Die Gartenlaube (1880)/Heft 27
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No. 27. | 1880. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Fräulein Lina, die am Fenster stand, blickte hinaus.
„Es ist Herr von Ettersberg,“ sagte sie, den Gruß desselben erwidernd.
„Oswald?“ fragte Rüstow. „Er kommt vermuthlich, um Abschied zu nehmen; er wollte ja in diesen Tagen abreisen. Lassen Sie doch Hedwig rufen! Sie ist im Parke.“
Die alte Dame zögerte. „Ich weiß nicht – ich glaube, Hedwig wollte noch einen Spaziergang machen. Sie wird gar nicht zu finden sein, und überdies sind Sie und ich ja hier.“
„Nun, das wäre aber doch mehr als unhöflich, wenn Hedwig nicht einmal bei dem Abschiedsbesuche ihres künftigen Cousins erscheinen wollte,“ sagte Rüstow unwillig. „Der Diener soll wenigstens nachsehen, ob sie im Parke ist, und sie in diesem Falle benachrichtigen.“
Er wollte klingeln, aber Fräulein Lina kam ihm zuvor.
„Ich werde hinausschicken. Empfangen Sie inzwischen Herrn von Ettersberg!“
Damit verließ sie das Zimmer und kam erst nach Verlauf von einigen Minuten zurück. Sie wußte sehr gut, daß Hedwig sich im Parke befand; trotzdem war der Befehl, sie zu rufen nicht gegeben worden.
Oswald war inzwischen eingetreten. Er kam in der That, um Abschied zu nehmen, hatte aber noch einige dringende Geschäfte und Reisevorbereitungen, die durchaus noch heute erledigt werden mußten. Er konnte deshalb nur ein flüchtiges Lebewohl sagen. Man sprach von allem Möglichen; der Oberamtsrath bedauerte, daß seine Tochter in der That auf einem Spaziergange sei; er habe bereits nach dem Parke hinaus gesandt, der Diener müsse sie aber nicht gefunden haben. Oswald bedauerte das gleichfalls höflich, bat, dem Fräulein seine Empfehlungen und Abschiedsgrüße auszurichten, und beendigte den Besuch nach kaum einer Viertelstunde. Rüstow sah seinen Günstling mit schwerem Herzen scheiden; Fräulein Lina dagegen athmete verstohlen auf, als der Wagen aus dem Hofe rollte. –
Oswald hatte sich in die Ecke des Wagens zurückgelehnt. Er war froh, daß dieser Abschied überstanden war, unendlich froh, wenigstens sagte er sich das. Er hatte diese Stunde lange genug gefürchtet – oder vielleicht auch erhofft. Gleichviel, jedenfalls war es am besten so. Mit dem Lebewohl, das der Zufall ihm verwehrte, wurde ihm nur eine letzte nutzlose Qual erspart. Jetzt waren die Kämpfe der letzten Tage und Wochen zu Ende, Kämpfe, die freilich Niemand gesehen hatte, die aber doch das ganze Wesen des jungen Mannes aus seinen Fugen zu reißen drohten. Es war die höchste Zeit, daß er ging. Mit der Entfernung wurde vielleicht der Bann gebrochen, und wurde er es nicht, so war wenigstens eine Scheidewand aufgerichtet. Jetzt galt es, sich mit voller Energie in das neue Leben zu werfen, zu arbeiten, zu ringen und womöglich zu vergessen – und während sich Oswald das immer und immer wiederholte, pochte es wild und verzweiflungsvoll in seiner Brust und mahnte ihn daran, daß er sich ja gesehnt hatte nach dieser letzten nutzlosen Qual, wie nach einem letzten Glücke. Er ging ja auf Nimmerwiederkehr.
Der Wagen bog jetzt um die Ecke des Parkes; Oswald wandte sich um und blickte nochmals zurück. Da entdeckte er drüben, auf einem kleinen dicht umbuschten Altane, eine schlanke Mädchengestalt, und in dem Momente sanken all die weisen Tröstungen und Vorsätze der Vernunft in nichts zusammen. Nur noch ein einziges Mal! Vor dem Gedanken schwanden Besinnung und Ueberlegung. In der nächsten Secunde hatte Oswald dem Kutscher bereits zugerufen, zu halten, und war aus dem Wagen gesprungen.
Der Wagen fuhr, dem erhaltenen Befehle gemäß, nach dem Dorfe voraus, um dort zu warten. Oswald dagegen trat durch die hintere Pforte in den Park, aber seine Schritte wurden immer langsamer, je mehr er sich dem Altane näherte, und als er endlich die Stufen hinaufstieg und Hedwig ihm entgegentrat, da hatte er so völlig wieder die gewohnte Haltung angenommen, als erfülle er wirklich nur eine Pflicht der Artigkeit, wenn er im Vorbeifahren anhielt, um sich von der Braut seines Vetters zu verabschieden.
„Ich habe soeben Ihrem Herrn Vater meinen Abschiedsbesuch gemacht,“ begann er, „und konnte es nicht unterlassen, mich auch Ihnen persönlich zu empfehlen, mein Fräulein.“
„Sie reisen schon in den nächsten Tagen?“ fragte Hedwig.
„Schon übermorgen.“
„Edmund sagte mir bereits, daß Ihre Abreise nahe bevorstände. Er wird Sie sehr vermissen.“
„Ich ihn gleichfalls, aber das Leben fragt nun einmal nicht nach unseren Empfindungen, wenn es eine Trennung verhängt.“
Die Bemerkung sollte scherzhaft sein, aber sie klang bitter genug, während der Blick des jungen Mannes über Hedwig hinglitt, die sich leicht auf das hölzerne Geländer stützte. Die Besorgnisse des Oberamtsrathes mochten doch wohl übertrieben sein; [430] die Erscheinung seiner Tochter war noch ebenso rosig und blühend, ebenso anmuthig wie sonst. In ihrem Aeßeren hatte sich nicht das Geringste verändert, und doch war sie eine ganz Andere, als jene neckische, launische Elfe, die einst, von Lust und Uebermuth sprühend, aus dem Schneesturme auftauchte. Die Blume, die so lange im vollsten Sonnenschein geblüht hat, und auf die plötzlich ein Schatten fällt, bleibt auch unverändert. Es sind noch dieselben Formen und Farben, derselbe Duft, aber das Sonnenlicht ist gewichen. Ein solcher Schatten lag jetzt auch auf dem Antlitz der glücklichen, vielbeneideten Braut des Grafen Ettersberg, und die dunkelblauen Augen hatten einen feuchten Schimmer, als hätten sie etwas kennen gelernt, was ihnen so lange fremd gewesen war – die Thränen.
„Die Trennung wird Ihnen also doch schwer?“ setzte Hedwig das Gespräch fort.
„Gewiß! Ich werde mich in der Residenz oft genug nach Edmund und nach – den Bergen sehnen.“
„Nicht auch nach Ettersberg?“
„Nein!“
Das Wort klang so hart und entschieden, daß Hedwig befremdet aufblickte. Oswald bemerkte es und lenkte ein.
„Verzeihung! Ich vergaß, daß Ettersberg in Kurzem Ihre Heimath sein wird. Mein Wort galt auch nur den Verhältnissen, die mir den Aufenthalt dort peinlich machen und die Ihnen ja längst bekannt sind.“
„Diese Verhältnisse sind ja aber doch ausgeglichen. Die Familie legt Ihrer juristischen Laufbahn jetzt kein Hinderniß mehr in den Weg.“
„Nachdem ich mir die Freiheit des Handelns erzwungen habe, allerdings nicht mehr, aber es hat doch Kämpfe deswegen gegeben, und es ist nicht leicht, mit meiner Tante zu kämpfen. Das werden Sie auch noch erfahren.“
„Ich?“ fragte Hedwig betreten. „Ich hoffe doch nicht in den Fall zu kommen, mit meiner Schwiegermutter kämpfen zu müssen.“
Hedwig richtete sich empor; es war ein halb stolzer, halb unwilliger Blick, mit dem sie den Sprechenden maß, doch dieser erwiderte ihn mit ruhiger Festigkeit.
„Vielleicht ist es unzart, daß ich diesen Punkt überhaupt berühre, und vielleicht weisen Sie meine Einmischung als unberechtigt zurück, aber ich kann nicht gehen, ohne wenigstens eine Warnung auszusprechen. Meine Tante spricht öfter davon, bei der bevorstehenden Vermählung Ettersberg verlassen und sich nach Schönfeld zurückziehen zu wollen. Edmund hat den Plan stets in der heftigsten Weise bekämpft, und Sie haben ihn dabei unterstützt. Thun Sie das in Zukunft nicht mehr – im Gegentheil bestimmen Sie ihn, seine Mutter gehen zu lassen! Sie sind das seinem und Ihrem Glücke schuldig. Es ist in Ettersberg kein Platz für eine junge Herrin, wenn die ältere ihre Stellung behauptet, und Ihnen vollends tritt dort mit der alten Feindschaft noch ein neues Vorurtheil entgegen.“
„Ich verstehe Sie nicht, Herr von Ettersberg,“ sagte Hedwig erregt. „Vorurtheil? Feindschaft? Sie können doch unmöglich den einstigen Proceß um Dornau meinen.“
„Nicht den Proceß, aber das, was die Veranlassung dazu gab. Sie wissen vermutlich nicht, wer es war, der Ihren Großvater in seiner Härte bestärkte und ihn schließlich bestimmte, die bürgerliche Heirath seiner Tochter nicht anzuerkennen. Aber Ihr Vater weiß es, und er täuscht sich, wenn er glaubt, daß die Gräfin ihre Vorurtheile gegen derartige Verbindungen besiegt hat. Sie hat allerdings nachgegeben, in einem Moment der Ueberraschung, in einer Aufwallung des Dankes gegen ihren Lebensretter und vor Allem aus Liebe zu ihrem Sohne. Was thäte sie nicht um seinetwillen! Aber sie wird ihre Nachgiebigkeit früher oder später bereuen, wenn sie es nicht schon jetzt thut, und das wird nicht Edmund, das werden Sie zu büßen haben.“
Hedwig hörte in steigender Erregung zu. Was ihr hier so klar und unbarmherzig enthüllt wurde, das hatte sie selbst schon im Verkehr mit der Gräfin empfunden, zumal in der letzten Zeit, freilich nur dunkel und ohne sich deutlich Rechenschaft darüber zu geben.
„Ich habe bisher noch nicht über meine Schwiegermutter zu klagen gehabt,“ sagte sie zögernd. „Sie war mir gegenüber stets freundlich und entgegenkommend.“
„Auch herzlich?“
Das junge Mädchen schwieg.
„Glauben Sie nicht, daß mein persönliches Verhältniß zu meiner Tante mein Urtheil beeinflußt!“ fuhr Oswald fort. „Ich würde es sicher nicht unternehmen, Mißtrauen zu säen, wüßte ich nicht, wie gefährlich ein zu argloses Vertrauen werden kann. Es ist ein heißer Boden, auf den Sie in Ettersberg treten, und Sie müssen ihn wenigstens kennen lernen, ehe er Sie trägt. Auch Ihre Mutter mußte sich das Glück ihrer Ehe erst erkämpfen, aber sie hatte wenigstens an dem Gatten eine feste Stütze und einen muthigen Vertheidiger. Bei Ihnen werden diese Kämpfe erst nach der Vermählung beginnen, aber erspart bleiben sie Ihnen nicht; denn Sie treten ein in den Kreis jener Vorurtheile, aus dem Ihre Mutter sich losriß, und ob Sie an Edmund die so nothwendige Stütze finden, das muß sich erst zeigen. In jedem Falle ist es besser, auf sich selbst zu vertrauen. Ich bitte Sie nochmals: gehen Sie unter keiner Bedingung auf das Zusammenleben mit Ihrer Schwiegermutter ein – Edmund muß den Gedanken aufgeben.“
Hedwig schüttelte leise das Haupt. „Das wird schwer, wenn nicht unmöglich sein. Er liebt seine Mutter –“
„Mehr als seine Braut!“ fiel Oswald mit schwerer Betonung ein.
„Herr von Ettersberg!“
„Das verletzt Sie, mein Fräulein? Gewiß, es ist auch verletzend, aber eben deshalb müssen Sie es lernen, der Wahrheit in das Auge zu sehen. Sie haben bisher allzu sorglos mit der Liebe Edmund's gespielt und dafür auch nur Spiel und Tändeleien empfangen. All die tieferen Regungen seiner Natur haben Sie der Mutter gelassen, die das nur zu bereitwillig unterstützte. Edmund kann mehr als blos tändeln. Unter seiner muthwilligen Außenseite verbirgt er warme, sogar leidenschaftliche Empfindungen, aber sie müssen geweckt werden, und das hat bisher allein seine Mutter verstanden. Sichern Sie sich, was Ihnen gehört! Noch steht Ihnen die Macht der Braut, der ersten Jugendliebe zur Seite; wenn dieser verklärende Schimmer erst geschwunden ist, möchte es zu spät sein.“
Er hatte mit tiefem Ernste, aber auch mit seiner gewohnten Rücksichtslosigkeit gesprochen. Jedes Wort fiel schwer und schonungslos in das Ohr des jungen Mädchens, und schmeichelhaft waren diese Worte nicht. Noch vor wenigen Monaten hätte Hedwig eine derartige Warnung entweder als Beleidigung betrachtet oder im Uebermuthe ihres Glückes verlacht; jetzt hörte sie stumm, mit gesenktem Haupte zu. Er hatte ja Recht – das fühlte sie, aber warum mußten denn die Rathschläge für ihr Glück an Edmund's Seite gerade von diesen Lippen kommen?
„Sie schweigen?“ fragte Oswald, der vergebens auf eine Antwort wartete. „Sie weisen meine unerbetene Einmischung zurück?“
„Nein,“ entgegnete Hedwig mit einem tiefen Athemzuge. „Ich danke Ihnen, denn ich weiß, was eine derartige Warnung in Ihrem Munde bedeutet.“
„Und was sie mich kostet –“ drängte es sich unwillkürlich auf Oswald's Lippen, aber er sprach das Wort nicht aus. Vielleicht wurde es trotzdem errathen.
Der kleine Altan, auf dem die Beiden standen, hob sich aus dichten Gebüschen empor und bot einen vollen Ausblick auf das Gebirge. Man sah hinweg über weite Wiesenflächen und grüne Waldhöhen, bis hin zu den hohen Bergkuppen, die so fern lagen und in der klaren Herbstluft doch so nahe gerückt schienen. Man unterschied deutlich den waldigen Vorsprung, der die Grenze zwischen den Ettersberg'schen und Brunneck'schen Forsten bildete, und Oswald's wie Hedwig's Augen suchten nur den einen Punkt. Sie waren zum ersten Mal wieder allein seit jenem Zusammentreffen dort drüben. Es lag ein ganzer Sommer dazwischen und so manches Andere noch.
Damals war es ein rauher, stürmischer Frühlingstag gewesen, ohne Wärme und Sonnenlicht. Blatt und Blüthen bargen sich noch in der dunklen Knospenhülle, wie die Landschaft sich im Nebel und Regengewölk barg, und die Schwalben, die heranzogen, tauchten aus trüb umschleierter Ferne auf. Aber es war doch der Frühling gewesen, den seine geflügelten Boten auf ihren Schwingen in das Land trugen; das wußten die Beiden am besten, die hier so wortlos neben einander standen. Sie
[431] hatten es erfahren, wie der Frühling gleichsam über Nacht aufwachen und wie siegreich er sich Bahn brechen kann.
Jetzt war es Herbst geworden. Es war freilich ein schöner, klarer Tag, mit milder, weicher Luft und hellem Sonnenschein, aber doch immer ein Herbsttag. Das Laub, das noch so dicht und voll an den Zweigen hing, hatte schon jenen leisen, bräunlichen Schimmer, der auf ein baldiges Vergehen deutet. Auf den Wiesen war die bunte Blumenpracht verschwunden, nur die Herbstzeitlose zeigte noch hier und da ihre matten Farben, und die Schwalben, die dort oben am Himmel in langen Schwärmen hinzogen, sammelten sich schon zum Fluge nach dem Süden. Abschied nehmen, hieß die Losung, in der Natur wie bei den Menschen, Abschied von dem Sommer, von der Heimath und dem Glücke.
Hedwig brach zuerst das drückende Schweigen, das nach den letzten Worten eingetreten war.
„Die Schwalben wollen uns auch verlassen,“ sagte sie, nach oben deutend. „Sie ziehen fort.“
„Und ich mit ihnen,“ ergänzte Oswald. „Nur, daß ich für immer gehe.“
„Für immer? Sie werden doch bisweilen nach Ettersberg kommen?“
Es lag etwas wie verhaltene Angst in der Frage; Oswald sah zu Boden.
„Ich glaube kaum, daß mir das möglich sein wird. Ich werde wenig Zeit haben, und überdies – wer sich so vollständig von seinem bisherigen Lebenskreise losreißt, wie ich, der thut am besten, ihm für's Erste fern zu bleiben und sich ganz und voll der neuen Sphäre zuzuwenden. Edmund will das freilich nicht einsehen. Er kennt eben nicht den Zwang der Pflichten.“
„Und doch sorgt er sich mehr um Sie und Ihre Zukunft, als Sie glauben,“ warf Hedwig ein.
Oswald lächelte halb verächtlich. „Er soll sich die Sorge ersparen. Ich gehöre nicht zu denen, die etwas unternehmen, was über ihre Kräfte geht, und dann auf halbem Wege muthlos die Hände sinken lassen. Was ich unternommen habe, werde ich wohl auch durchführen, und in jedem Falle mache ich mich damit frei von den Fesseln der Abhängigkeit.“
„Drücken Sie diese Fesseln denn so schwer?“
„Ja, zu Boden!“
„Herr von Ettersberg, Sie sind ungerecht gegen Ihre Verwandten.“
„Und undankbar,“ fiel Oswald mit ausbrechender Bitterkeit ein. „Das haben Sie oft genug von meiner Tante gehört, nicht wahr, mein Fräulein? Sie mag ja von ihrem Standpunkte aus Recht haben. Ich hätte mich vielleicht geduldiger in die Rolle finden müssen, die das Schicksal mir auferlegte. Ich habe das aber nun einmal nicht gekonnt. Sie wissen nicht, was es heißt, sich fortwährend unter einen fremden Willen zu beugen, wenn der eigene längst mündig geworden ist, sich in jedem Streben gehemmt, in jeder Regung unterdrückt zu sehen, und nicht einmal das Recht des Widerspruches zu haben. Ich weiß, daß meine Zukunft unsicher, vielleicht dornenvoll ist, daß ich meine ganze Kraft dafür einzusetzen habe, aber es ist meine Zukunft, mein Leben, das mir fortan allein gehört, und nicht immer und ewig an der Kette fremder Wohlthaten geleitet wird. Und wenn ich zu Grunde ginge in der selbsterwählten Laufbahn, sie giebt mir wenigstens das Recht auf ein eigenes Schicksal.“
Er hatte sich emporgerichtet bei den letzten Worten, und seine Brust hob sich unter einem tiefen, freien Athemzuge. Es war, als sinke mit der Vergangenheit die ganze so stumme und doch so schwer getragene Last von der Seele dieses Mannes, der so kühn und trotzig dastand, daß man wohl sah, er war im Stande, den Kampf mit der Welt aufzunehmen und durchzufechten, wie starr und feindselig sie ihm auch entgegentreten mochte. Hedwig begriff zum ersten Male ganz, was diese stolze, unbeugsame Natur gelitten hatte unter einem Loose, das so Vielen beneidenswerth erschien, weil es den Glanz des Ettersberg'schen Hauses theilte.
„Und nun muß ich Ihnen Lebewohl sagen,“ begann Oswald von Neuem, aber seine Stimme war auf einmal klanglos geworden. „Ich kam ja, um Abschied zu nehmen.“
„Edmund erwartet Sie im December, wenn auch nur auf einige Tage,“ sagte Hedwig leise, mit stockender Stimme. „Er rechnet mit Bestimmtheit auf Ihre Gegenwart bei – bei unserer Trauung.“
„Ich weiß es, und weiß auch, daß er es mir als Lieblosigkeit auslegen wird, wenn ich fern bleibe. Mag er es thun – ich muß mich eben darein finden.“
„Sie wollen also nicht kommen?“
„Nein!“
Oswald fügte kein einziges Wort hinzu, keinen Vorwand, der ja doch nicht geglaubt worden wäre. Nur sein Auge tauchte tief in das Hedwig's und gab die Erklärung für dieses so herb klingende Nein. Es war verstanden worden – das sah er an dem Blick, der dem seinigen antwortete, aber wie wild auch das Weh des Scheidens in den beiden jungen Herzen aufstürmen mochte, ausgesprochen wurde es nicht.
„So leben Sie wohl, Herr von Ettersberg,“ sagte Hedwig, ihm die Hand reichend.
Er beugte sich nieder; es waren ein Paar heiße, zuckende Lippen, die sich auf die bebende Hand preßten, welche sich ihm entgegenstreckte, und sie allein zeigten, wie es um Oswald stand. Schon in der nächsten Minute ließ er die Hand fahren und trat zurück.
„Vergessen Sie mich nicht ganz, mein Fräulein – leben Sie wohl!“
Er ging. Hedwig war allein. Ihre Hand griff wie unwillkürlich in die Gebüsche, um sie zurückzubiegen und den Scheidenden noch einmal zu sehen, aber es war zu spät; er war bereits hinter den Bäumen verschwunden. Als das Laubwerk wieder zusammenschlug, sanken die ersten welken Blätter herab auf das junge Mädchen, das wie unter einer ernsten Mahnung zusammenschauerte. Ja wohl, es war Herbst geworden, wenn die Landschaft ringsum sich auch noch in goldenes Sonnenlicht tauchte.
Jener rauhe stürmische Frühlingstag war doch so reich an Verheißungen gewesen mit seinem unsichtbar mächtigen Leben und Werden, mit seinen tausend geheimnißvollen Stimmen, die ringsum zu flüstern schienen. Jetzt waren all diese Laute verstummt; das Leben hatte ausgeblüht und neigte sich langsam zum Vergehen. Es war so leer und still überall geworden.
Hedwig lehnte stumm und bleich an dem Geländer des Altans; sie weinte nicht, regte sich auch nicht; ihr Blick streifte nur mit unendlich schwerem, sehnendem Ausdruck über die Bergkette hin und hob sich dann empor zu den Wolken, wo die Wandervögel in langen Zügen hinschwärmten. Heute senkten die Schwalben sich nicht mehr grüßend und glückverheißend nieder wie damals; sie zogen in unerreichbarer Höhe dahin, der blauen Ferne zu, und nur ganz fern und leise, wie halb verweht, klang ihr grüßender Laut hernieder, ein letzter matter Wiederhall jenes Wortes, das hier unten in so heißem Trennungsweh ausgesprochen wurde: Lebewohl!
Es war am nächstfolgenden Tage, dem letzten, den Oswald in Ettersberg zubringen sollte. Graf Edmund war noch nicht von seinem Jagdausfluge zurückgekehrt, wurde aber stündlich erwartet, dagegen war Baron Heideck schon am Vormittage aus der Residenz eingetroffen. Er hatte für gut befunden, dem Feste, das mit der Mündigkeitserklärung seines Neffen zugleich die Veröffentlichung von dessen Verlobung brachte, in demonstrativer Weise fern zu bleiben; erst jetzt, nach mehr als zwei Monaten, hatte er sich zu einem kurzen Besuche in Ettersberg entschlossen. Obwohl die Thatsache jener Verlobung nicht mehr zu ändern war, schien es doch eine lebhafte Debatte deswegen zwischen den Geschwistern gegeben zu haben. Sie waren über eine Stunde lang mit einander allein geblieben, und die Vorwürfe Heideck's waren um so weniger wirkungslos geblieben, als seine Schwester in der That schon im Stillen ihre „Uebereilung“ bereute, wenn sie es vorläufig auch noch nicht zugeben wollte.
Die Gräfin hatte sich endlich sichtlich verstimmt in ihr Zimmer zurückgezogen. Sie saß vor ihrem Schreibtische und hatte vermittelst des Druckes einer verborgenen Feder das geheimste Schubfach desselben geöffnet. Die Unterredung mit dem Bruder mochte wohl alte Erinnerungen berührt oder wenigstens wach gerufen haben; denn jedenfalls hing das, was die Gräfin jenem Fache entnommen hatte, mit alten Erinnerungen zusammen. Die kleine, kaum handgroße Kapsel, die dem Anscheine nach ein Bild enthielt, hatte wahrscheinlich Jahre lang unberührt an ihrem Platze gelegen; daß sie aus einer weit zurückliegenden Zeit stammte, das zeigten sowohl die altmodische Form, wie die verstaubte und [432] verblichene Außenseite. Die Gräfin hielt sie jetzt geöffnet in der Hand, und während sie unverwandt darauf niederblickte, nahm ihr Antlitz immer mehr einen Ausdruck an, der ihm sonst ganz fremd war.
Es war jenes trübe, halb unbewußte Hinträumen, das uns der Gegenwart völlig entrückt und zurückführt in eine ferne Vergangenheit, wo längst versunkene Erinnerungen wieder auftauchen, längst vergessene Freuden und Leiden aufwachen und Gestalten, die seit Jahren das Grab deckt, auferstehen.
Die Gräfin bemerkte es nicht, daß Minuten und Viertelstunden vergingen, während sie so dasaß, und fuhr halb erschreckt, halb unwillig auf, als die Thür unvermuthet geöffnet wurde. Mit einem raschen Drucke schloß sie die Kapsel und legte die Hand darauf, während ihr ungnädiger Blick zu fragen schien, was die Störung bedeute.
Es war der alte Eberhard, der eintrat, aber nicht in seiner gewöhnlichen feierlichen Haltung. Er war sichtlich bestürzt, und ohne erst eine Frage seiner Gebieterin abzuwarten, begann er sogleich seine Meldung.
„Der Herr Graf ist soeben zurückgekommen.“
„Nun, und wo ist er denn?“ fragte die Gräfin, die gewohnt war, daß der erste Gang des Sohnes bei der Rückkehr ihr galt.
„In seinem Zimmer,“ berichtete Eberhard. „Herr von Ettersberg war zufällig unten an der Treppe, als der Wagen vorfuhr, und hat den Herrn Grafen hinaufgeleitet.“
Die Gräfin erbleichte. „Hinaufgeleitet? Was soll das heißen? Ist irgend etwas vorgefallen?“
„Ich glaube wohl,“ sagte der alte Diener zögernd. „Der Reitknecht sagt, es wäre ein Unfall auf der Jagd gewesen. Das Gewehr des Herrn Grafen hat sich zufällig entladen und ihn verwundet –“
Weiter kam Eberhard nicht mit seinem Berichte; denn die Gräfin war mit einem lauten Schreckensrufe emporgefahren. Die geängstigte Mutter stürzte, ohne weiter zu fragen, ohne irgend etwas hören zu wollen, in das anstoßende Gemach, von wo aus ein Corridor nach den Zimmern ihres Sohnes führte. Der alte Diener, der vollständig den Kopf verloren hatte und ebenso erschrocken war wie seine Gebieterin, wollte ihr eiligst folgen, als Oswald von der andern Seite her durch den Salon eintrat.
„Wo ist meine Tante?“ fragte er hastig.
„Wahrscheinlich schon bei dem Herrn Grafen,“ sagte Eberhard, auf die geöffnete Thür zeigend. „Die Frau Gräfin war so sehr erschrocken, als ich ihr die Nachricht von der Verwundung brachte.“
Oswald machte eine unwillige Bewegung. „Wie konnten Sie so unvorsichtig sein! Die Wunde des Grafen ist ja gar nicht von Bedeutung. Ich komme eben selbst, meiner Tante das mitzutheilen.“
„Gott sei Dank!“ sagte Eberhard aufathmend. „Der Reitknecht erzählte –“
„Der Reitknecht hat den Unfall arg übertrieben,“ unterbrach ihn Oswald. „Der Graf hat eine leichte Verletzung an der Hand, nichts weiter. Es war durchaus nicht nöthig, die Gräfin deswegen so zu erschrecken. Gehen Sie jetzt und melden Sie das dem Herrn Baron Heideck, damit er nicht gleichfalls durch die Nachricht von einer wirklichen Gefahr in Schrecken versetzt wird!“
Eberhard entfernte sich, um den erhaltenen Befehl auszuführen, und auch Oswald stand im Begriff das Zimmer zu verlassen, als sein Blick, der zerstreut und gleichgültig über den Schreibtisch hinglitt, auf die dort liegende Kapsel fiel.
Das Theater am Michaelisplatz in Wien ist seit Jahrzehnten ein Hort deutscher Dichtung: das feine Lustspiel wie die höhere Tragödie haben hier eine Stätte gefunden, wo sie ausgezeichneter künstlerischer Pflege sich erfreuen, und alle politischen Wandlungen haben hierin nichts zu ändern vermocht. Wenn auch Oesterreich aus dem Staatenverbande des deutschen Bundes ausschied: das Wiener Burgtheater hat den Cultus des deutschen Geistes nach wie vor zu seiner Aufgabe gemacht.
Und welche Pietät hegt das Wiener Publicum gegen seine erste Bühne! Es hat die Künstlergemeinde der Burg so in's Herz geschlossen, daß die hervorragenden Darsteller von jedem Einzelnen wie Freunde, ja wie Familienmitglieder betrachtet werden, daß ganz Wien auch an ihrem persönlichen Geschick den wärmsten Antheil nimmt.
Einer der erklärten Lieblinge Wiens ist Adolf Sonnenthal: auch in Deutschland hat dieser Künstler gastirt, in Berlin, München, Leipzig und anderen Städten; doch er ist kein Gastspielreisender von Fach; die Burg ist sein Halt, die Stätte, von der sein Ruf in die Lande ausgeht, und in der That, für seinen Ruhm ist das Theater am Michaelisplatz eine feste Burg geworden.
Sonnenthal wurde am 21. December 1833 in Pest geboren; er besuchte das dortige Polytechnicum und hatte anfangs die Absicht, Lithograph zu werden. Doch auch dieses bescheidene Ziel seines Strebens sollte zunächst für ihn unerreichbar bleiben; denn im Jahre 1848 hatten seine Eltern ihr Vermögen und damit die Mittel verloren, ihn für diese Laufbahn weiter auszubilden. Sonnenthal sah sich genöthigt, zu Nadel, Zwirn und Scheere zu greifen und als Lehrling der ehrsamen Schneiderzunft den Kampf um's Dasein weiter fortzusetzen. Auf einer Wanderschaft kam er nach Wien und besuchte dort das Burgtheater; er sah von der letzten Gallerie herab eine Aufführung von Otto Ludwig's „Erbförster“ mit an, in welchem Stücke damals Anschütz die Titelrolle spielte. Schon lange schwärmte er für das Theater, und wenn er auf dem Schneidertisch saß und die Nadel tapfer handhabte, schwelgte seine Phantasie in glänzenden theatralischen Bildern, obschon er kaum wagte, sein armes Selbst in Zusammenhang zu bringen mit diesem Glanz der Bühne. Wohl hatte er in aller Stille manchen Monolog aus großen Trauerspielen sich eingelernt, doch ihm fehlte zunächst Lehrer und Publicum.
Jener Theaterabend sollte indeß entscheidend werden für sein Geschick. Der Eindruck einer Aufführung am Wiener Burgtheater war so mächtig, daß er es als das höchste Ziel seines Lebens ansah, eine ähnliche Wirkung auf ein begeistertes Publicum auszuüben. Er glaubte sich auf einmal berufen und auserwählt und begab sich zu Bogumil Dawison, der im Rufe eines zugänglichen Künstlers stand, welcher gern junge Talente protegirte. In der That schenkte dieser dem jungen Handwerksburschen, der ihm den Monolog Karl Moor's aus Schiller's „Räubern“ mit Feuer vorgetragen hatte, sein Interesse und empfahl ihn der Beachtung des Directors Laube, der ihn unter die freiwilligen Mitwirkenden seiner Massentableaus aufnahm. Volontair und Statist: ein bescheidener Anfang in künstlerischer und finanzieller Hinsicht!
Längere Zeit executirte Sonnenthal auf der Bühne des Wiener Burgtheaters nur jene bezeichnenden Armbewegungen, mit denen das Volk, das auf der Bühne meistens noch schlechter behandelt wird als in der Weltgeschichte, seinen Antheil an dem Geschicke der ersten Fächer zur Schau trägt. Doch wie viel Mimik er auch im Schatten der verschiedenen Bärte sinnvoll entfaltete: er vermochte keines Sterblichen Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, und sein Ehrgeiz blieb unbefriedigt. In Dawison hatte er glücklicher Weise einen Mentor gefunden, der mit seiner Empfehlung nicht genug gethan zu haben glaubte, der des jungen Talentes sich auch weiterhin annahm und ihm mehrere Rollen einstudirte. Doch damit konnte er in Wien nicht glänzen.
Das Papagenoschloß des Statisten wurde ihm endlich in Temesvar abgenommen, wo er in dem „Glöckner von Notre-Dame“ zuerst als Phöbus von der Bühne herab sprechen durfte (30. October 1851). Von jetzt ab blieb der junge Mime der Kreibig'schen Gesellschaft treu, die sich im Jahre 1852 nach Hermannstadt in Siebenbürgen begab und dort bis 1854 blieb. In diesem Zeitraume mußte Sonnenthal die verschiedenartigsten Rollen spielen; er wurde jedenfalls bühnenfest und bühnenfromm; in der Routine, nicht durch akademische Schulung, bildete sich sein
[433]Talent. Jetzt konnte er sein Glück schon an größeren Bühnen versuchen: er debütirte als Mortimer in Gratz mit Erfolg und nahm dann ein Engagement im äußersten deutschen Nordosten, in Königsberg an.
Dort sah ich ihn zum ersten Male, als er in einem meiner Stücke: „Die Diplomaten“, den jungen spanischen König spielte. Woltersdorff, damals der Theaterbeherrscher in der Stadt Immanuel Kant’s, in der er über fünfundzwanzig Jahre sein Bühnenscepter geschwungen, rühmte den jungen Darsteller und seine in der Pregelstadt errungenen Erfolge, und mir selbst sagte sein Spiel und ganzes Wesen besonders zu. Ich sprach ihn hinter den Coulissen. Kurz vorher war die entscheidende Wendung in seinem Leben eingetreten: er war an das Wiener Burgtheater berufen worden.
Sonnenthal’s erste Debüts an dem Theater, wo er lange als Statist im dunkeln Hintergrunde gestanden, waren vom Sonnenschein des Erfolges auch nur spärlich erhellt. Hören wir hierüber den Bühnenmeister, der ihn vom Pregel an die Donau citirt hatte. Laube erzählt in seiner Schrift über das Burgtheater:
„Den jungen Mann, welcher in Königsberg spielte, hatte Heinrich Marr, ein kundiger Diagnostiker, empfohlen. Aber ich mußte ihn unbesehen fest ergreifen; denn auf dem Wege, nach Süden wollte er an einem Hoftheater auf Engagement gastiren. Ich wagte es. Er kam – und das Wagniß schien mißlungen [434] zu sein. Er trat als Mortimer auf und gefiel nicht. Am Morgen nach diesem Debüt begegnete ich auf der damals noch bestehenden Bastei einem jungen Schauspielerpaare – ich glaube, es war ein Brautpaar – und Beide drückten mir ihr inniges Bedauern aus, daß es wieder nichts wäre mit dem neuen jungen Liebhaber, und daß ich ihn nicht behalten könnte. Ich schwieg. Die Person des jungen Mannes war mir angenehm; ich hoffte hartnäckig. Der tragischen Rolle sollte eine Lustspielrolle folgen: 'Der geheime Agent'. Eine Fichtner'sche Rolle! Natürlich genügte er auch da nicht, aber ich meinte nach diesem zweiten Abende, meiner Hoffnung noch sicherer vertrauen zu dürfen, wenn es mir nur gelänge, einen fremden Redeaccent zu vertreiben, der ihm eigen war. Ich war es gewohnt, mit solcher Hoffnung allein zu bleiben, ja mich verspottet zu sehen mit derselben, was diesmal auch von meiner Behörde reichlich geschah. Der Spott steigerte sich sogar zum Tadel, als ich ihm Rollen gab wie den Schiller in den 'Karlsschülern', und das sonst beliebte Stück vor schwachem Hause abspielte. 'Das kommt von solchen Besetzungen,' hieß es. Das ist der ewig fehlerhafte Cirkeltanz beim Theater; es soll Nachwuchs erzogen werden, aber Rollen will man den jungen Leuten nicht anvertrauen; sie sollen schwimmen lernen ohne Wasser. Nun, ich blieb eigensinnig anderer Meinung, und jener junge Mann, fleißig und geistig strebsam, lernte schwimmen wie Einer, und wenn ich ihn jetzt nenne, so sagt jetzt Jedermann: 'Ja, das glauben wir.' – Es war Adolph Sonnenthal.“
Auch bei diesem Künstler überragen also anfangs die Dornenstücke die Blumen- und Fruchtstücke; doch es ist ermuthigend für junge strebende Talente, zu erfahren, daß auch anfänglich halbe Erfolge und Mißerfolge keineswegs für später eine glänzende theatralische Laufbahn ausschließen; freilich bedarf es dazu eines Bühnenleiters von unerschütterlichen Ueberzeugungen, von jenem Eigensinn Laube's, der für ihn, wo er im Unrecht war, stets verhängnißvoll gewesen ist, wo er aber Recht hatte, auch Gedeihliches durchzusetzen vermochte.
Im Jahre 1863 sprach ich Sonnenthal wieder in Wien: er war inzwischen ein Liebling des Publicums geworden. Ich konnte ihm danken für den schönen, sich nachhaltig vermehrenden Erfolg meines Lustspiels „Pitt und Fox“, den er in erster Linie durch die vorzügliche Darstellung des Fox erringen half. Laube brachte das Stück, wie er selbst mittheilt, erst zur Aufführung, als Sonnenthal soweit entwickelt war, daß er ihm den Fox geben konnte, weil er in seinem gehaltvollen Wesen eine erhöhende Unterlage fand für die ausgelassen Figur des berühmten Ministers.
Seitdem hat sich Sonnenthal's Stellung an der Burg von Jahr zu Jahr noch mehr befestigt; er ist zugleich ein tüchtiger, fleißiger Regisseur und hat sich auch durch bühnengerechte Bearbeitung des George Sand'schen Dramas: „Der Marquis von Villemer auf dramaturgischem Gebiete bewährt.
Die Entwickelung des begabten Darstellers wurde nicht nur durch seinen Fleiß gefördert, er kam auch allmählich immer mehr in das richtige Fahrwasser. Der männliche Grundzug seines Wesens, der sich von Jahr zu Jahr schärfer ausprägte, war ihm bei der Darstellung der lyrischen Bühnenjünglinge immer etwas im Wege. Er hatte wohl Feuer und Wohlklang des Organs; aber es fehlte ihm doch die sanfte Innigkeit der Schwärmerei, das eigentlich Schmelzende der Sehnsucht und Hingebung der Liebe; auch störte bisweilen das Umschlagen der Stimme in den höheren Registern der Schiller'schen und Shakespeare'schen Tenore. Im Conversationsstücke dagegen sollte der junge Darsteller bald heimischer werden und sich allmählich die Domaine erobern, in welcher ihm am deutschen Theater unbestritten der erste Rang zuertheilt werden mußte. Als Salonschauspieler erntete er die reichsten Lorberen, und doch war er nicht vorzugsweise das, was man als Frackschauspieler zu bezeichnen pflegt.
Die äußere Eleganz war nicht das Sieghafte bei ihm in diesen Rollen, wenn er sie auch nicht vermissen ließ: es war immer der innere markige Halt, die geistige Bedeutung, der seelenvolle Ausdruck, was den Ausschlag gab bei den Wirkungen seiner Kunst. War doch auch seine Gestalt mehr stattlich als schlank, und in seinen für bewegliches Mienenspiel nicht besonders geeigneten Zügen war es vorzugsweise der sprechende Blick des Auges, der die Situation beherrschte. Mehr als die jugendlichen Liebhaber in Jamben, sagten ihm daher die Liebhaber der Bauernfeld'schen Muse zu, die reiferen Junggesellen mit ihrem oft sarkastischen Humor, die widerstrebend in Amor's Bande eingefangen werden. Sein Baron Ringelstern in „Bürgerlich und Romantisch“, sein Baron Zinnburg und ähnliche Lebemänner, kundige Thebaner in Herzenssachen, Männer von Laune und Geist: das waren die Helden, die von Sonnenthal in unnachahmlicher Weise auf die Bühne gebracht wurden. Ein fein jovialer Humorist, wie Bolz in Freytag's „Journalisten“, alle Rollen mit geistiger Unterlage, wie Fox bei freiem Spiel der Laune, wurden die Zierden seines Repertoires.
Sehr zu Statten kam dem Darsteller dann auch die an sich übertriebene und tadelnswerthe Pflege der französische Komödie seitens des Deutschfranzosen Heinrich Laube; doch in diesen französischen Stücken gab es manche interessante Salonrolle, Liebhaber von männlichem Gepräge und geistig überlegener Haltung; wir erwähnen hier nur den Grafen Prasch in dem Lustspiel „Der Attaché“, den ebenso energischen, wie schlauen Diplomaten, den Sonnenthal ganz vortrefflich durchführte.
Neben diesen Lustspieldarstellungen gingen diejenigen der Tragödie einher. In Goethe's „Clavigo“ spielte er die Titelrolle stets wirksam, so wenig dieser schwankende Charakter seinem Naturell zusagte. Immer sind Sonnenthal's Masken vortrefflich; so war es auch diejenige des „Clavigo“. Wir geben sie hier wieder nach einem Oelgemälde, welches im Vorzimmer der kaiserlichen Loge in der Burg hängt. Bei schwierigen Charakteren, wie Hamlet und Narciß, die zur Bizarrerie verlocken, war der Darsteller stets darauf bedacht, sie aus einem Guß und mit maßvoller Haltung hinzustellen; er gehörte nicht zu den Künstlern, welche mehr die gelehrten Noten der Commentare spielen, als den Text der Dichtung selbst. Alle unruhige Geistreichigkeit mit ihren hin- und hergreifenden Marotten liegt ihm fern.
Gerade in der harmonischen maßhaltenden Gestaltung liegt der große Vorzug seiner Darstellungsweise. Darum gelangen ihm auch in der Tragödie besonders diejenigen Gestalten, über denen eine milde dichterische Beleuchtung schwebt, die von dem Poeten selbst schon mit einer harmonischen Stimmung beseelt sind, wie der König in dem interessanten Grillparzer'schen Fragment: „Esther“.
In den letzten Jahren hat sich Sonnenthal mehr dem Helden- und Charakterfach gewidmet. Eine seiner Glanzleistungen war der „Nero“ in Wilbrandt's Trauerspiel, das bei einzelnen grandiosen Zügen doch auch eine gewisse Verzerrtheit in den Uebertreibungen der grellen Handlung nicht verleugnen konnte und sich deshalb nicht auf der Bühne erhalten hat. Immerhin war der Titelheld eine interessante pathologische Studie, die von dem Darsteller mit Tiefe erfaßt wurde; von den genialen Blitzen der Wilbrandt'schen Dichtung ging keiner verloren, keiner zündete bei seiner Darstellung mit kaltem Schlag. Für die Durchführung des Antonius in Shakespeare's „Antonius und Kleopatra“ zollte Dingelstedt in der Widmung, die er seiner ebenso kühnen wie bühnengewandten Bearbeitung dieser römischen Historie voraussendete, Sonnenthal sowie Charlotte Wolter, der königlichen Kleopatra, warmen Dank.
Eine Meisterleistung, die wir selbst an der Burg mit ansahen, ist der alte Risler Sonnenthal's in dem widerwärtigen französischen Stück: „Risler senior und Fromont junior“. Wenn Daudet auf dem Wiener Burgtheater sich behauptet hat, so hat er dies wesentlich dem Schauspieler Sonnenthal zu verdanken. Selten haben wir auf der Bühne etwas Wirksameres gesehen, als den Contrast zwischen diesem biedermännisch schlichten, ruhig einfachen Risler der ersten Acte und diesem hinreißenden Wirbelwind der Leidenschaft, in den ihn die furchtbare Entdeckung der Untreue seiner Frau versetzt. Das Spiel Sonnenthal's erregte jedesmal in dieser großen Scene einen wahren Sturm des Enthusiasmus.
So gehört Sonnenthal zu den Darstellern, die bei keiner Etappe ihrer Entwickelung stille stehen, zufrieden mit dem errungenen Ruhm, sondern die immer strebend sich bemühen und dem aufmerksamen Beurtheiler stets neue Seiten ihres Talentes darbieten. Auch ist er kein staubaufwirbelnder Virtuose, sondern ein echter Künstler, dem nur das Schaffen und die Schöpfung selbst am Herzen liegen, eine liebenswürdige Künstlernatur, empfänglich für alles Schöne und, wo er nur vermag, gern bereit, das Talent junger Darsteller und Dichter zu fördern.
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Auf der letzten Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte überraschte Professor Schiff aus Genf, einer der namhaftesten Physiologen der Jetztzeit, die Versammlung mit dem Geständniß, daß er trotz aller Zweifelsucht und wissenschaftlichen Vorsicht gewisse Einwirkungen der Metalle auf den menschlichen Körper habe bestätigen müssen, welche sonst Jedermann geneigt gewesen sei, in’s Gebiet des Aberglaubens zu verweisen. Den mit der medicinischen Tagespresse vertrauten Zuhörern war es nicht unbekannt, daß, von einer Reihe ärztlicher Capacitäten Frankreichs abgesehen, auch mehrere deutsche Autoritäten auf dem Gebiete der Nervenkrankheiten wie z. B. Professor Eulenburg in Greifswald, Westphal in Berlin und Andere, zu ähnlichen positiven Ueberzeugungen auf diesen Gebieten gekommen sind. Es dürfte deshalb an der Zeit sein, auch den Lesern der „Gartenlaube“ einen Blick in dieses mysteriöse Gebiet zu eröffnen und wenigstens das Thatsächliche darüber kurz mitzutheilen.
Schon in alten Zeiten trug man bekanntlich gegen verschiedene Uebel metallene, mit magischen Zeichen bedeckte Amulette, meist in Form runder oder eckiger Blechschilder, auf der bloßen Brust oder am Halse, und die archäologischen Sammlungen sind reich an oft höchst absonderlich geformten Gold- und Bronzegegenständen, die man im alten Assyrien, Aegypten und Rom zur Abwendung des Krämpfe erzeugenden „bösen Blickes“, gegen Fallsucht und Pest am Halse trug. Die ursprünglich nur von den Kindern römischer Großen, später von allen Kindern, deren Eltern diesen Luxus erschwingen konnten, am Halse getragene Goldkapsel (Bulla aurea) gehört ebenfalls zu diesen magischen Schutzmitteln gegen Krankheiten und böse Einflüsse von außen. Im Mittelalter machte Paracelsus Geschäfte mit seinen metallenen „Constellationsringen“, indem er in jener Zeit astrologischen Aberglaubens Jedermann rieth, einen eigens dazu construirten breiten Ring aus dem Metalle seines Geburtsplaneten zu tragen. So mußten die Sonnenkinder goldene, die Mondkinder silberne, die Mars-, Venus-, Jupiter- und Saturnkinder eiserne, kupferne, zinnerne und bleierne Ringe tragen, die Mercurskinder endlich gläserne Hohlringe, die mit Quecksilber gefüllt waren. Auch empfahl er zuerst die Anwendung des Stahlmagneten gegen rheumatische Schmerzen.
Von da leitet sich die Behandlungsweise und der Name des „thierischen Magnetismus“ her; denn Mesmer, der Vater desselben, begann seine Curen bekanntlich mit Stahlmagneten, mit denen er seine Kranken bestrich, und mit magnetischen Bassins, deren Griffe seine Patienten in der Hand halten mußten. Seit jenen Tagen kam das Tragen magnetischer Armaturen auf, die nach Entdeckung der Voltaischen Säule durch sogenannte „galvanische“ Garnituren abgelöst wurden. Wir erinnern hier nur an Raspail’s galvanische Platten, Georget’s kupferne Migräneringe, Recamier’s (mit Kupfer und Zinkspähnen) gefüllte galvanische Kissen und Goldberger’s Ketten, denen sich viele ähnliche „große Erfindungen“ zum Heile der Menschheit anschlossen.
Bekannt ist auch der im Volke lebende Glaube an die Wirksamkeit großer metallener Gegenstände gegen Krämpfe. So soll Wadenkrampf oftmals durch Berührung mit einem großen Hausschlüssel gestillt werden, und Dr. Burq in Paris, der Wiedererwecker der Metallotherapie, erzählt in seinem ersten über diese Behandlungsweise 1854 veröffentlichten Buche von Personen, die stets mit Schaufel und Feuerzange zu Bette gingen, und von einem Pariser Commandanten, der sein ganzes Bett mit alten, durch Traben auf gepflasterten Straßen besonders stark „magnetisch“ gewordenen Pferdehufeisen gegen den Krampf-Dämon verbarricadirt hatte. In der Normandie sollen die Bauern, wie Burq versichert, in ihren Holzschuhen vielfach einen eisernen Schlüssel als Vorbeugungsmittel gegen Krämpfe tragen.
Seit dem Jahre 1821 machte ein französischer Arzt, Namens A. Despine, Beobachtungen über den Nutzen einer Auflegung von Goldsachen bei Hysterie; eine den Kranken umgehängte goldene Uhr that Wunder, besonders wenn sie an einer goldenen Kette hing. Man lachte darüber und meinte, mit goldenen Schmucksachen ließen sich viele weibliche Patienten curiren. Nicht viel mehr Beifall erwarb der englische Arzt Elliotson bei seinen Collegen, als er (1838) bemerkt haben wollte, daß das Auflegen verschiedener anderer Metalle krampfstillend, dagegen das Auflegen von Nickel krampferregend wirken sollte. In den dreißiger Jahren wollte man bemerkt haben, daß die Arbeiter in österreichischen Kupfer- und Quecksilberbergwerken und Metallarbeiter überhaupt von der Cholera verschont geblieben seien, und man begann mit Quecksilber gefüllte Glasröhren und große kupferne Medaillen als Schutzmittel gegen Cholera auf dem bloßen Leibe zu tragen. Die letzteren, auch von Hahnemann (1833) empfohlenen sogenannten „ungarischen Medaillen“ haben dann in allen Cholera-Epidemien bis auf die neueste Zeit ihre Rolle gespielt.
Der eigentliche Wiedererwecker der Metallotherapie ist, wie schon erwähnt, der Pariser Arzt B. Burq, der im Jahre 1848, durch die Versuche Elliotson’s angeregt, schon als Eleve im Hospital Cochin den damaligen Dirigenten Maisonneuve ersuchte, ihm eine aufgegebene Kranke, ein hysterisch gelähmtes Mädchen, welches an schrecklichem Erbrechen und Krämpfen litt, zu überlassen, und dabei durch Anwendung messingener Platten und Ringe nicht nur eine nach wenigen Minuten erfolgende Stillung der Krampferscheinungen, sondern endlich dauernde Heilung des für unheilbar erklärten Mädchens erzielte. Seitdem wurde Burq der Apostel und Fanatiker dieser Heilmethode, und da es ihm gelang, während der Cholera-Epidemie 1849 in den Pariser Hospitälern durch Anlegen von Messing- und Kupferringen die Krämpfe vieler Cholerakranken augenscheinlich zu mildern, öffneten sich seinen Versuchen bereitwilligst alle Krankenhäuser; Napoleon der Dritte interessirte sich für seine Untersuchungen und gab die Mittel zur Beschaffung von Metallarmaturen für die Krankenhäuser her, die Akademien nahmen seine Berichte entgegen, und Burq war für einige Zeit ein gefeierter Mann. Er curirte schließlich alle Nervenübel, Lähmungen, Rheumatismen und Neuralgien, Krämpfe, Delirien und hysterischen Leiden mit seinen stählernen und kupfernen Armaturen, oder indem er die Kranken in kupferne Badewannen brachte, und suchte seine Mittel in Form von etwas massiven Schmucksachen (Armbänder, Halsbänder, Medaillen, Ketten und Ringe) einzubürgern.
Nach und nach hatten ihn seine Untersuchungen darauf geführt, daß nicht alle Metalle in gleicher Weise jedes Uebel höben; er fand, daß solche Leiden, bei denen kupferne Armaturen unwirksam waren, durch stählerne gehoben wurden, oder vielmehr, daß manche Personen durch das eine Metall besser als durch das andere geheilt würden, und daß sich Menschen und Metalle nach einer Scala ordnen ließen, deren entgegengesetzte Enden Kupfer und Stahl bildeten, während die andern Metalle ihre Stellung zwischen ihnen erhalten. Es erinnert dies unmittelbar an die Anordnung der Metalle und anderer Elementarstoffe in eine eletrochemische Reihe nach ihrem elektrischen Verhalten, wie sie Berzelius aufstellte, in welcher jedes Metall gegen seine Vorgänger elektropositiv und gegen seine Nachfolger elektronegativ erscheint, und zwar um so stärker, je weiter es von ihm absteht.
Bekanntlich ist schon vor langer Zeit behauptet worden, daß die elektronegativen und elektropositiven Stoffe und ihre Verbindungen auf die Nerven empfindlicher Personen sehr verschieden einwirkten, und Herr von Reichenbach, der Entdecker des Od’, hat dies einst dem Urheber der elektrochemischen Theorie sehr augenscheinlich dargelegt. Als nämlich Berzelius im Jahre 1845 zur Cur in Karlsbad war und die odischen Erscheinungen kennen lernen wollte, ermittelte Reichenbach daselbst mit Hülfe des Bade-Arztes ein „sensibles“ Fräulein und ersuchte Berzelius, eine Reihe stark elektronegativer und elektropositiver Körper wie Knallbonbons in gleich aussehende Papierstücke einzuwickeln, sodaß sie von außen nicht zu unterscheiden wären. Berzelius, der eine Reihe seltener Metalle und Präparate mit sich führte, that dies und streute die Packetchen durch einander auf den Tisch. Die Sensitive glitt dicht mit der flachen Hand über die Päckchen hin und bemerkte, daß einige Päckchen ein Ziehen in der Hand hervorriefen. Berzelius ersuchte die Dame nun, die „ziehenden“ von den unwirksamen Packeten zu sondern, und es zeigte sich, daß sie lauter elektropositive, die „nichtziehenden“ elektronegative Stoffe enthielten. Für die linke Hand würde die Wirkung nach Reichenbach’s Versicherung eine umgekehrte gewesen sein. Aehnliche Wahrnehmungen haben auch andere Beobachter gemacht; Schindler untersuchte eine Somnambule, der angeblich jedes Metall Schmerzen [436] verursachte, Erdmann eine andere, der sie nur auf der linken Seite angenehm waren. Wir werden solche halbseitige Wirkungen sogleich auch bei der Metallotherapie hervorgehoben finden.
Nach den Anschauungen Burq’s ordnen sich die Menschen und ihre nervösen Leiden selbst in eine ähnliche Reihe, und wie dort dasselbe Metall nach der einen Seite elektronegativ und nach der andern elektropositiv wirken konnte, so sollen sich hier bestimmte Metalle bestimmten Personen und Krankheitszuständen gegenüber heilsam oder unwirksam erweisen. Es käme also zunächst darauf an, zu ermitteln, welches Metall auf ein bestimmtes krankes Individuum bei äußerlicher Anwendung die heilsamste Wirkung ausübt. Dasselbe muß nicht nur die Schmerzen oder die Empfindungslosigkeit in den betreffenden Körperstellen vermindern, sondern soll daselbst auch vermehrte Wärme und Blutumlauf erzeugen, sodaß Nadelstiche, die vorher keine Blutung hervorriefen, es nunmehr thun, in welchem Umstande ein auch für den äußern Beobachter controllirbares Kennzeichen der stattgehabten Metallwirkung gefunden wurde.
In Folge gewisser mysteriöser Verwandtschaften zwischen den lebenden Wesen und den zusammensetzenden Hauptelementen der Umgebung, sagt Burq, existiren mit den verbreitetsten Metallen Beziehungen der innigsten Art, und es ist nöthig, dem Organismus dasjenige Metall innerlich zuzuführen, welches bei äußerlicher Anwendung den günstigsten Einfluß darauf übt. Denjenigen Nervenkranken, auf welche Eisen den günstigsten Einfluß übt, muß Eisen in passender Form innerlich gereicht werden, anderen Kupfer, Silber und besonders vielen Gold. Man hat diese Ausmittelung des heilsamsten Metalles mit dem Namen Metalloskopie, der sonst für das Metallspüren der mit Wünschelruthe und siderischem Pendel versehenen Bergleute galt, belegt, und wirklich wird damit eine Theorie aufgefrischt, die mit jenen Proceduren viele Berührungspunkte hat; denn bekanntlich sollten die Nerven der erwähnten Ruthengänger oder Rhabdomanten durch unterirdische Metalladern so beeinflußt werden, daß eine von ihnen ausströmende Kraft die Wünschelruthe in Bewegung setzte. Andererseits hat die auf die Metalloskopie basirte innerliche Metallotherapie viele Aehnlichkeit mit den Heilsystemen von Paracelsus und Rademacher, wie denn in der alten Medicin nicht nur nervenstärkende Eisen- und Goldtropfen, sondern auch Kupferpräparate eine bedeutende Rolle spielten.
Trotz aller dieser verdächtigen Verwandtschaften veranlaßte die Ausdauer und Unermüdlichkeit des von seinen Ideen enthusiasmirten Arztes, daß die Pariser biologische Gesellschaft im August 1876 eine Commission aus drei renommirten Pariser Aerzten einsetzte, welche, unter Leitung einer der ersten medicinischen Autoritäten Frankreichs, nämlich des Professor Charcot, in der von diesem geleiteten Salpetrière die Versuche Burq’s prüfte und in den letzten Jahren (1877 und 1878) sehr günstige Berichte darüber erstattete. Die Versuche wurden wegen einer dabei hervortretenden doppelten Beweiskraft namentlich an Kranken angestellt, die an sogenannter Hemi-Anästhesie litten. Diese Krankheit, welche sich nicht selten bei hysterischen und nervösen Frauen, zuweilen auch bei nervenleidenden Männern ausbildet, stellt eine vollständige periodische oder dauernde Unempfindlichkeit einzelner Theile oder auch einer gesammten Körperhälfte dar, während die Beweglichkeit aller Theile erhalten ist. Diese Unempfindlichkeit halbirt den Körper so scharf, daß z. B. die rechte Seite der Zunge empfindlich sein kann, während die linke unempfindlich ist, und ebenso sind Gesichts- und Gehörssinn auf der entsprechenden Seite mehr oder weniger unempfindlich. Anatomisch erklärt sich dieser Zustand, der ja auch durch die halbseitige Gehirnlähmung illustrirt wird, sehr wohl durch die zweiseitige Anordnung des Nervensystems und Gehirnbaues, aber über die Natur jener Krankheit ist man völlig im Unklaren, und es ist nur eine Umschreibung, wenn man sagt, das „Nervenfluidum“ circulire in der einen Hälfte nicht, die „Innervation“ sei dort periodisch aufgehoben etc.
Nach dem Auflegen der für die betreffende Person als wirksam erkannten Metalle stellt sich nun nach Burq und vielen anderen Beobachtern im Verlaufe einer viertel bis halben Stunde die Empfindlichkeit in den betreffenden Theilen wieder her, das Ohr beginnt zu hören, das Auge langsam erst Formen, dann Farben zu unterscheiden, und zwar nach einer in letzter Zeit vielbesprochenen Scala Roth zuerst, Blau zuletzt.
Das Merkwürdigste aber ist, daß in demselben Maße die vorher gesunde Seite die Empfindlichkeit einbüßt; es findet eine vollkommene Umkehrung der „Innervation“ statt, als ob, um wieder dieses grobe Bild zu gebrauchen, das nur für eine Seite ausreichende Nervenfluidum von dem Metall auf die andere Seite herübergezogen würde. Man nennt diese Wirkung die Sensibilitäts-Uebertragung („Transfert de Sensibilité“) und es kann nichts Erstaunlicheres geben, als nun im anderen Auge die Farbenempfindung ebenso schrittweise erlöschen zu sehen, wie sie in dem vorher unempfindlichen Auge wiederkehrt.
Gewiß hatten Professor Schiff, Eulenburg und zahlreiche andere Autoritäten Ursache, mit dem größten Mißtrauen an die Prüfung dieser Phänomene zu gehen. Es ist bekannt, daß hysterische Personen einen krankhaften Hang zur Verstellung und Täuschung besitzen. Schiff, der in der Salpetrière nach Belieben experimentiren durfte, gab sich die größte Mühe, durch sinnreich angeordnete elektrische Apparate die Kranken zu täuschen, ihnen z. B unversehens starke elektrische Schläge zu versetzen, von denen sie nach der Anordnung der Apparate glauben mußten, daß dieselben die empfindliche Seite treffen würden, während sie die angeblich unempfindliche Seite trafen etc. Er endigte mit der Ueberzeugung, daß die Personen, mit denen er experimentirte, wirklich halbseitig unempfindlich seien, und daß die beschriebene Wirkung der Metalle also nicht auf Täuschung beruhe.
Ursprünglich glaubte man, daß ein schwacher elektrischer Strom, wie ihn die Berührung des Metalles mit der feuchten Haut erzeugt, die Wirkung hervorbringen möchte, allein es zeigte sich, daß das Zwischenlegen seidener Tücher die Wirkung nicht hinderte, daß nach Westphal Glas, nach Schiff ein ganz bestimmter Wärmegrad, elektrisirte Körper, deren Strom nicht in den Organismus eintritt, ja sogar mechanische Erschütterungen, wie z. B. Tonschwingungen, dieselbe Wirkung wie die Metalle hervorbringen.
Das Ergebniß aller dieser Untersuchungen, die zum Theil mit der größtmöglichsten Vorsicht angestellt wurden, ist, daß es sich hier im Großen und Ganzen nicht um absichtliche oder unfreiwillige (psychische) Täuschungen auf Seiten der Kranken handelt, sondern daß gewisse äußere Agentien, und zwar nicht blos Metalle und die von denselben repräsentirten elektro-chemischen Spannungen, sondern auch andere unter der Form von Schwingungen anhaltend einwirkende physikalische Kräfte, einen unleugbaren Einfluß auf das Nervenleben äußern. Im Grunde konnte dies bei dem heutigen Zustande der Forschung Niemanden allzu sehr überraschen. Denn seit der Entdeckung Volta’s ist man überzeugt, daß die Nervenkraft eine, wenn auch mit der Elektricität nicht identische, so doch analoge Naturkraft sei, die mit den übrigen physikalischen und chemischenn Kräften ebenso in Wechselwirkung stehen muß, wie diese unter einander. Die von den berühmtesten Aerzten vorgenommene Behandlung der Nervenleiden mit galvanischen Strömen beruht ja größtentheils auf dieser Ueberzeugung, ebenso wenn wir bei rheumatischen Leiden Wärme anwenden, und vielleicht beruht häufig die Unwirksamkeit jener Mittel nur darauf, daß wir nicht leicht im Stande sind, dasjenige Maß von Wärme, Elektricität etc. zu treffen, welches der Zurückführung der gereizten Nerven zur normalen Thätigkeit am günstigsten wäre, sondern eher durch Ueberreizung das Uebel vorübergehend verschlimmern. So sah Schiff in einem Falle Heißwasserumschläge von 54 Grad Wärme völlig unwirksam, während 58 bis 59 Grad warmes Wasser alsbald ebenso günstig wie das wirksamste Metall eingriff. Bei der äußern Anwendung von Metallbandagen mögen, selbst wenn man nicht sogleich das allergünstigste Metall trifft, nicht so leicht – wegen der im Allgemeinen milderen Einwirkung – Verschlimmerungen eintreten.
Indessen beabsichtigen wir hier keineswegs den Schein zu erwecken, als ob wir etwa den Rheumatismusketten, elektromotorischen Zahnhalsbändern und ähnlichen Wundermitteln irgendwie das Wort reden wollten. Die in diesen Ketten stattfindende Verbindung von Zink und Kupfer, und jede gleichzeitige Anwendung zweier Metalle wird als die Wirkung schwächend bezeichnet. Naturgemäß würde auch die Metallotherapie, falls sie sich überhaupt zu einem ersprießliche Zweig der Heilkunde entwickeln sollte, nur unter Leitung verständiger Aerzte Erfolg haben können, und gerade so gut, wie Jedermann, der ohne eigene Rechtskenntnisse einen Proceß anstrengt, sich einen sachkundigen Rechtsbeistand sucht, sollte Jedermann, [437] der einen Proceß gegen seinen – gewöhnlich durch eigene Schuld – störrisch gewordenen Körper gewinnen will, immer den vertrauenswürdigsten Heilsbeistand wählen.
Ob nun die innere Metallotherapie wirklich die ihr von Burq beigelegte Wichtigkeit habe, ist schwerer und jedenfalls erst nach langer Erfahrung zu beurtheilen. Unmöglich wäre es ja nicht, wenn es auch nicht sehr wahrscheinlich klingt. Im Uebrigen will derselbe gewisse äußere Beweise von der Wirksamkeit der durch Metalloskopie ermittelten Metallarzneien auf die Nervenzustände darin gefunden haben, daß bei ihrem Gebrauch die äußere Metallarmatur im entgegengesetzten Sinne wirke und unter Umständen Empfindungslosigkeit (Metall-Anästhesie) hervorbringe. Ob sich aber nicht hierbei unter die thatsächlichen Wirkungen eingebildete mischen, wird sehr schwer zu ermitteln sein. So ist die Wiederkehr der Empfindlichkeit für die verschiedenen Farben in der Reihe Roth, Gelb, Grün, Blau nicht aus inneren Gründen, wohl aber darum verdächtig, weil diese Eigenthümlichkeit in einer Zeit bemerkt worden ist, in welcher die vermeintliche historische Entwickelung des Farbensinns beim Menschen vielfach in allen Zeitungen besprochen und – nebenbei bemerkt – von dem Unterzeichneten zuerst gründlich widerlegt worden ist. Ueber die Wahrheit gerade dieser Aussagen lassen sich keine Controllversuche machen, weil die Kranken angeben, das Auge werde nie ganz unempfindlich, wie z. B. die Haut, sie behielten immer einige Fähigkeit, Licht und Dunkel, sowie allgemeine Umrisse zu unterscheiden; wir sind also in dieser Farbenfrage einzig auf die nicht eben große Glaubwürdigkeit der Kranken angewiesen.
Was aber bei allen möglicherweise unterlaufenden Täuschungen diesen Versuchen ein tieferes Interesse verleiht, ist weniger die medicinische Bedeutung, als eben der Umstand, daß sich hier Wege eröffnen, durch verschiedene physikalische und chemische Mittel die Nerventhätigkeit zu beeinflussen und mit ihr in Wechselwirkung zu treten. Daß man dabei von anomalen Zuständen ausgehen muß, ist kein Beweis gegen den Werth der Sache: schon viele wichtige Fragen der Physiologie und Nervenphysik sind durch anomale Zustände, Verwundungen, und Krankheitsprocesse aufgeklärt worden, und andere Fragen wurden dadurch zuerst angeregt. Die Forschung steht hier vor Problemen, die nur eine ebenso vorurtheilsfreie wie höchst behutsame und vorsichtige Untersuchung entschleiern kann.
Eines Winterabends im Jahre 1584 trat Iwan der Vierte (Wassiljewitsch), Zar aller Reußen, genannt „der Henker“ oder „der Schreckliche“, auf die „rothe“ Treppe des Kremlin zu Moskau hinaus, um lange zum Firmament emporzustarren, allwo zwischen den Kuppeln und Thürmen der Kirche Iwans des Großen und der Kirche der Verkündigung ein Komet sichtbar war mit kreuzformartigem Feuerschweif. Der Zar wandte sich endlich ab, bekreuzte sich und murmelte vor sich hin: „Das bedeutet meinen Tod.“
Bald darauf erkrankte er schwer. Aus Lappland herbeigeholte Schamanen-Zauberer vermochten dem Uebel nicht Einhalt zu thun. Am 10. März von 1585 berief er den Bojarenrath und ließ sein Testament aufsetzen, kraft dessen er die Thronfolge seinem Sohne Feodor zutheilte und inbetracht der Blödsinnigkeit desselben einen Regentschaftsrath bestellte, bestehend aus den beiden Knäsen (Fürsten) Iwan Schuisky und Iwan Mstislawsky, sowie den drei Bojaren (Großbarone) Bogdan Bielsky, Nikita Juryew und Boris Godunow. Am 18. März starb „der Schreckliche“ und säuberte mittels seines Todes den Erdball vom größten Scheusal, welches zu tragen dieser jemals verdammt war. Denn überblickt man das Wüsten und Wüthen dieses Dämons, ja fasst man auch nur die von ihm veranstalteten „Opaly“ (Durchwurfelungen oder Ausmerzungen des Volkes) ins Auge, mit deren Gräueln verglichen die Schrecken der französischen Revolotion harmlose Kinderspiele waren, so könnte man unschwer zu dem Glauben kommen, die „allgütige Mutter“ Natur hätte in ihrer grausamsten Laune dieses Unthier geschaffen, um eine fürchterliche Probe anzustellen, was alles die Menschen sich gefallen ließen und bis zu welcher bodenlosen Tiefe der Niedertracht die sklavische Feigheit der Völker hinabreichen könnte.
In unseren Tagen ist es bekanntlich zur „wissenschaftlichen“ Mode geworden, den Unterschied von gut und böse, Recht und Unrecht, Tugend und Laster, Verdienst und Verschuldung zu verwischen und einem grundsatzlosen Geschlechte das ohnehin schon sehr geschwächte Gefühl der Verantwortlichkeit vollends aus der schlaffen Seele zu schmeicheln mittels der materialistischen Theorie, daß die Gefühle, Gedanken und Thaten des Menschen schlechterdings nur Produkte seiner physischen Anlagen und Eigenschaften wären. Laster, Frevel und Verbrechen müßten daher für unumgängliche Schlußfolgerungen aus natürlichen Prämissen angesehen werden, für Abnormitäten, und demnach Lasterhafte, Frevler und Verbrecher nur für mitleidswerthe Kranke, für Gestörte, für Wahnsinnige. Es ist recht verwunderlich, daß diese modische Theorie, welche sich ja auch schon spürbar genug in die Strafgesetzgebung und Strafrechtspflege eingeschlichen hat und, wenn erst in ihrem ganzen Umfange verwirklicht, die menschliche Gesellschaft unfehlbar in den aller Verantwortlichkeit baren Zustand der Bestialilät zurückentwickeln wird – ja, es ist recht verwunderlich, daß diese schöne Theorie nicht auch schon von irgendeinem „wissenschaftlichen“ Modisten auf Iwan den Schrecklichen angewandt und also an dem „grausen“ Zaren, wie er beim Lermontow heißt, eine der jetzt so beliebten „Rettungen“ verübt wurde. Freilich, ein leichtes Stück Arbeit würde der „Retter“ nicht haben. Denn wenn ihm der Nachweis, daß Iwan der Henker von Haus aus ein Wahnsinniger gewesen, nicht allzu schwer werden dürfte, so vermöchte doch keine Trübung der Quellen und keine sophistische Dialektik die Thatsache aus der Welt zu schaffen, daß in dem Wahnsinn des Zaren Methode gewesen ist und der „Grause“ seiner Absichten und Zwecke sich sehr wohl bewußt war.
Wie ein rother Faden, nein, wie ein rother Blutstrom windet oder wälzt sich durch Iwans Gräuelherrschaft der Staatsgedanke, mittels Gründung der zarischen Autokratie, des zarischen Absolutismus höchster Potenz die moskowitische Reichseinheit her- und festzustellen, welche bislang durch die Machtstellung des Bojarenthums stark beeinträchtigt worden war. Allerdings ist der Zar häufig genug Henker um der Henkerlust willen gewesen, allerdings trieb er die grässliche Wollust der Grausamkeit bis zum raffinirtesten Kitzel; aber den angegebenen Grundzug seiner Politik hat er selbst in den wildesten Orgien der Entmenschung so wenig vergessen, als er desselben in den tollen Uebertreibungen der „gottesdienstlichen“ Uebung seiner „Frömmigkeit“ jemals vergaß. Denn selbstverständlich war der vierte Iwan sehr „fromm“, das heißt allem Aberglauben der orientalisch-russischen Kirche leidenschaftlich zugethan, ganz wie Ludwig der Elfte von Frankreich „fromm“, das heißt allem Aberglauben der occidentalisch-römischen Kirche fanatisch ergeben war. Man könnte überhaupt Iwan den Vierten den aus dem Französischen ins Russische übersetzten Ludwig den Elften nennen. Denn im ganzen und großen spielte der Zar im 16. Jahrhundert in Russland die Rolle, welche der König im 15. Jahrhundert in Frankreich durchgeführt hatte. Beide haben, jeder in seinem besonderen Stil, die Adelsherrschaft gebrochen und die absolute Monarchie begründet.
Kein Zweifel, das russische Volk erkannte in dieser Gründung eine Wohlthat, wenigstens instinktmäßig. Daraus mag sich das Unglaubliche und doch fraglos Wahre erklären, daß die Russen diesem Wüthrich, der die Grausamkeit bis zu unerhörten Thaten wilder Wuth oder auch bis zur raffinirtesten Qualenaustiftelung [438] getrieben, seine eigene Familie in empörendster Weise gepeinigt, seinen zweitältesten Sohn eigenhändig umgebracht, in mongolisch wüster Vernichtungsraserei die Bewohnerschaften ganzer Städte und Landschaften ausgetilgt, daneben im Schlamme ekelhafter Ausschweifungen sich gewälzt hatte, geradezu leidenschaftlich unterwürfig und zugethan waren – so leidenschaftlich, daß beim Tode des Scheusals von Zar die allgemeinste, aufrichtigste, wildeste Wehklage losbrach. Man hätte, so man dies Gebaren der Moskowiten ansah, meinen können, ein Gott, ihr Gott wäre ihnen gestorben. Und im Grunde war es ja so, denn die zarische Macht und Gewalt war eine abgöttisch geglaubte und verehrte.
Vom 18. März 1585 an hieß Feodor Iwanowitsch, Iwans des Schrecklichen dritter Sohn – der älteste war frühzeitig gestorben, den zweitältesten hatte der Vater todtgeschlagen – der Zar aller Reußen. Der zweiundzwanzigjährige Junge war physisch und psychisch eine Null, kraft-, verstand- und kenntnißlos, ein Dreiviertels-Trottel, ein Fex, welcher seine ganze Zeit damit verbrachte, in den Kirchen des Kremlin herumzulaufen die Glocken allerhöchsteigenhändig zu läuten und sich tagelang die absurdesten Heiligenlegenden vorlesen zu lassen. Bei feierlichen Anlässen setzte man den Zar-Fex auf den Thron und gab ihm Skepter und Reichsapfel in die Hände. Dann starrte er mit dem Lächeln blödsinniger Bewunderung auf diese Insignien einer Macht, die ein anderer statt seiner innehatte und übte. So war der letzte Zar aus dem Hause Rurik, will sagen aus dem warägisch-normannischen Herrscherstamme, der letzte Zar aus der Familie der alten Großfürsten von Moskau. Man hatte dem Schwächling die Schwester des Boris Godunow, Irinia oder Irene, als Gemahlin angetraut, und sein Schwager Boris war der Zar des Zaren, thatsächlich jetzt schon der Leiter und Beherrscher Russlands. Denn dieser Magnat, dem Titel nach ein Mitglied des Regentschaftsrathes, also einer der fünf obersten Minister, hatte vermöge der zarischen Schwagerschaft die Macht seiner vier Amtsgenossen bald zu einem Nichts gemacht. Boris war zweifelsohne ein ungemein begabter, ein schlauer und erfahrener Mann, dabei von einem unbändigen Ehrgeiz besessen, welcher als sein Endziel die Erlangung der Zarenkrone wohl schon frühzeitig in's Auge gefaßt haben mochte. Daß ihm dabei seine tatarische Abkunft ein Hinderniß sein würde, brauchte er nicht zu fürchten, denn bekanntlich war seit den Zeiten, wo die Mongolen zwei Jahrhunderte lang über Russland geherrscht hatten, das Blut der Russen namentlich auch das der vornehmen, stark mit tatarischem gemischt.
Nun aber ist zu melden, daß Iwan der Schreckliche neben seinem Nachfolger Feodor noch einen Sohn hinterlassen hatte und zwar einen Sprössling aus seiner siebenten Ehe mit Marfa (Martha) Nagoy, einer Dame von tatarischer Abkunft. Dieser Sohn, im Jahre 1581 geboren, also beim Tode seines Vaters ein unmündiger Knabe, hieß Dmitry (Dimitri, Demetrius) und war in den Augen streng rechtgläubiger Russen allerdings nur ein Bastard. Denn der Lehre der russischen Kirche zufolge kann ein orthodoxer Christ nur viermal rechtmäßig sich verheiraten. Indessen war es bei des grausen Zaren Lebzeiten niemand eingefallen, gegen die Legitimität des kleinen Dmitry Protest erheben zu wollen, und demzufolge führte der Prinz gleich seinem Halbbruder Feodor den Titel Zaréwitsch, d. i. Zarensohn. Iwan der Schreckliche selbst jedoch schien diesen seinen letzten Sprössling nicht für voll angesehen zu haben, denn er hatte ja in seinem Testamente bestimmt, daß Dmitry nichts erben sollte als die Stadt Uglitsch und ihr Gebiet. Dies verhinderte jedoch nicht, daß angesichts der Schwächlichkeit und Hinfälligkeit des Zaren Feodor die Augen vieler Russen in dem Knaben Dmitry den künftigen Zaren erblickten. Boris ließ es sich daher angelegen sein, diesen Thronprätendenten dem Volke vorderhand mehr aus dem Gesichtskreise zu rücken. Kaum war Feodor zum Zaren gekrönt, wurde Marfa Nagoy, die Witwe des Schrecklichen, mit ihrem Söhnlein Dmitry nach der Stadt Uglitsch geschafft, um dort ihren ständigen Aufenthalt zu nehmen. Boris bestellte zum Wächter von Mutter und Kind seinen Diak (Kanzleisekretär) Bitjagowski, auf welchen er sich vollständig verlassen konnte. Ist den Berichten, welche dieser Beamte von Uglitsch nach Moskau sandte, zu glauben, so verrieth sich der kleine Dmitry als der echte Sprössling seines Vaters und zwar mittels Bethätigung der Instinkte wilder Grausamkeit. Der Knabe hatte ein Wohlgefallen daran, Thiere raffinirt zu quälen, und er soll auch haben verlauten lassen, daß er dereinst mit Menschen ebenso verfahren wollte. Eines Wintertages, so wird erzählt, hatte er mit Hilfe seiner Spielkameraden auf dem Hofe des uglitscher Schlosses nach Knabenart den Schnee zu Menschenfiguren geballt. Diesen gab er die Namen der Magnaten des Reiches und die größte nannte er Boris. Dann nahm er seinen hölzernen Säbel und schlug damit den Schneemännern die Arme und die Köpfe ab mit den Worten: „So werde ich mit ihnen umspringen, wann ich einmal groß bin!“
Es ist möglich, daß der Knabe in Folge der grollenden, aufreizenden rachsüchtigen Aeußerungen seiner Mutter solche oder ähnliche Worte gesprochen. Wahrscheinlicher freilich erscheint es, daß ihm hinterher dieselben in den Mund gelegt worden seien. Im übrigen hat es solcher kindischen Drohungen gar nicht bedurft, um das Leben des letzten Sprösslings Iwans des Henkers zu gefährden. Der Prinz war ja ein Hinderniß, sogar, wie die Sachen lagen, das einzige ernstliche Hinderniß auf Boris Godunows Wege zum Zarenthron.
Daß Boris der Urheber dessen war, was am 15. Mai 1591 (a. St.) auf dem Schloßhofe zu Uglitsch geschah, dürfte einer ernstlichen Anzweifelung kaum unterstellt werden können. Am genannten Tage, am hellen Tage, ist nämlich dort der Zaréwitsch Dmitry mittels Durchschneidung der Kehle ermordet worden. Das ist eine unzweifelhafte Thatsache. Allein die Einzelnheiten der Mordthat konnten nicht aktenmäßig festgestellt werden, weil die Mörder, der Diak Bitjagowski, sein Bruder Daniel, seine Frau, sammt Josef Wolochow und Nikita Katschalow, von dem wüthenden Volke von Uglitsch, welches Marfa Nagoy und ihre zwei Brüder angesichts der Leiche des ermordeten Sohnes und Neffen zur Rache aufgerufen hatten, gesteinigt wurden.
Boris unterschlug den aus Uglitsch über die Katastrophe eingelaufenen Bericht und gab dem Zaren Feodor einen gefälschten in die Hände, worin es hieß, der junge Dmitry hätte sich in einem Anfalle von Epilepsie, da er gerade ein scharfes Messer in der Hand gehabt, selber eine Wunde am Halse beigebracht und wäre an der Verblutung gestorben – eine ganz dumme Lüge, welche ihrem Urheber später theuer zu stehen kommen sollte. Vorderhand freilich erntete er die Früchte des uglitscher Verbrechens. Niemand wagte mehr, seinem Willen zu widerstehen, vollends dann nicht mehr, als er auch die große Familie der Fürsten Schuisky, sowie das Haupt der russischen Klerisei, den Erzbischof-Metropoliten von Moskau, tief gedemüthigt und seinem Machtgebote gebeugt hatte. An die Mutter des ermordeten Dmitry erging ein zarischer Ukas, kraft dessen sie „zur Strafe dafür, daß sie ihren Sohn nicht besser behütet hätte“, aus Uglitsch hinweg und in ein im Norden Russlands gelegenes Kloster verwiesen wurde, allwo sie den Nonnenschleier umthun mußte. Die Hinterlassenen derer dagegen, welche der Lynchjustiz des Volkes von Uglitsch zum Opfer gefallen, wurden reichlich versorgt. Rastlos bemüht, seine Stellung nicht nur zu erhalten und zu befestigen, sondern dieselbe auch zu einer Ausgangsstufe herzurichten, von welcher aus das letzte und höchste Ziel unschwer zu erreichen wäre, suchte und wußte Boris seine Regierung mit dem Glanze von Eroberungen zu umgeben, welcher dem russischen Ausbreitungstriebe schmeichelte. Ebenso beeiferte er sich, die Geneigtheit von Klerisei und Adel zu gewinnen, und auf sein Bestreben, dem letzteren zu gefallen, ist hauptsächlich eine im Jahre 1593 getroffene, tiefeinschneidende Maßregel zurückzuführen, jener zarische Ukas, welcher die russischen Bauern an die Scholle fesselte, indem er denselben strengstens verbot, ihren Wohnsitz zu ändern. Das war eine Maßregel, deren unberechenbare Tragweite zunächst gar nicht erkannt wurde. Das war die Begründung der bäuerlichen Leibeigenschaft und bald auch eine der Hauptursachen des gegen Godunow erwachenden russischen Volkshasses.
Zu Anfang des Jahres 1598 starb der Schattenzar Feodor, und so war denn die Zeit gekommen, wo Boris auch dem Namen nach der Zar aller Reußen sein wollte. Er fand es angezeigt und räthlich, zuvörderst noch eine Komödie aufzuführen, nämlich diese, daß er durch den sogenannten großen Landesrath („Semskaya Duma“), ein Schein- und Schemenparlament, in welchem die geistlichen Magnaten, die Erzbischöfe und Bischöfe, sowie die adeligen, die Bojaren, saßen, seine Schwester Irene, Feodors kinderlose Witwe, zur regierenden Zarin bestellen ließ. Im raschen Weitergange der wohlinscenirten und gutgespielten Posse entsagte dann [439] die Zarin Irene dem Skepter und ging in ein Kloster, ihr Bruder Boris aber machenschaftete, ränkelte, drohte, bestach und schauspielte so geschickt, daß er selber schon am 21. Februar von 1598 vom Adel, Klerus und Volk Moskaus förmlich angefleht wurde, sich doch um Gotteswillen des verwais’ten Russlands anzunehmen, d. h. Zar zu werden. Godunow ergab sich, wie er sagte, „nur zögernd und nothgedrungen in den Willen Gottes“, ergriff das Skepter und ließ sich im Kremlin mit großer Prachtentfaltung die Zarenkrone aufsetzen. Man muß ihm nachsagen, daß er gewissermaßen die Rolle Peters des Großen vorweggenommen habe, d. h. daß er Rußland aus der Barbarei des Asiatenthums heraus- und in die europäische Civilisation hineinführen wollte.
Aber seine bezüglichen Versuche mißlangen, theils, weil sie zu wenig um- und vorsichtig unternommen wurden, theils, weil Russland dazumal noch zu asiatisch war, um für europäische Cultur überhaupt schon empfänglich zu sein, theils endlich, weil der Zar Boris im Hinblick auf den Ausgang des Zaréwitsch Dmitry der ungeheuren Mehrzahl seiner Unterthanen doch nur für einen Usurpator galt, Adel und Klerisei im Geheimen fortwährend gegen ihn wühlten und sogar solche seiner Absichten und Strebungen, welche zweifellos löblich und ersprießlich waren, zu hemmen, zu hindern und zu durchkreuzen suchten und wußten, so z. B. die Bemühungen des Zaren, einem altherkömmlichen russischen Nationallaster, der Saufwuth, zu steuern oder wenigstens Zaum und Zügel anzulegen. In Bälde war die Unpopularität, ja Verhasstheit Godunows bei allen Ständen und in allen Schichten des Russenthums eine vollendete Thatsache.
Zur Vervollständigung dieser flüchtigen Zeichnung der Lage, in welcher Russland auf der Schwelle vom 16. zum 17. Jahrhundert sich befand, gehören noch zwei Züge: Erstens die Stellung des russischen Staates gegenüber dem polnischen, d. h. die Hinweisung auf den altherkömmlichen, zur erbitterten Feindseligkeit längst verknöcherten Gegensatz zwischen Polen und Russen. Diese Gegensätzlichkeit mag ursprünglich in Stammes- oder gar in Rasseverschiedenheiten gewurzelt haben, war aber höchst bedeutsam verschärft worden durch den Umstand, daß die Russen der anatolisch-byzantinischen Orthodoxie anhingen, während dagegen die Polen orthodoxe römische Katholiken waren, fanatische sogar von der Zeit an, wo das schon halb für den Protestantismus gewonnene polnische Volk durch die Klugheit und Energie des Jesuitenordens wieder in den römischen Pferch zurückgetrieben worden. Dieser religiöse oder konfessionelle Gegensatz von Polen und Russen war fraglos eine unumgängliche Voraussetzung der Möglichkeit einer Erscheinung, wie sie die des falschen Demetrius gewesen. Zweitens ist mit Betonung zu erwähnen, daß in Folge mehrjähriger Mißernten mit dem Jahre 1601 in Russland ein allgemeiner Nothstand begann, welcher sich bis zum Jahre 1604 verlängerte und in vielen Gegenden des Reiches bis zur bitteren, bittersten Hungersnoth sich steigerte. Auch dieses Unglück half das Auftreten und die Erfolge des Betrügers in bedeutendem Grade mitermöglichen.
Denn es ist ja wohlbekannt und durch hunderte von Zeugnissen der Geschichte bestätigt, daß solcherlei Leiden die Gemüther der Menschen und der Völker für das Außerordentliche stimmen, für den Glauben und das Unglaubliche empfänglich machen und auf das Wunderbare vorbereiten. Außerdem wußten es die Machenschaften der Feinde des Boris so einzurichten und dahinzubringen, daß die ganze Schwere der öffentlichen Drang- und Trübsale auf den Usurpator zurückfiel, als ob er der Verursächer der Hungersnoth und jeglichen anderen Uebels wäre. Man weiß ja, wie leicht es unter sothanen Verhältnissen ist, der Angst und dem Grolle der Volksmassen, welche nirgends und zu keiner Zeit logisch zu denken vermochten oder vermögen, einen Sündenbock zu bezeichnen. Die umsichtigen und eifrigen Bemühungen des Zaren, die schwere Noth zu heben oder wenigstens zu lindern, erwiesen sich demzufolge als eitel, den gegen ihn wachgerufenen und geschickt genährten Haß zu beschwichtigen. Er war einmal als Sündenbock stigmatisirt und blieb es.
In solcher Bedrängniß und Gährung befand sich Rußland, als von Polen her eine wundersame Kunde nach Moskau gelangte.
Von den gegenwärtigen Pariser Salons soll ich erzählen? Aber giebt es denn noch „derlei Bankete der Vernunft und Schmäuse der Seele“, wie der englische Philosoph Hume sagt, der diese hübsche Umschreibung gewiß in der Seinestadt erdachte? Ja, damals standen sie in voller Blüthe. Gährende Geister und talentvolle Streber, denen die Exclusivität des Hofes die höchsten Stellen in der Armee und Verwaltung verschloß, kamen zu Rang und Reichthum durch jene geselligen Zusammenkünfte im Hause einer schönen oder genialen Frau. Von dort aus verbreitete sich der Ruhm des Findlings d’Alembert, des Uhrmachersohnes Caron, der sich selbst zum Herrn von Beaumarchais adelte, und einiger Ausländer, wie des Pfälzers Holbach und des Regensburgers Grimm, so rasch und nachhaltig über die Welt, daß fremde Regierungen glänzend bezahlte Correspondenten unterhielten, welche die graziösen und geistreichen Salonplaudereien für sie aufzuschreiben hatten. Selbst Prinzen von Geblüt besuchten die mächtigen „Geistesbureaux“ von Frau de Tencin, deren Gunst einen sogar in die Akademie zu bringen vermochte, von Madame du Deffand, die aus der „Diogenestonne“ ihres Lehnstuhles die Unterhaltung leitete, von Fräulein de Lespinasse, wo die Gelehrten der „Encyklopädie“, die bei Madame Geoffrin gespeist, verdauten und philosophirten, von Vauvenargues, der von seinem Schmerzenslager herab mit seinen Gästen über die höchsten Fragen disputirte, und sogar die schöngeistigen Cirkel frivoler Schauspielerinnen, wo der witzige Bachaumont tausend Anekdoten vom Hofe und aus der Gesellschaft zu erzählen wußte.
Im Pariser Salon entstand das moderne Feuilleton, und mancher spätere Tribünendonnerer, wie Mirabeau, Brissot, Camille Desmoulins, bereitete sich dort zu parlamentarischer Beredsamkeit vor. Der Hof mochte über die Körper der Unterthanen gebieten, der Salon regierte die freien Geister; dort war das Schwert, hier Kopf und Herz von Frankreich.
Die Revolution setzte der Herrlichkeit ein schreckliches Ende. Die zierlichen Abbés und die geistreichen Schönheiten zerstoben in alle Winde; der Adel floh über die Grenzen; die politische Phrase bemächtigte sich der Redner, und angesichts der arbeitenden Guillotine fehlte Zeit und Stimmung, um an Kunst und Wissenschaft zu denken. Erst nach den tollen Orgien des Directoriums, bei denen man sich in einer Nacht für zehn verlebte Schreckensjahre entschädigen wollte, und als der Pulverdampf von Wagram und Waterloo verraucht war, wollte man wieder den alten Brauch in’s Leben rufen. Aber die harmonische Einheit der Gesellschaft war vorüber. Zwischen den rachedurstigen und verarmten Adel und den enttäuschten dritten Stand hatten sich säbelklirrend und beuteschwer die Emporkömmlinge des Kaiserreichs gedrängt. Die ehemalige Geselligkeit erwachte höchstens noch in den Salons des Ministers und Dichters Lamartine und am Kamin von Madame Emile de Girardin. Unterm zweiten Kaiserreich jedoch, wo die schöne Souverainin eine Art literarischen Hofes um sich versammelte, dem die geistvolle Prinzessin Mathilde, Plon-Plon’s Schwester, die lebenslustige Fürstin Metternich und die bürgerlichen Romandichter Octave Feuillet und Jules Sandeau angehörten, fand der wahre Salon fast keine Pflege und blieb ohne irgendwelchen Einfluß auf das sociale und künstlerische Leben.
Und die Salons der dritten Republik?
Ich will meinem Tagebuche einige Blätter entnehmen, welche die Antwort leicht machen sollen.
[441] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [442] Der aristokratische Salon der Herzogin von G… im Faubourg Saint Germain. Zwei Säle, deren Ausstattung mit den Gästen im Einklang steht. Lauter gut legitimistische Divans, Stühle und Fauteuils aus der Zeit oder doch im Stile Heinrich’s des Vierten, Karl’s des Zehnten und Ludwig’s des Fünfzehnten, und darauf sitzen vornehme Herrschaften, deren Ahnherren mit Franz dem Ersten bei Pavia fochten und mit dem „Sonnenkönig“ in Versailles residirten.
Ein uralter Kammerdiener in Kniehosen öffnet die Flügelthüren, ohne die Ankömmlinge anzumelden. Man ist ja fast en famille. Es sind meist ehrwürdige Ueberbleibsel vom Hofe der Restaurationszeit, denen die Orleanisten beinahe ebenso verhaßt sind, wie die Kaiserlichen und die jetzt am Ruder stehenden Republikaner. Man sollte glauben, daß in einer so übereinstimmenden Gesellschaft die Unterhaltung eine sehr lebhafte und angenehme sein müßte. Aber man braucht sich nur jenen Herren und Damen am hohen Kamin zu nähern, um jedem Wort, Blick und Lächeln die trostloseste Langeweile zu entnehmen. Der hocharistokratische Salon von heute ist nichts, als ein Schmollwinkel für unterdrückten Ehrgeiz und enttäuschte Hoffnungen. Angeekelt, hat man aller Politik den Rücken gekehrt. Nur wenn irgend ein diplomatischer Intrigant, etwa der Senator Herzog von Broglie, eine Gastrolle giebt, werden die geheimsten Wünsche, daß sich die republikanische Führerschaft unmöglich machen und das Ausland dem Roy auf den Thron verhelfen möge, ganz ungescheut ausgesprochen. Vor der Hand sind die reactionären Verschwörer allerdings, gleich ihren Collegen in der Operette „Madame Angot“, noch kaum über das Hauptrecept: „Blonde Perrücke und schwarzes Collet“ hinausgekommen.
Und so ist denn die Kleiderfrage fast ausschließlicher Gegenstand der Unterhaltung: welche Robe die bonapartistische Gräfin d’H… auf dem deutschen Botschaftsball getragen, was der erste Pariser Damenschneider Worth für eine Seebad-Toilette creirt, ob die royalistischen geblümten Stoffe à la Marie Antoinette wirklich in die Mode kommen, und ob Fräulein Bartet vom Théâtre Français ihres Talentes oder ihres neuen Kleides wegen applaudirt worden sei. Trotz alledem entstehen manchmal peinliche Pausen im Gespräche, sodaß die Herrin des Hauses schnell irgend etwas Gutes oder Schlechtes ersinnen muß, um die sie entehrende Lücke zu stopfen. Jawohl, die junge Herzogin ist gutmüthig, wahrheitsliebend und edel, aber wenn es sich darum handelt, die Unterhaltung um jeden Preis wieder in Fluß zu bringen, dann wird sie böse, verlogen und übelzüngig. Ich kenne manche Unschuld, die in schlimmen Ruf kam, blos weil der Plauderstoff ausgegangen war.
Ueble Laune ist die Signatur dieses Salons. Auch die anwesenden jungen Herren sehen unzufrieden aus; denn sie betrachten die Pflicht, ihre Mütter hierher zu begleiten, als einen bitteren Frohndienst. Sie hätten wohl lieber den Abend im Club oder im Theater oder in galanter Gesellschaft zugebracht. Aber dort in der Fensternische sind ja die Cousinen. Allerliebste Mädchen, was? „Guten Abend, Fräulein Léonide …“ und da staken sie schon mitten im besten Plaudern, Kichern und Kosen. Unterdessen blättert ein schweigsamer Akademiker in der „Revue des deux Mondes“, als ob man nicht ohne sie selig einnicken könnte. Und hinter der spanischen Wand flüstert die lahme Herzogin-Mutter mit einem dicken Abbé und jammert, gleich Scheffel's Ichthyosaurus, über der Zeiten Verderbniß. Aber das Pfäfflein, das prächtig gegessen hat und ohne Aufregung verdauen möchte, ist nachsichtig, wie alle Leute mit gutem Gewissen und gutem Magen und überfließt zum Entsetzen der alten Dame von christlicher Gnade und Barmherzigkeit.
„Und denken Sie sich Herr Abbé, meine Schwiegertochter hat zur Vertrauten eine Jüdin.“
„Ohne Zweifel um sie zu bekehren, meine Liebe.“
Diplomatischer Salon bei der Fürstin T… Jeden Tag wird in ihrem dem dänischen Gesandten gehörigen kleinen Palaste der Geselligkeit gepflogen. Zwischen vier bis sechs Uhr kann man sie regelmäßig im sogenannten Diplomatenwinkel sehen. Der Sonnenschein fällt in bunten Lichtern durch die gemalten Fenster auf ihre aristokratische Gestalt.
Ist sie jung? Je nun, das Alter der Frauen zählt man ja wie im Piquet: nach neunundzwanzig kommt sechszig; und wenn sie letzterer Zahl näher ist, so trägt sie das jedenfalls mit königlicher Würde. Die Taille ist fein und der Fuß nicht größer als ihre Hand, die sehr klein ist. Das Gesicht verräth den russischen Typus: wasserblaue Augen, Stumpfnase, matten Teint, starke Backenknochen und blondes Haar. Ihre Toilette ist von echtem moskowitischem Geschmacke. Sie soll jährlich hunderttausend Franken dafür ausgeben; ohne Zweifel muß sie das Vergnügen, die ersten Schneider von Paris durch ihre excentrischen Anforderungen zu compromittiren, nach Gebühr bezahlen.
Die Fürstin tauchte gleich nach dem deutsch-französischen Kriege am Pariser Horizont auf. Sie hegte von Anfang an den Plan, die kaiserlose Weltstadt für den Mangel eines Hofes zu entschädigen und ihr eine Regentin in partibus zu geben. Sie hatte zuvor in Baden-Baden den alten Thiers kennen gelernt. Bei ihrer Intelligenz, Energie und Verwandtschaft mit Gortschakow wurde es ihr nicht schwer, den großen Staatsmann für ihre Person und Idee zu gewinnen. Thiers wünschte sich ohnehin schon längst eine solche Egeria, die ihm, nicht für politische Rathschläge, wohl aber als diplomatische Zwischenhändlerin und Spionin ähnliche Dienste leisten könnte, wie Madame de Liéven dem alten Guizot. So wurde denn der greise Diplomat die Sonne ihres Salons, um welche als Planeten die Minister, Gesandten und die wichtigsten Parteiführer aller Farben kreisten. Die Fürstin selbst war nur der Mond an diesem Firmamente. Sie strahlte blos geliehenen Glanz wieder, handelte nicht selbst, sondern regte zu Thaten an und wußte es immer so einzurichten, daß sie Ansichten Anderer erfuhr, ohne ihre Meinung zu verrathen.
Das Verhängniß wollte, daß ihr treuer Berather starb und sie ohne sicheren Compaß zurückließ. Von nun an folgte sie den parlamentarischen Strömungen und war demzufolge genötigt, öfter ihre Gesinnungen und den Charakter ihres Salons zu ändern. Als nach Thiers’ Tode eine Wiederherstellung des französischen Königthums möglich und sogar wahrscheinlich wurde, da hängte die Fürstin plötzlich ihr politisches Mäntelchen nach dem legitimistischen Winde. Ein Jahr lang war der Herzog von Aumale der Abgott ihres Salons. Er thronte dort auf Weihrauchwolken und genoß den Vorgeschmack eines Hofstaates. Aber plötzlich blieb er fort. Böse Zungen behaupten, weil der Sohn Louis Philipp’s gemerkt habe, daß die ehrgeizige Russin ihm ihre schöne junge Tochter zur Gemahlin zu geben trachte. Ich glaube eher, weil er die Unzuverlässigkeit der Fürstin erkannt hatte, die schon damals anfing, mit der erstarkenden republikanischen Partei zu kokettiren.
Unter der Präsidentschaft von Mac Mahon ging sie mit fliegenden Fahnen und brennender Lunte in’s liberale Lager über, was natürlich ihre bisherigen Anhänger verletzte, ohne ihr das Vertrauen der neuen Parteigänger zu gewinnen. Sie bemühte sich nach Kräften, Gambetta zum Stern ihres Salons zu machen, aber der schlaue Tribun fiel keineswegs in ihre Netze. Wenn er auch die wetterwendische Dame besuchte, so wählte er doch immer die Vormittagsstunden, wo der diplomatische Salon noch nicht eröffnet war. Auch die Republikaner des Centrums und der äußersten Linken blieben fern. Weil sie es immer mit den Stärkeren hielt und fortwährend die aus den Sattel gehobene Partei im Stiche ließ, verdarb sie es mit Allen. Bald zählten ihre Armeelisten mehr Fahnenflüchtige als Combattanten.
Und doch ist sie immer noch eine vollendete Salonkönigin. Alle Feinheiten diplomatischer Sprach- und Umgangsformen sind ihr geläufig. Sie plaudert nicht, um ihre Meinung zu sagen, sondern um Andere auszuholen. Aber was kann das für einen Werth haben, wo die Personen werthlos sind? Man mustere die nunmehrigen Gäste der Moskowitin!
Es sind meistens vornehme Angehörige der russischen Colonie, aber ohne socialen oder gar politischen Einfluß auf französische oder europäische Angelegenheiten. Mag sich die Fürstin noch so oft von ihrem Stuhle erheben, um dem eintretenden Gaste mit gravitätischem Gruße entgegenzugehen: er ist weder ein Gambetta, noch ein Prätendent oder ein activer Minister, sondern im höchsten Falle irgend ein dunkler Abgeordneter, dessen ganze parlamentarische Thätigkeit in der Einbringung überflüssiger Amendements besteht, die er gegen Ende der Sitzung regelmäßig wieder zurückzieht, weil alsdann ihr einziger Zweck, seinen Namen in die [443] Kammerberichte der Zeitungen zu bringen, glücklich erreicht ist. In einer solchen Gesellschaft werden sämmtliche diplomatische Finessen und all die kleinen Kniffe, mit denen die Fürstin früher ihren Einfluß auf den Gang der Weltgeschichte bekunden wollte, einfach lächerlich. Wie in den Zeiten des Glanzes, findet man auch jetzt noch, etwa unter einem Buche oder Album, ein wie zufällig liegen gebliebenes vertrauliches Handschreiben Gortschakow’s, das den Inhalt eines früheren Briefes dunkel bestätigt und ein räthselhaft angedeutetes Ereigniß voraussagt. Böse Zungen behaupten freilich, der russische Kanzler schreibe an seine Freundin viel seltener, als sie an ihn, oder jedenfalls weniger häufig, als sie behaupte, und das unvermeidliche Billet sei immer das nämliche, wie eine Theaterpastete.
Kurz, der ehedem glänzende Salon ist zur Caricatur geworden. Man sagt, die Diplomatin habe in Paris schon runde fünf Millionen ausgegeben, und werde demnächst vor ihrer Concurrentin, der geistreichen Freundin Gambetta’s, Madame Edmond Adam, die wirklich Präfecten ernennen und Minister stürzen soll, enttäuscht und besiegt das Feld räumen und nach St. Petersburg heimkehren. – –
Seitdem ich Vorstehendes in mein Tagebuch schrieb, hat die Fürstin T. wirklich Paris verlassen, und kein Mensch in Paris würde mehr von ihr sprechen, wenn nicht jüngst die Zeitungen gemeldet hätten, sie stehe im Begriffe, an die Seine zurückzukehren, um wieder einen politischen Salon zu eröffnen. Wird dieser zweite Versuch besser gelingen, oder wird sie abermals glauben, Geschichte zu machen, und blos – Geschichten machen?
Schöngeistiger Salon bei Victor Hugo! Prachtvoller rother Saal mit prismatisch funkelndem venetianischem Kronleuchter. Nur Spiegel, aber keine Bilder an den Wänden. Schwere Lehnstühle und leichte Sessel aus vergoldetem Bambus, die doch stark genug sind, um das sterbliche Theil Gambetta’s, Augier’s, Renan’s und anderer gewichtiger Persönlichkeiten zu tragen. Nebenan ein ebenfalls reicher Saal mit gepreßten Ledertapeten aus Cordova und einem kostbaren Gobelinteppich an der Decke. Dann das Eßzimmer, von grünem Sammt verhängt; eine Glasgallerie, in welche sich die Raucher vor dem nikotinfeindlichen Dichter zu flüchten pflegen; endlich ein Zimmer mit kostbarer Bibliothek und herrlicher Jugendbüste des Dichters von David d’Angers.
Die politische und künstlerische Welt ist gleich stark vertreten. Neben dem aristokratischen Frack sieht man den bürgerlichen Gehrock. Echte Figuren aus vorstädtischen Wahlversammlungen und aus den Bierstuben des lateinischen Viertels tragen unter schlichtem Kittel eine bunte, offenbar sonntägliche Weste. Dort plaudert der gravitätische Gambetta mit dem Socialisten Louis Blanc, einem blassen, breitmäuligen Männchen, und wird von seinem Freunde Coquelin, dem besten Schauspieler Frankreichs, ostentativ gedutzt und „Mon cher Léon!“ angeredet.
Unter den alten und jungen Damen bemerken wir die honneursmachenden Hausfrauen, nämlich die weißlockige Madame Drouet, die getreue Begleiterin des Dichters, und seine in zweiter Ehe mit dem Abgeordneten Lockroy vermählte jugendliche Schwiegertochter, die Mutter von Georges und Jeanne Hugo, welche letzteren von ihrem Großvater so schön besungen wurden.
Dort lehnt er selbst mit dem Rücken am Kaminbord. Ob seinem herrlichen Kopfe vergißt man seine vierschrötige kleine Statur und den philiströsen Spitzbauch. Dichtes, blendend weißes Kopf- und Barthaar umrahmt das Gesicht. Die prächtig gewölbte Stirn ist wie aus Erz gegossen und von breiten Falten gefurcht. Sie hat am besten des Lebens Stürme überdauert. Die kräftige Nase senkt sich altersschwach zum Mund herab, und die Augen sind klein geworden. Ein feuchter Schleier verdeckt diese schwimmenden Sterne, die von unbestimmter Farbe sind. Die früher Feuer gesprüht, verrathen jetzt die stille Beschaulichkeit des Alters. Sie versinken fast in den faltigen Höhlen, und nur im Momente des Affectes, wenn der Dichter sie mühsam aufreißen will und sich die unendliche Stirn in tausend Runzeln und Linien bricht, zuckt es darin von Leben und Gluth, doch blos auf einen Augenblick. Eine milde Hoheit ist über das ehrwürdige Greisenantlitz ausgegossen, und wer darin zu lesen versteht, dem erzählt es von einem reichen uns guten Herzen, von heißen Kämpfen für Ehre und Recht, von tiefer Menschenliebe und hohem Gedankenflug, von immerfort gewaltiger Schöpferkraft und einer Poetenseele, deren Gluth noch nicht in Asche versunken ist.
Der Verkehr in des Dichters Salon ist frei und ungezwungen. Nach französischer Sitte wird Niemand vorgestellt und meldet man nur die seltenen Gäste an. Man tritt herein, mischt sich in die Gruppen und begrüßt gelegentlich den einfachen und herzlichen Dichter, wenn er einem nicht zuvorkommt; denn er hat ein vortreffliches Auge. Den Damen gegenüber ist er von ausgesuchter, fast altväterischer Galanterie: er liebt es, ihnen zum Willkommen und Abschied die Hand zu küssen. Das gemachte oder, wie der selige Philipp Ulrich Schartenmayer sagen würde, „übermachte“ Pathos seiner Werke liegt seiner Plauderei fern. Ein ausgezeichneter Erzähler, kramt er gern in seinen Erinnerungen, wobei er vom jugendfrischen Gedächtniß nie im Stiche gelassen wird. Er weiß die überraschendsten Anekdoten höchst anschaulich zu erzählen, und wenn er in kurzen Worten das Portrait irgend einer historischen Persönlichkeit aus den Zeiten Karl’s des Zehnten oder des Bürgerkönigs zeichnet, so glaubt man den Betreffenden leibhaftig vor sich zu sehen.
Bitten ihn die Damen darum, so holt er wohl aus seinem Studirzimmer, das noch kein fremder Fuß betrat, einige große Bogen holländischen Büttenpapieres, das er in Stunden dichterischer Arbeit mit seiner riesenhaften Kielfederschrift zu bedecken pflegt, und liest das neueste Kind seiner Muse mit der ihm eigenen vollen, vibrirenden Stimme vor, die aus tiefstem Herzen kommt und mit sympathischer Gewalt wieder zu Herzen dringt.
Offen gesagt, ich bewundere die französische Prosa, aber der Alexandriner ist mir ein Gräuel, und ich entschuldige die Abonnenten des Théâtre Français, die den classischen Donnerstagsaufführungen von Corneille, Racine und Voltaire nur einen seligen Schlummer entgegenbringen. Die Schönheit und das Erhabene mancher Stellen wird durch die steife Monotonie des Versmaßes und den geschraubten Vortrag der Schauspieler fast immer verkümmert. Die letzteren zerfallen in zwei Schulen: die Einen singen die gereimten Bandwürmer im herkömmlich langweiligen Zwölfsilben-Rhythmus, die Anderen – und die Herrschaften nennen sich Realisten – lösen die Verse in regellose Prosa auf, indem sie die Cäsur willkürlich brechen und die Reime durch eine subtile Kunst im Verschlucken und Ueberhasten wegescamotiren.
Victor Hugo thut weder das Eine noch das Andere. Er gewährt der Poesie ihr Recht und läßt den Reim nachklingen, doch ohne ihn zu betonen. Sein Vortrag übereilt nichts und ist doch bewegt und feurig, was allerdings schon der kecke Wurf seiner Verse ermöglicht. Nie wird der herrliche Wohlklang seiner Dichtung so klar wie in seinem Munde. Und folgt eine jener zahlreichen Stellen, wo die Poesie in grellen Antithesen und leerem Wortgepränge und Bombast unterzugehen scheint, dann glaubt man im Zauberbanne seiner gewaltig erhobenen Stimme einem mystischen Propheten zu lauschen, dessen Erhabenheiten kühlem Verstande, der nichts Uebersinnliches faßt, verschlossen bleiben, während sie gläubiger Hingabe eine Welt von Schönheit ahnen lassen. Man muß Victor Hugo sich selbst vorlesen hören, um ihn zu verstehen, oder um wenigstens zu fühlen, wie er’s versteht.
Leider läßt der greise Dichter meistens den anwesenden jungen Lyrikern das Wort. Alsdann werden oft ganze Sonettenkränze vor den arglosen Gästen heruntergehaspelt. Zum Glück giebt es noch gewisse Ruhepunkte, wo Vorleser und Publicum Athem schöpfen können, nämlich wenn das bereitgehaltene Glas Zuckerwasser durch die trockene Kehle gegossen wird. So träufelt man löschendes Naß auf die Wagenachse, die sich zu entzünden droht; aber die lyrische Gluth hat noch kein Zuckerwasser gedämpft.
Was den Besuch dieses Pariser Salons noch mehr verleiden kann, ist der überschwängliche Götzendienst, den seine Jünger mit dem achtundsiebenzigjährigen Dalai Lama treiben. Jedes Wort aus seinem Munde wird wie ein Evangelium betrachtet und – heimlich aufgeschrieben; denn die meisten Gäste führen ein Hugo-Tagebuch, mit dem sie nach des Dichters Tode ein hübsches Stück Geld zu verdienen hoffen. Nehmen solch ergiebige Publicationen doch schon zu seinen Lebzeiten immer mehr überhand. Anders als „Meister“ und „Lieber Meister“ wird der Greis gar nicht angesprochen. Der Hugo-Cultus hat entschieden etwas Abgeschmacktes. Kürzlich, wurde Hugo als größter Mann des Jahrhunderts angeredet, und der phrasenhafte Louis Blanc rief in Verzückung:
[444] „Wenn es auf Erden und im Himmel Erhabeneres gäbe als Dein Geist, so wäre es Dein Herz.“ So bedeutend Hugo auch sein mag, der ohne Zweifel ansehnliche Werth seiner Dichtung motivirt keineswegs maßlose Verhimmelung. Man muß da Vieles auf Rechnung des französischen Nationalcharakters setzen, der stets seinen Personencultus haben muß, und welch würdigeren Gegenstand könnte er finden, als den ruhmgekrönten Romantiker und unentwegten Kämpfer für alle Humanität? Aber diese lärmvolle Begeisterung ist auch berechnete Reclame einer starken Partei, die gegen die überrealistischen Neigungen der neuesten Kunst protestiren will und dagegen Hugo’s ideales Banner aufpflanzt.
Ein anderer Umstand ist dem deutschen Beobachter peinlich. Die unduldsamen Trabanten verbieten bei allerhöchster Ungnade, im Salon ihres Meisters den Namen „Goethe“ auszusprechen. Hugo selbst vermeidet seit vielen Jahrzehnten in Wort und Schrift ebenfalls die Nennung des Weimaraner Jupiters. Schmerzt den Greis noch immer das scharfe Urtheil über seinen Jugendroman: „Notre-Dame de Paris!“ in Eckermann’s Gesprächen? Der geistreiche Wiener Feuilletonist H. Wittmann hat wohl das Richtige getroffen, wenn er den Grund dafür in Hugo’s Eifersucht auf seinen gefährlichsten Nebenbuhler um die Palme des Jahrhunderts vermuthet. Wie man das sechszehnte und das vorige Säculum auf die Namen Luther’s und Voltaire’s getauft hat, so schmeichelt sich der französische Poet, die Nachwelt werde unsere Zeit das Jahrhundert Victor Hugo’s nennen. Er kennt aber des deutschen Dichterfürsten Universalgenie, das die Höhen und Tiefen der Wissenschaft und Poesie mit gleicher Allmacht umfaßte, viel zu gut, um nicht zu befürchten, wenn die Weltenuhr zum neunzehnten Schlage aushebe, so werde die Menschheit nicht seinen Namen rufen, sondern: Johann Wolfgang Goethe!
„Mukuh von Halberstadt,
Brenk doch unsen Kinde wat!
Wat soll ick ehm denn brengen?
Ein Hottepiäthen un raude Schoh,
Un en holtenen Wagen dato.
Heide, Holle, hutt!“
singen die Kinder auf den Straßen in Halberstadt und erinnern uns an die Zeit, wo Bischof Buko, der Kinderfreund, mit glänzendem Gefolge einzog, um den erledigten Bischofsstuhl einzunehmen. Ihrem kindlichen Munde ist „Mukuh“ geläufiger als Buko – und so muß sich denn der alte Herr diese Verstümmelung seines Namens gefallen lassen.
Ja, Halberstadt ist ein alter Bischofssitz, das sieht man, sobald man sich ihm nähert; die zahlreichen Thürme zeugen davon, sie geben der Stadt schon aus der Ferne ein ehrwürdiges Aussehen, und vor Allem fallen dem Beschauer die schlanken gothischen Thürme des Domes auf.
Halberstadt liegt in einer Thalmulde, die von der Holtemme, dem munteren Kinde der grünen Harzberge, durchflossen wird, vor widrigen Winden geschützt durch die Höhenzüge der zerklüfteten Klusberge und des buchenbekränzten Huys. Am fernen Horizonte zeichnen sich die Contouren des Harzes scharf am Himmel ab, und wie ein Patriarch erhebt über ihnen der alte Brocken sein sagenumwobenes Haupt. Gesegnet ist dieses Thal, die wogenden Korn- und grünenden Rübenfelder zeugen davon; viele Morgen des Halberstädter Weichbildes sind aber auch mit den duftigen Kindern Floras geschmückt: da hauchen ganze Felder voll Reseda ihr würziges Arom; da glühen weite Strecken Astern bunt und farbenprächtig uns entgegen. Schienenwege führen nach allen Richtungen der Windrose hin; Handel und Wandel blühen – dafür sprechen die rauchenden Schornsteine, die schmucken Läden der Straßen und Plätze.
Treten wir eine Wanderung durch die gebogenen und gewundenen Straßen der Stadt an, so begegnen uns überall die antiken Giebelhäuser mit der gut erhaltenen Holzschnitzerei, mit den überstehenden Etagen; hier und da blickt uns ein alter Erker, dort ein reich verzierter Vorbau, ein Wahr-, ein seltsames Innungszeichen an. Die weitaus meisten dieser Bauten stammen aus dem sechszehnten und siebenzehnten Jahrhundert, gerade so, wie die der Harzschwesterstädte Goslar, Osterwieck, Quedlinburg und Wernigerode.
Vor allen Dingen fesselt der herrliche gothische Dom, welcher schon im Jahrgang 1862 (Seite 277) der „Gartenlaube“ in Bild und Wort dargestellt wurde, die Aufmerksamkeit des Beschauers. Es giebt im nördlichen Deutschland wohl noch manch größeres, aber kein schöneres Gotteshaus, als dieses. Die Form des Doms ist die des Kreuzes; er liegt erhöht, auf drei Seiten von den stattlichen Curien der ehemaligen Domherren, dem 1875 neu errichteten Gymnasium und den Domprediger-Wohnungen umschlossen, während die vierte Seite auf den schönen wohlerhaltenen Domplatz schaut, dessen anderes Ende die 1005 begonnene und 1284 beendete, im romanischen Stile aufgeführte, vierthürmige Liebfrauen-Kirche einnimmt. Eine lange Zeit theilte letztere das Schicksal so manches anderen Gotteshauses der Stadt: sie wurde als Heumagazin verwandt, seit dem Jahre 1848 ist sie aber wieder restaurirt und ihren ursprünglichen Zwecken zurückgegeben. Außer diesen beiden Kirchen finden sich noch die Pauls-Kirche, mit Thüren im Rundbogenstile geschmückt, die dem zwölften Jahrhundert entstammen, die Moritz-Kirche, die im Spitzbogenstil errichtete Martini-, die 1366 in demselben Stil vollendete Andreas- und die St. Katharinen-Kirche, die 1399 gebaut wurde. Sechs geweihte Stätten sind baufällig geworden und werden zu weltlichen Zwecken benutzt; eine darunter ist sogar zum Schauspielhause umgewandelt, in dem sich jedoch die Musen nicht recht heimisch fühlen wollen. Unter ihnen befindet sich auch die am Antonius-Hofe belegene französisch-reformirte Kirche.
Hinter dem Dome versteckt liegt ein bescheidenes Haus, durch dessen niedrige Räume einst der Hauch echter deutscher Poesie zog, in denen die Freundschaft ihren Tempel baute; die Neuzeit zierte es mit einer steinernen Tafel:
„Hier lebte und dichtete Joh. Wilh. Ludw. Gleim,
gestorben den 18. Februar 1803.“
Nach Möglichkeit hat man die Räume wieder so eingerichtet, wie sie waren, als sie der Canonicus Gleim inne hatte; eine reiche Sammlung von Portraits und Büsten und vielen anderen Sachen, die sich auf sein Leben beziehen, ist darinnen aufgestellt.
Auch die alte bischöfliche Residenz, der Petershof erhebt sich auf dem Domplatz, er ist von Burchard dem Ersten im Jahre 1052 auf einem Felsen erbaut, dessen Fuß von der Holtemme bespült wird; die dem heiligen Petrus geweihte Capelle gab ihm den Namen. Heute wird nun freilich kein glänzendes Hoflager mehr hier gehalten – heute spricht hier das Kreisgericht Recht, und die dort untergebrachten Gefangenen sehen diesem Ausspruch gespannt entgegen.
Wir verlassen den schönen Domplatz und gehen an der Domprobstei vorüber durch den sogenannten „Zwicken“ (Schwibbogen), einen im antiken Geschmacke ausgeführten Bogengang, dessen Fries zahlreiche Familienwappen der ehemaligen Domherren schmücken. Es sind die in und um Halberstadt häufig sich wiederholenden Wappen Derer von Oppen, von Schulenburg, von Bieren, von Wrampe, von Lochow, von Rintorff, von Treskow, von Holle, von Hoppenkorb, von Bennigsen, von Rössing und Spiegel von Pickelsheim.
Der Name Spiegel kommt oft in der Geschichte Halberstadts vor; dieser Familie dankt die Stadt die Anlage ihres schönsten Vergnügungsortes, der „Spiegel’schen Berge“, welches Besitzthum sie dem Publicum bereitwilligst geöffnet hat. Noch bis vor kurzer Zeit lebte hier Domherr von Spiegel, der sich seine hinter dem Dom gelegene Curie mit Kunstwerken ersten Ranges – wovon die hervorragendsten: „Die Söhne Eduard’s“ und: „Die Chorknaben bei der Vesper“ von Th. Hildebrandt – schmückte. Auch schöne Architekturbilder des Malers Hasenpflug sind dort vorhanden. Ueberhaupt findet die Kunst in Halberstadt einen dankbareren Boden, als dies wohl in manchen gleich großen Städten der Fall ist. Die Anregung dazu verdankt man hauptsächlich dem rühmlichst bekannten Dr. Lucanus, der die ambulanten Kunstvereine in’s Leben rief. Auch der ausgezeichneten, reichhaltigen und wohlgeordneten ornithologischen Sammlung des Oberamtmann Heine auf dem Burchardi-Kloster ist hier zu gedenken.
[445] Nachdem wir uns in der durch ihren Besitzer bekannten und vielbesuchten Conditorei des Herrn Deesen gestärkt, schreiten wir an den beiden schon sehr modernisirten Häuserreihen der Schmiedestraße vorüber und treten auf den an alterthümlichen Gebäuden so reichen Holzmarkt. Wir haben hier das Bild vor uns, welches unser Holzschnitt zeigt. Unwillkürlich fühlen wir uns um einige Jahrhunderte zurückversetzt; das, was sich unserem Auge bietet, steht den berühmten Nürnberger Stadtansichten in keiner Weise nach. Vor allen Dingen entzückt uns ein stattliches Hans, von dessen Alter die Ehrfurcht gebietenden Zahlen 1433, 1531, 1663 zeugen; die Füllung der Brüstung – eine „Justitia“ mit verbundenen Augen und den Buchstaben T S W (Trau, Schau, Wem) – und ein sinniger Spruch, der das mit Wappen und Bildern im Renaissancestil ausgeführte Treppenhaus ziert, machen uns die Bestimmung dieses Baues klar – es ist das „Rathhaus“.
Stolz hält der alte „Roland“ mit gezücktem Schwerte davor die Wacht – einst das Zeichen des Rechts des hochnothpeinlichen Gerichts und der Grafenwürde. Wenn auch die Rosette die Jahreszahl 1483 trägt, sagt man doch, daß diese Zahl neueren Ursprungs, die Bildsäule selbst aber schon unter Karl dem Großen 789 errichtet sei. Die grausigen Mordinstrumente, die Schellen, die Eisen und die Folterwerkzeuge, die von der damaligen Rechtspflege unzertrennlich sind, befanden sich ehedem im Keller eines Hintergebäudes vom Rathhause, welches seine Front dem Fischmarkte zukehrt – des an Inschriften so reichen „Richthauses“.
Höchst spaßhafter Natur ist das „Hilarius-Männchen“ im Reliefbild am östlichen Portal: da streichen der Trompeter und der Dudelsackpfeifer dem Bürgermeister den Bauch. Halberstadt hat noch manche solcher Wahrzeichen aufzuweisen, so das „blutende Schwert“ an der Liebfrauen-Kirche, an das sich eine düstere Rittersage knüpft, dann das „Broimännchen“ an einem 1577 erbauten Eckhause der Gerberstraße zu Ehren des Brauers des [446] „Broihaus“, und dann das Bild „Tetzel’s mit dem Ablaßkasten“ an dem sogenannten „Tetzel-Hause“ neben dem mit Holzarchitektur so überaus reich ausgestatteten „Schuhhof“ – Wappen, Inschriften, Gewerkzeichen ziehen sich wohlbehalten in ununterbrochener Reihe an seiner Font hin und das
“Anno Domini 1520 hanc posui.“
(„Im Jahre 1520 habe ich dies Haus gebaut.“)
spricht für sein respectables Alter.
Das zweite Bauwerk, welches die Abbildung zeigt, ist die sogenannte „Commisse“, das zweite bischöfliche Residenzschloß, 1596 von Heinrich Julius für 72,000 Thaler erbaut, jetzt der Sitz des Hauptsteueramtes; seinen Namen erhielt es, weil die Waaren, welche von dem Fiscus als gepascht recognoscirt wurden, demselben „in commissum“ verfallen waren und dorthin gebracht wurden.
Das dritte Gebäude, welches wir erblicken, ist die Krone aller Häuser der Stadt, der nach seiner Inschrift: „anno domini 1461 in die Dorothee“ auf der Stelle des ehemaligen, vom Grafen von Reinstein oder Regenstein erbauten Franziskaner-Klosters errichtete „Rathskeller“. Reich an Holzarchitektur, welche einen hohen Kunstwerth besitzt, ist er gut erhalten; die Etagen springen über einander hervor und berühren in ihren oberen Stockwerken fast das sich gleichfalls nach oben erweiternde Nachbarhaus, welches auf unserem Bilde die Straße abschließt und ebenso wie ersteres durch sein Alter und sein wohlerhaltenes, kunstvolles Schnitzwerk ausgezeichnet ist.
Der Mann, in dessen Schicksalsbuche ich flüchtig blättern will, ist vorzeitig grau geworden, aber seine Gestalt blieb aufrecht, wie ein Baumstamm, der sich nichts aus Wind und Wetter macht. Als er jung war und seine ersten Lieder sang, mögen die Blicke der Frauen mit Wohlgefallen an ihm gehangen haben; nun er alt geworden, schauen respektvoll die Männer auf ihn. Ich spreche von Johannes Nordmann, dem Präsidenten des Wiener Journalisten- und Schriftstellervereins „Concordia“. Oder vielmehr nicht von ihm, sondern von einem seiner Bücher, welches vor Kurzem in dritter Auflage erschienen ist und eine wunderliche Jugendgeschichte hat. Es heißt: „Frühlingsnächte in Salamanca“ und ist eine Erzählung, aus dem lustigen Novellino des alten Italieners Masuccio herausgearbeitet, aber dem heiteren Glanze, der über die Darstellung ausgegossen ist, merkt man es nicht an, daß an der Wiege dieses Büchleins die Polizei gesessen hat. Ja wohl, die Polizei. Und zwar diejenige der tollsten Reaction, deren noch heute jeder betagte Wiener sich mit geheimem Grauen erinnert.
Die Völker lieben es, ihren Städten charakteristische Prädicate beizulegen. Namentlich wissen die Italiener stolze und klangvolle Beiworte für ihre großen städtischen Gemeinwesen zu finden. „La felice“, „la bella“, „la superba“. Auch wir Deutsche sprechen wohl gern von unseren großen Städten in bezeichnenden Eigenschaftswörtern. Das „kritische“ Berlin, das „reiche“ Leipzig, das „schöne“ Dresden, das „ehrwürdige“ Prag, das „gemüthliche“ Wien. Und just von Wien gilt das alte Prädicat nicht mehr; es hat seit Anno Windischgrätz und der Concordatsherrschaft aufgehört, das „gemüthliche“ zu sein. Die Lebenslust konnte ihm nicht vergällt und die Schönheit seiner Frauen nicht getilgt werden, aber die Naivetät ist ihm ausgetrieben worden; denn zehn volle Jahre clerical-feudaler Polizeiwirthschaft bringen es schon zuwege, daß, um mit Schiller zu reden, der Spiritus zum Teufel geht und das Phlegma bleibt. So ganz wörtlich braucht das Citat allerdings nicht genommen zu werden; was übrig blieb, langt eben schon noch für eine sehr große, sehr schöne, sehr bewegliche Stadt; nur eben die „Gemüthlichkeit“ ist dahin, und die Sünde, sie verscheucht zu haben, lastet neben vielen anderen auf den Schultern der Polizei in der bitterbösen Episode zwischen Windischgrätz und Schmerling.
Ein Bild von düsterster Färbung thut sich auf, wenn man in diese und die ihnen vorangegangenen Tage zurückdenkt. Metternich hat die Gewalt, und Sedlnitzky versieht ihm die Polizei. Dem Volke ist so sehr aller bürgerliche Muth abhanden gekommen, daß es vor Schreck erzittert, als Anastasius Grün das dreiste Verlangen äußert, frei sein zu wollen. Kuranda, der frisch von der Leber weg sprechen und schreiben will, muß hinaus in die Fremde, in’s Exil. Moritz Hartmann, Alfred Meißner, Eduard Mautner und auch Johannes Nordmann, welche singen wollen, wie der Vogel singt, müssen aus dem engen heimischen Vogelbauer entfliehen, um in Leipzig sich dürftige Nester zu gründen. Wien lacht über Nestroy’s Späße, aber das Lachen tönt wie dasjenige eines arglosen Kindes. Dann kommt das jähe Aufleuchten vom 13. März, ein kurzes enthusiastisches Ringen, das in den Laufgräben der „gemüthlichen“ Kaiserstadt blutig endet.
Und da es nun stille, todtenstille geworden ist, wie in einem großen Grabe, übernimmt der General und Freiherr von Kempen, eine mitleidslose Sergeantennatur, als Polizeiminister die Sorge für die öffentliche Sicherheit; ihm zur Seite als Stadthauptmann von Wien steht der Oberösterreicher Weiß von Starkenfels, ein Wütherich von Temperament, ein fanatischer Kirchengänger, eine Tilly-Gestalt, aus den Tagen des dreißigjährigen Krieges in unser Jahrhundert versetzt. Alexander Bach, der Renegat, schließt sich als Minister des Inneren würdig an. Graf Leo Thun, der finstere Concordatsgraf, leitet Cultus und Unterricht.
Das ist eine Festtagszeit für Gensd’armen, Jesuiten und Spitzel. Wer je eine Geschichte der Polizei schreiben wird, muß dieses Capitel mit besonderem Fleiße studiren; denn aus demselben ergiebt sich, warum schon das bloße Wort Polizei so gehässig, so abschreckend dem Volke in die Seele klingt. Es wird in der Welt wohl nie an Polizisten fehlen, aber nicht sie sind das Uebel. Nur wenn der Detective sich in die Kutte und der Jesuit sich in die Uniform steckt, dann Gnade Gott den Völkern! Vor den Polizisten nicht, vor den Polizeiseelen bewahre uns der Himmel.
Und mit diesen hatte Johannes Nordmann sein Lebtag viel sich abzukämpfen. Er ist glücklicher Weise ein starker Mann, und als er während der Concordatszeit einem Wiener Blatte Localplaudereien schrieb, that er es unter dem Zeichen des Dreschflegels. Daher ist es denn gekommen, daß er Kempen und Weiß von Starkenfels und Alexander Bach siegreich überdauerte, daß ihm die Liederquelle in seinem Herzen nicht versiechte, und daß sogar seine „Frühlingsnächte in Salamanca“ mit ihrem prächtigen Sternenschimmer wieder aufgingen, nachdem die Nacht der Reaction mit ihrer dichten, seelenlosen Finsterniß verrauscht war – verrauscht, aber vielleicht nicht auf Nimmerwiederkehr. Das Ideal ist unsterblich, aber auch sein Widerspiel ist es. Darum finde ich es so nützlich, in besseren Tagen sich überstandener Leiden zu erinnern. Wer weiß, wie bald sie wieder an unsere Thür klopfen!
Es war im Jahre 1852, als Nordmann, der sich emsig mit italienischer Literatur beschäftigt, der einen Roman „Carrara“ aus Paduas Vorzeit und ein gutes Buch über Dante’s Zeitalter geschrieben hatte, auch über die Geschichten des Masuccio gerieth. Das sind lustige, aber auch ein wenig unsaubere Stücke.
„Ich setzte einen künstlerischen Ehrgeiz darein,“ sagt Nordmann in seiner derben, ungeschminkten Art, „eine Geschichte aus den fünfzig Novellen herauszugreifen, die am schwersten rein zu kriegen schien.“ Und das war gleich die erste des „Novellino“. Unter der Hand wuchs ihm die Arbeit zu einem kleinen Romane an, und da er selber eine Revue „Der Salon“ herausgab, so war nichts natürliches, als daß er sein Opus, das vorerst den Titel „In Salamanca“ trug, in dieser Revue zu veröffentlichen begann. Aber er hatte ohne die Polizei gerechnet. Kaum war die erste Abtheilung erschienen, so ereilte ihn eine Vorladung, die ihn vor den „Preßrath“ Hauk citirte.
Die „spanische Geschichte“, so ward ihm eröffnet, wäre namentlich in clericalen Kreisen „übel vermerkt“ worden, sie sei nicht danach geartet, um in einem „christkatholischen Staate“ zugelassen zu werden. Nordmann, der kein Hasenfuß ist, wallte auf. Die nächste Stunde sah ihn, eine Audienz erwartend, im Vorzimmer des Generalgewaltigen, des Polizeiministers von Kempen. Mag er selbst den Verlauf dieser Audienz berichten:
„‚Excellenz‘, wendete ich mich an den in Wien Verrufenen [447] und Gefürchteten, ‚ich habe an Sie eine ästhetische Frage zu richten.‘
‚Da stehen Sie vor der unrechten Schmiede; ich bin Soldat und traue mir in solchen Dingen kein Urtheil zu.‘
‚Herr General, es handelt sich auch nicht so sehr um ein Urtheil, und ich möchte Sie in der eiteln Voraussetzung, daß Sie vielleicht einen flüchtigen Blick in meine Geschichte „In Salamanca“ geworfen haben, nur fragen ob Ihnen diese Arbeit mißfallen hat.‘
‚Im Gegentheil, sie gefällt mir ganz außerordentlich, und ich freue mich auf die Fortsetzung.‘
‚Excellenz, die Fortsetzung werden Sie nicht lesen.‘
‚Warum nicht?‘
‚Weil Ihr Censuramt schon am Eingange über einen Stein des Anstoßes gestrauchelt ist und mir die weitere Veröffentlichung untersagt hat.‘
‚Welcher Dummkopf hat da wieder die plumpe Hand im Spiel?‘“
War das der vielverlästerte Tyrann Kempen? Ei gewiß, nur hatte diesmal sein Verfahren einen ganz eigenthümlichen Grund. Kempen war den Clericalen spinnefeind. Hatte er zwischen diesen und den Liberalen zu wählen, so sah er die Letzteren als das kleinere Uebel an. Eines Tages wendete sich Cardinal Rauscher, weiland Fürst-Erzbischof von Wien, mit dem Ansinnen an ihn, durch die Polizei-Organe Tabellen über alle in „wilder Ehe“ lebenden Personen anfertigen zu lassen. Darauf gab Kempen bündig zur Antwort, er halte ein derartiges Begehren von kirchlicher Seite für unzulässig und werde seinerseits nie zu einer solchen Familien-Inquisition die Hand bieten. Der Cardinal habe übrigens ein leichtes Spiel, über jene Personen, bei denen ihm in seinem Sprengel eine Spionage zustehe, das Gewünschte in Erfahrung zu bringen, dürfe sich aber darüber nicht verwundern, wenn er finden sollte, daß fast eben so viele „wilde Ehen“ wie Pfarrämter vorhanden seien.
Bei Herrn von Kempen also war der Proceß Nordmann und seiner „spanischen Geschichte“ anscheinend gewonnen.
Aber dieser „Salon“, diese leidige Revue, war noch anderen Leuten ein Dorn im Auge, und deren Haß schrieb sich aus den Tagen her, da Nordmann die Erlaubniß zur Herausgabe seiner Zeitschrift förmlich erzwungen hatte. Das hatte nämlich folgende Bewandtniß. Nordmann war zum Minister Bach gegangen, der, als er im Jahre 1848 „dem Weltgeiste die Thüren angelweit öffnen“ gewollt hatte, ein Bekannter des Schriftstellers gewesen war.
„Sie wollen eine belletristisch-kritische Revue herausgeben?“ fragte Bach. „Ich finde ein solches Unternehmen unpraktisch, und Sie werden damit keine Geschäfte machen. Warum versuchen Sie es nicht lieber mit einer politischen Wochenschrift? Darüber ließe sich allenfalls sprechen.“
Der Minister hätte Nordmann gern für seine eigenen Dienste gewonnen, aber da dieser beharrlich that, als ob er den Wink nicht verstehe, so erklärte Bach schließlich:
„Mich soll es freuen, wenn Sie mit Ihrem Unternehmen durchdringen, und von mir wird die Sache rasch und anstandslos erledigt werden.“
Es geschah aber weder rasch noch anstandslos. Der Stadthauptmann Weiß von Starkenfels hatte auch ein Wort dazwischen zu reden und er that es dem Demokraten Nordmann gegenüber auf seine Weise. Nordmann bekam plötzlich von der Polizei die Mittheilung, daß er aus Wien ausgewiesen und in eine Kreisstadt zu interniren sei.
Nun wieder zu Bach, dem Minister.
„Excellenz, Ihre Verwendung für meine literarische Angelegenheit war nicht besonders wirksam. Anstatt die nachgesuchte Concession zu erhalten, soll ich aus Wien ausgewiesen und in einer kleinen Landstadt internirt werden. So lautet der drakonische Befehl des Herrn Weiß von Starkenfels, der mir aber nur mündlich durch einen Polizei-Commissär mitgetheilt wurde.“
„Hat man Ihnen keine Gründe dieser Maßregel angegeben?“
„Nein.“
„Ich sichere Ihnen schon vorwegs zu, daß Sie Wien nicht zu verlassen haben. Dennoch möchte ich Sie ersuchen, sich zu dem Stadthauptmann zu begeben und ihn um die Gründe Ihrer Ausweisung und Internirung zu befragen.“
In die Höhle des Raubthieres. Das war ein wirkliches Wagstück; denn vor Weiß von Starkenfels zitterte buchstäblich ganz Wien. Dieser Polizei-Pascha blickte finster und lauernd, sprach „wie ein Kettenhund“, handelte gewaltthätig.
Nordmann trat bei ihm ein.
„Was wollen Sie? Wie heißen Sie?“
„Ich heiße Nordmann. Es kann offenbar nur ein Versehen Ihrer Untergebenen sein, daß ich heute die polizeiliche Weisung erhielt, Wien zu verlassen.“
„Es ist kein Versehen; denn es geschah auf meinen Befehl.“
„Und was veranlaßte diesen Befehl?“
„Darüber habe ich Ihnen keine Rechenschaft zu geben.“
„Doch, Herr Stadthauptmann. Ich habe mir diese Frage auf Anregung des Ministers des Inneren, von dem ich komme, erlaubt.“
„Sie werden doch nicht in Abrede stellen wollen, daß Sie eine politisch compromittirte Persönlichkeit sind? Als solche müssen Sie am besten wissen, wie Sie sich im Jahre 1848 und später vergangen haben. Was Sie damals im Café Sch. vor vielen Leuten ausgesprochen haben, das könnte Sie an's Messer bringen.“
„Ich bin bis zur Stunde niemals in dem genannten Café gewesen.“
„Und ich habe mich mit Ihnen in keine Discussionen einzulassen.“
Der Dialog ist knapp, wuchtig und grob, wie man sieht. Der Schriftsteller duckt sich vor dem Polizei-Pascha nicht. Im Gegentheil, dieser kommt schließlich so sehr in die Enge, daß er in seiner Verlegenheit an Nordmann plötzlich die Frage richtet:
„Wann sind Sie geboren?“
„Am 13. März 1820.“
„Sie freilich konnten keinen anderen Geburtstag als den 13. März haben.“
Dieses Dictum verdient unsterblich zu sein. Nordmann galt als Demokrat, und der 13. März war der Tag des Beginnes der Wiener Revolution. Ein Weiß von Starkenfels mochte wollen, daß dieses ominöse Datum überhaupt aus dem Kalender der Weltgeschichte gelöscht werde. Es geht nun allerdings auch über die Kräfte der Polizei, eine geschichtliche Thatsache ungeschehen zu machen, allein dem armen Nordmann gegenüber Sieger zu bleiben, schien für den Stadthauptmann keine Schwierigkeiten zu haben. Der Ausweisungsbefehl stand einstweilen aufrecht. Der Finanzminister Kraus sagte zu dem Poeten:
„Wenn Sie ein Jude wären, so würde ich mir die Verfolgungswuth des Stadthauptmanns gegen Sie erklären können. Er hat mir in seinem Fanatismus gegen die Juden schon die ganze Börse rebellisch und kopfscheu gemacht, und seine Uebergriffe gehen so weit, daß er bei den Firmen der ersten jüdischen Handelshäuser die Einsicht in die Geschäftsbücher beansprucht.“
Für ein Weilchen trat Bach glücklicher Weise dazwischen. Er befahl die Aufhebung des Ausweisungsbefehls und Weiß von Starkenfels mußte zähneknirschend gehorchen. Aber Bach unternahm eine Reise, und sofort war Weiß von Starkenfels mit der Ausweisung wieder da. Nur daß diesmal der gehetzte Autor seine letzte Kraft zusammennahm und geraden Weges an den Polizeiminister ging, das wendete die Lage. Nordmann begehrte nicht mehr und nicht weniger als eine regelrechte Untersuchung über sein Verbrechen. „Ich will nicht vogelfrei sein,“ sagte er zu Kempen. Sein Verlangen ward erfüllt, und wie vorauszusehen war, stellte sich trotz der genauesten Prüfung seiner Personalacten nichts heraus, was ihn compromittirt hätte.
Die Ausweisung unterblieb demnach, aber wie stand es um die Erlaubniß zur Herausgabe des „Salon“? Kempen hatte nichts gegen sie einzuwenden; Bach widerstrebte nicht. Das Censuramt zerrte hin und her, zögerte, verschleppte, aber schließlich mußte es sich fügen. Es hatte jedoch, wie man zu sagen pflegt, einen Zahn auf die neue Zeitschrift; es dürstete nach Rache an dem kecken Literaten, der sich erfrecht hatte, über die Häupter von Preß-, Hof- und Polizeiräthen hinweg bei den Ministern selbst sein Recht zu suchen. Bevor der „Salon“ erschien, hatte er bereits mächtige Feinde, und als er sich mit der Erzählung „In Salamanca“ producirte, gerieth der gesammte polizeiliche Preßapparat in feindselige Bewegung. Die Parole ging aus, es sei in dieser Geschichte eine Blasphemie gegen die herrschende Staatsreligion enthalten. Nichts destoweniger oder vielleicht gerade deshalb hielt Herr von Kempen seine schützende Hand über der lästigen Novelle; er sorgte dafür, daß ihr völliger Abdruck im „Salon“ nicht gewaltsam unterbrochen werde.
„Auch Patroclus ist gestorben und war mehr als Du!“ [448] Gegen Preß-, Hof- und Polizeiräthe kam Kempen siegreich auf; das Concordat war „ihm über“. Und eben, als die Geschichte „In Salamanca“ unter der Presse lag, um für die Buchform zurecht gemacht zu werden, war das Concordat zum Abschlusse gediehen. Die Polizei trug fortan die Kutte. Da erschien denn eines Tages das Verhängniß in Form einer Confiscation; die bereits fertigen Exemplare wurden beseitigt, die noch nicht vollendeten unter Siegel gelegt.
Und wieder setzte sich Nordmann zur Wehre. Aber diesmal bewilligte man ihm anstatt seines ganzen Rechtes nur einen Compromiß. Man löste die Amtssiegel und stellte ihm die ganze Auflage zur Verfügung, jedoch unter der Bedingung, daß die Geschichte unter einem anderen Titel und in einem ausländischen Verlage erscheine.
Das ist die Geschichte der „Frühlingsnächte in Salamanca“ von Johannes Nordmann.
Bücher haben ihre Schicksale, sagt ein altes Wort. Je nun, wenn in diesen Schicksalen nicht zugleich die Geschicke der Zeiten sich wiederspiegeln, so mag es zweifelhaft sein, ob es sich verlohne, sie zu registriren. Aber an diese „Frühlingsnächte in Salamanca“ knüpft sich ein ganzes Capitel aus der Geschichte der Polizei. Und deshalb hat Nordmann wohl daran gethan, in einem Vorberichte zu erzählen, wie es ihm mit dem Buche ergangen. Liest man sich dann in die Novelle hinein, so fragt man sich verwundert, was denn hier gegen den „christkatholischen Staat“ habe verstoßen können. Und man merkt kaum, daß man eigentlich eine alberne Frage aufgeworfen. Hätte Alban Stolz diese „Frühlingsnächte“ geschaffen, so wäre es auch der Wiener Polizei von Anno dazumal nicht eingefallen, ihn zu drangsaliren. Aber Nordmann hieß der Verbrecher, der nicht blos ein Demokrat, sondern auch an einem 13. März geboren war. Nicht sein Roman, er selbst sollte getroffen werden.
Leben wir nicht jetzt in idealen Zuständen? Es wäre undankbar, zu leugnen, daß in unseren Tagen selbst die Polizei liebenswürdiger, civilisirter geworden ist. Derselbe Johannes Nordmann, der unterdessen freilich ein Mann mit schlohweißem Barte wurde, dichtet ein großangelegtes Epos „Eine Römerfahrt“, in welchem der Kampf der Geister gegen das Papstthum gepriesen wird, ohne daß es einem Polizeirath einfallen darf, dasselbe mit seinem Amtsgrimme zu verfolgen. Das Concordat fordert keine Opfer mehr in Oesterreich; denn es hat längst aufgehört, zu bestehen. Weiß von Starkenfels lebt noch, wenn ich nicht irre; er würgt in seiner Linzer Dunkelheit den Groll über die Wandlung der Zeiten hinunter.
Nordmann gehört zu den populärsten Gestalten Wiens. Er hat nie seinen Nacken vor der Gewalt gebeugt, und stramm, knorrig, robust wie seine Gesinnung, ist auch seine Schreib- und Redeweise.
„Das Concordat,“ sagt er, „bei dessen Abschlusse Minister Bach die Hauptpathendienste verrichtete, was seinen Namen für alle Zeiten an die Colonna infamae nagelt, hat sich nach Kurzem als unbrauchbar für Oesterreich gezeigt und ist nachgerade beseitigt worden. Nun, mit dieser Beseitigung hat es freilich seine geweisten Wege; es hält noch manche Niete, an der ein Fetzen von diesem Nessushemde flattert, der als Reliquie von den Stierköpfigen hinter den Bergen und an den südöstlichen Reichsgrenzen, wo die Welt sozusagen mit Brettern vernagelt ist, inbrünstig verehrt wird.“
In diesen Worten steckt der ganze Mann, tapfer, deutsch und geradeaus wie er ist. Es lohnt sich, ihn kennen zu lernen.
Die Polizei freilich hat ihn stets gehaßt; sie thut es in ihrem Inneren vielleicht heute noch.
Eine Tanzpause. Wir wohnen vor unserer Abbildung (auf S. 440 und 441) einer Dorfkirchweihe im Schwarzwalde bei. Das sagt uns der bekränzte Tanzplatz, während die beiden Hauptfiguren in der Mitte desselben genügend andeuten, daß wir uns nicht auf einer Hochzeit befinden, denn auf einer solchen würde schwerlich der alte Clarinettist mit dem Zahlteller herumgehen und den jungen Burschen vor sich zum Hervorziehen seines Lederbeutelchens veranlassen. Dennoch scheint es, daß wir in dem Burschen mit der großen Halskrause einen Bräutigam zu sehen haben, der soeben mit seiner Braut anstößt; daß aber der junge Bursche sein Geld nicht finden kann, mag wohl in dem Umstand liegen, daß es in dem Rock steckt, den der Junge ihm sammt dem Hut während des Tanzes gehalten hat und noch hält. Trefflich hat der Düsseldorfer C. M. Seyppel in seinem lebensvollen Bilde dafür gesorgt, daß jede einzelne Gestalt desselben sich selbst erklärt, Männlein und Weiblein, Alt und Jung, von der dienenden Magd, welche in Ermangelung eines Seihers den Trichter zum Staublöschen und Anfeuchten des Tanzbodens benutzt, bis zu den hochthronenden Musikanten und zu den Gruppen an den Zechtischen im offenen Vorder- wie im lauschigen Hintergrunde. Man läßt den Blick gern auf so vielen hoffnungsfrohen Gesichtern ruhen und möchte ihnen allen zurufen:
Die Freude macht gut; die Liebe macht stark –
So freue Dich, Volk, mit gesundem Mark!
Sei frisch im Schaffen und frisch im Scherzen,
So lange das Herz noch kräftig schlägt!
Wenn ein Sturm einst über die Tennen fegt,
Seid ihr auch Manns, es zu verschmerzen.
Zur Hebung der deutschen Interessen in Amerika hat sich ein neuer Verein gegründet, auf dessen dankenswerthe Ziele wir nicht unterlassen wollen, ehrend hinzuweisen. In Folge eines Ausrufs, der vom bisherigen „Deutschen Hülfs-Comité für die Nothleidenden in Thüringen und Schlesien in Pittsburg“ (Pennsylvanien in Nordamerika) ausging, hat sich in der genannten Stadt eine Gesellschaft zur Unterstützung bedürftiger deutscher Einwanderer gebildet. Der Verein nennt sich „Deutsche Gesellschaft in Pittsburg“ und hat ein Local eröffnet, in welchem durch angestellte Beamte deutschen Einwanderern und deren Angehörigen unentgeltlich Rath und Auskunft ertheilt, Hülfsbedürftigen Unterstützung verabreicht und Arbeitsuchenden Arbeit nachgewiesen werden soll.
Im Hinblick auf die starke Einwanderung aus Deutschland und die traurige Wahrnehmung, daß viele deutsche Einwanderer gänzlich mittellos den amerikanischen Boden betreten oder bei ihrer Ankunft durch unglückliche Zufälle oder professionelle Schwindler und Diebe ihrer letzten Habe beraubt und der größten Noth preisgegeben werden, muß die Neugründung solcher Vereine in Amerika, deren es in New-York und anderen Städten bereits mehrere giebt, auf's Freudigste begrüßt werden, dies um so mehr, als weder die amtliche Armenpflege, noch die Polizeiverwaltung im Stande ist, solche Noth in allen Fällen zu lindern und durch die nöthige Auskunft den mit den Verhältnissen unbekannten Neueingewanderten den rechten Weg zur Erreichung eines Unterkommens zu zeigen.
Die kolossale Zufuhr neuer Kräfte kann nicht verfehlen, auf den amerikanischen Arbeitsmarkt eine lähmende Einwirkung zu üben. Der Neueingewanderte kennt die Verhältnisse nicht und muß für das arbeiten, was man ihm eben giebt, und – man giebt ihm natürlich wenig.
„Nun liegt es nicht in unserer Macht,“ heißt es in dem Pittsburger Bericht über diese neu gegründete Gesellschaft, „den Strom der Einwanderung zurückzuhalten. Das wollen wir auch nicht – im Gegentheil, der biedere Landsmann ist uns willkommen. Er hat nicht allein ebenso gut wie wir das Recht, sich in Amerika anzusiedeln, sondern seine Ankunft trägt sogar zum allgemeinen Wohlstand des Landes bei.
Aber das können wir thun, daß wir den Strom gewissermaßen reguliren und dahin leiten, wohin er gehört. Es liegt in unserer Macht, bis zu einem gewissen Grade zu verhüten, daß der hiesige Arbeitsmarkt überfüllt wird, indem Hunderte von kräftigen Männern, welche vielleicht gar keine Absicht hatten, sich hier niederzulassen, dennoch sitzen bleiben, einfach weil ihnen die Mittel zur Weiterreise fehlen. Mancher deutsche Bauernbursche würde viel lieber weiter gehen auf's Land, oder nach den Agriculturstaaten im Westen, wenn er nur könnte; statt dessen bleibt er hier und muß, vielleicht ganz gegen seinen Willen, in Eisenwerken, Kohlengruben u. dergl. Arbeit nehmen.“
Den in dem Pittsburger Bericht geschilderten Zuständen gegenüber leuchtet die große Nützlichkeit solcher Vereine zur Unterstützung von Auswanderern ein, und wir können einerseits nur der ferneren Bildung derselben kräftig das Wort reden, andererseits aber auch alle unsere Landsleute jenseits des Oceans und solche, welche sich dahin zu begeben gedenken, falls sie in die Lage kommen sollten, Hülfe zu bedürfen, an diese Institute echter Menschenliebe verweisen.
Die Wolkenbruch-Verheerungen in der Oberlausitz, durch welche, nach neuesten Berichten, dreiundsechszig Menschen das Leben verloren haben, rufen allerorts auch außerhalb Sachsens die werkthätige Theilnahme wach. Wir bitten auch unsere Freunde, den öffentlich bekannt gemachten Sammelstellen der Hülfscomités ihre Scherflein zugehen zu lassen. Bei dem Unglücke der Zwickauer Bergleute hat die Erfahrung den sonst geläufigen Satz umgestoßen, daß heimische Noth weniger Beachtung finde, als fremde. Möge die neue Erfahrung sich auch den armen Lausitzern gegenüber glänzend bewähren! Einen zuverlässigen und erschöpfenden Bericht über das schreckliche Naturereigniß hoffen wir unsern Lesern in der nächsten Nummer mittheilen zu können.
E. R. in Z. Ein Portrait Karl Friedrich Lessing's, des vor einer Woche in Düsseldorf verstorbenen großen Historien- und Landschaftsmalers, haben wir unseren Lesern bereits in Nr. 7 des Jahrganges 1878 geboten.
Frf. Sch. Mittel gegen das Ergrauen der Haare giebt es nicht.
Alter Abonnent in T. bei Leipzig. Wir bitten um Ihre Adresse, da wir mit unsern Lesern in Privatangelegenheiten nur brieflich verkehren.
A. K. Es liegt leider außerhalb des Bereiches unserer Macht, Ihrem Wunsche zu entsprechen.
- ↑ Wir benutzen diese willkommene Gelegenheit, um auf die soeben erschienene zweite durchgearbeitete und vermehrte Auflage von Johannes Scherr’s vortrefflichem Werke: „1870 bis 1871. Vier Bücher deutscher Geschichte“ (Leipzig, Otto Wigand) hinzuweisen. Eine eingehende Besprechung widmeten wir dieser in mehrfacher Hinsicht so bedeutsamen Leistung, der jüngsten des hervorragenden Geschichtsschreibers, bereits in unserer Nr. 24 von 1879. D. Red.
- ↑ Wir eröffnen hiermit eine Reihe von Schilderungen aus dem Leben der europäischen Hauptstädte und gewähren in unsern heutigen Federzeichnungen der Seinestadt den Vortritt, für welche auf unser Ersuchen die pikant-lebendige Feder des oben genannten bewährten Feuilletonisten der Wiener „Neuen Freien Presse“ die Berichterstattung übernommen hat.
D. Red.