In den Vorproben zum diesjährigen Passionsspiel in Oberammergau
Durch die Blätter jeder Gestalt und Farbe im Walde der Zeitungen geht ein gemeinsames Rauschen und Tönen, daß die Bewohner des Dorfes Ober-Ammergau im baierischen Gebirge wieder daran sind, ihr großes Passions-Schauspiel aufzuführen, und was darüber aller Orten verlautet, läßt erwarten, daß das Zuströmen von Zuschauern aus aller Herren Landen zu dem seltenen und durchaus eigenthümlichen Schauspiele um so größer sein werde, als dasselbe nur in jedem zehnten Jahre zur Darstellung kommt. In der letzten Decade hatte auch ich zu den zweifelnden Neulingen gehört, welche, von dem wunderbaren Rufe der Darstellung angezogen, in die Berge wanderten, um selbst zu sehen und zu hören, wie viel von diesem Rufe echt sei und wie viel der religiösen Ekstase oder Uebertreibung anheimfalle; – was ich damals den Freunden der Gartenlaube erzählte, bewies, daß ich die hochgespannten Erwartungen nicht nur erfüllt, sondern übertroffen gefunden hatte.
Der Entschluß, das Schauspiel in diesem Jahre noch einmal zu sehen und zu prüfen, ob der Eindruck derselbe bleibe, stand daher schon lange in mir fest; noch mehr aber drängte es mich, zu erfahren, wie bei Lösung einer so gewaltigen Aufgabe durch eine kleine Dorfgemeinde zu Werke gegangen, wie jene überraschende Wirkung erzielt werde, deren Erinnerung in mir nach zehn Jahren noch so frisch war wie am ersten Tage. Das gewordene Werk kannte ich; mir lag Alles daran, es in seinem Werden kennen zu lernen, das Fertige im Entstehen zu belauschen.
Wohl ging das Gerücht, daß die Ammergauer in bescheidener Erkenntniß ihrer Stellung und im Bewußtsein, daß sie eben leisten, was sie können und daß sie nur das zum Ausdrucke bringen, was in ihnen lebt, es nicht lieben sollen, bei ihren Uebungen und überhaupt bei den Vorbereitungen von fremden Augen beobachtet zu werden; dennoch entschloß ich mich, einen Versuch zu wagen – durfte ich doch hoffen, im baierischen Gebirge überall wie heimisch so auch willkommen zu sein, und hatte ich doch insbesondere den Ammergauern die Geschichte vom „Holzgrafen“ erzählt und dabei gezeigt, daß ich für ihr Sein und Leben, in dessen Mitte „der Passion“ wie eine Art Krystallkern sitzt, doch wohl einiges Verständniß mitbringe.
[234] Trotz des unerbittlichen Winters, den ich in den Bergen noch strenger und stärker anzutreffen fürchten mußte, machte ich mich daher auf den Weg und dampfte dahin zwischen schwarzen, unter der Schneelast ächzenden Tannen und kahlen Buchen, denen der rasche Eintritt des Winters nicht einmal Zeit gelassen hatte, die dürren rothbraunen Blätter völlig abzuschütteln, dann den festgefrorenen Starnberger See entlang, der sich ansah wie ein riesiges mattgewordenes Spiegelglas, hinein in den undurchdringlichen Nebel, hinter welchem die Berge in feierlicher Unsichtbarkeit thronten, bis an den Fuß des Peißenberges. Spät Abends erst, durch Finsterniß und Schneegestöber, brachte mich ein sogenannter Post-Omnibus und dann ein flüchtiges Carriolwägelchen an das Ziel der winterlichen Fahrt, vor die gastliche Thür des vielbelobten „Schwabenwirths“; – trotz des Schneewehens schimmerte gegenüber eine lange Reihe hellbeleuchteter Fenster, und ein Festmarsch, von einem starken „türkischen“ Musikchor kräftig und sicher ausgeführt, schmetterte mir wie zum Gruße entgegen. Ich schien es gut getroffen zu haben, denn wie der gesprächige Postillon mir während des Aussteigens vertraute, wurden von der dreißig Mann starken Truppe der Ammergauer Musiker soeben die Märsche probirt, womit nach altem Brauche am Vorabend der Spieltage die Gäste begrüßt und am Morgen derselben geweckt zu werden pflegen. Bald saß ich in einer Ecke der schlichten Gaststube, unbekümmert darum, daß man den ungewohnten Gast mit einiger Verwunderung begrüßt hatte und wohl für einen „Musterreiter“ halten mochte, wie man auf dem Lande die Geschäftsreisenden aller Art zu bezeichnen liebt; ich hatte Muße, mir die Stube und die Gesellschaft darin zu betrachten, bei einem Glase Murnauer Biers, das, wenn es zur Passionszeit in gleicher Güte verabreicht wird, wohl geeignet ist, den verblaßten Ruhm des „baierischen Nationalgetränks“ wieder etwas aufzufärben. Die Decke der getäfelten Stube ist alt und an den Balken derselben sind reihenweise geschnitzte Wappenschilder angebracht – eine Erinnerung an die Zeiten, als noch der Welthandel aus dem Süden den Weg über Partenkirchen und Ammergau nahm und die Ammergauer das kaiserliche Privilegium hatten, daß alle Waare bei ihnen eingelagert werden mußte und nur von ihnen weiter geführt werden durfte. Die hohe Fluth des damaligen Ansehens und Reichthums ist längst verflossen und hat als Zeugen ihres Daseins nichts zurückgelassen als die Wappen der Kaufherren und Rollfuhrmänner. Die Gesellschaft hatte ebenfalls ein eigenthümliches Gepräge, völlig von dem verschieden, wie man es sonst in Dörfern anzutreffen pflegt; sie bestand aus einer Anzahl meist junger Leute, die sich in munterer, aber sehr ruhiger Weise mit Kartenspiel unterhielten – die typisch gewordene graue Joppe mit stehendem Kragen war das einzige Ländliche an ihnen; der Schnitt der Köpfe, die meist langen wallenden Haare, die wohlgepflegten Bärte erinnerten an eine Gesellschaft angehender Maler oder Kunstschüler. Das trog auch nicht; sie gehörten dem Geschäfte an, welches seit dem Versiechen der obigen Quellen der Haupterwerbszweig von Ammergau geworden ist und welches gegenwärtig von mehr als drei Viertheilen seiner Bewohner betrieben wird – sie waren Bildschnitzer. Offenbar hatte auch Mancher davon „im Passion“ eine Rolle zu spielen und bei Zeiten daran gedacht, seine äußere Erscheinung derselben anzuformen.
Ich erfuhr auf oberflächliche Anfrage, daß vom Beginn der Fastenzeit jeden Sonntag Spielprobe, jeden Donnerstag Musikprobe gehalten und dabei immer der halbe Passion durchgenommen werde; der andere Tag war ein Sonntag, ich mußte daher eilen, wenn ich meine Zeit nicht umsonst aufgewendet haben wollte, und wanderte Tags darauf eilig dem Pfarrhofe zu, einem klosterartigen, etwas öden Gebäude, das sich nicht rühmen kann, einen anheimelnden Eindruck zu machen; desto angenehmer wirkte die Freundlichkeit des Herrn Pfarrers Müller, der meinen Wunsch in wohlwollendster Weise aufnahm, zu meiner nicht geringen Enttäuschung aber zugleich die Unmöglichkeit seiner Erfüllung erklärte, weil, so viel ihm seit seiner noch nicht langen Amtsführung bekannt geworden, es feststehender Grundsatz sei, keinen Fremden bei den Proben zuzulassen. Es war ein leidiger Trost, als er hinzufügte, daß heute seines Wissens überhaupt eine Probe nicht stattfinde; man habe in Hoffnung milderen Wetters vorgehabt, heute auf dem bereits erbauten Passionstheater zu probiren, habe deshalb den Schnee wegkehren lassen, da sich aber neuer noch stärkerer darauf gelagert, habe man vorgezogen, diesmal ganz auszusetzen.
Der Anblick meiner Enttäuschung, meine geringe Beredsamkeit, wohl mehr aber der zur Vorsicht mitgenommene Empfehlungsbrief eines einflußreichen Freundes veranlaßten indessen den freundlichen Pfarrherrn zu der weitern Erklärung, er wolle sehen, ob eine Probe zu Stande komme, und wolle, wenn dies der Fall sei, bei den versammelten Spielern – denn von ihnen allein hänge die Entscheidung ab – einen Versuch machen, meine Zulassung zu erwirken; ich solle in meinem Gasthause in Geduld der Dinge harren; er werde mich rufen lassen, wenn, woran er übrigens zweifle, der Bescheid ein günstiger sei.
Daß eine Probe im Werke war, entnahm ich, über meinen Mittagsbraten hinweglugend, gar bald aus der Zahl der hin und wider Eilenden; aber meiner schien man nicht zu bedürfen. – Viertelstunde um Viertelstunde verging, und schon wollte ich, eingedenk der Inschrift über Dante’s „Hölle“, alle Hoffnung lassen, als der Gemeindediener, hier Wächter genannt, erschien, um mich an’s ersehnte Ziel zu geleiten.
Ich trat in einen übermäßig langen, durch das Ausbrechen mehrerer Mittelwände gewonnenen, etwas niedrigen, trotzdem mit Menschen vollgepfropften Saal und befand mich mitten unter den bereits in voller Probe begriffenen Darstellern. An einem Tische saß mit dem jetzigen der frühere Pfarrer, der geistliche Rath Daisenberger, welchem der Text des Passionsspieles seine jetzige Form und Einrichtung verdankt und der, nachdem er über ein Vierteljahrhundert thätig gewesen, sich mit einem mehr als bescheidenen Beneficium begnügt, um das zur Heimath gewordene Dorf nicht verlassen zu dürfen. Einer der Ortsbewohner saß nebenan, hatte das Spielbuch vor sich und las den Text mit. Um nicht zu stören, trat ich mit kurzem Gruße in ein Fenster und war bald vollständig von dem Schauspiele gefesselt, wie ich ein solches noch niemals vor Augen gehabt.
Ich hatte schon manche Bühnenprobe gesehen und mitgemacht, aber mit dem ersten Blicke war mir klar, daß es sich hier wirklich um etwas ganz Anderes als um ein Schauspiel im gewöhnlichen Sinne handle und woher zugleich die außerordentliche Wirkung stammt, welche dem Spiele dieser einfachen Dorfbewohner zugestanden werden muß. Zunächst drängte sich die Wahrnehmung auf, daß der Ernst des Gegenstandes, die Wucht der in ihm liegenden welterschütternden Tragik auch über allen Vorbereitungen liegt und Alles von ihnen abstreift, was mit anderen ähnlichen Uebungen an Hast, Unruhe und Zerstreuung verbunden ist. Die Darsteller denken hier nicht entfernt daran, daß sie spielen, daß sie etwas außer ihnen Liegendes machen wollen oder sollen; sie sprechen und geberden vielmehr in der Rolle ganz sich selbst, sie geben ihre eigene einfache Empfindung ohne alle Kunst, ohne jedes Studium; aber gerade in dieser vollständigen Unbefangenheit, in dem gänzlichen Fehlen aller verstimmenden Absicht liegt das Geheimniß einer künstlich nicht zu erreichenden Naturwahrheit und damit auch der Wirkung. Kein Regisseur leitete den Gang der Scenen, kein Inspicient wachte über deren Reihenfolge; es bedurfte deren nicht, denn Alle hörten und sahen ununterbrochen in schweigender Theilnahme zu und Jeder griff oder sprach im richtigen Augenblick ein – kaum daß ein paar Mal der Mann mit dem Spielbuche nöthig hatte, eine kleine Auslassung zu rügen. Jede Rede wurde ohne Stocken und vollkommen rechtzeitig gebracht, jede Bewegung wurde angedeutet und trotz des ungünstigen, die volle Entfaltung verhindernden Raumes wurden sogar die Massenscenen mit einer Ruhe und Sicherheit ausgeführt, welche geradezu Staunen erregt, so z. B. die Gefangennehmung Jesu am Oelberg und das Uebereinanderstürzen der vor seinem Entgegentreten erschreckenden Soldaten, welche wirklich wie vom Blitze getroffen mit Einem Schlage und doch in wohlgeordneter, in sich aufsteigender Gruppe da lagen, ohne daß außer den Worten des Dialogs auch nur eine Sylbe gesprochen oder ein Zeichen gegeben worden wäre. Was muß der Director einer weltlichen Bühne reden, vormachen, bitten und – fluchen, um etwas Derartiges in Scene zu setzen, und wie weit wird das Erreichte noch immer hinter dem hier Geleisteten zurückbleiben! –
Die Erklärung liegt aber nahe.
Die Spielenden führt nicht Eitelkeit oder Gewinnsucht zusammen, sie üben eine Art moralischer Verpflichtung aus und sind daher mit Leib und Seele bei der Sache – noch mehr aber, das Passionsspiel im großen Ganzen sowohl, als in jeder einzelnen Scene, Gestalt und in der Auffassung derselben ist etwas durch Ueberlieferung Feststehendes; ein Gesammteigenthum, das gleichsam [235] im Gedächtniß der ganzen Einwohnerschaft fortlebt, so daß man ohne Uebertreibung sagen kann, ein großer Theil der Mitwirkenden wisse nicht nur alle Rollen, sondern auch die Art und Weise auswendig, wie jede derselben gespielt wird, so daß jede Stellung, jede Gruppe ihre historische Berechtigung hat, und die Kinder, wenn sie in die jüngeren und dann in die Hauptpartieen einrücken, dieselben schon können und wissen und nur das eigene Individuum zum willigen Träger des Ueberkommenen und Bewährten zu machen brauchen. Dasselbe gilt auch von den Aufzügen, welche die Bewunderung aller Bühnenkundigen sind, und von den mitunter sehr verwickelten lebenden Bildern, und diese Bewunderung erscheint um so gerechtfertigter, wenn die Menge der mitwirkenden Kräfte erwogen wird, denn das Passionsspiel enthält nicht weniger als hundertundvier Sprechrollen für Männer und fünfzehn für Frauen. Werden die stumm Mitwirkenden, etwa zweihundertundfünfzig mit Einschluß der Kinder, hinzugezählt, der singende Chor der Schutzgeister, das Orchester, die Theaterleute, Aufseher etc., so ergiebt sich ein Gesammtpersonal von nahezu fünfhundert Personen, mehr als die Hälfte der gesammten Einwohnerschaft. Es ist strenge Regel, daß nur eingeborene oder doch eingebürgerte Ammergauer mitwirken dürfen, und wenn man hie und da eine leise Andeutung vernimmt, daß es schwer werde unter ihnen alle die nöthigen Kräfte aufzufinden, weil von den Eingewanderten nur Wenige zum Spiele zu gebrauchen seien, so erklärt sich das nach dem Obigen vollkommen dadurch, daß sie eben nicht wie die Eingeborenen mit dem Spiele auf- und in dasselbe hineingewachsen sind.
Vieles mag die vorwiegende Beschäftigung mit dem verwandten Kunstzweige der Bildschnitzerei beitragen; von wesentlicher Bedeutung ist unstreitig auch, daß man sich bemüht, bei der Vertheilung der Rollen, welche durch die bedeutend verstärkte Gemeindevertretung mittels Abstimmung geschieht, diejenigen Spieler, welche ihre Tüchtigkeit bereits bewährt haben, beizubehalten. So sind der Bildschnitzer Hett, welcher den Apostel Petrus mit unnachahmlich einfacher Treuherzigkeit giebt, so wie sein Genosse Lechner, der treffliche Darsteller des Judas, im Besitze ihrer Partieen geblieben, wie nicht minder Kaiphas der Hohepriester (Schnitzwaarenverleger Lang), Annas, Pilatus, Nikodemus, Joseph von Arimathäa und andere. Neubesetzt ist Christus (der frühere ist von Ammergau fortgezogen) und zwar durch den Schnitzer Joseph Maier, einen jungen Mann von hoher schlanker Gestalt, ernstem Angesicht mit dichtem dunklen Bart und reichem langen Haar, würdiger Haltung und gutem Organ, so daß er wohl hinter seinem ausgezeichneten Vorgänger nicht zurückbleiben wird, wenn auch vielleicht seiner Nase etwas mehr ideale Länge zu wünschen wäre. Neu ist auch die Maria, Franziska Flunger, die Tochter des Schnitzers und Zeichnungslehrers, welcher vor zwanzig Jahren den Christus gespielt hat und nun wiederholt den Hohepriester Annas darstellt, eine schlanke, zarte, echt jungfräuliche Erscheinung von mildem und angenehmem Gesichtsausdruck und einem nicht starken, aber angenehmen Organ, das namentlich die etwas hohe weinerlich schrillende Sprechweise vermeidet, von der die frühere Maria nicht freizusprechen war. Es macht allerdings einen eigenthümlichen Eindruck, wenn Christus seiner Mutter beim Abschiede für die seit dreiunddreißig Jahren erwiesene Liebe und Sorge dankt, und diese, die hiernach doch immerhin schon eine reife Frau sein müßte, ihm in jugendlicher Mädchenerscheinung gegenübersteht, allein mit der Vorstellung der Madonna ist im Sinne des Volks die der Jungfräulichkeit so verwachsen, daß sie gar nicht anders gedacht werden kann als in ewiger Jugend. Endlich hat auch der Lieblingsjünger Johannes einen neuen Vertreter gefunden in dem Bildschnitzer Johann Zwink, einem Jüngling, der mit aller hierzu erforderlichen Erscheinung so vollständig begabt ist, daß er, mit den üblichen Gewändern bekleidet, den Eindruck machen muß, als wäre er aus dem Rahmen irgend eines alten Kreuzbildes herausgetreten. Auch Martha und Magdalena sind sehr glücklich ausgewählt, jene ganz die einfache häuslich sorgsame, diese die mehr ideal-schwärmerische Frauennatur.
Noch während der Probe wurde mir mehrfach die schüchtern besorgte Frage gestellt, wie ich wohl zufrieden sei und was ich auszusetzen habe; man bat mich, es ja zu sagen, damit man sich etwa darnach richten könne, aber ich hütete mich wohl, irgend einen Tadel auszusprechen. Was wollte es auch sagen, wenn hie und da einer der Kehltöne, die der Ammergauer mit dem Tiroler gemein hat, etwas stärker hervortrat, oder wenn manchmal das Wort Vater, zu scharf ausgesprochen, wie Vatter klang, oder wenn ich mir sagen mußte, daß ein kunstgemäß geschulter Vortrag irgend einen Satz vielleicht anders gestaltet haben würde! Ich trug die Ueberzeugung in mir, daß das Ganze nur durch seine unberührte Naivetät und Eigenthümlichkeit von Bestand und Bedeutung sei, und daß an diese nicht getastet werden dürfe, ohne Unsicherheit und mit ihr Künstelei hervorzurufen.
Abends fand sich ein kleiner geselliger Kreis zusammen; nachdem die Scheu vor dem Fremden überwunden war, galt er nicht mehr als fremd, sondern wurde mit zu dem Hause gezählt, in dessen Inneres er eingetreten: man wollte ihm zeigen, daß „der erste Passionsgast“ willkommen war. Wir saßen ziemlich lange in vertraulichem Gespräche beisammen; Petrus mit seinem ehrlichen Gesicht, der mit dem natürlichen Kahlkopf und Bart jeden Augenblick einem Bildner zum Modell dienen könnte; Judas mit seinem rothen Vollbart, dem bleichen klugen Angesicht und den dunklen Augen voll eigenthümlichen Feuers; Annas ein von schwarzgrauem Bart umrahmtes Antlitz von ernst sinnendem, um nicht zu sagen schwermüthigem Ausdruck. Es sind einfache, aber wohlunterrichtete, offene Männer, deren Leben in dem schlichten, kaum sehr einträglichen Geschäft dahingeht und, wie die Weltgeschichte durch große glänzende Ereignisse, so durch die Passion in seine Epochen getheilt wird, von ganzer Seele erfreut über die wachsende Theilnahme an demselben und nicht minder besorgt, ob es ihnen auch gelingen werde, vor derselben zu bestehen. Die Rollen, die sie darin gespielt, das war nicht zu verkennen, bildeten die Kleinode ihrer Erinnerung, und Annas schien nur mit einer Art Ehrfurcht der Zeit zu gedenken, da er den Heiland gespielt und am Kreuze gehangen. Es war anziehend zu hören, wie ihm zu Muthe gewesen, als er zum ersten Male mit dem Kreuze sich emporgehoben fühlte, von dessen Höhe (neun Schuh von den Füßen bis zum Boden) es sich wie in einen Abgrund herniederschaue, wie das Kreuz trotz anscheinender Ruhe immerwährend schwanke und nach vornüber zu stürzen scheine, daß wohl starke Nerven dazu gehörten, um nicht von Schwindel ergriffen und von Grauen überwältigt zu werden. Durch das Hängen am Kreuze, das immerhin über eine Viertelstunde dauert, trete überdies, obwohl der Körper in einem Gürtel hängt und auch die Arme leicht umschlungen sind, eine zuletzt schmerzliche Anspannung der Brustmuskeln ein und die Hände werden dunkelblau, so daß bei der Kreuzabnahme jede rasche Bewegung sorgfältig vermieden werden müsse. Das Gespräch kam auch auf die Vorbereitungen zum Passionsspiele während der zehnjährigen Zwischenräume, in welchen zur Uebung und Heranbildung des schauspielerischen Geschicks allerlei dramatische Vorstellungen stattfinden, früher in einer alten wegen Feuergefährlichkeit abgebrochenen Scheune, dann bei günstigen Umständen in der Mittelbühne des großen Passionstheaters, welche immer stehen bleibt, und dann auch den Zuschauerraum in sich aufnehmen mußte. Es waren meist religiöse Stücke, welche zur Darstellung kamen, wie die „Kreuzschule“ oder „Sanct Herminigild“ oder „Die Gründung von Kloster Ettal“; doch fehlten auch weltliche Werke nicht, darunter Körner’s „Toni“ oder „Der Karfunkel“ von Graf Pocci oder vollends Schiller’s „Wilhelm Tell“ – für ein Dorf ein wahrlich nicht zu unterschätzendes Unternehmen!
Tags darauf durchwanderte ich den im Schulhause befindlichen Malersaal, wo eben die Architecturverkleidungen für das Proscenium und der Hauptgiebel der Mittelbühne gemalt wurden und ich mich mit Vergnügen überzeugte, daß man den in dieser Hinsicht laut gewordenen Tadel wohl beachtet und sich bemüht hatte, den etwas stark zopfigen oder eigentlich räthselhaften Baustyl der Straßen Jerusalems durch eine historisch richtige Architectur zu ersetzen. Auch in den Costümen war das gleiche Streben erkennbar; sie nehmen ein ganzes Stockwerk eines hübschen Landhauses ein, das ein wohlhabender Ammergauer Bürger – der Sänger des Prologs – sich an sehr angenehmer Stelle erbaut hat und woselbst er die Anfertigung der neuen Anzüge, so wie die Umgestaltung der alten überwacht; ein Saal sitzt voll emsig beschäftigter Nähterinnen, ein großes Gemach nebenan ist mit Stoffen aller Art gefüllt. Die Trachten sind ebenfalls den geschichtlich richtigen näher gebracht und im Allgemeinen nach den in der Alliolischen Bibel gegebenen Bildern gehalten. Der Besuch der Bühne machte mich neuerdings die außerordentlichen Hülfsmittel derselben bewundern.