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Das Passions-Spiel in Oberammergau

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Textdaten
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Autor: Herman Schmid
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Titel: Das Passions-Spiel in Oberammergau
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 34–35, S. 532-537, 550-552
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Das Passions-Spiel in Oberammergau.
Von Herman Schmid.

Glücklicher Weise ist uns das erhebende Loos zu Theil geworden, in einer Zeit zu leben, in welcher durch das ganze deutsche Volk der Zug nach Einigung lebendiger geht und drängt, in welcher das Volk selbst sich wieder fühlt und seine Bedeutung wie seine Aufgabe zu begreifen beginnt. In diesem wiederauflebenden Volksthume liegt die sicherste Bürgschaft, daß über kurz oder lang

[533]

 Haus des Pilatus.   Das Passionsspiel in Oberammergau.   Haus des Hohenpriesters Hannas.
Einzug Jesu in Jerusalem.
Nach der Natur aufgenommen von W. Diez in München.

[534] der allgemeine Wunsch wirklich in Erfüllung geht, denn das deutsche Volksthum, das sich begreift und überall trotz aller dazwischen angebrachten Klüfte und Schranken als ein verwandtes und gleichheitliches erkennt, wird jene ausfüllen und diese brechen und über ihnen und trotz ihnen zusammenwachsen in das einige Ganze, das es gewesen in allen Zeiten seiner Macht und seines Glanzes. Deshalb ist es für alle Theile von Wichtigkeit und Bedeutung, wenn bei dem einen oder dem andern noch ein Ueberbleibsel, wie eine alte Kostbarkeit, ein Schatzstück entdeckt wird und Zeugniß gibt von jenen glorreichen Tagen volksthümlicher Selbstständigkeit.

Eine solche Kostbarkeit ist das sogenannte Passionsspiel in Oberammergau; es ist sogar eine der kostbarsten Kostbarkeiten, weil es nicht blos ein todtes Schaustück, sondern ein wunderbarer Weise lebendig gebliebenes Stück aus dem alten Volksleben ist. Eine Mittheilung darüber wird daher gewiß den Lesern der Gartenlaube zweifach willkommen sein, denn gerade sie hat vor Allem die Förderung deutschen Sinnes auf ihr Banner geschrieben, und sie werden daher nicht ungern zuhören, wenn ich von der Fahrt nach Ammergau und von dem Passionsspiele berichte.

„Der Passion“ – das Wort ist im Munde der Ammergauer Bevölkerung männlichen Geschlechts – wird nur alle zehn Jahre gespielt; die Nachrichten darüber wirken daher in langer Ueberlieferung fort und machen es durch die wachsende Ausschmückung jeder Ueberlieferung erklärlich, daß mit jedem Jahrzehent das Verlangen und die Neugier und mit ihnen der Andrang von Zuschauern wächst. Man weiß sich so viel von den Schwierigkeiten des Unterkommens zu erzählen, daß ich mir vornahm, schon Tags vorher dort einzutreffen – wollte ich mir doch vor dem Spiele erst Menschen und Ort ein wenig besehen. So eilte ich denn den Tag vor Pfingsten in prachtvoller Morgenfrühe dem Bahnhofe zu, aber leider hatte die Pracht nur zu bald ein Ende; kaum saß man im Wagen, als der Regen zu strömen begann, um nicht mehr zu enden. Man glaubte das aber nicht, sondern sah mit Zuversicht einer günstigen Aenderung entgegen. Unter Wettergesprächen und Regen sauste man Starnberg zu, ohne dem schönen Waldkirchlein zu Maria Eich oder dem romantischen Mühlthal Aufmerksamkeit schenken zu können, denn der Regen benahm die Aussicht bis auf wenige Schritte, und wir betraten trotz des wachsenden Regens das Dampfschiff.

Während der Fahrt über den so lieblichen Würmsee hatten wir Gelegenheit, durch die Cajütenfenster die interessantesten Bilder Grau in Grau zu studiren, und auch als in Seeshaupt das bequeme Dampfschiff gegen einen durchaus nicht bequemen Stellwagen vertauscht war, ergab sich durchaus keine Veranlassung, diese Studien zu unterbrechen. Unter stetem Regen erreichten wir Murnau, schmählich verkürzt um die sonst so anmuthige Fahrt zwischen den Wäldern und kleinen Seen des hügeligen Vorlandes und um den Anblick der dahinter immer näher ansteigenden Gebirgskette; unter stetem Regen fuhren wir auf der Partenkirchner Straße bis Oberau, wo die Straße nach Ammergau rechts abbiegt, schritten mit heldenmüthiger Ergebung durch den Wald, eine tief abstürzende Schlucht entlang, den Ettaler Berg hinan, natürlich im Regen, aber zur angenehmern Abwechslung mit etwas Sturm vermischt, und eilten endlich dem Ettaler Wirthshause zu, dessen bäuerliche Alterthümlichkeit schon darum anheimelte, weil sie Trockenheit und Wärme bot. Der Zufall hatte uns gut zusammengeführt: drei Studenten, darunter zwei Badenser, ein Consul der Vereinigten Staaten von Nordamerika und Schreiber dieses Berichts – Elemente genug, den Abend angenehm und anregend zu verbringen.

Am andern Morgen machte kurzer Sonnenschein wieder dem beliebten Regen Platz, und nach einem flüchtigen Besuche der Kirche zu Ettal wanderten wir Ammergau zu. Der Weg nach Ammergau ist kurz und bei gutem Wetter sehr angenehm, denn er führt zwischen grünen Bergen dahin, läßt nach links einen Blick in das bereits tyrolische Graswangerthal thun und führt dann am Ufer der Ammer in angenehmer Windung in das Dorf. Ueber dem Flusse und neben ihm steigt ein seltsam geformter Felskegel, der Kofel genannt, empor, wahrscheinlich das einzige Denkzeichen, daß hier das Coveliacae der Römer gestanden, eine Station an ihrer Heerstraße von Verona nach Augsburg. Ueberhaupt wandeln wir auf einem Boden, der reich ist an weit hinaufreichenden geschichtlichen Erinnerungen, die uns aber vom Zwecke abführen würden und von denen wir daher nur die eine erwähnen, daß Ammergau (Villa Ambrigo) es war, wohin im 9. Jahrhundert Ethiko von Welf sich zu klösterlicher Abgeschiedenheit zurückzog, im Grimme darüber, daß sein Sohn sich so weit erniedrigt hatte, Lehensmann des Kaisers zu werden.

Oberammergau liegt in einer angenehmen breiten Thalebene und ist ein freundlicher Ort mit etwa 150 meist gemauerten, freundlich aussehenden Häusern, worin eine Bevölkerung von ungefähr 1000 Seelen wohnt. Schon beim Hindurchwandern zwischen denselben fällt die Sauberkeit der Häuser und noch mehr der Umstand auf, daß die meisten davon mit Zierrathen um Fenster und Thüren, dazwischen auch mit größern biblischen Schildereien im Geschmacke des vorigen Jahrhunderts bemalt sind. Der Beschauer gewahrt alsbald, daß da ein kunstsinniges Völkchen wohne, und findet das durch die Nachricht bestätigt, daß der größte Theil der Einwohnerschaft aus Holzschnitzern besteht, deren Bildwerke einen beträchtlichen Absatz nach allen Himmelsgegenden finden. Die Holzschnitzerei war hier schon zu Anfang des 12. Jahrhunderts in der Blüthe und wurde von hier aus mit Mönchen aus dem nahe gelegenen Kloster Rothenbuch nach Berchtesgaden verpflanzt. Ammergauer Holzschnitzer hatten noch zu Anfang des 18. Jahrhunderts in diesem Handelszweige weltbekannte Firmen in Petersburg, Kopenhagen, Amsterdam, Cadix und selbst in Lima begründet, wurden aber in Folge ungünstiger Verhältnisse von den Grödnern in Tyrol überflügelt, als gerade damals die Holzschnitzerei auch dort eingeführt worden war und rasch eine fast wunderbare Ausbreitung fand. Jetzt sind dort wie in Ammergau die auswärtigen Firmen eingegangen, und der Betrieb geschieht durch sogenannte Verleger, welche den Schnitzern ihre Arbeiten abnehmen und bezahlen, und dafür den Verkauf besorgen. Beinahe in jedem Hause gewahrt man durch die Fenster die Schnitzbank, an welcher die Millionen von Heiligenfigürchen, Bauernhäuschen, Jägern, Gemsen u. s. w. entstehen, welche auf keinem Markt, wie in keiner Kinderstube fehlen. Ein kleinerer Bruchtheil besteht aus Landwirthen, mit vorwiegendem Betriebe der Viehzucht, aus einer beträchtlichen Anzahl von Gastwirthen und den nöthigen Gewerbsleuten. Es ist ein kräftiger, hochgewachsener und wohlgebildeter Menschenschlag, aus einer glücklichen Mischung von ursprünglich bayerischen, schwäbischen und tyrolischen Elementen entstanden, mit einem angenehm klingenden Dialekt, der ebenfalls diesem Mischcharakter entspricht. Es sind biedere, offene Leute, die den weit hergekommenen Gästen mit freundlicher Herzlichkeit entgegen kommen, und wenn dabei auch Manches auf Rechnung des Gewinnes gehen mag, den der Fremdenbesuch mit sich bringt, so bin ich doch überzeugt, daß der größte Theil der Freude und einem leichten Stolze gilt, ihren Heimathsort und seine Leistungen anerkannt und ausgezeichnet zu sehen.

Als wir das Dorf betraten, war es ziemlich menschenleer; die Einwohner waren noch in der Kirche, und des schlechten Wetters wegen noch nicht viel von fremden Besuchern zu bemerken. Wohlgemuth betraten wir daher ein Wirthshaus, dessen Erkerthürmchen mit einem gastlichen Stern prangte, und waren nicht eben angenehm durch die Mittheilung überrascht, daß weder hier noch anderwärts noch ein Unterkommen zu finden sei. Gleichwohl wußte der Wirth Rath zu schaffen und quartierte uns bei einem jungen Holzschnitzer ein, der uns als Junggeselle sein ganzes wundernettes und freundliches Häuschen förmlich abtrat, und uns mit Aufschluß und Rath aller Art an die Hand ging. Er konnte das, denn er gehörte selbst zum Passionspersonal und zwar zu den Musikern.

Während des Mittagessens, das uns der Sternwirth mit besonderer Artigkeit in seiner Prunk- und Prachtstube auftragen ließ, konnten wir uns überzeugen, wie „der Passion“ in Haus und Familie heimisch ist, denn hinter dem Kasten sahen Spieße und Turbane hervor, und wir erfuhren auch bald, daß die Tochter des Hauses, ein hübsches brünettes Mädchen mit schwarzen Locken, zu dem Sängerchore der Schutzgeister gehöre. So ward denn unsere Neugierde wieder gesteigert, und wir benutzten ein regenfreies Nachmittagsstündchen, um das Theater vorläufig in Augenschein zu nehmen.

Das Theater ist auf einer freien Wiese am Ende des Dorfes zwischen hohen Pappeln aus Bretern aufgebaut, und sieht von außen eben nicht einladender, aber nur bedeutend weitläufiger und solider aus, als offene Buden, wie man sie auf den Jahrmärkten großer Städte sieht. Beim Eintritt aber, den uns ein freundlicher junger Mann bereitwillig verschaffte, macht sich auf den ersten Blick [535] die Eigenthümlichkeit und Ausdehnung des Schauplatzes und der Bühne in überraschender Weise geltend. Man staunt über den wirklich außerordentlichen Umfang des hoch ansteigenden Zuschauerraumes und wird von der ungewöhnlichen Einrichtung des Theaters gefesselt. Dasselbe bildet auf einer etwa mannshohen Estrade zuerst ein Proscenium, das die ganze Breite des Raumes einnimmt und auf beiden Seiten mit Säulenreihen geschlossen ist. Links und rechts in der Tiefe von wohl zwanzig Schuh öffnen sich breite, mit Coulissen von Holz gebildete Straßen, welche, freilich in nicht sehr historischer Architektur, die Straßen von Jerusalem vorstellen und sich im Hintergrunde ringförmig gegen die Mitte wenden. Die Mitte selbst wird von einer ganz nach moderner Weise eingerichteten Bühne eingenommen, mit einem Giebel, in dessen Feld Glaube, Liebe und Hoffnung gemalt sind und mit einer Gardine in Faltenwurf. An jeder Seite der Mittelbühne erhebt sich ein ansehnliches Haus mit Thor und einem Altane vor dem Fenster des ersten Stocks und bildet den Anschluß an die schon erwähnte daneben hinziehende Straße. Die Bühne ist mit äußerster Sorgfalt zusammengeräumt, und nicht das kleinste Requisit läßt erkennen, daß schon Tags darauf eine so große Vorstellung stattfinden soll. Der junge Mann, dessen Freundlichkeit wir den Eintritt verdankten, schloß sich an uns an und wurde uns Führer und Erklärer. Sein sorgfältig gepflegter Bart und das Haar verriethen, daß er zu den Mitspielenden gehöre, und auf mein Befragen gab er sich als den Apostel Matthäus zu erkennen. Von ihm erfuhren wird denn, daß die Gemeinde mit unerbittlicher Strenge daran fest hält, daß die ganze Vorstellung und Alles, was dazu gehört, von Ammergauern ausgeführt und hergestellt wird. Nur wer im Orte geboren ist, kann als Darsteller mitwirken; selbst wer in die Gemeinde hinein heirathet, darf es nicht, sondern muß sich zu einem der zahlreichen Cassier- und Billeteur-Aemter bequemen. Die Zahl der Darsteller beträgt an redenden und singenden Personen 140, mit den nicht sprechenden und unter Einrechnung der Kinder bis hinauf zu den Greisen und Frauen gegen 500. Auch das Orchester besteht aus Ammergauern und ist etwa zwanzig Köpfe stark; Malereien, Anzüge, Alles wird in Ammergau gefertigt, und selbst für die Aufrechthaltung der Ordnung sorgen Ammergauer und bilden mit dem Stutzen über der Schulter eine Art Sicherheitswache. Daraus, daß der Text des Spieles in seiner jetzigen Gestalt sowie die Musik dazu von Ammergauern verfaßt sind, kommen wir noch zurück; wohl aber ist noch zu erwähnen, daß die nicht mitspielenden Ammergauer so bescheiden sind, dem Spiele gar nicht beizuwohnen, um ja den Gästen den Platz nicht wegzunehmen. Für sie ist die Hauptprobe bestimmt, welche ganz wie eine Aufführung abgehalten wird.

Ueber dem Beschauen war es Abend geworden, und bei etwas aufgeklärtem Himmel kehrten wir in das Dorf zurück, das nun eine ganz veränderte Gestalt hatte, denn es wimmelte von Menschen, der Mehrzahl nach Landleute in den verschiedensten Trachten von Tyrol, Bayern, Schwaben und Oesterreich; selbst die Walserthäler, das Etschland und das fernste Niederbayern hatten ihren reichlichen Zuzug gesendet. Trotz des schon vorhandenen Gedränges strömten von beiden Enden noch neue Schaaren und Karawanen herein, zu weitrer Wanderung aufgeschürzt, theilweise wie Wallfahrer gemeinsam betend, mitunter in höchst drolliger Weise unter das von der Weide heimkehrende Hornvieh gemengt. In den Gasthäusern war nirgends mehr Platz; selbst um zu essen und zu trinken, wurden die sonderbarsten Sitzplätze erfunden; zum Nachtlager belebten sich die Heuböden aller Häuser bis in’s Unglaubliche, und Viele waren froh, in einem auf der Straße bleibenden Wagen campiren zu dürfen.

Wie den Abend eine Art Zapfenstreich beschlossen hatte, indem die Musiker des Dorfs dasselbe mit türkischer Musik, einen festlichen Marsch blasend, durchzogen hatten, wurden wir am Morgen durch gleich kriegerische Reveille und Böllerschüsse geweckt. Es war 4 Uhr; der Himmel war während der Nacht spiegelheiter geworden, und in freudigster Stimmung verließen wir unser angenehmes Nachtquartier, um nach kurzem Frühstück der großen Arbeit des Tages entgegen zu gehen, denn so darf man es in gewissem Sinne wohl nennen, einem Schauspiele beizuwohnen, das nahezu zehn Stunden währt. Ich hatte Tags zuvor empfindlich vom Regen und von der Kälte gelitten, und trat also doppelt freudig in den frischen, Heiterkeit und Wärme verheißenden Morgen hinaus, aber – beim ersten Schritt erblickte ich ein Paar mächtige Regenwürmer, die sich gemächlich am Boden hinzogen. Mir fiel eine alte Wetterprophezeiung ein, besorgt sah ich um mich und erhielt auf Befragen den wenig tröstlichen Bescheid, daß das Wetter nicht verlässig sei, denn noch gehe der „untere oder schwäbische Wind“.

Kurz nach sechs Uhr saßen wir schon im Theater und keineswegs zu früh, denn obwohl die Aufführung erst um 8 Uhr begann, war das Haus schon in allen Theilen gefüllt und bot ein festliches, man kann sagen großartiges Bild mit der Bühne, über welche hinaus man die Berge, Dorf und Kirche von Unterammergau, und zur linken Hand den abenteuerlichen Felskegel des Kofel erblickte. Die Spannung wuchs, denn die unverkennbare Andacht, mit welcher der größte Theil der so weit herzugewanderten Zuschauer dem Beginne entgegensah, ließ erkennen, daß man etwas zu erwarten hatte, was mit unsern modernen Schauspielen nicht zu vergleichen ist. Leider zogen über Unterammergau bald immer dichtere und dichtere graue Wolken herein, es ward trübe und kalt, und das Spiel hatte nur kurze Zeit begonnen, als der Regen wieder anfing. Die verwünschten Regenwürmer hatten also doch Recht behalten!

Die Vorstellung wird von einer Ouverture eingeleitet, die eine weiche, fast wehmüthige Stimmung athmet und recht gut ausgeführt wurde, wenn auch die Tonmasse für den ungeheuren, unbedeckten Raum etwas dünn ist. Ihr Ende ist das Zeichen zum Auftreten der Schutzgeister, eines Chors, der singend und theilweise auch sprechend zur Erklärung und Betrachtung eingeflochten ist. Die ganze Vorstellung besteht nämlich aus drei vereinigten Theilen unsres modernen Bühnenwesens: sie ist Oper in den Arien, Duetten und Gesammtgesängen des Chors; sie ist Schauspiel in den gesprochenen Scenen der eigentlichen Handlung; und sie ist, so zu sagen, reine Mimik in den zwischen die Vorträge des Chors und die dramatischen Scenen eingeflochtenen lebenden Bildern aus der Geschichte des alten Testaments, welche deshalb angebracht sind, um deren innern allegorischen und prophetischen Zusammenhang mit der Passion zu zeigen. Der Chor der Schutzgeister besteht aus acht Sängern, acht Sängerinnen und einem Führer, welcher der Prolog heißt; er kommt in zwei Hälften hinter den Säulen des Prosceniums hervor, wobei sie einzeln hintereinander gehn und dann, nachdem sie sich gewendet, eine Reihe längs des Prosceniums bilden. In der Mitte steht der Prolog, die Uebrigen folgen nach der Größe, sodaß die kleinsten an die äußern Enden zu stehen kommen. Der Anzug der Schutzgeister besteht in einer langen weiten Tunika von rother, grüner oder blauer, immer sehr lebhafter Farbe; darüber fällt bis an die Kniee eine Art Spitzen-Ueberwurf mit Aermeln, einem Chorhemd ähnlich, und den Schluß bildet ein weiter Mantel, ebenfalls von einer der genannten Farben, immer aber von der des Unterkleides verschieden. Auf dem gescheitelten und in Locken getheilten Kopfe sitzt ein goldenes Stirnband.

Während des einleitenden Gesanges, der an das Opfer Abrahams auf Moria erinnert, tritt der Chor zurück, sodaß er die Mittelbühne frei werden läßt und sich zu beiden Seiten derselben wie ein schiefes Spalier aufstellt. Der Vorhang geht auf, und man erblickt als erstes lebendes Bild die durch den Engel unterbrochene Opferung Isaaks, während im Hintergrunde Adam und Eva aus dem verlorenen Paradiese fliehen. Der Chor nimmt dann wieder seine Reihenstellung ein, und das Hin- und Zurückgehen geschieht auf schwarzen Strichen, die auf dem Boden gezeichnet sind und radienförmig auseinanderlaufen. Durch die Einhaltung dieser Linien wird beim Zurückgehen das Umwenden erspart und überhaupt jede Hast, jede Unruhe, jedes Drängen vermieden, und die Bewegung nimmt einen vom gewöhnlichen Gange verschiedenen abgemessenen und würdigen Charakter an. Nach Beendigung seines Gesangs kehrt der Chor in derselben Weise, wie er aufgetreten, in die Säulen des Prosceniums zurück; und die erste Abtheilung des Schauspiels (es sind deren drei, welche wie der in je sieben und drei Vorstellungen zerfallen) beginnt.

Die erste Vorstellung stellt den Einzug Jesu in Jerusalem am Palmsonntag dar und bildet zugleich eines der großartigsten Bilder des Ganzen. Schon hinter der Bühne hört man den Jubel und Gesang des Volkes; der Zug erscheint auf der hierzu verwandelten Mittelbühne, bewegt sich quer über dieselbe, um in die eine Seitenstraße einzumünden und dann aus der entgegengesetzten Seite wieder zum Vorschein zu kommen, sodaß man Anfang, Mittel und Ende auf den vier gleichzeitig benutzten Schauplätzen [536] gleichzeitig übersieht. In Mitte des jubelnden und singenden Volks, der Kinder mit den Palmen, über den von den Männern ausgebreiteten Mänteln erscheint Christus, auf dem Eselsfüllen sitzend – eine wirklich edle Gestalt, der Ruhepunkt des so lebendig durcheinander fluthenden und sich doch nie verwirrenden Bildes. Die Anordnung ist scheinbar völlig kunstlos, verräth aber dem kundigen Auge nur zu wohl, welche Feinheit des Plans, welch’ pünktliche Genauigkeit der Ausführung dabei zu Grunde liegt. Man fühlt, daß das nicht blos eingelernt und eingeübt, sondern gewissermaßen natürlich entstanden und geworden ist, und man begreift, warum alle Aufzüge unsrer Bühnen davor zurückbleiben, weil man Schauspielern oder vielmehr Statisten von Fach einen wie hier zu Grunde liegenden gemeinsamen Aufschwung nicht geben und es ihnen auch kaum verdenken kann, wenn ihnen das, was hier das Landvolk alle zehn Jahre thut, was sie aber fast täglich thun müssen, mehr oder minder zum Geschäft wird. Man kann den Gesammteindruck nicht besser bezeichnen, als wenn man das Bild mit einem riesigen mittelalterlichen Glasgemälde vergleicht, das Stimme und Bewegung erhalten hat. Damit stimmt Stellung, Haltung, der Schnitt der Gewänder und ihre Farbenpracht ebenfalls überein.

Wir mußten bei dieser Scene ausführlicher verweilen, um mindestens eine derselben eingehender zu besprechen, da der Raum nicht gestattet, auf alle so einzugehen, wie sie zum größten Theile es wohl verdienten.

Bei der folgenden Scene zeigt sich der Vortheil der ganzen Bühneneinrichtung auf’s Glänzendste, denn einfach durch Verwandlung der Mittelbühne werden wir mit sammt dem ganzen Volke in die Straßen vor dem Tempel versetzt und sehen unter den Säulen der Vorhalle die Käufer und Verkäufer in sehr lebhafter Gruppe. Christus vertreibt sie, ganz wie es die Bibel erzählt, und macht sich dadurch die Kaufleute zu Feinden, die von da an auf sein Verderben sinnen. Mit seiner Rückkehr nach Bethanien schließt die erste Vorstellung. In der zweiten sehen wir während des Chorgesangs als lebendes Bild aus der alttestamentlichen Vorgeschichte die Söhne Jakobs, wie sie beschließen, ihren Bruder Joseph aus dem Wege zu räumen. Die darauf folgende Handlung führt uns in den innern Tempelraum in die Versammlung der Hohenpriester und Schriftgelehrten, welche darüber Rath halten, wie sie Christum in ihre Gewalt bekommen können. Sie bedienen sich dazu der wüthenden Krämer, die von einem unzufriedenen Jünger desselben sprechen und diesen zum Werkzeug gebrauchen wollen. Die Scene, im Dialog etwas matt und gedehnt, belebt sich durch das Feuer der Redenden und Spielenden, und ist ein hübsches Bild, lebhaft an jenen alten bemalten Holzschnitt erinnernd, welcher häufig an Thüren der Häuser im Gebirge angeklebt ist und diese Versammlung vorstellt, wobei zu den Füßen einer jeden Gestalt sich eine Art von Zettel befindet, worauf die von ihm abgegebene Abstimmung enthalten ist.

In der dritten Vorstellung, eingeleitet durch die Bilder, wie Tobias von seinen Eltern Abschied nimmt, und die Klage der Braut (aus dem Hohen Liede), schreitet die Handlung bis zu dem Mahle fort, wobei Magdalena dem Herrn die Füße salbt, während Martha bei Tische aufwartet, und Judas über die Verschwendung der Salbe, welche dreihundert Denare kostet, und über die Ungewißheit seiner künftigen Existenzmittel in Unmuth geräth. Christus nimmt dann einfachen, aber ergreifenden Abschied von seiner Mutter und den Freunden, um den verhängnißvollen Gang nach Jerusalem anzutreten. In dem die Bilder begleitenden Chorgesange zeichnet sich das Klageduett bei dem zweiten durch Einfachheit und Innigkeit aus. Der vierten Vorstellung geht das Bild von der Verstoßung Vasthi’s und Esther’s Erhöhung voraus; sie enthält die Wanderung nach Jerusalem, die Voraussendung der beiden Jünger, welche das Osterlamm bereiten sollen, und Judas’ wachsenden Seelenkampf. Die Krämer suchen ihn und bringen ihn durch das Versprechen reicher Geldbelohnung dazu, daß er in eine weitere Zusammenkunft willigt.

Von den der fünften Vorstellung vorausgehenden Bildern, die Speisung in der Wüste durch Manna und die Ueberbringung der großen Trauben aus Canaan, gehört das Erstere zu den gelungensten dieser Darstellungen, allerdings nicht in dem Sinne, wie man gewöhnlich lebende Bilder stellt, aber so, daß man ein mittelalterliches belebtes Altarbild zu sehen glaubt. Das Zusammendrängen so großer Massen in einem kleinen Rahmen, daß sie Kopf an Kopf ansteigen, ist gerade für diese sehr bezeichnend, und gerade in dieser Art der Aufstellung hat die Ueberlieferung unzweifelhaft das Alte am meisten erhalten. Ueber dem ganzen höchst figurenreichen Bilde, das von kleinern Kindern im Vorgrunde zu größeren hinter ihnen, dann zu Frauen und Mädchen und Männern aufsteigt, während Moses und Aaron im Vorgrunde stehen, fällt das Manna herab in Form eines silberblitzenden Regens, der von Allen in verschiedenen Arten und Gruppen aufgefangen wird. Daran reiht sich das Ostermahl mit der Fußwaschung und Einsetzung des Abendmahls in höchst feierlicher und bibelgetreuer Weise. – Die sechste Vorstellung bringt nach dem Bilde, wie die Söhne Jakobs ihren Bruder verkaufen, die Scene, wie Judas vor dem Synedrium verspricht, ihnen Jesum auszuliefern, wogegen ihm die gierig an sich gerissenen 30 Silberlinge aufgezählt werden. Das die siebente Vorstellung einleitende Bild, wie Adam sein Brod im Schweiße seines Angesichts essen muß, halten wir für das beste lebende Bild, seiner Einfachheit und malerischen Gruppirung wegen. Adam, völlig nackt, nur mit einem Lammfell um die Hüften, steht in der Mitte der kümmerlich gehaltenen Landschaft, den einen Fuß auf die Grabschaufel gestützt und das Antlitz in den Händen verbergend, während vor und neben ihm reizende Kinder spielen und etwas seitwärts im Hintergrunde Eva, ebenfalls mit einer Arbeit beschäftigt, sorgenvoll nach ihm blickt. Nach zwei weitern Bildern, die verrätherische Ermordung Amasa’s durch Joab und die Ueberwältigung Simsons, folgt die Scene am Oelberg, Judas’ Verrath und die Gefangennehmung Jesu, natürlich nicht ohne die Verwundung und Heilung des Malchus.

Vor Beginn der zweiten Abtheilung wird gewöhnlich eine Pause von einer Stunde gemacht; wir mußten darauf und auf das bestellte Mittagsmahl verzichten, denn der Prolog verkündigte, daß des schlechten Wetters wegen ohne Pause fortgespielt werde. Gegen diesen Grund war auch nichts einzuwenden, denn nach langem Zögern und Schwanken hatte sich der Himmel wieder für Regen entschieden, der unaufhörlich bald schwächer bald stärker floß, nicht ohne manchen heitern und naturwüchsigen Vorfall zu veranlassen. Das Herkommen duldet weder Hut noch Regenschirm, um die dahinter Sitzenden nicht in der Aussicht zu behindern; die Zuschauer mußten also Regen und Sonne schutzlos über sich ergehen lassen, und die hie und da auftauchenden Versuche, einen Regenschirm aufzuspannen, wurden von den Stöcken der Hinterleute auf ebenso kurze als nicht mißzuverstehende Weise gründlich beseitigt. Als das Unwetter gar arg wurde, halfen sich die letzten im Regen sitzenden Reihen sehr einfach dadurch, daß sie über die Schranke des hinter ihnen befindlichen und mit einer Plane überspannten Logenplatzes stiegen und in unbefangenster Weise neben dem päpstlichen Nuntius und andern vornehmen Leuten Platz nahmen, was während einer Pause von einigen Minuten ein höchst komisches Intermezzo gab. Zur Ehre der Eindringlinge aber sei es auch gesagt, daß, als der Regen wieder ein wenig nachließ, eine einfache Mahnung der Ammergauer Wache genügte, um sie auf demselben Wege zum Rückzuge zu veranlassen. Die Darstellenden hatten indeß Regen und Wind über sich ergehen lassen; nur als es gar zu grob anfing, entschlossen sich die Schutzgeister in aller Kürze und erschienen, wohl zur Schonung der reichen, durchaus neuen Gewänder, mit – Parapluies.

Die zweite Abtheilung umfaßt die Vorstellung Jesu vor dem Hohenpriester Hannas, welche auf dem rechts liegenden der schon erwähnten Balcone vor sich geht, mit dem Vorbilde, wie der Propbet Micha mißhandelt wird, weil er die Wahrheit gesagt hat; dann die Vorführung vor Kaiphas mit der Verurtheilung Naboth’s und der Verspottung Hiobs als Vorbildern; die Verhandlung vor Pilatus, der Christus für schuldlos erklärt und ihn zu Herodes führen läßt, mit dem Vorbilde Daniels, der in die Löwengrube geworfen wird. Dieser Scene, welche auf dem gegenüberliegenden Balcone vorgeht, folgt die Verspottung durch Herodes, eingeleitet durch das Vorbild, wie König Hanon die Abgeordneten Davids beschimpft; dann die wiederholte Vorführung vor Pilatus, die Geißelung und Dornenkrönung. Es liegt in der unvermeidlichen Gleichförmigkeit oder Aehnlichkeit der Vorgänge, daß dieser Theil an einiger Eintönigkeit und Länge leidet; desto mächtiger ist dagegen die Erhebung gegen den Schluß, wie Pilatus den gegeißelten und gekrönten Christus dem Volke von dem Altane zeigt, wie der trefflich gezeichnete und trefflich gespielte Römer die Wuth dieses Volkes gegen einen Mann nicht begreift, dem es erst wenige Tage zuvor mit Hosiannah entgegen gejauchzt, wie er ihnen die [537] Wahl läßt zwischen Christus und Barabbas, und wie die wüthende, von den Priestern gehetzte Menge die Freilassung des Letztern verlangt. Diese Scene, in welcher sich auch der Chor gewissermaßen handelnd einmischt, hat einen ungeheuren Schwung und eine Gewalt, die jede Vergleichung unzureichend erscheinen läßt.

Vor das Erscheinen bei Pilatus ist eine Scene eingeschoben, in welcher Judas verzweifelnd vor dem Synedrium erscheint, das Geld hinwirft und verhöhnt von hinnen eilt. Die Mittelbühne verwandelt sich rasch in eine wilde Gegend, Judas stürzt herein, reißt nach einem kurzen energischen Selbstgespräch den Gürtel vom Leibe, knüpft ihn an den Ast eines freistehenden Baumes, legt sich die Schlinge um den Hals, springt weg und – wird im Moment vom fallenden Vorhange den Augen entzogen.

[550] Die letzte Abtheilung beginnt mit Vorbildern, welche sich auf die Opferung Isaaks und die Aufstellung der ehernen Schlange durch Moses beziehen; darauf folgt der Zug zur Richtstätte. In ergreifend furchtbarer Wahrheit schreitet Christus, fast zusammenbrechend unter der Last des Kreuzes, ruhig und gelassen wie immer in der Mitte der Kriegsknechte und des höhnisch tobenden Volks heran. Aus der Mittelbühne kommt der Cyrenäer Simon, um zur Hülfe gezwungen zu werden, während gegenüber Maria mit Magdalena, Johannes und einigen andern in tiefster Betrübniß näher kommen. Die schon erwähnte vortheilhafte Einrichtung der Bühne macht es möglich, daß gleichzeitig mehrere Handlungen vorgehen, ohne daß der Uebersichtlichkeit oder dem Verständniß Eintrag geschähe. Die Begegnung der Mutter und des Sohnes, ohne allen rhetorischen oder dichterischen Schmuck, gehört zu den erschütterndsten Momenten; – da blieb kein Auge trocken.

Wie der Zug in die Mittelbühne verschwunden ist, fällt der Vorhang und die Schutzgeister erscheinen, aber nun mit umflorten Diademen und statt der bunten in schwarzen Trauermänteln. Während ihres feierlichen Gesanges hört man hinter der Bühne die Hammerschläge fallen, und als der Vorhang sich wieder erhebt, liegen die drei Kreuze am Boden, Christus ist bereits angenagelt, die Schächer sind angebunden; die Kreuze werden erhoben und ragen hoch in dem Proscenium empor. Die versammelte Menge ist wie versteint, nur vielfaches Schluchzen zeugt von vorhandenem Leben, und in gehobenster Stimmung läßt sie an sich alle Vorgänge vorüberziehen, welche die Bibel erzählt, den Spott der Priester und des Volks, Jesu Gespräch mit den Schächern, mit Maria und Johannes, den Tod, das Würfeln über die Kleider, den Lanzenstich in die Brust mit verströmendem Blute. Den Schächern werden dann die Arme und Beine zerschlagen und sie abgenommen, worauf die Kreuzabnahme Christi selbst folgt, die mittelst eines langen weißen Tuchs mit einer Würde vor sich geht, die den schönsten Gemälden über diesen Gegenstand kühn an die Seite treten kann. Dem schönen Bilde folgt ein nicht minder schönes, als die Leiche auf ein aufgebreitetes weißes Tuch in den Schooß Maria’s gelegt wird, um dann verhüllt und in das im Hintergrunde sichtbare steinerne Grabmal gelegt zu werden.

Damit ist der Höhepunkt der ganzen Darstellung überschritten; eine Steigerung ist nicht mehr wohl denkbar, und es ist daher erklärlich, wenn die darauf folgende Auferstehung, zumal weil sie theatralisch etwas ärmlich eingerichtet ist, gleiche Wirkung nicht hervorbringt. Sie ist eingeleitet von zwei Vorbildern, wie Jonas vom Wallfisch wieder an’s Land gesetzt wird, und wie Israel durchs rothe Meer gezogen ist, die beide – ersteres wohl des Stoffes halber – mit den frühern nicht glücklich wetteifern. Nach den Scenen mit den Wächtern, mit den Frauen am leeren Grabe, und dem Erscheinen Christi vor Magdalena folgt ein die Fortdauer des Erlösungswerks in der siegenden Kirche darstellendes Tableau und bildet mit einem Hymnus den Schluß.

Es war vier Uhr Nachmittags; die Versammlung mit nur einzelnen Ausnahmen hatte ruhig die zehn Stunden ohne Unterbrechung und Stärkung ausgehalten und strömte nun unabsehbar, aber ebenso ruhig, ohne die mindeste Störung auseinander. Es mochten gegen sechstausend sein, und einige tausend, die keinen Platz mehr erhalten hatten, warteten, daß Tags darauf die Vorstellung für sie wiederholt würde, was auch geschah. Das Wetter ließ dafür wenig Tröstliches erwarten; wir zogen es daher vor, sogleich abzureisen, um noch nach Murnau und Tags darauf nach Hause zu gelangen, mit Verwunderung den Schnee betrachtend, der auf den Bergen bis herab in’s Flachland lag.

Ueber die Aufführung werden wir weiter unten sprechen; es bleibt nur noch übrig, besonders hervorzuheben, daß sie ganz und gar nicht den Charakter anderer dramatischer Darstellungen hat. Es hängt das mit der Wesenheit des Drama’s zusammen, das sie darstellen. Dasselbe ist nicht eigentlich Drama, nicht eine aus der Entwickelung von Charakteren entspringende, sich schürzende und lösende Handlung; es ist mehr eine epische Reihe von Begebenheiten, eine in zusammenhängender Bilderfolge vorgestellte [551] Erzählung. Darum sind auch die Darsteller nicht Schauspieler in unserm gewöhnlichen Sinne; sie gehn nicht darauf aus, Charaktere zu entwickeln und darzustellen, sondern die Personen, deren Namen sie tragen, in möglichster Uebereinstimmung mit dem Ganzen der Begebenheiten vorzustellen. Das leisten sie auch in ausgezeichneter Weise, und es dürfte schwer sein, irgend etwas zu bemerken, was die Uebereinstimmung der Begriffe oder Ideale, die wir von Christus, Maria etc. haben, mit dem Vorgestellten aufzuheben oder zu stören vermöchte. Der Gemeindevorsteher Rupert Schauer ist nicht nur persönlich für die Rolle des Christus sehr geeignet, sondern führt sie auch mit einer Hoheit und Würde aus, die nichts zu wünschen übrig läßt. Dabei muß nebenher bemerkt werden, daß diese Rolle auch ein bedeutendes Maß körperlicher Anstrengung erfordert, indem z. B. durch das Hängen am Kreuze die Hände ganz blau und starr werden. Nach ihm ist der Zeichnungslehrer Flunger zu nennen, der früher den Christus, jetzt den Pilatus vorstellt. Er scheint der Schauspielgewandteste zu sein und gibt den feiner gebildeten ungläubigen Römer so vorzüglich, daß gegenüber den leidenschaftlichen Juden ein höchst wirksamer Gegensatz entsteht. Das bekannte inhaltsschwere Wort: „Was ist Wahrheit?“ kann kaum wahrer gesprochen werden. Inneres dramatisches Leben hat eigentlich nur Judas, denn nur er schreitet in der Entwickelung des Charakters von der Habsucht zum Verrath, von der Reue zur Verzweiflung fort. Dies kommt auch im Spiel zum Ausdruck, natürlich in den etwas derben, aber wahren Umrissen, wie sie in der Dichtung gegeben sind.

Maria wird von Barbara Schaller, Magdalena von Therese Lang dargestellt, einfach und schlicht weiblich, wobei nur die etwas hoch liegenden Organe Eintrag thun; minder bei Magdalena, deren Stimme demungeachtet einen elegisch weichen Klang hat. Auch die Sänger und Sängerinnen müssen noch in allen Ehren erwähnt werden: sie sind trefflich eingeschult, singen rein und präcis und zählen unter sich einige Stimmen, namentlich zwei Tenore, zwei Bässe und einen Knaben-Alt, deren naturfrische Kraft den Neid mancher großen Oper erwecken dürfte, zumal wenn man bedenkt, daß sie in einem völlig unbedeckten Raume singen und doch, ohne zu schreien, den ganzen Zuschauerraum ausfüllen.

Der Gesammteindruck des Ganzen ist hiernach nur ein würdiger; er zeugt von einem kaum glaublichen Eifer, von einer Ausdauer und Genauigkeit, welche sich nur dadurch erklärt, daß jeder Mitwirkende mit Kopf und Herz dabei und das vollständige Gelingen für Jeden eine Ehrensache ist. Die Stille des Auditoriums, seine Hingerissenheit sind die beste Probe dafür, und wenn hie und da, z. B. beim Tode des Judas, oder bei der Verleugnung des Petrus, ein frisches Lachen darüber hinschwebt, so gilt es nicht dem Dargestellten oder der Darstellung, sodern es ist eine Art moralischer Genugthuung, die sich der Schlechtigkeit und der Feigheit gegenüber geltend macht.

Nach diesem kurzen Rückblicke auf die Passionsvorstellung selbst möchte noch Einiges über deren Entstehung und Erhaltung nachgetragen werden. In ersterer Hinsicht wird erzählt, im Jahre 1633 habe in der Umgegend von Ammergau eine ansteckende tödtliche Krankheit, das wilde Kopfweh genannt, eine Menge Menschen hinweggerafft, Ammergau aber sei in Folge der getroffenen Vorsichtsmaßregeln davon verschont geblieben, bis ein auswärts arbeitender Tagelöhner sich heimlich in’s Dorf geschlichen habe, um das Kirchweihfest mit den Seinigen zu feiern. Er brachte die Krankheit mit, die bald ihn und eine große Anzahl von Bewohnern tödtete, sodaß die übrigen das Gelübde ablegten, sie wollten, wenn sie von der Seuche befreit würden, alle zehn Jahre die Leidensgeschichte Jesu öffentlich aufführen. Die Krankheit erlosch, und 1634 fand die erste Passionsvorstellung statt. Daß die Ammergauer gerade ein solches Gelöbniß machten, deutet darauf zurück, daß solche dramatische Aufführungen damals in Deutschland und insbesondere in den südlichen Theilen desselben und in den Gebirgen eine regelmäßige Erscheinung waren. Bekanntlich war der älteste christliche Gottesdienst, der (wie noch jetzt in Palästina) Abends begann und zu Mittag endete, rein dramatisch, und als diese Bestandtheile allmählich immer mehr ausgeschieden wurden, bildeten sich aus ihnen die biblischen Komödien, die anfangs in den Kirchen selbst, dann auf den Kirchhöfen, dann bei öffentlichen kirchlichen Aufzügen gegeben wurden, und aus welchen sich schließlich die Mysterienspiele des Mittelalters entwickelten.

Durch den dreißigjährigen Krieg verscheucht und zerstört, hatten sie in Deutschland eine Zuflucht bei den Tyrolern und den Bewohnern der bayerischen Gebirge gefunden und wurden dort an verschiedenen Orten mit großem Eifer gepflegt, bis die veränderten Anschauungen des vorigen Jahrhunderts ihnen durch Verbote ein Ende machten. Nur die Oberammergauer erwirkten von dem leutseligen König Max I. eine Ausnahme von diesen Verboten, und dieser Ausnahme ist es zu verdanken, daß in Deutschland die Möglichkeit gegeben ist, ein deutsches Mysterienspiel, wie sie um 1500 herum allgemein üblich waren, mit wenigen Aenderungen lebend und wirklich vor sich zu sehen. Ohne Zweifel haben die Ammergauer die Passion schon früher gespielt, aber sie mochte in Vergessenheit gerathen sein, und das Gelübde erklärt sich sonach als Wiederaufnahme derselben. Dafür spricht auch der noch vorhandene Urtext, welcher in seinem ganzen Wesen auf eine viel frühere Entstehungsperiode, als jene des dreißigjährigen Krieges ist, zurückweist. Derselbe ist ursprünglich wohl von einem Klostergeistlichen verfaßt, wie denn die Benediktiner von Ettal und dann die jeweiligen Pfarrer von Ammergau die mehrfachen Bearbeiter desselben wurden, ihn kürzer und zeitgemäßer einrichteten und insbesondere von den Teufeln und lustigen Personen befreiten, die in keinem echten Mysterium fehlen durften. Daß das so Entstandene so treu bewahrt, mit solcher Anhänglichkeit festgehalten wurde, liegt, abgesehen von der gestatteten Ausnahme und dem religiösen Sinne der Bevölkerung, welche die Aufführung zur Erfüllung des Gelübdes ihrer Vorfahren noch immer als ein frommes Werk vollbringt, in der schon am Eingange angedeuteten künstlerischen Befähigung und Beschäftigung derselben und in der beständigen Schauspielübung, in welcher sie durch eine im Schulhause befindliche ständische Bühne erhalten wird, auf welcher in der Zwischenzeit allerlei Stücke aufgeführt werden. Während dadurch Allen Gelegenheit gegeben ist, einen höhern Grad von Darstellungsfähigkeit zu erlangen, lebt in ihnen „der Passion“ und seine Spielweise als ein ihnen allein anvertrautes Kleinod in treuster Ueberlieferung fort, und man kann wohl sagen, daß sie in das Spiel förmlich hineinwachsen, wie denn auch ein großer Theil der Gruppirung und vielfach auch die Action das Gepräge der Tradition unverkennbar an sich trägt. Die Kinder beginnen im Arme ihrer Mutter, die eine Matrone von Jerusalem darstellt, sie rücken dann zu Kriegsknechten, zu Mitgliedern des hohen Raths, zu Priestern und schließlich zu Aposteln vor. Daher kommt es, daß einzelne Darsteller oft sehr bejahrt sind, wie z. B. 1850 der vielmalige Johannes schon über 60 Jahre, Barabbas aber 80 zählte und von Jugend auf diese liebenswürdige Rolle gespielt hatte. Manche Rollen sind auch geradezu erblich, wie jene des Judas, die schon mehrmals vom Vater auf den Sohn übergegangen ist. Aus all’ diesem spricht aber als hauptsächlichster Hebel der Erhaltung der gesunde Sinn des Volks, seine innere selbständige Kraft, seine so oft und mit so grobem Unrecht bezweifelte Fähigkeit zu Allem.[1]

Der Text an sich ist in seinem gesprochenen Theile vielfach rein aus Worten der Bibel zusammengesetzt; der übrige Dialog ist einfach und ohne allen Schmuck; hier und da allerdings von großer Naivetät, wie z. B. der seinen Herrn verleugnende Petrus „bei seiner Ehre“ betheuert, er kenne diesen Menschen nicht. Nirgends aber sinkt die Diction zum Platten oder Niedrigen herab, und selbst in den etwas steifen Wechselreden der Priester und Schriftgelehrten ist eine gewisse altväterische Würde nicht zu verkennen. Von den Versen der Chorgesänge läßt sich das nicht behaupten, denn die meisten davon sind für ein an Reinheit der Form gewöhntes Ohr von Wohlklang sehr weit entfernt.

Die Musik zum Ganzen, wohl ebenso umfangreich wie ein großes Oratorium, hat den Ammergauer Rochus Dedler zum Verfasser, der daselbst als Lehrer ziemlich jung starb und von der Dankbarkeit seiner Landsleute durch eine Ehrensäule über seinem Grabe ausgezeichnet ward. Sie ward ihm nicht mit Unrecht, denn das Tonwerk zeugt von nicht gewöhnlicher Begabung und ist, wenn auch nicht im hohen Style von Bach oder Händel, so doch [552] in einem Charakter gehalten, der bei aller Weichheit der Melodien nie unter den Inhalt herabsinkt, stellenweise sogar sich zu treffender Charakteristik und frommem Schwunge erhebt. Es ist der Styl der Land-Messen, bei welchem die Sangbarkeit, sowie die leichtere Möglichkeit des Einstudirens immer besonders im Auge gehalten werden muß.

Fragen wir zum Schlusse nach der Bedeutung des Passionsspiels, so ist von selbst klar, daß dessen anderwärts vielfach hervorgehobene religiöse Seite nicht in diesen Bericht und in diese Blätter gehört. Die ästhetische oder dramatische Bedeutung haben wir schon erörtert und können uns auf eine kurze Schlußbemerkung beschränken. Wenn das Spiel auch nicht sowohl dramatische Handlung als epische Begebenheiten bringt, so trägt es doch die Keime der erstern in sich, denn in der Verschwörung der Krämer und in der Art, wie sie im Bunde mit den Hohenpriestern Judas zu ihrem Werkzeuge machen, ist die Intrigue des modernen Drama’s im Grundzuge bereits gegeben. Im Ganzen und Großen aber kann man sagen, daß man die ewige Tragödie der Menschheit in der Versündigung an ihrem reinsten Ideal im Entwurfe in ergreifender Weise an sich vorübergehen sieht.

Die scenische oder theatralische Bedeutung des Passionsspiels ergibt sich zum größten Theile schon aus dem Gesagten. Die Bühne desselben ist, wie das Spiel selbst, ein überlieferter Rest der alten Mysterienbühne, welche drei Stockwerke übereinander hatte, um die in Himmel und Hölle und auf der Erde zugleich vorgehenden Handlungen fassen zu können. Himmel und Hölle sind hier weggefallen, und so ist denn nur das untere Stockwerk in der stehenden Mittelbühne erhalten geblieben. Dadurch aber, wie durch die beiden Seitenstraßen, das Proscenium und die beiden Altane ist eine fünffache Abtheilung des Schauplatzes gegeben, deren überraschende Vortheile wir bereits angedeutet haben. Ohne Zweifel lag der Einrichtung der Mysterienbühne eine Erinnerung an jene des altgriechischen Theaters zu Grunde, die also mit erhalten blieb und durch ihre Anschaulichkeit auch in dieser Hinsicht Manches erklärt. Unsere jetzige Schaubühne hat – mit Ausnahme besonders hergestellter Vorrichtungen in Einzelfällen – auf die Mannichfaltigkeit der Scene verzichtet; sie stellt immer nur eine bestimmt abgegrenzte Räumlichkeit dar und hat es eben darum in der Kunst, diese auszuschmücken, weiter gebracht. Es ist sehr die Frage, ob sie dadurch gewonnen hat, und ob die äußere Regelmäßigkeit, welche dadurch erreicht ist, nicht durch das freiere Leben und die größere Beweglichkeit der Darstellung reichlich aufgewogen würde.

Die wichtigste Bedeutung des Spiels aber bleibt immer die Eingangs hervorgehobene nationale. Im deutschen Mittelalter hat es bekanntlich eigentliche Berufsschauspieler nicht gegeben; die Bühne war – bis in spätern Zeiten sich die Jesuiten derselben bemächtigten und sie für ihre Zwecke ausnützten – in den Händen des Volks; Handwerker und Studenten waren die ausschließenden Darsteller, und auch der Bauer verlangte und erhielt seinen Theil an der Ergötzlichkeit dramatischer Darstellungen. Wie die Zünfte in den sogenannten Fastnachtsbrüdern das bürgerliche Spiel zu einer hohen Entwickelung in Hans Sachs und Ayrer brachten; wie die aus den fahrenden Schülern zusammengetretenen Studententruppen – von denen Einige sich die Parnaßbrüder nannten – ein etwas höheres Ziel verfolgten: so bemächtigte sich das Landvolk der ihm am nächsten liegenden religiösen Mysterien, und überall, namentlich in Süddeutschland und bei den Gebirgsbewohnern, erstanden und blühten eine kaum glaubliche Anzahl von Bauernbühnen. Die Studententruppen sind zum Theil von den Jesuitenspielen aufgesogen worden, theils gingen aus ihnen die ersten ständigen Wandergruppen von Berufsschauspielern hervor; die Bühne der Handwerker ist verschwunden, bis auf die Spiele der Schifferzunft zu Laufen an der Salzach, welche seit vielen Jahrhunderten zur Winterszeit in den Stätten des platten Landes herumzieht und regelmäßige theatralische Vorstellungen gibt, wie z. B. Johann von Nepomuk, Schinderhannes, die Königin von Saba etc., dabei aber noch den alten Fastnachtsschwank erhalten hat, der jedesmal den Schluß bildet und nach welchem die ganze dazu eigens eingerichtete Bühne zusammenstürzt. Von der Bauernbühne ist meines Wissens nur jene zu Oberammergau übrig geblieben, und wir haben daher mit Recht behauptet, daß ihre Darstellungen nicht blos einen geschichtlichen und alterthümlichen Werth haben, sondern auch deshalb hohe Beachtung verdienen, weil uns daraus der Athem einer freien selbstständigen Entwickelung, ein echt nationaler Hauch entgegenweht, getragen von echt deutscher Energie des Willens, der Kraft und Energie im Volke.

Man hat deshalb den Vorschlag gemacht, solche Spiele auch an andern Orten einzuführen; wohl mit Unrecht, denn was hier naturgemäß gewachsen ist, kann nicht willkürlich und künstlich verpflanzt und gezogen werden. Es müßte von außen hinein getragen werden, während es hier als die Frucht eines schönen und begeisterten Gemeinwesens von innen heraus schwillt. Demungeachtet könnte davon für nationale Zwecke eine vielleicht ersprießliche Anwendung gemacht werden. Bei größern Festen ist in der Regel die Zahl der Feierlichkeiten bald erschöpft, und weil die ständigen Bühnen vermöge ihrer Bauart die Betheiligung von Massen ausschließen, wäre in dieser offenen Bühne und ihrer Spielweise ein ganz neuer Ausweg gegeben, große geschichtliche Begebenheiten vor einer großen Menge in eindringlichster Weise darzustellen und dadurch die öffentlichen Umzüge im Costüme, die immer etwas Maskeradenhaftes haben, überflüssig zu machen. Der Versuch würde sicher von Erfolg begleitet sein, vorausgesetzt, daß die Ansführung hier wie dort durch freiwillige Theilnahme und Begeisterung erfolgt, woran bei gehöriger Anregung nicht zu zweifeln ist. Auch die Dichter würden nicht ausbleiben und dadurch dem deutschen Geschichtsdrama vielleicht die Schulfesseln abgenommen und ihm eine Aera der Volksthümlichkeit angebahnt werden, wie sie weiland nur den Griechen zu Theil geworden.

Wir sind überzeugt, daß jeder Besucher des Ammergauer Passionsspiels in diese Wünsche einstimmt – gelten sie doch der Erhebung und dem Ruhme des Allen gleich theuren deutschen Vaterlandes!




  1. Um auf die praktische Seite dieser Passionsspiele zu kommen, so dürfte die Mittheilung nicht uninteressant sein, daß die diesjährige Saison eine sehr ergiebige sein wird. Man spricht von 40–50,000 Gulden, die trotz der schlechten Witterung bereits eingegangen sind. Davon werden jetzt schon 25,000 Gulden auf die Mitspielenden vertheilt, 8-10,000 Gulden für gemeinnützige Zwecke der Gemeinde, der Rest für Garderobe, Malerei, Musik etc. verwendet.
    D. Red.