblichen Ueberreste der Seinigen mit Blumen zu schmücken pflegt, hat die Natur ihre modernden Kinder mit einem lieblichen Geranke von Epheu, wilden Rosen, Brombeergebüschen und Farrenkräutern umwoben; ringsum in weitem Umkreise liegt dann roth und braun ausgestreut der sogenannte Ulm, die Asche dieser Riesen, der, wenn ihn ein verlorener Sonnenstrahl trifft, in der tiefumschatteten Umgebung wie glühende Kohlen leuchtet. Wunderbar gestaltet sich der Eindruck, wenn die inwendig durchaus hohl gewordenen Bäume noch aufrecht stehen. Die schönste dieser Art ist „de holle Eek“, welche unser Bild zeigt, ein Baum von ungewöhnlich interessanten Formen, dessen bis in die Aeste hinaufragender weitklaffender Spalt in das Innere wie in eine Höhle blicken laßt. Um den riesigen Umfang dieses Baumes ganz zu würdigen, muß man wissen, daß das Innere desselben nicht weniger als acht Personen zu beherbergen vermag.

Zur weiteren Erläuterung der Größenverhältnisse der Hasbruchbäume diene noch folgende heitere Geschichte, welche einem Bauer aus der dortigen Gegend passirte. Diese Bauern haben nämlich das Weiderecht in dem Walde; bald begegnet man einer Stute, die mit ihrem Füllen die duftigen Waldkräuter abgrast, bald Kühen, einzeln oder in einem Trupp, welche den Fremden mit großen Augen anblicken und sich ihm neugierig nähern, um bei der ersten Bewegung desselben mit hochgehobenem Schwanze in den Wald hinein zu galoppiren. Alle haben Glocken um den Hals, wenn man die alten klappernden Blechbüchsen so nennen darf; sinkt die Sonne, so hört man sie von verschiedenen Seiten wie auf Verabredung den heimathlichen Höfen zueilen. Es sind dies auch die eigentlichen thierischen Bewohner des Hasbruch; denn Wild giebt es dort keines mehr; nur das Geschlecht Reinecke ist zahlreich vertreten, und dann und wann sieht man einen Bussard mit breitem Flügelschlage gleich einem dunkeln Schatten durch den Wald streichen. Eine jener Kühe nun kam eines Abends nicht mit nach Hause, und der Besitzer machte sich andern Tags daran, sie zu suchen, aber vergeblich; kreuz und quer durchforschte er den Hasbruch – er fand sie nicht; ihre Spuren verloren sich in der Nähe eines jener umgestürzten Riesen. Manchmal hatte er schon ein sonderbares Getön gehört; jetzt erklang es unmittelbar vor ihm, als käme es aus dem Baume heraus; er spähte hinein, und siehe da, in dem hohlen Stamme, ziemlich weit drinnen, knieete die Kuh wie eine büßende Magdalena – Gott weiß, welcher Versucher das „fußnachschleppende Rindvieh“ dahinein gelockt hatte. Kurz, sie war darin, und was das Schlimmste, man konnte sie in keiner Weise aus ihrem Gefängnisse erlösen; es blieb also nichts übrig, als ihr Futter und Wasser, durch Einkriechen von der andern Seite des Stammes darzureichen und sie dann herauszusägen.

Der gewaltigste Baum des Hasbruch ist die sogenannte „dicke Eiche“. Ihr Umfang beträgt zehn Meter; von den Aesten könnte jeder wieder als ein respektabler Baum gelten, und als einmal einer derselben herunterbrach, hatten vier Pferde Mühe ihn vom Platze zu bringen. Der Baum ist durch eine Hecke eingehegt, und nebenan sind Sitzbänke angebracht; denn der Hasbruch ist das beliebte Ziel der Bremer Sonntagsausflüge. Doch giebt es noch eine stattliche Reihe von Bäumen, welche diesem an Umfang nahe kommen; die sieben-, sechs- und fünfmetrigen, welche in anderer Umgebung als gewaltige Exemplare angestaunt werden würden, bilden nur so den Troß, den Mittelschlag.

Die schönste jedoch von allen Hasbruch-Eichen, die imposanteste, malerischste und zugleich diejenige, welche die hervorragendsten Eigentümlichkeiten in sich vereinigt und so gewissermaßen als Typus gelten kann, ist die Amalien-Eiche – so benannt nach der Prinzessin des großherzoglichen Hauses, der nachmaligen Königin von Griechenland. In seinem Umfange steht dieser Baum der dicken Eiche nicht nach, besser aber als jede Maßangabe wird ein Blick auf unsere Illustration und ein Vergleich des Stammes mit den nebenan stehenden Kühen – ausgewachsenen, großen Exemplaren – die ungeheuere Dimension veranschaulichen. Welch ein Baum! Die Wurzeln wie für ein Jahrtausend gegründet, der Stamm kraftstrotzend und doch von edeln Linien. Als jene Eichel, aus welcher dieses Wunderwerk der Natur emporwuchs, von dem Aste an dem sie saß, in den feuchten Moosboden hinabfiel – da war es vielleicht um jene Zeit, als Gunther, der König des Nibelungenliedes, seinen Namen unter die lex Burgundionum setzte; als jener Riß, den wir noch heute als Scharte auf dem mächtig darüber gewachsenen Wulste erblicken, sei es durch den Frost einer Maiennacht, sei es durch das Horn eines Wisent, entstand – da war es vielleicht um die Zeit, da Kaiser Rothbart in den Kyffhäuser hinabstieg, und als der erste zarte Keim zu jenem Aste ansetzte, der jetzt kahl und todt aus dem Laube hervorragt – da erschallten vielleicht die Hammerschläge an der Kirchthür zu Wittenberg – und – wenn diese Eiche einst auch ein zerfallender Stumpf ist, über den die Büsche ihre Ranken schlingen, dann wird wieder ein halbes Jahrtausend verrauscht sein – und Menschen werden leben, die unser gedenken als eines längst verschollenen Geschlechtes.

Den Leser möchte gegenüber dem Gesagten ein Zweifel beschleichen, ob wir uns mit dem riesigen Umfange der Zeiträume, mit denen wir rechnen, nicht einiger Uebertreibung schuldig gemacht hätten. Eine genaue Messung möge beweisen, daß wir [427] noch lange nicht weit genug gegangen sind. Als einmal eine der größeren Eichen umgehauen wurde, nahm der Oberförster eine Zählung der Jahresringe vor, setzte sie da, wo das bloße Auge nicht mehr unterscheiden konnte, mit der Lupe fort und erhielt eine Summe von elfhundert Jahren – ein Resultat, das mit den amtlichen Messungen anderer Bäume übereinstimmte – nun war aber die Eiche im Inneren weiterhin verfault und in der Mitte ganz hohl – der Leser mag sich da an der Hand der Chronologie selbst ein Bild vom Alter der Hasbruch-Eichen machen.

Indeß wir so bewundernd im Walde umherwandern, hat sich die Sonne dem Horizonte genähert, und es beginnt nun ein Schauspiel von überraschender Schönheit. Während sich allenthalben in den Büschen dicht um uns schon die Dämmerung eingenistet hat, beginnen jetzt über uns die Wipfel der Bäume zu schimmern und zu leuchten. Die bleichen, todten Aeste der Kronen erglühen wie zu neuem Leben, und da, wo weit drüben im Holze eine Lichtung ist oder ein stürzender Baum eine Lücke riß, ergießt sich ein siegreicher Lichtstrom in den Wald, Büsche und Bäume in feuriger Lohe entzündend; man hat ganz den Eindruck, als sähe man aus einem dunkeln Zimmer in die Thür eines hellerleuchteten Festsaales, kurze Zeit später aber, wenn die Sonne unter den Horizont sinkt, ist es, als lösche eine Geisterhand den Purpur von Wipfel und Aesten; die Dämmerung huscht an den Stämmen empor – die Dunkelheit hält ihren Einzug, und durch die Waldnacht spinnen sich Geheimnisse von Baum zu Baum.

In dem Augenblicke, da wir uns anschicken, den ehrwürdigen Hain zu verlassen, die Seele erfüllt von Eindrücken, als hätten wir einen Blick in die früheste Geschichte unseres Vaterlandes gethan – in diesem Augenblicke übernimmt es eine mächtigere Stimme, als die unsere, diesen Gefühlen Ausdruck zu verleihen: ein dumpfes Grollen dringt über den stillen Wald her – der Fremde würde es sich nicht deuten können, wir aber verstehen es – es sind die schweren Geschütze von Wilhelmshaven; wiederum dröhnt es herüber – und wie es der Abendwind einherträgt, der rauschend über die Wipfel streicht, da glauben wir den Flügelschlag des deutschen Adlers zu vernehmen – nicht, wie einst wohl, müssen wir gesenkten Hauptes den Blick niederschlagen unter diesen lebendigen Zeugen deutscher Vergangenheit, sondern stolz, als Söhne eines einigen, thatenstarken Volkes, blicken wir zu ihnen empor, und ihre Antwort bleibt nicht aus. Wie die germanischen Krieger einst ihre Schilde, so schlagen die altersgrauen Recken knarrend die Aeste zusammen, und ein Brausen geht durch die Tiefen des Waldes.


Blätter und Blüthen.

Nachfrage nach Vermißten. Die Bitte, welche wir im Jahrgang 1873 dem „Offenen Antwortschreiben“ unseres Mitarbeiters Theodor Kirchhoff in San Francisco auf S. 154 als Anmerkung anfügten, darf heute, nach sieben Jahren, ihrem ganzen Inhalte nach wiederholt werden, Der Zudrang von Nachfragen nach Vermißten übersteigt wieder alles Maß. Wenn der Erfolg derselben nur in irgend leidlichem Verhältniß zu dem Raume stände, den sie in Anspruch nehmen, so würden ja unsere Leser selbst, durch erfreuliche, familienbeglückende Mittheilungen mit Theilnahme erfüllt, die ihnen durch die Vermißtenlisten für andere Gegenstände entzogenen Spalten des Blattes gern opfern. Allein das ist nicht der Fall. Auf hundert Anfragen kommt oft nur eine Auskunft, und leider ist auch diese dann nicht immer so, daß man sie den Angehörigen mit einem Glückwunsch zusenden könnte.

Trotzalledem wollen wir den bei der Ausbreitung der „Gartenlaube“ über alle von Deutschen bewohnten Theile der Erde allerdings einzigen Weg zur Nachforschung nach Verschollenen unseren Lesern nicht verschließen, müssen dem Uebermaß des Zudrangs aber feste Schranken entgegenstellen. Vor allem bitten wir, erst die durch das Reich (das auswärtige Amt, die Gesandtschaften und Consulate) gebotenen Nachforschungsmittel in Anwendung zu bringen, ehe man zu uns damit kommt. Ferner werden wir alle Anfragen mit so ungenügenden dürftigen Angaben, daß sie einen Erfolg kaum möglich machen unberücksichtigt lassen; dasselbe geschieht mit den uns anonym zugesandten Anfragen und mit allen so undeutlich geschriebenen, daß die Namen nicht zu entziffern sind. Endlich erwarten wir, daß Diejenigen, deren Anfragen noch vor deren Veröffentlichung sich durch Auffinden der Spur der Vermißten erledigten, uns davon Nachricht geben. Für die Vermißten in Nordamerika benutzen wir nach wie vor die Umschläge der Heftausgabe der „Gartenlaube“, die dort eine bedeutende Verbreitung hat.

Eine Ausnahme gestatten wir uns aber: alten, armen Vätern und Müttern, welchen die Sehnsucht nach verschollenen Kindern die letzten Tage trübt, werden wir nie den Trost versagen, den sie in unserem Aufrufe nach denselben finden. – Daß wir auch den Behörden, welche in der „Gartenlaube“ das letzte Mittel für ihre Nachforschungen erkennen, nach wie vor gern gefällig sind, ist selbstverständlich.

Und somit beginnen wir eine neue Reihe von Vermißten. Möge sie von glücklichem Erfolge begleitet sein!

1) Ein junger Mann, deutscher Abkunft, in Kurrachee (Ostindien), Charles August Haller, fragt, ob Geschwister seines in Darmstadt geborenen und in Singapore gestorbenen Vaters, Maximilian Joseph August Haller, noch am Leben seien.

2) Eine Schwester, in Berlin, sucht ihren Bruder, den Gärtner Bernhard Schloer aus Wik bei Greifswald. Er ist allerdings schon vor 19 Jahren plötzlich aus Sayn bei Köln verschwunden, aber unter Umständen, die ihm Heimkehr und Nachrichtgeben verleiden konnten. Diese sind gehoben.

3) Der Brauer August Metzke aus Sprottau, dessen Spur 1867 Hamburg verloren ging, wird, einer Erbschaft wegen, von seinem Abwesenheitsvormund gesucht.

4) Eine Mutter sucht ihre Tochter, Josephine Bornert, geboren 1862 zu Straßburg im Elsaß. Das Mädchen nahm am 3. Februar 1877 auf dem Straßburger Bahnhof Abschied von der Mutter, um zu einer Verwandten in Neschwoog (?) zu reisen, ist aber nicht an diesem Orte angekommen und seitdem verschollen. Sie zeichnete sich durch hohe schlanke Gestalt, frische Gesichtsfarbe, helle blaue Augen und auffallend schönes blondes lockiges Haar aus.

5) Von Brüssel aus geht uns die Bitte einer Mutter zu, die ihr am 12. December 1866 in Köln geborenes Kind, Therese Josephine Ellerbroek, einer Schauspielerfamilie Schulze in Köln (Stockgasse 25) zur Erziehung übergab. Diese Familie zog später angeblich nach Wiesbaden und ist sammt dem Kinde seitdem für die Mutter verschollen.

6) Rud. Herm. Paul Mundt aus Stettin, am 16. October 1856 geboren, hat, seiner schwachen Augen wegen, kein Gewerbe erlernt, war in Hannover Packer, diente dann in Dresden bis Anfangs März 1877 in der Ostra-Allee Nr. 10, dann als Schreiber und Packer bei Kaufmann Richter in der Annenstraße, arbeitete darauf in Schlesien, zuletzt in der Eisenhütte von Sprottau, von wo er im Frühjahr 1879 abzog. Er hatte röthlich-blondes Haar, spitze Nase und Sommersprossen.

7) Kaufmann Christian Bruno Schneider aus Oederan, 1840 geboren, verließ 1876 eine Stelle (bei Fiedler und Lechla) in Chemnitz, um Süddeutschland zu bereisen, hielt sich in Stuttgart, Heidelberg und München auf und ist seitdem verschollen. Nach ihm fragt dringend seine Schwester Asta.

8) Eine Mutter sucht ihren Sohn. Georg Ries, geboren 1852 in Vacha an der Werra, nahm sich den Tod seines Vaters, des Thierarztes Dr. Ries, so zu Herzen, daß er als irrsinnig in die Heilanstalt zu Jena gebracht werden mußte. Nach zweijährigem Aufenthalt dort im Juni 1879 angeblich geheilt entlassen, ist er spurlos verschwunden.

9) Friedrich Weber, von Kulm in Böhmen, 1843 geboren, Maschinenschlosser, spricht deutsch, ungarisch und französisch, arbeitete 1863 in einer Dresdener Maschinenfabrik, dann, von 1864 an, vier Jahre im königlichen Kanonenguß- und Bohrhaus zu Augsburg, hierauf in einer Nähmaschinenfabrik in Wien, worauf er auf sechs Monate nach Serbien ging. Von Kragujevacz begab er sich 1870 über Galatz nach Salonichi, wo er am 11. Mai 1872 vom österreichischen Generalconsul eine Reiseunterstützung erhielt. Seitdem zum Kummer seines alten Vaters verschollen.

10) Wilhelm Halinke aus Wöhrden in Holstein, ein deutscher Seemann, wurde am 13. September 1872 in London von dem britischen Schiffe „Brooking“ entlassen und hat seinen alten Eltern seitdem keine Nachricht mehr gegeben.

11) Ein spurlos verschollener Gatte und Vater ist Georg Baerst aus Illkirch im Elsaß, wo er 1837 geboren wurde. Seit 1867 verheirathet und Vater von drei Kindern, lebte er als Beamter der Spielbank in Monaco in wohlgeordneten Verhältnissen, wird aber seit dem 4. März 1875 vermißt. Der Gedanke an ein Verbrechen liegt hier nahe.

12) Ein hülfsbedürftiger, nun über achtzig Jahre alter Vater zu Kappeln in Schleswig wurde früher, bis vor etwa drei Jahren, von seinen beiden Söhnen Georg und Christian Mackrodt regelmäßig unterstützt. Georg arbeitete in den Goldminen Australiens, Christian in Chicago. Plötzlich hörten von beiden Brüdern alle Nachrichten sammt den Unterstützungen für den verlassenen Greis auf. Wo sind die Brüder?

13) Der Eisenbahndirector Dr. j. Conrad von Wallenrodt aus Posen, 40 Jahr alt, groß, schlank, mit dunkelblondem Haar und Vollbart, hagerem Gesicht, blauen Augen und gebogener Nase, hat am 4. November 1879 in Montreux am Genfersee, wo er zur Cur eines Nervenleidens sich aufhielt, zu einem Spaziergang das Haus verlassen und ist nicht zurückgekehrt. Wir machen darauf aufmerksam, daß Herrn von Wallenrodt von seinem Arzte empfohlen war, sich eine Zeitlang in eine Anstalt für Gemüthskranke zu begeben, und daß er sich vielleicht durch eine rasche Abreise nach Italien der Möglichkeit, einer solchen Anstalt zu geführt zu werden, entziehen wollte. Möglich, daß auf der Reise die gefürchtete Geisteskrankheit zum Ausbruch kam. Doch ist auch die Möglichkeit eines Verbrechens nicht ausgeschlossen, da Herr von Wallenrodt eine bedeutende Baarschaft, goldene Uhr und Kette und werthvolle Ringe bei sich trug. In seinem Besitz befand sich auch eine Freikarte für den Bereich des Vereins deutscher Eisenbahnen Nr. 547.

14) Nur einen Todtenschein! Der Gärtner Josef Zelisko, geboren 1823 zu Neuschloß bei Kaaden in Böhmen, verließ 1866 die Herrschaft Nadwarna in Galizien, in deren Dienst er gestanden und wo er seine Frau und seine zwei Kinder zurückließ, um sich in den Donaufürstenthümern oder im südlichen Rußland eine Stelle zu suchen. Seitdem war trotz aller Bemühungen der k. k. Behörden keine Spur mehr von ihm [428] zu finden, und die Ueberzeugung ward vorherrschend, daß er ein Opfer der damals furchtbar wüthenden Cholera geworden sei. Da er aber Mitglied eines Wittwencassenvereins war, so würde seiner sehr armen Familie eine Pension sicher sein, wenn die Wittwe den Todtenschein ihres Mannes beibringen könnte.

15) Der Steuermann Karl Seecks aus Stralsund kann, trotz aller Bemühungen unserer Consuln, von seiner alten Mutter nirgends gefunden werden, weil er sehr häufig die Schiffe zu wechseln scheint. Im Herbst 1879 kam er in die Capstadt, aber als der Consul ihn suchte, war er wieder fort. Die alte bekümmerte Mutter theilt ihm mit, daß er einiges Vermögen von seinem verstorbenen Vater zu erben habe. Vielleicht hilft das.

16) Aus Crefeld ist am 6. Mai 1875 ein junger Mann so spurlos verschwunden, daß alle obrigkeitlichen Nachforschungen bis jetzt ohne Erfolg geblieben sind. Er heißt Bernhard Maas, ist Sattler, war damals 32 Jahre alt, 5 Fuß 1 Zoll hoch; seine Haare, Augenbrauen, sowie sein Bart sind hellblond; breite Nase, großen Mund, Narbe am Kinn und an der Oberlippe. Seine Schwester kann sich über das unheimliche Verschwinden ihres Bruders noch nicht beruhigen und traut dem guten Stern der „Gartenlaube“ die Kraft zu, Licht in das Dunkel dieses Schicksals bringen zu können.

17) Gustav Adolf Engert, 1855 geboren, ein Sohn der Wittwe Wilhelmine Engert in Dresden (Mathildenstr. 59), stand im Jahre 1872 bei dem Norddeutschen Lloyd als Leichtmatrose im Dienst und hat als solcher die Fahrt nach Westindien auf dem Dampfer „Graf Bismarck“, Capitain Nordenholt, mit angetreten, aber schon im August bei der Insel Colon das Schiff in Gesellschaft noch einiger anderer Matrosen verlassen. Seitdem ist seine Mutter ohne jede Nachricht von ihm.

18) Siebenzig Jahre und einsam auf der Welt! Das ist das Loos einer Wittwe, deren Kinder alle im blühendsten Alter dahingestorben sind – bis auf den ältesten Sohn, von dem sie seit achtzehn Jahren, wo sie ihn in Hamburg sah, nicht das geringste Lebenszeichen mehr erhalten hat. Albert Wilhelm Heuduck (aus Oderberg i. d. M.) fuhr unter dem Namen Charles Smidt auf amerikanischen Schiffen und soll 1870 und 1878 wieder in Hamburg gesehen worden sein.




Drei Dichter-Monumente. Die schmerzliche Bewegung, welche das Hinscheiden Karl von Holtei’s in den weitesten Kreisen hervorgerufen, hatte alsbald den Wunsch entstehen lassen, das Andenken des gefeierten Schriftstellers durch ein bleibendes Erinnerungszeichen geehrt zu sehen. Naturgemäß ist die Anregung dazu von Breslau ausgegangen. Ein dort aus hervorragenden Notabilitäten der Stadt gebildetes Comité hat zu dem Zwecke bereits im März einen Aufruf erlassen, der zunächst als Stätte des zu errichtenden Denkmals den Friedhof in’s Auge faßte. Da aber die Tochter des Verewigten das Recht in Anspruch nimmt, der Ruhestätte des Vaters den ihr gebührenden bildnerischen Schmuck zu geben, soll das Holtei-Denkmal, das als ein Obelisk mit Reliefbild oder Büste gedacht ist, sich nunmehr auf der schönen Breslauer Promenade und zwar auf der sogenannten Ziegelbastion erheben, unter deren Bäumen der Dichter bei seinen Spaziergängen gern auszuruhen pflegte. Es ist nicht zu bezweifeln, daß die Schlesier in der Heimath und Fremde die Absicht des Comités reichlich und mit ganzem Herzen unterstützen werden. Da aber Holtei der ganzen Nation angehörte, seine Werke in das Volk gedrungen sind und weit und breit der allerwärmsten Verehrung sich erfreuen, werden gewiß nicht wenige Deutsche aller Länder eine Befriedigung darin finden, sich an der Erfüllung einer so schönen Pietätspflicht zu betheiligen. Je reicher die Gaben fließen, um so würdiger wird die künstlerische Gestaltung sich ausführen lassen. Es wäre doch herrlich, wenn auf das Monument eines der bedeutendsten unserer neueren Dichter die Inschrift gesetzt werden könnte: „Errichtet von seinen Verehrern in allen deutschen Landen.“ Um dies zu erreichen, glauben wir von der ergangenen Aufforderung nur einfach Nachricht geben zu müssen, mit dem Bemerken, daß Herr Stadtrath Anton Hübner in Breslau zur Empfangnahme von Spenden für das Holtei-Denkmal bereit ist.

Mit dieser Hinweisung ist jedoch die Aufgabe unseres Artikels noch nicht erledigt, es liegt uns vielmehr ob, die Aufmerksamkeit zugleich auf zwei andere, viel ältere Ehrenschulden zu lenken. Während die dankbare Anerkennung für Holtei schon unmittelbar nach seinem Ableben in einer öffentlichen Bekundung sich manifestiren will, lebte ein anderer schlesischer Dichter, sein einstmaliger begeisterter Kampfgenosse im deutschen Befreiungskriege, bisher nur in seinen Liedern fort: Joseph von Eichendorff. Wir glauben, es braucht dieser Name nur genannt zu werden, um in vielen Tausenden von deutschen Seelen das Gefühl einer innigen und tiefen Sympathie zu erwecken. Eichendorff war seiner kirchlichen und politischen Richtung nach confessioneller Katholik und seine Gesinnung stimmt in dieser Hinsicht nicht mit der unserigen. In seine Poesien aber ist kaum etwas übergeflossen von diesem Eifer des Religionsstreites; hier weht uns nur der warme Hauch eines echten deutschen Volksdichters an, mit aller Ursprünglichkeit und Wahrheit eines reingestimmten, kindlich-lebensfreudigen Gemüths, mit allem bestrickenden Reize einer empfindungsreichen Naturverklärung. Ueberall in unserem Vaterlande ertönen Eichendorff’s Gesänge, aber den Ausdruck des Dankes für diese quellende Fülle edlen und herzerquickenden Genusses ist seine Nation ihm schuldig geblieben. Auf dem Jerusalemer Kirchhof in Neiße bezeichnet nur ein schmuckloser Stein das Grab, in welchem er seit beinahe dreiundzwanzig Jahren neben seiner Gattin ruht. Da fordert endlich in unseren Tagen eine Anzahl angesehener Einwohner Neißes in einer gedruckten Ansprache zu Sammlungen für ein Eichendorff-Denkmal auf, das vor dem einstigen Wohnhause des Dichters, auf einem freien Platze errichtet werden soll, zu welchem die anmuthigen Auen des Neißethales und die blauen Berge an Schlesiens Südgrenze so recht im Sinne eines Eichendorff’schen Stimmungsbildes herübergrüßen. Die Idee ist vollständig gerechtfertigt und gern schließen wir uns der Bitte an: es möchten alle Freunde deutscher Poesie und namentlich alle deutschen Sängerbünde diesseits und jenseits des Oceans das Unternehmen durch Herbeischaffung der Mittel so rechtzeitig und kräftig fördern, daß das Denkmal Eichendorff’s im November 1882 bei der Gedächtnißfeier seines fünfundzwanzigjährigen Todestages fertig gestellt sein und enthüllt werden kann. Briefe und Beiträge sind an Herrn Bankvorsteher Barchewitz in Neiße zu richten.

An die dritte Schuld werden wir von den höchstgelegenen Punkten des sächsischen Voigtlandes gemahnt. Dort ist bekanntlich in dem Dorfe Marieney am 8. Juli 1803 Julius Mosen geboren worden, dessen Andenken noch frisch im Gedächtniß von Tausenden lebt. Unvergessen wie die Dichtung dieses herrlichen Sängers, eines der besten deutschen Männer, wird auch sein tragisches Geschick bleiben, die rührend bange Sorge und ehrfurchtsvolle Wehmuth, mit welcher die Nation viele Jahre hindurch auf sein langwieriges Krankenlager im Norden unseres Vaterlandes geblickt hat. Wiederholt im Laufe der Jahre ist auch von der „Gartenlaube“ der Liebe des deutschen Volkes für Julius Mosen und der Würdigung seines hohen Werthes der innigste Ausdruck gegeben worden. Auch in Bezug auf ihn – wir sind dessen sicher – bedarf es nur der Nennung seines Namens, um weit und breit Herzen zu erwärmen für den Gedanken eines ihm in seinem Geburtsorte zu errichtenden „einfachen aber würdigen Denkmals“. In der Marieney benachbarten Stadt Schöneck ist im Januar dieses Jahres ein Comité zusammengetreten, das zur Herbeischaffung der Mittel einen Aufruf erläßt. Man hofft, dieselben werden reichlich genug fließen, um aus den Überschüssen auch noch eine milde Stiftung zum Gedächtniß des edlen Dichters und Dulders begründen zu können. Die Beiträge sind an den Herrn Bürgermeister Leuthold in Schöneck zu richten. – Wer eines Vermerkes in sein Notizbuch bedarf, der schreibe also, mit der Bestimmung eines Scherfleins, hinein: „Holtei-Denkmal in Breslau – Eichendorff-Denkmal in Neiße – Mosen-Denkmal in Marieney.“




Für die Nothleidenden in Oberschlesien gingen ferner ein: Ertrag einer Aufführung der Erie-Liedertafel in Erie, Pa., M. 502; Sammlung des Rheumatischen Clubs in Newark, N. J., M. 833; Sammlung des Hülfscomité’s in Albany M. 1200; J. M. Claassen in Lichtenfels M. 1.50; C. R. in K. M. 1.72 (1 Gulden ö. W.); aus Bielefeld M. 30. Gesammtertrag: M. 13,562.91.

Für die Hinterbliebenen der verunglückten Bergleute in Zwickau: Eug. W. M. 8.63 (5 Gulden ö. W.)

Für Thüringen: Aus Aschersleben M. 2.30; aus Triberg M. 5.

Für Spessart: C. W. in C. M. 1.



Kleiner Briefkasten.

A. M. in Libau. Nein, der Nachdruck (unter Quellenangabe) des Artikels „Noch einmal in der Falle“ (in unserer Nr. 22) ist uns im Gegentheil sehr erwünscht. Aufklärungen über die heillosen Schäden, welche das Geheimmittelunwesen anrichtet, können gar nicht genug unter das Volk gebracht werden. Wir sind jeder Zeitung dankbar, welche uns in dem Kampfe gegen die Curpfuscherei und ihre Helfershelfer durch Nachdruck unserer bezüglichen Artikel unterstützt.

A. Roth in Frankfurt am Main. Erhalten und an die Adresse abgesendet. Besten Dank.

A. H. in P. Schwarzwurzel ist ohne Wirkung.

Brünn. Anonyme Zuschriften können nicht berücksichtigt werden.

S. in Mannheim.Nicht nehmen“!



Nicht zu übersehen!

Mit dieser Nummer schließt das zweite Quartal dieses Jahrgangs. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das dritte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.

Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General-Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig). Auch wird bei derartigen verspäteten Bestellungen die Nachlieferung der bereits erschienenen Nummern eine unsichere.

Die Verlagshandlung.




Das nächste Quartal wird außer dem Schluß von E. Werner’s „Frühlingsboten“ mehrere kleinere Novellen bringen. Dem Bedürfniß der Belehrung wird durch Artikel aus allen Gebieten des Lebens und der Zeit in gewohnter Weise Rechnung getragen werden, und dürften außer den nunmehr zum Abschluß kommenden Beleuchtungen von Franz Mehring’s „Zur Geschichte der Socialdemokratie“ und einer Reihe anderer orientirender Beiträge aus dem Bereiche der Zeitgeschichte, namentlich Johannes Scherr's historische Essay's (zunächst „Die abenteuerliche Geschichte vom falschen Dmitry“), Rudolph Gottschall's Kunst- und Literaturbilder (unter anderen „Adolph Sonnenthal“) und die so beliebten naturwissenschaftlichen Aufsätze Carus Sterne's nach dieser Seite hin dem nächsten Quartal Glanz und Mannigfaltigkeit verleihen.

Die Redaction der „Gartenlaube“.



Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Ueber die im ersten Theile des vorstehenden Artikels behandelte künstliche Fischzucht hat die „Gartenlaube“ vier Artikel gebracht, auf welche wir unsere Leser wohl kaum besonders aufmerksam zu machen brauchen. Der erste derselben erschien allerdings schon vor achtzehn Jahren: „Künstliche Fischzucht“ von S. Augustin Jahrg. 1862, Nr. 33. Der zweite, 1871 in Nr. 35 abgedruckt, konnte bereits in der Fischzuchtanstalt zu Hüningen den „Wasserschatz für den Volkstisch“ als „eine Elsässer Morgengabe an Deutschland“ begrüßen. Denselben schmücken zwei Illustrationen, das Laboratorium, das Bureau und die Beamtenwohnung der Brutanstalt sowie die Ausbrütungsapparate darstellend. Der dritte Artikel: „Saat in’s Wasser“ von Gampe, bringt (1874, Nr. 8) zugleich eine Abbildung der Fischzuchtanlagen zu Einsiedel im Erzgebirge, und im vierten (1877, Nr. 45) führt Dr. Edmund Veckenstedt[WS 1] uns zu den „Karpfenteichen der Niederlausitz“. Die Anstalten waren auch auf der Berliner Ausstellung vertreten.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Beckenstedt