Die Gartenlaube (1874)/Heft 9
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No. 9. | 1874. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Zwei Equipagen waren drunten vorgefahren; in der ersten, die am Fuß der Freitreppe hielt, saßen die allerhöchsten Herrschaften; die zweite, in ehrerbietiger Entfernung haltende hatte den Prinzenerzieher und die Hofdame gebracht. Noch hatte sich die Herzogin nicht erhoben, um auszusteigen; sie streckte huldvoll und herzlich dem Hofmarschall die Hand entgegen und war mitten in einem Redesatze, der ihre Freude über sein Wiedererstandensein von dem bösen Gichtanfall aussprach, als Mainau mit seiner jungen Frau droben auf der Treppe erschien. Ein Feuerblick aus den schwarzen Augen flog hinauf – einen Moment stockten die Worte auf den Lippen der fürstlichen Frau; sie wandte hastig, wie überrascht und fragend den Kopf nach der Hofdame, die bereits ausgestiegen und an den Wagenschlag der herzoglichen Equipage getreten war und nun auch tiefbetroffen die näher kommende junge Dame fixirte – dann aber wurde der unterbrochene Satz rasch mit einer graziösen Handbewegung zu Ende gesprochen, und die Herzogin verließ, vom Hofprediger unterstützt, den Wagen.
Ja freilich, wer hätte auch denken können, daß die graue, ängstlich in die Wagenecke gedrückte „Nonne“ in so majestätischer Weise die Herrin von Schönwerth repräsentiren werde, wie sie jetzt in rauschender Schleppe, die Hand auf den Arm ihres Mannes gelegt, herniederstieg? Wer hätte gedacht, daß diese Frau den Fluch einer verpönten Haarfarbe so unbefangen trage, um das flimmernde Roth in seiner ganzen Flechtenwucht über den Rücken hinabfallen zu lassen, und daß das Sonnenlicht in Schönwerth so schmeichlerisch und lügenhaft diese wogenden, rothlockigen Massen zu einem wie aus Goldspitzen gewobenen Glorienschein über der Stirn wandeln werde?
Die zwei Frauen standen sich gegenüber. Man sagte der Herzogin nach, sie bemühe sich, nach Ablegen der Trauer, in außerordentlich frischen und hellen Toiletten noch einmal die Mädchenjugend heraufzubeschwören, und das bestätigte sich heute in auffallender Weise. Sie war in rosafarbene Seide gehüllt, bis an die sehr tief entblößten Schultern und Arme, die ein weißer, klarer Spitzenfichu bedeckte – auf dem runden Brüsseler Strohhütchen steckte ein Strauß von Apfelblüthen.
Einen Augenblick senkte es sich wie ein Schatten über die Züge der fürstlichen Frau – die klugen, stahlfarbenen Augen begegneten den ihren in so stolzer Unbefangenheit, und die Thaufrische dieses jungen Gesichts ließ sich auch in allernächster Nähe absolut nicht wegleugnen – aber ein Seitenblick auf Baron Mainau machte sofort das sonnige Lächeln um ihre Lippen wieder aufstrahlen. Die Leute hatten Recht, wenn sie behaupteten, er habe ohne jegliche Spur von Neigung gewählt. Er stand kalt, wie eine Marmorstatue neben seiner jungen Frau, die sich bei seinen sie kurz und frostig vorstellenden Worten ehrerbietig, jedoch nicht allzutief, verneigte und der Herzogin das Bouquet übergab.
Es wurde sehr huldvoll entgegengenommen, und die Herzogin hätte sich vielleicht noch mehr in jenen liebenswürdigen Phrasen erschöpft, welche die Meisten als Reliquien eines solchen Vorstellungsmomentes zeitlebens im innersten Herzensschrein aufbewahren, wäre nicht ihr Blick auf den Hofmarschall gefallen – er stand hülflos zusammenknickend, mit fest aufeinandergebissenen Zähnen da, fahl wie ein Gespenst. „Ich habe meine Kräfte überschätzt,“ stammelte er, „und bin untröstlich, um die Gnade bitten zu müssen, daß ich mich eines Fahrstuhls bedienen darf.“
Auf einen Wink der Herzogin wurde das Möbel gebracht, und der Kranke sank hinein – ein bitterer Augenblick für den Mann, der einst vielbegehrt und gefeiert, auf leichten Höflingssohlen die Gestirne des Hofes umschwebt hatte. Kreischend rollte der schwere Stuhl über den Kies nach dem Park, dem ja heute der Besuch der fürstlichen Gäste galt. … Die schöne, rosenfarbenstrahlende Herzogin rauschte plaudernd an Mainau’s Arm vorüber – noch nie hatte sie sich so zwanglos heiter und angeregt gezeigt, und doch saß der Mann, der einst gemeint, einzig durch seine glänzende Unterhaltungsgabe diesem stolzen, zurückhaltenden Frauengeist Funken zu entlocken, schweigend auf seinem Stuhl – er war vergessen. Die Prinzen stürmten mit Leo jubelnd vorbei – sonst hatten sie sich an die Frackschöße des Hofmarschalls gehangen, ohne ihn war kein Spiel zu Stande gekommen – jetzt war es so selbstverständlich, daß er alt und siech dahinrollte und plötzlich zum Statisten wurde auf seinem eigenen Grund und Boden – eine niederschmetternde Erfahrung für ein gefeiertes Höflingstalent, noch lebend zu den Todten geworfen zu werden! … Und zu alledem schritt auch noch der „Rothkopf“ dort so anmaßend und selbstbewußt als Herrin von Schönwerth dahin, ja, der alte Höfling sagte sich erbittert, daß sich diese Gräfin von Habenichts wahrhaftig vermesse, größer, edler und vornehmer in der Haltung zu sein, als die Frau Herzogin selbst – er hätte ersticken mögen vor Aerger und Ingrimm!
[140] „Mit Verlaub, meine Gnädigste!“ rief er in schneidenden Tönen der jungen Frau zu, als sie sich im Vorübergehen bückte, um eine kleine, in den Sammetrasen verirrte Karthäusernelke zu pflücken. „Heute werden keine Orchideen oder sonstiges Unkraut für Rußland gesammelt!“
Mainau fuhr mit dunkelrothem Gesichte herum – er hatte vielleicht eine scharfe Replik für den Hofmarschall auf den Lippen – aber nach einem Blicke auf die junge Frau, die so „hochmüthig schweigend“ und gelassen die kleine, rothe Blume in den Gürtel steckte, zuckte er wie in grollender Ungeduld die Achseln und nahm, rasch weitergehend, das unterbrochene Gespräch mit der Herzogin wieder auf.
Der Parktheil, in welchem das köstliche Schönwerther Obst gezogen wurde, lag neben dem indischen Garten, im Schutze der Berge, deren glückliche Gruppirung es möglich machte, in kühler, spröder Zone ein Stück indischer Wunderwelt am Leben zu erhalten. Die concentrirten Sonnenstrahlen, die hier, unbehelligt von Nord- und Weststürmen, den Schaft der Bananen hoch in die Lüfte trieben, reiften auch Prachtexemplare von Pfirsichen, die empfindlichsten Trauben- und Obstsorten an Spalieren und Cordons und auf den Pyramidenstämmchen, die gruppenweise in weiten Rasenflächen standen. Die Anlagen, die allerdings mehr den Gaumen, als das Auge reizten, liefen schließlich in den Wald aus – selbstverständlich nicht sofort in die uralte, prächtige Wildniß, wie sie tiefer hinein und höher hinauf mit ihrem wirren Gestrüppe und Unterholze nur einer Fahrstraße widerwillig Raum gab – eine bedeutende Strecke noch schlängelten sich die hellen saubergehaltenen Linien der Fußwege um die Stämme, und unter der ersten Ahorngruppe breitete sich eine weite, kühlbeschattete Kiesfläche hin.
Auf dieses Kiesrund sah auch die Giebelseite des sogenannten Jägerhäuschens. Es war ein hübscher kleiner Bau aus Ziegelsteinen mit blanken Fenstern und den obligaten Hirschgeweihen auf dem Dache und konnte gewissermaßen als eine Station zwischen dem Schlosse und dem eigentlichen, zur Schönwerther Herrschaft gehörigen Forsthause gelten, das, über eine halbe Wegstunde entfernt, tief und einsam im Walde lag. In diesem Häuschen war ein Jägerbursche mit den Jagdhunden einquartiert; Mainau’s reicher Gewehrschrank stand unter seiner Controle, und bei Festivitäten figurirte er in Galauniform als Jäger des Herrn Barons.
Sollte ein wenig Idylle gespielt werden, dann verlegte man sie unter die Ahorngruppe vor dem Jägerhause – es war einer der lieblichsten Punkte von Schönwerth; man athmete unverfälschte Waldluft und sah doch den farbensprühenden Hindutempel inmitten einer fremdartigen Vegetation herüberschimmern, während sich fern die Zinnen und Mosaikdächer des Schlosses in mittelalterlicher Romantik über den köstlichen Baumschlag der vorderen Parkpartien malerisch erhoben.
Bei solchen Festen mit ländlichem Anstriche functionirte auch niemals der Schloßkoch in Person – da stand Frau Löhn am schneeweißen Kachelherde des Jägerhäuschens und kochte den Kaffee. Das war seit Jahren hergebracht, und die breitschulterige Gestalt im unsterblichen schwarzseidenen Staatskleide durfte unter der Thür des Hauses so wenig fehlen, wie die kläffenden oder faul in den Sand hingestreckten prächtigen Rüden. … Das ernsthafte Gesicht unter der Haube mit den stereotypen schottischen Bändern lachte zwar niemals, und der „Hofknix“ fiel stets zum Erbarmen aus; aber der Kaffee war delicat und Alles, was aus den Händen der Frau kam, so sauber und appetitlich auf köstlichem Weißzeuge geordnet, daß man ihr herbes, mürrisch trockenes Wesen stillschweigend mit in den Kauf nahm.
War es heute schwüler als sonst in der kleinen Küche, oder hatte ihr das Arrangement viel zu schaffen gemacht – die Frau sah echauffirt aus, und wäre es bei diesem ausgesprochen harten Charakter nicht fast undenkbar gewesen, man hätte meinen mögen, sie habe geweint, so fieberhaft glimmend lagen die Augen unter der stark gewölbten Stirn.
„Sind Sie krank, liebe Löhn?“ fragte die Herzogin leutselig.
„Ei, beileibe nicht, Hoheit! Danke unterthänigst für gnädige Nachfrage – frisch und gesund, wie ein Fisch im Wasser!“ versetzte sie fast erschrocken mit einem raschen Seitenblicke nach dem Hofmarschall. … Sie brachte eine Anzahl weißer, feingeflochtener Weidenkörbchen, die von den kleinen Prinzen sofort mit Beschlag belegt wurden. Der Kaffeetisch blieb für den ersten Moment verödet; die Kinder stürmten in die Obstplantage, und in ehrerbietiger Entfernung stand der Schloßgärtner und sah in stiller Verzweiflung zu, wie die kleinen Vandalen ohne Auswahl und Schonung die aufopfernd gehegten und gepflegten Spaliere plünderten und das feine Obst polternd in die Körbe warfen.
Der Hofmarschall hatte sich auch hinüberrollen lassen – es mußte gehen, der klägliche Eindruck seiner Hülflosigkeit mußte verwischt werden, und sollte es unter tausend Martern geschehen. Er erhob sich und stelzte ein großes, üppig belaubtes Weinspalier entlang, das bis an das Drahtgitter des indischen Gartens lief. Wirklich glückte es ihm, zu Fuße und in ziemlich strammer Haltung den Kaffeetisch wieder zu erreichen, an welchem sich die Herzogin eben niedergelassen hatte. Mit eitlem Lächeln überreichte er ihr in einem der Körbchen mehrere von ihm selbst abgeschnittene Frühtrauben – aber das Lächeln erlosch plötzlich; er wurde roth vor Schrecken.
„Mein Ring!“ rief er aufgeregt; er warf hastig das Körbchen auf den Tisch und besah den dünnen Zeigefinger seiner Rechten, an welchem vor wenigen Minuten noch ein kostbarer Smaragd gefunkelt hatte.
Alle, mit Ausnahme der Herzogin, sprangen auf und suchten. Der Ring, „der immer so fest gesessen, hatte,“ wie der Hofmarschall klagend versicherte, war von dem mager gewordenen Finger jedenfalls beim Traubenpflücken niedergeglitten und zwischen dem Weinlaube versunken – aber wie aufmerksam man auch suchte, er fand sich nicht.
„Das Schloßgesinde wird später unter meiner speciellen Aufsicht das Suchen fortsetzen,“ sagte Mainau, an den Tisch zurückkehrend – aus Etiquetterücksichten mußte dieses fatale Intermezzo endlich abgekürzt werden.
„Ja später – wenn er in irgend einer Rocktasche rettungslos versunken sein wird,“ erwiderte der Hofmarschall mit einem finstern Lächeln. „Traue Einer den Domestiken! Sie verkehren hauptsächlich an diesem Weinspalier – der Hauptweg läuft ja vorüber. … Hoheit mögen verzeihen, wenn mich die Sache ein wenig alterirt!“ wandte er sich bittend an die Herzogin. „Aber der Ring ist mir sehr werthvoll als ein seltsames Vermächtniß Gisbert’s. Wenige Tage vor seinem Tode übergab er mir denselben in Gegenwart von Zeugen, wobei er die Worte niederschrieb: ‚Vergiß nie, daß Du den Siegelring am zehnten September erhalten hast!‘ – Er hat ihn mir speciell vererben wollen, und Das rührt mich bis auf den heutigen Tag. … Hoheit wissen, daß ich mit diesem Bruder nicht harmonirt, daß ich im Gegentheil seinen stürmischen, gegen die Moral verstoßenden Lebensgang stets entschieden verurtheilt habe – aber mein Gott, das Herz behauptet doch seine Rechte. Ich habe ihn trotz alledem lieb gehabt, und deshalb würde mich der Verlust tief schmerzen –“
„Abgesehen von dem wirklich fabelhaft hohen Werthe des Steines selbst,“ warf Mainau trocken hin. Er saß bereits wieder neben der Herzogin, während die Anderen eben zurückkamen.
„Nun ja doch, in zweiter Linie allerdings – wer wollte Das leugnen?“ sagte der Hofmarschall mit affectirtem Gleichmuth – fast zugleich aber schob er mit einem Rucke – die Bewegung sah ziemlich desperat aus – seinen Stuhl mehr seitwärts; von da aus konnte er die ganze Wegstrecke an dem verhängnißvollen Spalier überwachen. – „Der Smaragd ist kostbar und die Gravirung eine seltene Arbeit, eine Art Wunder. … Es ist auch ein kleines Geheimniß dabei. In der Nähe des Wappens macht sich ein feiner Punkt bemerklich – man meint, ein winziger Splitter sei von dem Steine abgesprungen; unter der Loupe aber tritt Einem scharf ausgeprägt ein schöner Männerkopf entgegen. Tief in Wachs oder feinen Lack eingedrückt, gilt dieses Siegel in meinen Augen mehr als eine Namensunterschrift.“
„Wir werden jetzt Kaffee trinken, und dann gehe ich auch mit suchen,“ sagte die Herzogin liebenswürdig. „Der interessante Ring muß sich wiederfinden.“
Frau Löhn ging inzwischen mit dem großen silbernen Kaffeebrette herum. Sie verzog keine Miene; in die eingetretene secundenlange Stille hinein knisterte ihr Seidenkleid und der Sand unter ihren kräftig ausschreitenden Füßen. Plötzlich klirrte [141] aber auch das Geschirr auf der Platte aneinander, als mache ein Zusammenschrecken die Hände der Frau unsicher. Der Hofmarschall, dem sie in diesem Augenblicke präsentirte, sah überrascht empor und folgte der Richtung ihres Blickes – Gabriel kam den Weingang herauf.
„Was will der Bursche?“ fragte er sie scharf fixirend.
„Hab’ keine Ahnung, gnädiger Herr,“ versicherte sie bereits wieder sehr ruhig.
Gabriel schritt direct auf den Hofmarschall zu und überreichte ihm mit tief gesenkten Lidern den verlorenen Ring. – Es waren schön gebogene, schlanke Finger, die das Kleinod zierlich gefaßt hielten – eine fleckenlos saubere Kinderhand, zaghaft und scheu dargeboten – und doch stieß sie der Hofmarschall mit sichtlichem Widerwillen zurück, als sie die seinige leicht berührte.
„Stehen da nicht Teller genug?“ schalt er, auf den Tisch zeigend. „Und hast Du Dir bei Deinem Verkehr im Schlosse so wenig Manier angeeignet, daß Du nicht einmal weißt, wie man anständiger Weise einen Gegenstand überreicht. … Wo hast Du den Ring gefunden?“
„Er lag am Drahtgitter – ich erkannte ihn gleich – ich habe ihn immer so gern an Ihrer Hand gesehen,“ sagte der Knabe schüchtern und gleichsam um Vergebung bittend, daß er den Ring sofort an die rechte Adresse zurückgegeben.
„So – in der That? Sehr schmeichelhaft!“ – Der Hofmarschall wiegte spöttisch den Kopf und steckte den Smaragd an den Finger. „Löhn, geben Sie ihm ein Stück Kuchen und fragen Sie, was er will!“
Die Beschließerin griff in die Tasche und brachte einen Schlüssel zum Vorschein. „Den hast Du holen wollen – gelt?“ sagte sie zu Gabriel – er bejahte. „Die Frau will trinken, und ich habe den Himbeersaft eingeschlossen –“
„Larifari – es läuft Dienerschaft genug herum. Er konnte herüberschicken; aber der Mosje ist verwöhnt und meint, er müsse schlechterdings bei Allem sein, was im Schlosse vorgeht – und das heute, wo ihm der Herr Hofprediger in Ihrem Beisein die Betheiligung an jedem Vergnügen streng untersagt hat! Haben Sie das vergessen, Löhn? … Er soll sich vorbereiten,“ wandte er sich an die Herzogin, „wir haben heute Morgen festgestellt, daß er in drei Wochen endlich nach dem Seminar abgeht – es ist die höchste Zeit.“
Liane sah überrascht zu der Beschließerin auf. Also darum hatte diese Frau heute Morgen vor ihren Augen so eigenthümlich zweck- und ziellos in der Wäschkammer hantirt und den feinsten Damast vom groben Gespinnst nicht zu unterscheiden gewußt, sie, diese Autorität in Leinenangelegenheiten! Darum hatte sie den Schlüsselbund verlegt, ein unerhörtes Begebniß! … So steinern und stumpf auch diese Frau erschien, so rauh und gefühllos sie auch im Beisein Anderer dem Knaben begegnete – Liane hatte längst im Stillen vermuthet, daß sie ihn abgöttisch liebe. … Jetzt stand sie da, wortlos und dunkelroth im Gesicht – für alle Anderen eine geärgerte Frau, die ein unverdienter Vorwurf tief erbittert, in Lianens Augen aber ein angstvolles Mutterherz, das schon die Erwähnung einer gefürchteten Thatsache heftiger schlagen macht.
Die Herzogin fixirte den Knaben durch die Lorgnette. „Sie haben den Beruf des Missionars für ihn im Auge?“ fragte sie kopfschüttelnd den Hofprediger. „Meines Erachtens paßt er ganz und gar nicht für den Knaben.“
Dieser Ausspruch wirkte wie elektrisirend auf Liane; zum ersten Male hörte sie eine auflehnende Ansicht gegen den Machtspruch des Geistlichen und des Hofmarschalls aussprechen, noch dazu von Lippen, die mit einigen beschützenden Worten das Geschick eines Menschen sofort in andere Bahnen lenken konnten. … Dort saß freilich der alte Herr, gespannt aufhorchend – ein Nervenschauer überlief sie bei dem Gedanken, ihn geflissentlich gegen sich aufzureizen; Alle, die sich hier um den Tisch reihten, waren mehr oder minder dem Knaben ungünstig gesinnt oder gleichgültig gegen sein Geschick – wie kalt musterte Mainau eben „den feigen Jungen“, der wie ein Angeklagter sich nicht von der Stelle traute, die ihm doch unter den Füßen brennen mußte! – Die junge Frau nahm all ihren Mut zusammen – war es denn nicht ein Frauenherz, an das sie appellirte?
„Gabriel trägt bereits eine Mission in sich, Hoheit – es ist die des Künstlers,“ sagte sie, die schöne Fürstin nicht ohne Befangenheit, aber doch beharrlich ansehend – Aller Augen richteten sich erstaunt auf die Lippen, die bis dahin noch nicht gesprochen hatten. – „Ohne alle und jede Anleitung hat er den Stift bereits mit einer Sicherheit führen gelernt, die mich in Erstaunen setzt. Ich habe auf Leo’s Spieltisch Zeichnungen von ihm gefunden, mit denen er jede akademische Prüfung so bestehen kann, daß er unentgeltlich aufgenommen wird. … In dem Knabenkopf steckt ein seltenes Compositionstalent, eine glühende Hingabe an die Kunst, die sich durchringt und durchkämpft, wie es eben nur der Genius vermag. … Hoheit haben Recht, er paßt nicht zum Missionar – dazu gehört der innere Trieb, die Concentration aller Geisteskräfte auf diesen einen Punkt, die ganze Energie der Seele, in der kein anderes Ideal leben darf – es wäre grausam gegen den Knaben selbst und ein Unrecht gegenüber der Kunst, wollte man ihn zwingen.“
Die Herzogin sah sie groß, mit unverhülltem Befremden an. „Sie haben mich total mißverstanden, Frau von Mainau,“ sagte sie sehr gemessen. „Meine Bemerkung galt der schlaffen Körperhaltung, der sichtlich kränklichen Constitution des Knaben, nicht aber seiner geistigen Befähigung, oder gar seiner Lust und Liebe zur Sache – da sage ich ganz entschieden ‚Er muß passen!‘ … Es thut mir wahrlich leid, daß es Frauenseelen giebt, die nicht der Ansicht sind, daß vor diesem heiligsten Lebenszweck jeder andere verschwinden muß. … Mögen aufrührerische Männerköpfe ihr Bischen Wissen, das sich doch zumeist auf falsche Schlüsse stützt, an die Stelle des Heiligsten setzen – es ist traurig genug, daß es geschehen darf – wir Frauen aber sollen deshalb doppelt beflissen sein, in Phalanx gegen dieses Vorstürmen zu stehen, indem wir festhalten am einzigen Heil, indem wir glauben und abermals glauben, und uns niemals verführen lassen, zu grübeln.“
„Hoheit, das heißt der Frauenwelt ihre Aufgabe allzu leicht machen; das heißt auch zugleich dem Aberglauben, dem Glauben an eine spukhafte Geisterwelt, an die Gewalt des Satans – wozu leider der Frauenkopf so leicht geneigt ist – Thür und Thor öffnen.“
Ein Geräusch von Stuhlrücken und verlegenem Räuspern wurde plötzlich laut, während die junge Frau, die eben gesprochen, sich ruhig und unbeweglich verhielt. Ihr gegenüber saß ihr Mann – seine Hand lag auf dem Tische und wiegte einen Kaffeelöffel auf dem Finger. Er hielt den Kopf vorgeneigt, wobei sein Blick unter den tief gesenkten Brauen hervor nicht einen Moment von dem zarterrötheten Gesicht wich, das sich ausschließlich der Herzogin zuwendete. Jetzt beim letzten Wort sah sie wie zufällig seitwärts – ihr Blick traf ihn so tödtlich kalt, als kenne sie ihn nicht. Eine jähe Gluth schoß über seine Wangen – er warf klirrend den Löffel hin, worüber die Herzogin lächelte.
„Nun, Baron Mainau, das regt Sie auf? … Wie denken Sie darüber?“ fragte sie mit schmeichelnd verlockender Stimme.
Seine Lippen verzogen sich in bitterem Spott. „Hoheit wissen sehr gut, daß die Frauen, die an Hexen und Gespenster glauben, etwas Verführerisches für uns haben,“ versetzte er in seinem frivolsten Ton. „Die Frau ist reizend in ihrer Hülflosigkeit und Furcht; wir ziehen sie, wie ein Kind, beschwichtigend in unsere Arme, und damit kommt – die Liebe.“ – Seine Augen verfinsterten sich und streiften durchbohrend seine Frau. – „Eine Pallas Athene dagegen haucht uns eisig an, wie die Gletscherjungfrau – wir wenden ihr den Rücken.“
War das dieselbe Frau, die am Hochzeitstage bleich und gespensterhaft wie der Todesengel an der einziehenden Braut vorübergebraust war? … Strahlender Triumph verklärte das schöne Gesicht und machte es wahrhaft hinreißend in seinem Ausdruck.
„Und Sie?“ neigte sie sich zu dem Hofprediger, der mit übereinandergeschlagenen Armen ihr gegenüber saß; er fuhr wie aus tiefem Nachsinnen empor – die Frau Herzogin berief alle ihre Heerschaaren, wie es schien, gegen diese junge Frau, die sich unterfing, selbstständig zu denken. „Haben Sie keine Waffen gegen den Antichrist in sanfter, weiblicher Gestalt?“ fragte sie fast scherzhaft.
„Hoheit werden die Gnade haben, sich zu erinnern, daß ich dergleichen Erörterungen am Kaffeetische nicht billige,“ versetzte [142] der Hofprediger streng und hart – er war plötzlich der allmächtige Beichtvater, der diese hochgeborene Seele unter der Faust hielt. „Lassen wir das Alles einstweilen dahingestellt sein und begnügen wir uns mit der Ueberzeugung, daß Frau von Mainau mit ihrem Ausspruch das Hereinragen einer übersinnlichen Welt in die Wirklichkeit sicher nicht leugnen will.“
Er wollte ihr abermals zu Hülfe kommen – sie brauchte einfach billigend das Haupt zu neigen, und der Kampf war beendet; aber damit mußte sie lügen und reichte dem Priester in der That die Fingerspitzen – zum zweiten Male wies sie heute seine rettende Hand zurück.
„Dieses Hineinragen einer übersinnlichen Welt in die Wirklichkeit leugne ich allerdings,“ sagte sie um etwas bebender Stimme – die neben ihr sitzende Hofdame rückte geräuschvoll von ihr weg. „Ich glaube nicht an die Wunder und himmlischen Visionen, wie sie die Kirche lehrt. Wollte der Allmächtige uns Boten aus dieser übersinnlichen Welt schicken, dann müßten sie auch ihre Spuren tragen – so aber haben die guten Engel ein schönes und das böse Princip ein verzerrtes, abstoßendes, aber immer menschliches Antlitz – die Flügel, die den Seraph herabtragen, und das häßliche Kennzeichen ‚des Bösen‘ sind der Thierwelt entlehnt, Himmel und Hölle erscheinen ausgeschmückt mit den Elementen, die unseren Erdball beleben und halten – wir können eben mit unseren Vorstellungen nicht über ihn hinaus, und nur in der originellen Auffassung alles Dessen, was uns umgiebt, sei es in Tönen, Bildern oder Worten, waltet unsere Phantasie.“
Ein secundenlanges tiefes, unheimliches Schweigen folgte auf die letzten Worte – die schöne Herzogin saß wie versteinert da, nur ihre Augen glitten in verzehrender Unruhe, fast angstvoll, zwischen Mainau und seiner jungen Frau hin und her. Er hatte vorhin klar genug ausgesprochen, daß ihn solch ein selbstständiges, mit kaltem Verstand forschendes weibliches Wesen anwidere – aber das dort war ja keine geharnischte Pallas Athene, sondern die lieblichste Mädchenerscheinung, die mit Herzklopfen und unter abwechselndem Erröthen und Blaßwerden der Macht der Ueberzeugung nachgab und sie in melodisch sanften Tönen aussprach. Seinen Gesichtsausdruck konnte die Fürstin nicht sehen, er hatte sich halb abgewendet – seine Haltung aber zeigte so vollständig die geringschätzende Ruhe und Blasirtheit, in die er sich meist hüllte, daß man hätte meinen mögen, er werde unter gleichgültigem Achselzucken auf jede Anrede spöttisch sagen: „Lasset sie doch reden – was geht’s mich an?“
„Sie stehen dem Standpunkte des strenggläubigen Christen so fern, gnädige Frau, daß ich auf eine Polemik hier an Ort und Stelle nicht eingehe, so gewiß ich auch des siegreichen Ausgangs auf meiner Seite bin, unterbrach der Hofprediger mit seiner tiefen, schönen, etwas verschleierten Stimme die momentane Stille – er mußte ihr antworten, sie hatte ihn dazu gezwungen. „Ich will Ihnen aber gewissermaßen Concessionen machen, indem ich den biblischen Standpunkt verlasse und Sie an einen der größten Dichter erinnere, der seinen grübelnden Helden sagen läßt: ‚Es giebt mehr Dinge zwischen Erd’ und Himmel, als Eure Schulweisheit sich träumen läßt.‘“
„Wohl wahr – doch ich verstehe darunter das geheimnißvolle Walten der Naturkräfte. Die meisten unserer Mitlebenden betrachten noch immer die Natur als etwas Selbstverständliches, über das sie nicht nachzudenken brauchen, weil sie es ja sehen, hören und begreifen können – daß aber eben dieses Sehen, Hören und Begreifen das Wunder ist, fällt ihnen nicht ein. Und nun dichtet man dem weisen Schöpfer willkürliche Eingriffe in seine ewigen Gesetze an, oft nur um winziger menschlicher Interessen willen, ja, die Kirche geht noch weiter – sie läßt untergeordnete Geister dieses vollendete Gewebe zerstörend durchbrechen, lediglich, um irgend ein Hirtenmädchen oder sonst eine einsame Seele von Gottes Dasein zu überzeugen, und nennt das ‚Wunder‘. Wie kläglich und theatralisch aufgeputzt erscheinen sie neben Gottes wirklichem Schaffen und Walten – ein ganzer Wolkenhimmel voll Engelsköpfe versinkt neben der treibenden Wunderkraft, die einen kleinen, bunten Blumenkelch aus der Erde steigen läßt. … Es ist wohl wahr, ‚Gott läßt sich nicht spotten‘ – er läßt sich nicht spotten in dem, was Eins ist mit ihm, in der Natur, und wie streng er unser Festhalten an ihr fordert, beweist er, indem er sie als Selbsträcherin auftreten läßt, wenn wir uns an ihr versündigen.“
Der Hofprediger sah ihr mit demselben Ausdrucke in das Gesicht, mit welchem er heute schon einmal angstvoll und flehend ihr zugerufen hatte: „Sie wüthen gegen sich selbst, gnädige Frau!“
„Und vergessen Sie ganz den Begründer Ihrer Kirche – Luther, der dem bösen, Gott gegenüber wirkenden Principe selbst einen Thron, eine Macht auf Erden eingeräumt hat, wie es zuvor nie besessen?“ sagte er wie beschwörend.
„Er würde in unserem Jahrhunderte nicht allein das Tintenfaß, sondern auch seine gewaltige Feder gegen diese Ausgeburt der menschlichen Phantasie richten –“
„Genug, genug!“ rief der Hofmarschall empört und streckte der jungen Frau Schweigen gebietend die Hand entgegen. „Hoheit, verzeihen Sie, daß Sie an meinem Tische dergleichen irreligiöse Auslassungen ertragen mußten,“ wandte er sich mit unheimlicher Ruhe zu der Herzogin. „Frau von Mainau hat die verlassene Stille im Rudisdorfer Schlosse ausgenutzt und Studien gemacht, die durch ihre Nüchternheit auf ihren Ursprung zurückführen – Studien bei Wasser und Brod.“
Die Herzogin erhob sich rasch – sie mußte; als Fürstin und Frau durfte sie nicht gestatten, daß es in ihrer Gegenwart zu einem ausgesprochenen Familienzerwürfnisse komme. „Gehen wir nun hinüber, Obst zu pflücken!“ sagte sie mit so heiterer Liebenswürdigkeit, als sei nichts vorgefallen. Sie setzte ihr Hütchen vorsichtig auf die Locken und ergriff ihren Sonnenschirm. „Wo mögen die Prinzen stecken? Ich höre und sehe nichts von ihnen, Herr Werther,“ sagte sie zu dem Prinzenerzieher, der sofort davon stob. … Den Hofprediger an ihre linke Seite winkend, legte sie ihre Hand auf den dargebotenen Arm Mainau’s – er führte sie, ohne noch einen Blick auf seine Frau zu werfen, nach den Plantagen – die Hofdame folgte schleunigst, und so stand Liane plötzlich, wie eine Geächtete, allein unter den Ahornbäumen.
„Fühlen Sie nichts, meine Gnädigste? – Sie haben heute das Genick gebrochen,“ sagte der Hofmarschall malitiös, während er langsam an ihr vorübergefahren wurde.
Nicht umsonst hat ein Gefühl tiefer Wehmuth aller Denkenden und Gebildeten Deutschlands bei der aus Ludwigsburg gekommenen Trauerkunde sich bemächtigt, daß David Friedrich Strauß dem schweren mit der Geduld des Weisen ertragenen Krankheitsleiden erlegen ist, das ihn seit ungefähr Jahresfrist ergriffen hatte. Der Verlust, der unserer deutschen Wissenschaft, unserer Literatur und unserem nationalen Leben durch den Heimgang dieses lichtspendenden Denkers, dieses großen Kämpfers und „Rufers im Streit“ bereitet wurde, ist ein unersetzlicher und es ziemt sich wohl, einen Rückblick auf den gewaltigen Umschwung im Reiche der Gedankenwelt zu werfen, der mit dem ersten plötzlichen Auftreten des nunmehr verstorbenen Apostels der freien Forschung begonnen hat.
Seit länger als einem Menschenalter (1835) war Strauß in Bezug auf die Erkenntniß des Christenthums der Lehrer der Gebildeten, wie das Aergerniß der kirchlichen Reaction und der Orthodoxie, und im Jahre 1863 wurde er auch der Schöpfer einer geschichtlichen Auffassung des Christenthums für’s allgemeine deutsche Volk. Weil er ein „Ganzer“ war und unvermittelt das Ergebniß seiner Forschung verkündete, hat er die Bedeutung eines Reformators und Vorkämpfers gewonnen, verehrt von Tausenden, die sich zum Kampfe gegen die Halben ihm angeschlossen, und gehaßt von Tausenden, welche durch ihn aus ihrer Gefühlsseligkeit aufgeschreckt wurden. Seit den „Wolfenbüttler Fragmenten“ und den theologischen Streitschriften Lessing’s hat kein Werk über Bibel und Christenthum eine Aufregung, [143] wie das „Leben Jesu“ von Strauß, hervorgebracht. Die vier starken Auflagen desselben von 1835 bis 1839, die spätere für die größern Massen unternommene Bearbeitung für das deutsche Volk und die Hunderte von Gegenschriften und Vertheidigungen, welche seitdem erschienen sind, beweisen hinlänglich, daß Strauß durch seine Beleuchtung der Grundlagen des Christenthums die Gebildeten wie das Volk aus der bewegungs- und prüfungslosen Glaubensseligkeit aufgerüttelt hat.
Der freisinnige Geschichtschreiber der neuesten Theologie (Schwarz) behauptet, daß mit dem Jahre 1835, in welchem das „Leben Jesu“ von Strauß zuerst erschienen war, die Geschichte der neuesten Theologie, der neuesten theologischen Entwickelung beginne. Allein diese
Anschauung ist eine zu einseitig theologische. Das Leben Jesu von Strauß bezeichnet eine neue Epoche nicht nur in der Theologie, sondern in unserer religiösen Erkenntniß überhaupt, einen Wendepunkt in unserer gesammten religiösen Cultur. Wie alle wahrhaft schöpferischen und reformirenden Gedanken wirkt es umstürzend und grundlegend zugleich, führt es eine Krise und einen neuen schöpferischen Boden herbei. Seine Zerstörung vieler Illusionen, seine Vernichtung aller Halbheiten, seine erschütternde Gewalt gegen alles gläubig hingenommene Unklare, seine kritische Zersetzung des urkundlichen christlichen Glaubens, alles Dies rief die Krise herbei und bezeichnet die verneinend wirkende Kraft. Allein der schöpferisch belebende Gedanke, die geschichtliche Seite des Christenthums zur Erkenntniß zu bringen, das religiöse Gemüthsleben mit seiner äußerlichen Weltanschauung, mit seiner Trennung von Gott und Welt und dem phantastischen Wunderglauben in geschichtliches Wissen umzusetzen, das ist seine positive, volksthümlich aufbauende Macht. Nach beiden Seiten hin hat Strauß umwälzend gewirkt.
Auf dem Gebiete der christlichen Erkenntniß giebt es wie in der Wissenschaft, in der Philosophie und in der Politik tief einschneidende Revolutionen, welche Schlußpunkte einer vorangegangenen und Anfangspunkte einer neuen Epoche bilden, alten Gährstoff in sich aufnehmen und neue Grundlagen entwickeln. Für unsere socialen Zustände und für unser politisches Staatsleben war eine solche Revolution im Jahre 1848; für unsern Glauben des Christenthums datirt die neue Aera von 1835, dem Erscheinen des Lebens Jesu von Strauß. Wenn jedoch unsere politische Revolution weniger schnell das Bewußtsein des deutschen Volkes durchdrungen hat, aus Gründen des politischen Unvermögens und wegen der deutschen Zerrissenheit zunächst unfruchtbar geblieben war, obgleich die Wirkungen selbst unter den nachfolgenden reactionären Gegenschlägen niemals wieder erloschen – so wirkte die durch Strauß hervorgerufene Revolution durch ein ganzes Menschenalter lebendig fort, hat jetzt selbst innerhalb der Kirche ihre kräftigen Blüthen getrieben und die Anschauung vom Christenthum mit der Gewalt des Geistes verbessert.
Die doppelte epochemachende Bewegung des Strauß’schen Werkes, die umstürzende und erzeugende Einwirkung, wurde durch geschichtliche Zustände der damaligen Zeit und die wissenschaftlichen Vorarbeiten hervorgerufen. Der Zustand der damaligen Theologie und die kirchliche Gährung im deutschen Volke, die Vorarbeiten aus der damals bereits ausgelebten Richtung von Hegel und das „Leben Jesu“ von Schleiermacher, verbunden mit der allgemein sich regenden Abneigung gegen Illusionen, gegen die Verirrungen der philosophischen Speculationen, dies Alles zusammen ermöglichte das umbildende Auftreten von Strauß und machte sein „Leben Jesu“ zu einer historischen Nothwendigkeit. Eine politische Revolution wird zur geschichtlichen Nothwendigkeit, wenn sie die zerstreut in der vorangegangenen Zeit liegenden Fortschrittsideen zusammenfaßt und zur Grundlage der Zukunft macht, und dasselbe ist mit einem epochemachenden Werke auf kirchlichem Gebiete der Fall. Das „Leben Jesu“ von Strauß ist die reife Frucht der Vorarbeiten; die Vergangenheit hat daran mitgearbeitet und wurde darin zum Abschlusse gebracht. Aber im Abschlusse wurde sie vervollständigt, zugespitzt und auf einen Grundgedanken zurückgeführt, und der Grundgedanke wurde sodann zum Boden für eine künftige Erkenntniß des Christenthums. In den Forschungen von Strauß laufen alle kritischen Gedanken des neunzehnten Jahrhunderts über Jesum zusammen; die Masse des einzeln Erforschten tritt hier zum Schrecken der Halben in geschlossener Reihe auf, verbunden mit einer Meisterschaft der Form, mit einer ästhetischen Vollendung und mit einer seltenen Herrschaft über den Stoff. „Das ‚Leben Jesu‘ steht da,“ sagt Schwarz, „mit der harten Gleichgültigkeit des Schicksals. Die Schlußrechnung in der Kritik der evangelischen Geschichte ist gezogen, und die Inventur lautet auf Bankerott.“
Strauß hat zu seinem Werke außer den vereinzelten Kritiken der theologischen Vorgänger noch vorzüglich die philosophischen Forschungen von Hegel und Schleiermacher verwendet. Im Jahre 1831 war er Repetent am theologischen Stifte in Tübingen, und als solcher ging er nach Berlin, um Schleiermacher’s Vorlesungen über das Leben Jesu zu hören. Die Vorlesungen dieses Denkers, mit seiner zersetzenden Zweifelsucht und dem combinirenden Scharfsinne, regten Strauß zu seinem „Leben Jesu“ an. Schleiermacher hatte aber bekanntlich noch immer eine theologische Scheu, mit dem alten Kirchenglauben und mit seinem Amte ganz zu brechen; er wollte das Ueberlieferte durch Vergeistigung weiterbilden, alte Bausteine zum Neubaue verwenden, ohne zu bedenken, daß er dadurch seinem Standpunkte untreu geworden, daß er sein System selbst durchbrochen. Durch solche theologische [144] Anwandlungen, die kirchlichen Dogmen bald zu bestreiten, bald über den menschlichen Kreis hinauszurücken, wurden Halbheiten erzeugt, welche viele Schüler des großen Mannes zur völligen Orthodoxie geführt. Es war der Punkt, der dem Scharfblicke und energievollen Wahrheitssinne des jungen Strauß nicht einleuchten wollte.
Schon im Jahre 1830 trat er gegen die nach kirchlichen Bedürfnissen zurecht gedrehten Auffassungen des Christenthums als ein Ganzer auf. Sein „Leben Jesu“ aber bekundete die größte Entschiedenheit, den glänzendsten Freimuth und die reinste Liebe zur Wahrheit. Die besten Köpfe der damaligen Zeit, wie Twesten, Nitzsch, Lücke, Umbreit, Dorner u. A., sind über das Vermitteln, über die Halbheit nicht hinausgekommen. Das Christenthum schien in die engen Mauern der rein theologischen Schulen gebannt, wo über die Echtheit der Evangelien, über Mythus und Geschichte in der Schulsprache gestritten wurde, und die Gebildeten unter den Laien späheten nach einem Manne aus, der, mit der Theologie und Philosophie vertraut, durch eine unerbittliche Kritik in den Stand gesetzt sei, die Nebel der Illusionen zu verscheuchen. Und dieser Mann erschien in dem damals (1835) siebenundzwanzigjährigen Magister Strauß, in dem Repetenten des theologischen Stifts zu Tübingen. Sein „Leben Jesu“ wurde ein Wetter, das in die „Versöhnung von Glauben und Wissen“, in die friedliche Vermittelung der Theologie hereingebrochen war; es wurde zur Brandfackel, in die Feste des kirchlichen Glaubens geschleudert; allmählich jedoch hat das Entsetzen und die Erschütterung aufgehört; das deutsche Volk hat sich mit der leidenschaftslosen objectiven Darstellung des Christenthums befreundet und dieselbe wie einen sich vollziehenden Naturproceß angesehen.
Was seit dreißig Jahren in religiöser Aufklärung des Volkes, in Förderung des Fortschrittes für das Verständniß der biblischen Urkunden geschehen ist, muß dem Werke von Strauß zugeschrieben werden, da der geniale Verfasser bis zu der letzten abweichenden Phase seines reichen Lebens an seinem Werke fortgearbeitet hatte. Seine „Streitschriften“ (drei Hefte), in denen er 1837 die Unzahl der Gegenschriften abfertigte und dabei das Leben Jesu noch schärfer entwickelte, seine 1840 bis 1841 herausgegebene „Christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwickelung und in ihrem Kampfe mit der modernen Wissenschaft“, seine , 1839 veröffentlichten „Charakteristiken und Kritiken“, namentlich aber sein neues, 1863 bearbeitetes „Leben Jesu für das deutsche Volk“, sind nur geistvolle Weiterarbeiten auf dem Gebiete der Evangelienkritik im Dienste eines Christenthums der Zukunft.
Was ist aber das Charakteristische dieses noch immer fortwirkenden Werkes, und was gab ihm jene Geschlossenheit und Gewalt auf alle Denkenden des Volks? Die Antwort würde lauten: Der feste Zusammenhang zwischen wahrer Philosophie und geschichtlicher Kritik, die nüchterne Scheidung zwischen dichterischem Mythus und Geschichte in den Evangelien und der wahrhaft religiöse Sinn, aus dem wahren Jesus der Geschichte und dem natürlichen und idealen Christus mit seiner Sittenlehre das Christenthum der Zukunft aufzubauen. Aus der Philosophie hat Strauß die Erkenntniß gewonnen, daß das Wirken Gottes in der Welt ein gesetzmäßiges sein muß, so daß für Wunder, für äußerliche Eingriffe in die Welt gar kein Raum sein kann. Aus dieser Weltbetrachtung kam der Antrieb für die geschichtliche Kritik. Die Urkunden des Christenthums, die Evangelien, werden bekanntlich von der Orthodoxie für übernatürliche Geschichte gehalten; der Rationalismus scheiterte mit seiner Beseitigung der Wunder durch natürliche Erklärung derselben; Strauß aber verwarf diese Beschränktheit und Halbheit und untersuchte, ob und wie weit die evangelischen Urkunden überhaupt auf geschichtlichem Grund und Boden stehen. Die gewissenhafte, voraussetzungslose Untersuchung dieser Frage führte ihn dazu, in den Evangelien Producte des mythenbildenden Volksgeistes zu sehen. Das Wunderhafte in den Erzählungen, die unauflöslichen Widersprüche zwischen den einzelnen Evangelisten, die chronologischen Räthsel und die thatsächlichen Ungenauigkeiten im Verhältniß zu den gleichzeitigen weltlichen Schriftstellern, dies Alles leitet auf die sagenhafte Dichtung, die Legende und den poetischen Mythus hin. Dazu kommt noch, daß für die Evangelien nur späte Zeugnisse vorhanden sind, die nicht über das Ende des zweiten Jahrhunderts hinaufreichen, und die offenkundige Thatsache, daß die wunderhaften Erzählungen des alten Testaments, die jüdischen Vorstellungen und Hoffnungen offenbar die mythische Fassung des Lebens Jesu erzeugten. Die Wunder des Moses, des Elia und die vorbildliche Redeweise des alten Testamentes offenbarten sich Strauß als die Anlässe und Grundfäden vieler evangelischen Geschichten, und dieser ungeschichtliche Grundzug, den man durch Mythus bezeichnet, dringt, wie er meint, bis in das Innerste der evangelischen Erzählungen.
Die glänzende Ausführung dieser Kritik, den ganzen zweiten Theil seines volksthümlichen Lebens Jesu bildend, die umfängliche Forschung über Entstehung und Ausbildung der sagenhaften Geschichte Jesu und das klare Ergebniß, daß die Geschichterzählungen der Evangelien nicht wirkliche Geschichte, sondern dichterisch gestaltete Mythen seien, bildet den Kern des Strauß’schen Werkes. Die unerbittliche Macht seiner Beweise, verbunden mit einer Meisterschaft und Plastik der Form, hat jene gewaltige Umwälzung in der Anschauung des Christenthums hervorgebracht, die noch immer fortwirkt. Eine Fluth von Gegenschriften, die fast eine ganze Bibliothek bilden, brach gegen Strauß herein, aber er blieb in seinen zahlreichen Streitschriften die Antworten nicht schuldig. Seinem Lehrer Steudel in Tübingen, seinem ersten Gegner, welcher ihm die wunderhafte Geschichtlichkeit der Evangelien schon daraus zu beweisen meinte, weil sonst „ein gekreuzigter Jude nicht die christliche Kirche gestiftet haben würde“, ruft Strauß zu: „Wenn wir die vielen Wunder in den Evangelien für wahr nehmen, so begreifen wir den anfänglichen Unglauben des Volkes nicht, und dann wäre die Kreuzigung ein Räthsel. Es wäre unbegreiflich, wie die Juden einen Mann, der Tausende durch ein Wunder gespeist, Blindgeborene und Gelähmte geheilt und Todte erweckt hat, kreuzigen lassen sollten. Nicht der zahlreichen mythischen Erzählungen wegen ist die Person Christi bedeutsam, vielmehr wegen der geistig fesselnden Macht seiner Persönlichkeit. Der Eckstein, auf welchem der Apostel Paulus das Christenthum erbauete, war blos Christus, nicht seine wunderhafte Geburt, das Wandeln auf dem Meere etc. Und mußte man nicht schon im alten Testament zum Mythus greifen? Wer wird die redende Eselin Bileam’s, die stillstehende Sonne Josua’s, das Leben Jona’s im Bauche des Walfisches für Geschichte nehmen?“
Strauß vertheidigte sich in den Streitschriften gegen die mannigfachen Angriffe und Vorwürfe der Gegner, wie er auch sonst die Schmähungen verachtete. Auf den Vorwurf, „daß sein Herz hart und daß ihm das Gefühl für den Gekreuzigten fehle, daß er mit Kaltblütigkeit den Gesalbten antaste, ohne daß seinem Auge eine Thräne der Wehmuth entquelle“, erwiderte er, daß er niemals den Geist der Wissenschaft verletzt, niemals den Ton der Frivolität und des Hohnes angeschlagen. „Ja,“ sagte er einmal, „ich hasse und verachte jenes andächtige, zerknirschte und angstvolle Reden in wissenschaftlichen Untersuchungen, welches auf jedem Schritte sich und den Leser mit dem Verluste der Seligkeit bedroht sieht. In wissenschaftlichen Dingen erhält der Geist sich frei, soll also auch freimüthig das Haupt erheben. Für die Wissenschaft existirt überhaupt kein Heiliges, sondern nur ein Wahres, dieses aber verlangt keine Weihrauchwolke der Andacht, sondern Klarheit des Denkens und Redens.“
Schon das alte „Leben Jesu“ in seiner tief gelehrten Form ist das geschichtliche Denkmal eines Wendepunktes in unserer Entwickelung, ein Bildungsbuch für strebsame junge Lehrer des Volkes. Die spätere Bearbeitung für das deutsche Volk, worin nur die Grundgedanken aus dem alten geblieben, die sonst aber ganz neu ist, hat für unser Volk eine reformatorische Bedeutung. Denn unsere Zeit mit ihren Bildungsverhältnissen, welche das Joch einer absoluten geistlichen Autorität nicht mehr tragen mag, die in den Lehren der Orthodoxen nur die theologische Zunft mit ihren Vorurtheilen sieht, will die Bibel mit ihrer Geschichte und Lehre selbst prüfen. Unsere Zeit will nicht einem papiernen Papst, dem Buchstaben der Bibel blindlings gehorchen. Das Volk sehnt sich nach einer Anleitung, um zu unterscheiden zwischen dem, was für alle Zeiten wahr und verbindlich, und dem, was nur in einstmaligen Zeitvorstellungen und Zeitverhältnissen begründet ist. Der Zweifel und das Denken ist auch in die untersten Schichten der Gesellschaft gedrungen und verlangt nach Aufschluß; es widerstrebt selbst schon vielen Ungeweckten, das Ueberlieferte in den Urkunden ohne allen Widerspruch hinzunehmen.
Es ist in dem Obigen zunächst nur die weltgeschichtliche [145] Haupt- und Grundthat in dem Leben des großen deutschen Denkers und Schriftstellers hervorgehoben, den unsere Zeit stets mit Stolz als einen ihrer leuchtendsten Sterne bezeichnet hat, dem selbst seine Gegner die makellose Reinheit der Gesinnung, die Ueberlegenheit einer hoch über alles Mittelmäßige hinausragenden Kraft, die unabweisbare Gewalt des tief in den Gang der Dinge greifenden Genius nicht absprechen konnten. Ein Gesammtbild seiner Persönlichkeit und seines ganzen Lebenswerks, seines arbeitsvollen, vielgestaltigen und vielseitigen Wirkens auf den verschiedensten Gebieten unserer Literatur, der er eine Reihe unsterblicher, nach Inhalt und Form vollendeter Meisterwerke gegeben, wird den Lesern der Gartenlaube nicht vorenthalten bleiben.
Der Kaiser von Deutschland verweigerte es, wie Zeitungen berichten, bei seinem Kranksein Arznei einzunehmen, und er wurde trotzdem gesund. Dies passirt übrigens noch jeden Tag sehr vielen anderen Kranken, welche den Muth haben, Arznei zu verschmähen. Solche Heilungen, bei welchen der Kranke von selbst gesund wird und die man früher einem besonderen „Arzte im Menschen“ zuschrieb, würden einen weit bessern Ruf genießen, als dies der Fall ist, wenn die Wiedergenesenden nicht viel zu zeitig volle Gesundheit beanspruchten und die vorher erkrankten Organe noch längere Zeit vorsichtig behandelten. Es müßte z. B. ein Reconvalescent, der von sogenannten Brustbeschwerden (Husten, Auswurf, Kurzathmigkeit etc.) heimgesucht wurde, noch längere Zeit alle Verstöße vermeiden, welche den Athmungsorganen schädlich werden könnten, wie: die Behinderung des Athmens (durch enge Kleidung, Uniform, Schnürleib, enge Halsbinden etc.), Einathmen kalter, rauher, unreiner (rauchiger und staubiger) Luft, zumal bei Nacht, besonders den schnellen Wechsel zwischen kalter und warmer Luft, Störungen im Blutlaufe durch Herz und Lungen, die sich hauptsächlich durch stärkeres Herzklopfen zu erkennen geben (wie anstrengende Bewegungen, vieles und lautes Sprechen, aufregende Getränke und Gemüthsbewegungen etc.). Eine große Gefahr für solche Reconvalescenten bergen aber vorzeitige Cur- und Badereisen, zumal in rauher Jahreszeit und ohne Respirator. Man beherzige ja, daß in der Wiedergenesungsperiode der Mensch für alle Schädlichkeiten leichter empfänglich ist und daß durch solche das frühere Leiden nicht nur sehr leicht zurückgerufen, sondern auch zu lebensgefährlicher Höhe gesteigert werden kann. Als eine Hauptregel möge sich deshalb jeder in der Wiedergenesung Begriffene merken, daß es nach dem Schwinden der Krankheitserscheinungen und selbst nach Eintritt des Wohlseinsgefühles doch noch längere oder kürzere Zeit bedarf, ehe dem erkrankten Organe, sowie überhaupt dem ganzen Körper eine angestrengte Thätigkeit, sei es auch in seinen Vergnügungen, zugemuthet werden darf.
Und warum erlangen denn nun Diejenigen, welche bei ihrem Kranksein Arzneien verschmähten, doch auch ihre Gesundheit wieder? Und warum werden denn überhaupt Kranke bei den allerverschiedenartigsten, vernünftigen und unvernünftigen Behandlungsweisen ebensowohl sehr gelehrter, wie auch sehr ungelehrter Heilkünstler doch gesund? Diese Fragen sind von der Wissenschaft durch Thatsachen ziemlich sicher zu beantworten. Jeder Krankheit liegt nämlich eine von der naturgemäßen abweichende Beschaffenheit irgend eines festen oder flüssigen Körperbestandtheiles zu Grunde. Leider sind diese sogenannten organischen oder materiellen (anatomischen) Störungen zur Zeit noch nicht bei allen Krankheiten, am wenigsten noch bei den sogenannten Nervenkrankheiten, ergründet. Es ziehen nun diese Abweichungen stets (ganz besonders bei fieberhaften Krankheiten) andere und zwar ganz bestimmte materielle Veränderungen nach sich, welche die ersteren entweder vollständig oder doch zum größten Theile aufheben und auf diese Weise die Krankheit heilen, oft sogar auch dann noch, wenn der kranke Theil durch unpassende Behandlung maltraitirt wird. Man bezeichnet diese ganz nach denselben im menschlichen Körper herrschenden physiologischen (chemisch-physikalischen) Gesetzen vor sich gehenden heilsamen Vorgänge als „Naturheilungsprocesse“. Ihnen ist die Heilung fast aller inneren Krankheiten zu verdanken; sie haben den Heilkünstlern und den sogenannten Heilmitteln den Ruf von Helfern in der Krankheitsnoth verschafft. Nicht immer freilich führen diese Processe zur Heilung; oft ziehen sie auch, zumal wenn sie in ihrem Verlaufe durch unpassende Eingriffe gestört werden, bleibende Veränderungen, sogenannte organische Fehler nach sich, wie z. B. die Herzentzündung der Grund zu unheilbaren Herzfehlern sein kann. Ja, manchmal veranlaßt ein solcher Proceß dadurch, daß er andere Organe in Mitleidenschaft zieht, einen tödtlichen Ausgang, wie dies z. B. die Entzündung der Hirnmasse thut, welche rings um einen sonst nicht tödtlichen Schlagflußherd (d. i. eine aus geborstenen Gefäßen in’s Gehirn ausgetretene größere oder kleinere Portion Blutes) entsteht.
Es dürfte nun wohl leicht zu begreifen sein, daß der gebildete Heilkünstler jene Naturheilungsprocesse, auf deren enorme Wichtigkeit vom Verfasser schon zu wiederholten Malen aufmerksam gemacht wurde und auf welche leider die Aerzte nicht genug Werth legen, nicht nur in ihrem Verlaufe genau kennen, sondern auch naturgemäß, das heißt durch richtiges diätetisches, den Lebens- und Gesundheitsbedingungen entsprechendes Verfahren zu unterstützen im Stande sein muß. Da nun aber bei den verschiedenen Krankheiten der Naturheilungsproceß ein ganz verschiedener sein, ja auch bei derselben Krankheit in mehrfacher und verschiedener Weise vor sich gehen kann, so muß der Arzt vor allen Dingen die ihm vorliegende Krankheit (das heißt die den Krankheitserscheinungen zu Grunde liegenden Gewebsveränderungen) zu erkennen (diagnosticiren) verstehen. Ohne die Fähigkeit, die vorhandene Krankheit sicher erkennen zu können, und ohne die Kenntniß vom Verlaufe der Krankheit, ganz besonders aber ihrer nachfolgenden Heilprocesse, ist ein wissenschaftlicher Heilkünstler gar nicht denkbar. Sicherlich wird der Arzt der Zukunft weit weniger gelehrt (das heißt mehr ein Mann der Heilkunst als der medicinischen Wissenschaft) und weniger in der Arzneimittellehre erfahren sein, als der Arzt der Jetztzeit, wohl aber wird er durch längeres Studium am Leichentische und am Krankenbette besser im Stande sein, die Krankheit sicher zu erkennen und sie durch richtige, auf Physiologie gegründete Unterstützung der ihr eigenthümlichen Naturheilprocesse zu heilen. Natürlich wird es auch Sache dieses ärztlichen Ratgebers sein, an der Hand der Gesundheitslehre (Hygieine) die Anleitung zum Verhüten der Krankheiten zu geben.
Von einem wissenschaftlich gebildeten Heilkünstler muß also durchaus verlangt werden, daß er in der Diagnostik (der Lehre von der Erkennung der Krankheiten) und in der pathologischen Anatomie (der Lehre von den der Krankheit zu Grunde liegenden Veränderungen) gehörig zu Hause sei. Dies ist aber nur dann möglich, wenn der Studirende, außer der Kenntniß des Baues vom gesunden menschlichen Körper (normalen Anatomie) und der Lebensvorgänge innerhalb desselben (Physiologie), jene beiden Wissenschaften an zahlreichen Leichen und Kranken, sowie unter gehöriger Anleitung gründlich studirt hat. Ob dies nun die sogenannten „Naturdoctors“ aus den verschiedenen Ständen bei ihrer Vorbildung zu lernen im Stande sein können, diese Frage kann sich der vorurtheilsfreie und denkende Leser wohl selbst beantworten.
Mögen einige Beispiele den Leser mit der Wichtigkeit und Schwierigkeit der Diagnostik bekannt machen. Diese besteht nicht etwa blos im Pulszählen und Zungebesehen, sondern verlangt ganz besonders große Uebung ins Behorchen (Auscultiren), Beklopfen (Percutiren), im mikroskopischen und chemischen Untersuchen, im Besichtigen innerer Theile mit sogenannten Spiegeln z. B. des Kehlkopfs, Mastdarms, des Auges, Ohres etc.), in Erforschung und Beurtheilung der Fieberhitze durch das Thermometer. – Bei dem Behorchen des Herzens werden nicht selten Geräusche gehört, welche in der Mehrzahl der Fälle auf ein sogenanntes organisches Herzleiden (Verengerung der Herzöffnungen, Nichtschließen der Herzklappen) hindeuten. Sie finden [146] sich nun aber nicht selten auch bei ganz gesundem Herzen, wie z. B. bei der Blutarmuth. Würde nun der Arzt diese Geräusche nicht richtig zu beurtheilen verstehen, so könnte er bei Verwechselung der Blutarmuth mit einem Herzfehler dem Kranken durch eine falsche (diätetische wie arzneiliche) Behandlung großen Schaden zufügen. – Beim Beklopfen des Brustkastens über den Lungenspitzen wird, wenn diese nicht ganz gesund sind, ein dumpfer Ton gehört, der aber aus ganz verschiedenartigen Zuständen des Lungengewebes entstehen und bei verschiedenartiger Fülle des Tones bestehen kann. Einen ungeübten Arzt könnte diese Dämpfung veranlassen, Lungenschwindsucht mit Lungenerweiterung zu verwechseln und eine ganz falsche Behandlung einzuschlagen. – Hieraus wird der denkende Leser entnehmen können, wie durchaus nöthig bei einer Krankheit eine genaue Untersuchung von Seiten eines in der Diagnostik erfahrenen Arztes ist und wie die Behandlung eines Kranken ohne eine solche Untersuchung, wohl gar nur brieflich, geradezu an’s Verbrecherische grenzt, da das Leben des Kranken dabei gefährdet sein kann. Wenn z. B. dem Arzte ein Kranker schreibt, daß er an Blutandrang nach dem Kopfe leide und von Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Schwindel, Ohrensausen, Krämpfen heimgesucht werde, so könnte ein Heilkünstler, der den Kranken nicht sieht und nicht weiß, daß diese Krankheitserscheinungen auch der Blutarmuth im Gehirne zukommen, den Kranken sehr schlimm zurichten, wie dies übrigens bei der Kaltwasserwirthschaft gar nicht selten der Fall ist.
Also nur wenn der Arzt den Verlauf kennt, welchen die Naturheilungsprocesse bei den verschiedenen Krankheiten zur Heilung einschlagen, wird er im Stande sein diese in richtiger Weise zu unterstützen. Bei dieser Krankheit verlangt nun aber der dieser Krankheit eigenthümliche Naturheilungsproceß seine ganz bestimmte Behandlung, und diese, wenn überhaupt eine solche erforderlich ist, braucht in den allermeisten Fällen nur eine diätetische, keine arzneiliche zu sein. Als oberstes Gesetz hierbei gilt: Der kranke Theil verlangt die äußerste Schonung und der kranke Körper neben milder Nahrung stets auch reine, mäßig warme Luft. Eine diätetische Behandlung zieht nun aber die verschiedenartigsten naturgemäßen Hülfsmittel in Gebrauch, wie: die Nahrung (mehr vegetabilische oder animalische, eiweiß- oder fettreiche etc.), die einzuathmende Luft (warme, kalte, trockene oder feuchte), Kälte oder Wärme (innerlich oder äußerlich angewendet, örtlich oder allgemein), Wasser (als kaltes oder warmes, als Getränk oder Bad), Ruhe und Bewegung (active oder passive). – Als Beweis diene: Bei der Lungenentzündung wird ein Stück des lufthaltigen Lungengewebes durch Austritt festwerdenden Stoffes (gerinnenden Faserstoffs) aus den mit Blut überfüllten Haargefäßchen luftleer (was nur mit Hülfe des Beklopfens und Behorchens der Lunge zu erkennen ist) und nur dann wieder gesund, d. h. zur Luftaufnahme wieder geschickt, wenn diese feste Masse durch den Naturheilungsproceß entfernt wird. Dies kommt aber dadurch zu Stande, daß diese feste Masse zuvörderst durch Zerweichen in eine dicke Flüssigkeit (den eiterigen sogenannten kritischen Auswurf bildend) verwandelt und sodann durch Aufsaugung und Aushusten entfernt wird. Würde hierbei der Arzt den Kranken zu warme und zu feuchte Luft einathmen lassen, dann zerflösse das Feste zu schnell und zerstörte durch Vereiterung das Lungengewebe. Würde im Gegentheil zu trockene und zu kalte Luft geathmet, dann wurde, das Zerfließen des Festen erschwert oder ganz verhindert und es bliebe das entzündete Lungenstück lange Zeit oder auch zeitlebens hart und zum Athmen untauglich.
Aus dem bis jetzt Gesagten wird der Leser hoffentlich ersehen haben, wie und warum Krankheiten ohne Anwendung von Arzneimitteln, nämlich durch den Naturheilungsproceß, heilen können, wie ferner bei Anwendung von falschen Arzneistoffen durch Störung des Naturheilprocesses die Krankheit gefährlicher verlaufen kann. Es wird ihm sodann wohl auch klar geworden sein, daß das Erkennen einer Krankheit keine Aufgabe für einen Curirlaien ist, selbst dann nicht, wenn derselbe sich einige halbverstandene medicinische Weisheit aus Büchern geholt hat, und daß die diätetische Behandlung von Krankheiten durchaus eine genaue Kenntniß nicht nur der Naturheilungsprocesse, sondern auch der Wirksamkeit der sogenannten diätetischen oder physiologischen Heilmittel erfordert. In welche Lebensgefahr demnach ein Kranker gerathen kann, der sich der Behandlung eines sich Naturarzt nennenden, unwissenden Laien unterwirft, oder der sich mit Geheimmitteln und ohne Untersuchung aus der Ferne brieflich curiren läßt, sollte von Verstandes wegen jedem nur halbwegs Gebildeten offenbar werden.
Fragt man, wie es kommt, daß eine Menge sonst ganz verständiger Leute bei ihrem Kranksein sich Raths bei Personen erholen, von denen sie doch mit Sicherheit wissen könnten, daß dieselben jedes wissenschaftlichen Urtheils entbehren und meist die verschiedenartigsten Krankheiten ganz nach derselben Schablone behandeln; daß sie Geheimmittel anwenden, aus deren plumper reclamenhafter Empfehlung sie schon merken könnten, daß der Verfertiger, meist ein in der Heilkunst ganz Unkundiger, auf Geldprellerei ausgeht; daß sie populär-medicinischen Schriften Vertrauen schenken, welche alle Krankheiten schnell und sicher zu beseitigen versprechen, und daß sie auf diese Weise den jetzigen blödsinnigen Heilunfug und verächtlichen Geheimmittelschwindel unterstützen: so läßt sich dies nur dadurch erklären, daß diese Personen sahen, wie bei den aufgezählten Mißbräuchen in der Heilkunst doch Krankheiten verschwinden. Nach der gegebenen Erklärung der Krankheitsheilung durch den Naturheilproceß dürfte nun aber wohl nachgewiesen sein, welchen unwesentlichen Antheil die erwähnten sogenannten Heilmittel an der Genesung des Kranken besitzen und wie man im Gegentheil berechtigt ist zu sagen, daß der Kranke nicht durch, sondern trotz derselben gesund geworden sei. Uebrigens ist es dem Naturheilungsprocesse auch zuzuschreiben, daß die Homöopathen ihren Nichtsen Heilkraft zuschreiben, und daß die Allopathen eine Unmasse von nichtsnutzigen Arzneistoffen besitzen, welche unter dem Namen „obsolete“ in die Rumpelkammer der Apotheke zurückgesetzt sind, ein Schicksal, welches den allermeisten unserer jetzigen Arzneistoffe in nicht zu langer Zeit ebenfalls bevorsteht.
Nun noch einige Worte über die „Curirfreiheit“ oder richtiger gesagt über die heutzutage florirende „Curirfrechheit“. Jedenfalls ist es die Aufgabe der Civilisation, den Menschen so frei wie nur möglich von jeder Art von Bevormundung und Einschränkung zu machen und ihm zur allergrößten Selbstständigkeit und Unabhängigkeit zu verhelfen. Dann muß aber auch der Mensch durch richtige Erziehung befähigt werden, von der Freiheit den richtigen Gebrauch machen zu können. Eine solche Erziehung läßt sich aber bei den in verkehrten Ansichten und Autoritätsglauben Aufgewachsenen nicht mehr mit Erfolg anwenden; sie muß schon in der ersten Jugend durch passenden, den Fortschritten der Wissenschaft und Moral entsprechenden Unterricht und mit einer verständigen Anleitung und Angewöhnung zur wahren Sittlichkeit beginnen. – Will man jedem Hans und Kunz zu curiren und mit giftigen Stoffen zu handeln erlauben, dann lasse man den Menschen aber auch in der Schule schon den nöthigen Unterricht in der Natur- und Gesundheitslehre geben, damit sie sich vor den oft äußerst gefährlichen Eingriffen jener Geheimmittelschwindler und Curirlaien zu schützen im Stande sind. Jedenfalls müßte, wie bei der Preßfreiheit gegen den Mißbrauch derselben ein Preßgesetz, so auch bei der Curirfreiheit ein Gesetz bestehen, nach welchem, wie in Amerika, Jeder, welcher sich mit Heilungen von Krankheiten abgiebt und dabei seinem kranken Mitmenschen offenbaren Schaden an seinem Leben und seiner Gesundheit zufügt, entschieden bestraft wird. Oder ist es nicht geradezu ein offenbarer Mord, wenn, was übrigens gar nicht so selten vorkommt, bei einem eingeklemmten Bruchschaden der ärztliche Berather ohne Untersuchung des Kranken und ohne Versuche, den Schaden zurückzubringen (was oft in wenigen Minuten Heilung veranlassen kann), innere Mittel oder irgend welchen Heilfirlefanz anwendet?
Um es kurz zu sagen: verständiger und urtheilsfähiger, besser und humaner, ja auch gesünder wird die Menschheit nur dann erst werden, wenn die richtige, auf Wissen und nicht auf Glauben gegründete Erziehung derselben nicht erst beim Erwachsenen, sondern schon beim Kinde, und zwar vom ersten Augenblicke seines Lebens an, durch besser gebildete Mütter, welche denken gelernt haben, eingeschlagen wird. Man bedenke doch nur, daß das seines Bewußtseins noch nicht mächtige Kind sehr leicht durch das Gesetz der Gewöhnung und Nachahmung, ebenso zum Bösen wie zum Guten, zum gedankenlosen blinden Glauben, wie zum Denken, ebenso zur Erbsünde [147] wie zu einer Erbtugend erzogen werden kann und daß ihm von Jugend auf die verschiedenartigsten Ideen und Gemüthsstimmungen der Art in das Gehirn einzupflanzen sind, daß es, wenn es erwachsen ist, meint, es seien ihm dieselben angeboren. Bevor aber unser Schulunterricht nicht mehr als jetzt für die Aufklärung thut, bevor sich nicht naturwissenschaftliches Wissen mehr Eingang in das tägliche Leben verschafft und Eigenthum des Volkes geworden ist, werden die Menschen auch nicht befähigt werden, von der Freiheit, sie mag betreffen was immer sie will, den richtigen Gebrauch machen zu können. Es wird aber sicherlich noch langer Zeit bedürfen, ehe die Erbtugend die große Mehrzahl der Menschen für die ganze volle Freiheit und für den Materialismus befähigt. Daß die jetzige Menschheit dieser Wohlthaten noch nicht würdig ist, dies beweist recht deutlich unser jetziges politisches Treiben, sowie der heftige Widerspruch, welchen heutzutage wissenschaftliche Thatsachen, die doch so segensreiche Wirkungen für das ganze menschliche Geschlecht haben könnten, erfahren, wenn sie gegen den Altgroßmutterwunderglauben verstoßen; es beweist dies auch die Theilnahmlosigkeit, welche die Gutsituirten den humanen Bestrebungen für Volksbildung und Volkswohl (Volksbildungsvereine, Kindergärten, Arbeiterwohnungen, Volksbäder etc.) gegenüber behaupten.
Nur durch die von aller Beeinflussung durch die Kirche befreite Schule (wenn sie nämlich so ist, wie sie sein soll) führt der Weg zur wahren Freiheit, zur edelsten Humanität, zur Volksgesundheit, zur Vernunft und reinsten Sittlichkeit.
Vor etwas mehr als zwei Jahren kam ein Engländer, mit Namen Oades, nach San Bernardino County im südlichen Theile des Staates Californien. Da er ein gebildeter, im Umgange liebenswürdiger und, wie es schien, bemittelter Mann war, so wurde er allgemein als ein schätzenswerther Zuwachs zu der spärlichen Bevölkerung betrachtet, als es verlautete, daß er in Temescal Township eine Farm angekauft und sich auf derselben niedergelassen habe. Im Januar 1873 heirathete er daselbst eine junge Wittwe von großer Schönheit, Frau Nanie Foreland, die ihm im darauffolgenden December ein Kind gebar. Herr und Frau Oades wurden von der ganzen Nachbarschaft als im höchsten Grade achtungswerth betrachtet.
Im Monate November 1873 erschien in der Stadt San Bernardino eine Frau mit drei Kindern – zwei Knaben und einem Mädchen –, die sich nach Oades’ Wohnsitz erkundigte und, nachdem sie ihn ausgefunden, sich dorthin begab. Seitdem wohnt sie dort.
Vor Kurzem wurde es bekannt, daß Oades und diese Frau in ehelicher Gemeinschaft zusammenlebten. Die Nachbarn, empört hierüber, verklagten Oades vor dem Criminalrichter Billings „wegen offenen Beiwohnens und Ehebruchs“. Die Verklagten erschienen vor dem Richter, legten ein vollgültiges Ehezeugniß vor und bewiesen durch dieses und andere authentische Urkunden, daß das Weib Oades’ Ehefrau ist, daß sie ihm vor etwa zwanzig Jahren in England gesetzlich angetraut wurde und dann mit ihm nach Neu-Seeland auswanderte, wo ihre Kinder geboren wurden. Natürlich wurden die Verklagten hierauf freigesprochen. Sie kehrten zu ihrer Farm zurück, und Oades fuhr fort, mit beiden Frauen zu leben wie früher.
Durch das Fehlschlagen dieses ersten Versuches nicht abgeschreckt, strengten die Nachbarn nunmehr eine zweite Klage vor demselben Richter an, und zwar diesmal gegen Herrn Oades und Gattin Nummer Zwei, die schöne Wittwe. In der Verhandlung dieses Processes wurde nachgewiesen, daß vor etwa acht Jahren Oades in Wellington County, Neu-Seeland, und zwar in einer Grenzansiedelung lebte, als die Maoris – ein Stamm von Eingeborenen in Frieden mit England – in die Ansiedelung einbrachen. Oades war gerade abwesend in Victoria und fand, als er zurückkehrte, seine Wohnstätte niedergebrannt und seine Familie spurlos verschwunden. Reste menschlicher Gebeine wurden unter den Ruinen aufgefunden, und diese Thatsache sowie weitere Indicien, die er während zweijähriger Nachforschungen ermittelte, drängten ihm nach und nach die Ueberzeugung auf, daß sein Weib und seine Kinder todt wären. Er vermochte es nicht länger, auf dem Schauplatze seines einstigen häuslichen Glückes, jetzt dem dunkeln Grabe desselben, zu verweilen, verließ deshalb Neu-Seeland und kam nach Californien.
Auf Grund dieser Thatsachen behauptet Oades, daß seine Heirath mit seiner zweiten Frau gültig sei, weil Paragraph Zwei der einundsechszigsten Abtheilung des Civilgesetzbuches sagt: „Die Ehe einer Person, die einen früheren Ehemann oder eine frühere Ehefrau am Leben hat, ist ungültig, ausgenommen jener frühere Mann oder jene frühere Frau wären abwesend, und die Person hätte nichts davon gewußt, daß sie innerhalb der der neuen Heirath vorhergehenden fünf aneinander folgenden Jahre gelebt hatte, in welchem Falle die neue Ehe blos ungültig wird von dem Zeitpunkte an, daß ein zuständiges Gericht die Nichtigkeit ausgesprochen hat.“ Eine genaue Prüfung des Gesetzes ergab, daß dieses Argument unbestreitbar war, da kein Zweifel herrschen konnte, daß, als Oades seine zweite Frau heirathete, er während mehr als fünf Jahren von der Existenz seines ersten Weibes nichts wußte. Die Klage wurde demnach abgewiesen.
Da Oades immer noch fortfuhr mit den beiden Frauen zu leben, so schickten die Nachbarn eine Deputation an Cokeman, den Staatsanwalt des Districts, um ihm die Sache vorzulegen. Dieser, nach ernstlicher Prüfung, unterbreitete den Fall der Großen Jury, die denn auch gegen Oades eine Anklage wegen Doppelehe beschloß.
Die vor Kurzem stattgehabte öffentliche Verhandlung des Falles zog natürlich eine ungewöhnliche Menschenmenge herbei, deren ganze Aufmerksamkeit auf die beiden Damen Oades gefesselt blieb. Dieselben Thatsachen wie früher wurden bewiesen, und nach dem Schlusse des Beweisverfahrens eröffnete der genannte Districtsanwalt die Anklage in einem geschickten und beredten Vortrage. Ohne demselben im Einzelnen zu folgen, müssen wir doch, um auch dem Leser ein Urtheil zu ermöglichen, sowohl über die Hauptfrage als auch über den Werth des Verfahrens, die Hauptsätze uns zu wiederholen gestatten. Das Gesetz muß nach seinem Geiste und seiner Absicht ausgelegt werden, und wo die Worte diesem widersprechen, da müssen sie gegen Geist und Absicht zurückstehen. Wo der Grund einer Gesetzesbestimmung fehlt, da kann letztere nicht zur Anwendung kommen. Wo derselbe Gesetzesgrund besteht, sollte die Entscheidung dieselbe sein. Wer nur dem Wortlaute folgt, bleibt blos in der Schale des Gesetzes haften.[1] Die klare Absicht des Gesetzes war, der Illegitimität der Kinder zweiter Ehe vorzubeugen, allein gewiß konnte es nicht die gewesen sein, Doppelehen gesetzlich zu machen. Zwar wußte Oades im Augenblicke des Eingehens der zweiten Ehe nichts von der Existenz seiner ersten Ehefrau, allein sein fortgesetztes Zusammenleben mit beiden Frauen, nachdem er dies erfahren, ist ausreichender Beweis seiner strafbaren Absicht von vornherein.
Der Vertheidiger des Beschuldigten bezog sich auf die Bestimmungen des Strafgesetzbuches über Doppelehe, die ausdrücklich vorschreiben, daß Niemand für schuldig erachtet werden soll, „dessen Ehemann oder Ehefrau fünf aufeinanderfolgende Jahre abwesend gewesen (vor Abschluß der zweiten Ehe), ohne daß deren Existenz ihm bekannt gewesen“. Er führte aus, daß die vom Districtsanwalte vertheidigte ausdehnende Auslegung in Strafsachen sehr gefährlich sei, und setzte den von ihm angeführten römischen Interpretationsregeln schlagende in den Worten entgegen: „Man muß sich an des Gesetzes Buchstaben halten.“ Zwar müsse die Absicht des Gesetzes entscheiden, allein die Worte seien der Beweis der Absicht, und wer den Gesetzestext verändere, der interpretire nicht mehr.
[148] Der gelehrte Richter entschied hierauf, daß, wie wünschenswerth es auch immer sein möge, den Angeschuldigten zu überführen, doch offenbar die Ansicht des Vertheidigers die richtige sei; er instruirte daher die Geschworenen, auf Nichtschuldig zu erkennen, was auch geschah. Zum dritten Male kehrte Oades triumphirend mit seinen zwei Frauen nach Hause zurück.
Wer jedoch glaubt, daß die Widersacher Oades’ nunmehr sich beruhigt hätten, der kennt die zähe, kein Opfer scheuende Ausdauer des Amerikaners, wenn er sein Recht verficht oder dem nach seiner Ansicht verletzten Gesetze Geltung verschaffen will, schlecht. Diejenigen Bürger, welche die Sittlichkeit der Gesellschaft für gefährdet ansahen, nahmen nunmehr alle die tüchtigsten Advocaten von San Bernardino an, um ein Mittel ausfindig zu machen, den „schrecklichen Scandal“ des Oades mit seinen zwei Frauen zu beseitigen. Die Rechtsgelehrten kamen zu der Ansicht, daß die einzige Weise, die zweite Ehe zu vernichten, die sei, nach § 2 Section 82 des Civilgesetzbuches zu verfahren, der die Nichtigkeit der zweiten Ehe vorschreibt, wenn zur Zeit ihrer Eingehung der frühere Gatte noch lebte. Allein da nach dem zweiten Paragraph der dreiundachtzigsten Section a. a. O. die Klage auf Vernichtung einer solchen Ehe nur von einem der Gatten zur zweiten Ehe oder von des Gatten Weib zur ersten Ehe angestrengt werden kann, so lag es auf der Hand, daß die Schwierigkeit in keiner Weise gehoben war, weil weder Oades noch eine seiner Frauen zum Anbringen der Klage willig waren.
Man hat sich nun mit den ausgezeichnetsten Advocaten von San Francisco und Sacramento in Verbindung gesetzt, auch an einen der Commissäre geschrieben, die mit der Abfassung des Civilgesetzbuches betraut waren, in der Zwischenzeit aber den Versuch gemacht, durch persönliche Einwirkung auf die betheiligten Parteien zum Ziele zu gelangen. Zu dem Ende wurde ein Herr Johann Howlet, auf den Rath der Advocaten, an Frau Oades Nr. 1 mit dem Auftrage abgeschickt, ihr die geeigneten Anerbietungen zu machen, um sie zur Klage auf Nichtigkeitserklärung der Ehe mit Frau Oades Nr. 2 zu bewegen. Man glaubte, daß sie, die durch die zweite Ehe Gekränkte, leicht dazu überredet werden könnte. Nach Ueberwindung bedeutender Schwierigkeiten und einiger Gefahr – Oades vertrieb ihn einmal mit dem Gewehre in der Hand – gelang es Howlet, sich mit Frau Oades Nr. 1, während Oades mit seiner zweiten Frau einen Spazierritt machte, eine Privatunterredung zu verschaffen. Sie erschien als eine sanfte, ängstliche Frau; allein es war unmöglich, sie zu einem Schritte in der Sache trotz eines Anerbietens von fünftausend Dollars zu bewegen. Sie äußerte, Oades habe geschworen, im Falle sie versuche, die zweite Ehe zu vernichten, wolle er sie halb todt schlagen und überdies nie mehr mit ihr leben; sie kenne Oades genug, um zu wissen, daß er Wort halten werde; sie mache sich nicht so viel aus den Schlägen, allein sie zöge es vor, sich den gegenwärtigen Verhältnissen anzubequemen, als Oades ganz zu verlieren, besonders da sie, einmal verheirathet, nicht zu einer andern Verbindung schreiten könne.
So kehrte denn Howlet ganz erfolglos zurück. Er wurde demnächst, nach stattgehabter Berathung mit Rechtsverständigen, mit demselben Vorschlage an die zweite Frau Oades abgesandt. Aber auch sie wollte nicht darein willigen. Wenn es irgend ein Mittel gäbe, sagte sie, Oades’ erste Ehe für ungültig zu erklären, so möchte sie sich bewegen lassen, Schritte zu thun, obwohl Frau Oades Nr. 1 ihr wenig Sorge mache, da sie bereits zu alt sei, um eine gefährliche Nebenbuhlerin zu sein; überdies wäre sie ihr im Hauswesen eine wesentliche Stütze; allein was den Antrag auf Ungültigkeitserklärung ihrer eigenen Ehe angehe, so solle man sich nur jede Mühe ersparen, da sie mit Oades vollständig zufrieden sei, selbst mit der Zugabe der ersten Frau und der Kinder derselben.
Nach Empfang dieses Bescheides wurde der Geistliche Kiggett, ein Mann, der eines großen und wohlverdienten Einflusses in der Gemeinde sich erfreut, entboten, um Oades selbst Vorstellungen zu machen. Letzterer empfing ihn freundlich, und verhandelte den Gegenstand mit großer Offenheit. In der Theorie, sagte er, sei er Anhänger der Einehe, und glaube, daß das Gesetz dem Manne nicht erlauben solle, mehr als eine Gattin zu haben; er stimme daher mit dem Geistlichen in der Verdammung der Gesetzescompilatoren, die Doppelehe erlaubten, überein. „Allein,“ fuhr er fort, „solche Fragen müssen denn doch zuletzt in jedem Staate so abgemacht werden, wie die Gesetzgeber in ihrer Weisheit vorgeschrieben hätten, da es jetzt ein in der Rechtslehre festgestellter Grundsatz sei, daß Rechte und Verpflichtungen blos aus einer Willenserklärung des Gesetzgebers entsprängen, daß alle die berühmtesten Juristen, einschließlich der New-Yorker und californischen Compilatoren, darin übereinstimmten, daß Recht ist, was die gesetzgebende Gewalt will; dies sei der Grundstein des bürgerlichen Gesetzbuches. Was die alte Idee eines natürlichen Rechtes betreffe, so sei dieselbe längst aufgegeben. Wenn etwas Derartiges bestehe, so wäre die Bestellung einer Commission von Compilatoren, um jedes Gesetz oder Recht in einem Codex zusammenzufassen, ebenso absurd gewesen, als wenn man ihnen aufgetragen hätte, Chemie oder Mathematik zu codificiren; es wäre dasselbe gewesen, als wolle man Principien abschaffen, die der Allmächtige eingesetzt, und an deren Stelle die seichten Meinungen unwissender und fehlbarer Menschen einschieben. Für seinen Theil mache er keinen Anspruch darauf, weiser oder tugendhafter zu sein als die Gesetze, und da diese ihm den Besitz zweier Frauen gestatteten, so beunruhige es sein Gewissen nicht, sie zu haben; keine seiner zwei Frauen wollte ihn aufgeben, und er könne, um die Wahrheit zu sagen, nicht gut ohne beide auskommen. Ueberdies, wenn eine der beiden Ehen für ungültig erklärt werden sollte, so müßte es die letzte sein, und wenn er für seine Person sich auch in den Verlust der alten Frau würde zu finden wissen, so würde ihn andererseits nichts auf der Welt dazu bewegen, sich von der zweiten zu trennen. Der ehrwürdige Herr verließ darauf, wie sich denken läßt, in großem und gerechtem Aerger das Haus, einem Aerger, der noch bedeutend zunahm, als er am nächsten Sonntage Oades – der stets ein sehr regelmäßiger Kirchenbesucher war – mit seinen zwei Frauen in seinem Pulte sitzen und wohlgefällig seiner Predigt zuhören sah.
Die Antwort des einen Gesetzbuchs-Compilators ist nun mittlerweile eingegangen, und sie ist so originell und zugleich charakteristisch amerikanisch, daß wir uns nicht enthalten können, sie im Wesentlichen wiederzugeben. Dieser vortreffliche Gesetzgeber ist der Ansicht, daß die ganze Sache sehr böse sei, allein daß er nicht einsehe, was gethan werden könne; die Commission, deren Mitglied er gewesen, sei nicht dafür verantwortlich; alles, was sie gethan, sei gewesen, das Gesetzbuch des ausgezeichneten Compilators David Dudley Field (der New-Yorker Codex) abzuschreiben; daß solches offenbar auch die Absicht der gesetzgebenden Versammlung gewesen, da, im Fall sie die Entwerfung eines neuen Codex beabsichtigt hätte, sie zu verständig gewesen, eine solche Arbeit seiner Commission anzuvertrauen; daß man ja gar nicht hätte erwarten können, daß eine Commission von drei Personen, die zu dem Ende weder besondere Ausbildung noch Erfahrung besessen, in zwei Jahren ein Werk vollenden könnte, zu dessen Erledigung der Kaiser Justinian es nöthig gefunden habe den großen Tribonian und noch siebenzehn der ersten Advocaten des ganzen römischen Reiches während vieler Jahre zu verwenden; ein Werk etc. Er, für seine Person habe nie den Anspruch erhoben ein großer Compilator von Gesetzbüchern zu sein, aber die Stelle wäre ihm angeboten worden mit einem guten Gehalt, und er habe sich nicht für berufen gehalten sie abzulehnen; es sei eine seiner Lebensregeln, nie auf den Grund seiner Nichtbefähigung etwas ihm Angebotenes abzulehnen, seine Befähigung oder Nichtbefähigung sei ja nur für diejenigen von Interesse, welche ihn verwendeten; trüge ihm Jemand auf, ein Piano oder eine Dampfmaschine zu erbauen – Aufgaben, denen er ebensowenig gewachsen sei, als dem Compiliren eines Gesetzbuches –, so würde er den Auftrag annehmen, immer vorausgesetzt, daß er mit einem festen Gehalte und nicht für das vollendete Werk bezahlt werde; seiner Ansicht nach wären seine zwei Collegen nicht befähigter, als er selbst, und die ganze Commission habe ihn stark an Pentaganel’s Meinung von den französischen Advocaten erinnert, dahin gehend: „In Betracht der Thatsache, daß das Gesetz dem wahren Innersten der Moral- und Naturphilosophie entnommen ist, wie könnten diese Narren es verstehn, die mit Philosophie sich weniger beschäftigt haben als meine Maulthiere!“
Diese Herzensergießung des ehrlichen Gesetzgebers fiel auf die Ohren der enragirten San Bernardiner Sittenwächter wie die [149] Antworten des gleichbefähigten weiland Candidaten Jobses auf die seiner gelehrten Examinatoren. Sie beschlossen nunmehr, zu versuchen, welchen Erfolg ein Ausspruch des souverainen Volkswillens haben möchte. Es wurde eine Massenversammlung ausgeschrieben, die denn auch von einer großen Menge von Bürgern aus San Bernardino, Los Angeles und sogar dem entfernten San Diego besucht war. Nach langem Hin- und Herreden einigte man sich in der Ansicht, das einzige Hülfsmittel sei, ein Gesuch um Vernichtung der letzten Ehe von Oades durch einen Gesetzesact an die Legislatur zu richten. Allein Oades, der anwesend war, erhob sich sofort und sagte, das ginge nicht, weil die zwanzigste Section des vierten Artikels der Californischen Verfassung ausdrücklich bestimme: „Die Legislatur soll nie eine Ehescheidung aussprechen.“ Da Oades die gedruckte Verfassung selbst vorlegte, so war natürlich kein Einwand mehr möglich. Es wurde demnächst der Vorschlag gemacht, die Legislatur darum anzugehen, eine Convention zur Abfassung einer neuen Constitution zu berufen, zu dem Ende, um die eine oder andere von Oades’ Ehen für ungültig zu erklären. Aber auch hier trat der stets schlagfertige Oades dazwischen, indem er die Verfassung der Vereinigten Staaten hervorzog, und aus derselben die zehnte Section des ersten Artikels vorlas, welche wörtlich bestimmt: „Kein Staat soll ein Gesetz erlassen, das die aus Contracten sich ergebenden Verpflichtungen antastet.“ Es wäre ein ausgemachter Satz, daß der Ehebund ein Contract sei, und deshalb könne keine irdische Macht ihn seines wohlbegründeten Rechts auf seine beiden Frauen berauben.
Wenn bis hierher das vollständig innerhalb der Gesetze sich bewegende Verfahren der Gegner von Oades’ ehelichen Verhältnissen unsern ganzen Beifall verdient, so bedauern wir hinzusetzen zu müssen, daß in dem zuletzt erwähnten Stadium in der Versammlung sich eine Stimme erhob, die zu Abhülfe auf eines jener Mittel hinzielte, wie sie nur zu oft die ersten Jahre unserer so schnell aufschießenden Pionieransiedelungen mit Blut und Verbrechen besudelten.
Das Schweigen, welches Oades’ Berufung auf die Verfassung der Vereinigten Staaten – das Buch, dem an Heiligkeit in der Schätzung der Amerikaner nur noch ein anderes, die Bibel, gleichsteht – folgte, wurde durch einen angesehenen Bürger von Los Angeles unterbrochen, der als das einfachste und wirksamste Mittel, der Schwierigkeit abzuhelfen, vorschlug, Oades zu hängen. „Dies,“ so setzte der freundliche Mann hinzu, „ist die gewöhnliche Weise, wie wir in Los Angeles derartige Angelegenheiten aus der Welt schaffen, und es ist stets unter allgemeinem Beifalle geschehen, außer einmal, wo man vielleicht etwas zu weit gegangen ist, indem man siebenzehn Chinesen durch den Strick in’s Jenseits beförderte.“ Dieser menschenfreundliche Wink schien der Massenversammlung so sehr zu gefallen, daß Oades plötzlich die Temperatur zu heiß und erstickend fand und sich entfernte, während der Los Angeles-Mann seine Ansicht näher begründete. Die Massenversammlung löste sich in Streit auf, denn die „Engelsstimme“ fand auch sehr entschiedene Widersacher, und Oades erreichte, nach einem scharfen Wettritte mit seinen Verfolgern, seine Wohnung, die er sofort verbarrikadirte. Er vertrieb seine Feinde mit einem Gewehre.
Nachdem sich die Menge zerstreut hatte, besuchte ein Zeitungsberichterstatter Herrn Oades. Er fand ihn bei Tische mit seinen beiden Frauen, Alle in bester Stimmung, und wurde freundlich zur Theilnahme eingeladen. Der Berichterstatter hatte eine lange und sehr interessante Unterredung mit Herrn Oades, so behauptete er wenigstens, allein höchst unglücklicher Weise hatte er am nächsten Morgen, als er seinen Bericht zu Papier bringen wollte, den Inhalt der Unterredung total vergessen. Er wußte nur noch, daß Oades ein capitalfideler Kerl – also darin verschieden vom Grafen Gleichen – sei, daß sie bis drei Uhr Nachts sich sehr vergnügt unterhalten und während dieser langen Zeit blos drei Flaschen Whiskey getrunken hätten. Oades’ Unterredungskunst und Whiskey hatten einen solch mächtigen Einfluß auf des Berichterstatters Geist, und dessen häusliches Glück auf sein Herz geübt, daß er steif und fest behauptet, die ganze Aufregung entstehe nur aus Eifersucht unter den Leuten von San Bernardino, einer alten Mormonenansiedelung, und aus bloßem Neide gegen Oades, den sie im Genusse einer Bevorzugung sehen, welche die Gesetze ihnen verweigern.
Dies war der Stand der Sache Mitte Januar 1874. Sobald ich Weiteres erfahre, werde ich Fortsetzung und Schluß dieser interessanten Ehegeschichte meinen Landsleuten in Deutschland mittheilen.
Bei uns giebt das Wetter bekanntlich ein ebenso beliebtes, wie verpöntes Gesprächsthema, und die meisten Unterhaltungen beginnen mit demselben. Das kommt daher, weil unsere Heimath sich mehr als andere Länder einer unberechenbaren, an Wechsel und Ueberraschungen reichen Witterung erfreut. Unberechenbar bleibt sie, als Resultat des Kampfes zweier Gegner, deren Streitkräfte wir nicht kennen, weil sie aus fernen Himmelsstrichen herkommen; wir können deshalb mit Gewißheit in keinem Falle vorhersehen, welcher von ihnen dem Andern für die nächste Zeit das Feld und die Oberherrschaft einräumen wird. In Ländern, wo es alle Tage zur selben Zeit ein Gewitter giebt, zu einer anderen Stunde ein bestimmter Wind sich erhebt, spricht man nicht vom Wetter, denn nur das Unbestimmbare regt uns auf, und nur in ungewissen Zeiten und Lagen werden die Propheten aufgesucht.
Jene beiden Gegner sind die Passatwinde der nördlichen Halbkugel, der vom Aequator nach dem Nordpol gerichtete Südwind, und der in entgegengesetzter Richtung wehende Nordwind. Seinem Entstehungsherde näher fließt der Aequatorialstrom ungehindert über den Rücken des Polarstroms hinweg, je mehr er sich aber unseren Breiten nähert, desto mehr senkt er sich und steigt in das Gebiet des letzteren hinab, so daß ein Kampf unvermeidlich wird, wobei Einer den Anderen aus seinem Bette zu verdrängen sucht. Die ursprünglich rein nördliche, respective südliche Richtung der beiden Winde wird durch die Erdumdrehung abgelenkt. Der Nordstrom kommt fortschreitend beständig in Breiten, die eine größere Umdrehungsgeschwindigkeit besitzen, als er selbst; er trifft deshalb zurückgeblieben in mehr nordöstlicher Richtung, der Südstrom wegen umgekehrten Verhältnisses von Südwesten her bei uns ein. Wir müssen uns diese beiden Winde ein wenig genauer ansehen, da sie und nicht die Hexen auf dem Blocksberg, wie man vor Zeiten glaubte, unser Wetter brauen. Der heiße Aequatorwind beladet sich, indem er sich über die großen Meeresbecken im Südwesten Europas hinabsenkt, dort stark mit Feuchtigkeit; er bringt uns warmes Wetter und läßt das Barometer sinken, weil diese warme und feuchte Luft leichter ist, als die kalte und trockene des Nordstroms, welche die Quecksilbersäule durch ihre Last in die Höhe gedrückt hatte. Wenn man sich einen Augenblick die Meridiane als Mauern vorstellt, die gegen den Pol spitz zusammenlaufen, so begreift man leichter, warum der Südwind in seinem schmaler werdenden Bette wie in lauter hohle Gassen hineinrast, während der Nordwind sich langsamer in sein immer breiter werdendes Bett ergießt. Dieser verschiedene Charakter der beiden herrschenden Winde unserer Heimath trägt viel dazu bei, daß die Natur im Herbste, wo letzterer die Oberhand gewinnt, wie Dove sagt, „langsam einschläft, um im Frühjahr fieberhaft zu erwachen.“
So oft nun diese beiden Winde ihre Richtung ändern und dabei aufeinandertreffen, giebt es in der Regel einen Niederschlag der Feuchtigkeit des Südwindes, im Sommer oft unter Begleitung von Donnerwetter, im Winter meist ohne dieses in Gestalt von Schnee. Der Schneefall bezeichnet deshalb in der Mehrzahl der Fälle den Wendepunkt der vielen kleinen Winter, die wir in jedem größeren durchzumachen haben; er erinnert uns, das Barometer zu befragen. Beim Beginne eines Schneegestöbers ist es, wenn nicht schon vorher niedrig stehend, in der Regel gefallen; steigt es nun während des Niederschlages allmählich, so ist zu erwarten, daß der Nordstrom die Oberhand [150]
Am Beichtstuhl.
Im Dome ist’s, im Schutz der heil’gen Mauern;
Am Beichtstuhl hingesunken kniet ein Weib,
– Der Priester zürnt – und wie in Fieberschauern
Durchzuckt es schmerzensvoll den jungen Leib.
Daß dich der Eif’rer in den Bann gethan!
Hast eines Ketzers Liebe du geduldet?
Ergriff dich selbst des Ketzerglaubens Wahn?
Dem Beicht’ger nur gestand’st du dein Verbrechen;
Unfehlbarkeit weiß Andrer Fehl zu rächen –
Schon schreitet starr der Priester aus dem Stuhl.
Umsonst erflehst Du seines Segens Spende,
Aus diesem Auge bricht kein Gnadenschein,
Des Priesters Hand winkt nur ein kaltes Nein!
Genug, o Weib! Hör’ auf, Dich zu erniedern!
Wenn Pfaffenhaß ein Menschenglück zertrat:
Der Gott der Liebe wird Dein Fleh’n erwidern
– Auch du, mein Volk, jahrhundertlang im Staube
Hast du gekniet vor röm’scher Tyrannei;
Der Kirche ward dein bestes Theil zum Raube –
Mach’ endlich dich von ihrem Joche frei!
Die Zwingburg Roms in raschem Siegeslauf!
Will man die alten Himmel uns verwehren,
So schließen wir uns neue Himmel auf.
gewinnen und der Schnee liegen bleiben werde, im anderen Falle giebt es Schmutzwetter. Der Gang der Winterwitterung ist bei uns in der Regel folgender. Während des Septembers und der ersten Hälfte des Octobers, im sogenannten Altweibersommer, hat uns Nordostwind anhaltend schönes, klares Wetter gebracht, in welchem freilich als erstes Zeichen des Winters bereits Reif auftrat. Im November kommt dann wieder der Südstrom zur Geltung und erzeugt im Zusammentreffen mit jenem die dicke, nebelige Luft, welche Jedermann verstimmt und in dazu neigenden Gemüthern sogar Selbstmordgedanken reifen soll. Setzt sich aber in dieser Zeit der Nordoststrom gehörig zur Wehre, so giebt es den ersten Schnee, der in der Regel in der zweiten Hälfte des Novembers fällt, indessen in seiner Ankunft so wenig pünktlich ist, daß der Volkswitz bei uns die unerfüllbaren Wünsche der Kinder auf „drei Tage vor dem ersten Schnee“ vertröstet. Es ist gewöhnlich ein so dichtes Gestöber, daß man kaum über die Straße sehen kann, wobei die großen Flocken wie Flaumfedern umherfliegen, und uns an das Volksmärchen erinnern, nach welchem Frau Holle dann ihre Betten ausschüttelt. Diese Auffassung mag sehr alt sein, denn schon Herodot kannte den Vergleich, bei dessen Mittheilung er bedächtig hinzusetzt, daß unter den Federn, die bei den Scythen die Luft verdunkeln, Schneeflocken zu verstehen seien.
Der erste Schnee bleibt selten liegen, aber nach seinem Hingange wiederholt sich dieses Scharmützel zu unseren Häuptern, das „Müllergeprügel“ wie der Volksmund es getauft hat, häufiger, und in der zweiten Hälfte des Decembers pflegt dann der Nordost dauernd die Herrschaft zu behaupten. Das Resultat seines Kampfes um den Thron deckt als weißer, flimmernder Prachtteppich den Boden. Wir freuen uns allemal, wenn dieser liegenbleibende Schnee vor dem Weihnachtsabend angekommen ist, denn wir haben immer noch so viel heidnisches Blut in den Adern, daß wir den Julblock nicht vergessen können, und das Wintersonnenwendefest auch gern mit winterlicher Decoration begehen, wenn auch immerhin aus der schneienden Frau Holle eine „Maria zum Schnee“ geworden, die in unzähligen Kirchen und Capellen verehrt wird. Es ist ein wunderbares Bild, wenn die Flocken ruhig herniederschweben und sich drunten anhäufen und in immer dickerer Schicht die Landschaft langsam einhüllen, uns das letzte darunter hervorblinkende Grün, sei es nun Fichte, Stechpalme oder Krauskohl, zur symbolischen Weihnachtspflanze heiligen, und den Boden für die himmelblauen Schatten bereiten, die in der Dämmerung mit dem gelbrothen Licht der erleuchteten Fenster so malerisch wetteifern. Wir abgestumpften Nordländer empfinden in der Mehrzahl den Reiz dieses Schauspieles nicht, aber der römische Dichter hat ihn festgehalten in jenem Epigramm, welches den Schneefall im Amphitheater schildert und beginnt:
„Sehet, wie dicht ein Vließ von geräuschlos fallendem Wasser
Sich auf des Kaisers Gesicht und auf den Busen ergießt.“
Zum großen Bedauern des Landmanns, der in dieser Decke den sichersten Schutz der schlummernden Keime des Bodens begrüßt, wird auch sie gewöhnlich im Januar noch einmal vom Südwinde aufgelöst; und erst im dritten Winter, „wenn die Tage anfangen zu langen“, tritt der Nordost, von kurzen Revolten unbehelligt, ein längeres Regiment an und häuft Schnee auf Schnee, ohne daß sein Fall einen Wetterwechsel in Aussicht stellte. Es ist die Zeit, wo der Kamin mit dem knisternden Feuer jene unwiderstehliche Anziehungskraft gewinnt, für welche uns Horaz empfänglich machen will, wenn er beginnt:
„Siehst du, wie dort im Glanze von hohem Schnee
Soracte steht, wie mühsam der schweren Last
Die Wälder fast erliegen und von
Schneidender Kälte die Flüsse starren?“
Wenn es in dieser Zeit bei mäßig verhülltem Himmel und ruhiger Luft spärlich schneit, dann ist die beste Gelegenheit da, sich mit den entzückenden Gestalten des Schnees bekannt zu machen. Man fängt die einzelnen Sternchen, die sich jetzt nicht mehr zu dichteren Flocken verbinden, auf dem Aermel eines dunkeln Ueberrockes oder auf einer Schiefertafel auf, welche aber beide vorher Lufttemperatur angenommen haben müssen. Man hat nur nöthig, den Athem etwas anzuhalten, um ohne Vergrößerungsglas Sternbildungen zu gewahren, deren Schönheit uns noch in der Zeichnung überrascht. Die Alten haben nichts von dem Wunder der Schneeflocke geahnt, aber auch den Meisten unter uns ist sie nur aus den Abbildungen physikalischer Werke bekannt, und doch geht selten ein Winter vorüber, in welchem uns nicht wiederholt Gelegenheit geboten würde, dieses wahrhaftige Wunder mit eigenen Augen zu schauen. Unser Johann Kepler, dessen Gedächtnißfeier wir vor zwei Jahren begingen, hat zu seinem offenkundigen Verdienste, das Geheimniß des Weltbaues ergründet zu haben, auch das heimlichere gefügt, seine Mitmenschen auf den herrlichen Bau der Schneeflocke zuerst aufmerksam gemacht zu haben. Zu Neujahr 1611 schenkte er seinem Freunde, dem kaiserlichen Geheimrathe Wackher von Wackhenfels, als Angebinde eine kleine Schrift über den sechseckigen Schnee. In der Einleitung dieser seltenen Neujahrskarte malt sich uns der sinnende, überall sein Empfinden in die Natur hineintragende Deutsche, wie er leibt und lebt, wenn er erzählt, wie er in Verlegenheit, für den philosophischen Freund, der so tief von der Nichtigkeit aller Dinge überzeugt sei, und so viel Forschungen über das Nichts angestellt, eine passende Neujahrsnichtigkeit ausfindig zu machen, und ärgerlich nichts zu finden, über eine Brücke gegangen sei, und wie dort hin und wieder frische Schneeflocken auf seine Kleider gefallen seien, alle sechseckig. „Siehe da! ein Ding kleiner als ein Tröpfchen und mit vollendeter Gestalt begabt, gewiß ein erwünschtes Angebinde für den Liebhaber des Nichts, und nicht weniger passend für den mathematischen Geber, der Nichts hat und Nichts empfängt.“ Der Crösus in der Welt des Geistes und Habenichts in der anderen spielt dabei in anmuthiger Weise mit dem Wörtchen Nix, welches in der lateinischen Abhandlung bald als ein niederdeutsches, bald als lateinisches Wort genommen wird und dann Schnee bedeutet.
Allein so viele Mathematiker und Physiker sich seither mit der Schneeflocke beschäftigt haben, das Geheimniß ihrer Bildung hat noch keiner ergründet. Wohl weiß man, daß alle Elemente derselben sechsseitige Säulchen sind – entweder lange dünne
[151][152] Nadeln oder zur breiteren sechsseitigen Platte verkürzt – und daß diese Theile sich stets unter Winkeln von sechszig, respective einhundertzwanzig Graden zu regelmäßigen sechs- (seltener drei-) theiligen Sternfiguren vereinigen, aber der Grund dieser Mannigfaltigkeiten ist noch von Niemandem ergründet worden. In der Regel sind die sechs Strahlen des Sternes beiderseits mit unter sechszig Graden angesetzten Seitenkrystallen verziert, aber in der Zahl und den Abständen und Verbindungen derselben herrscht die größte Abwechselung, da dem Grundgesetze genügt ist, wenn die Bildung der sechs Strahlen untereinander gleich ausfällt. Bald stehen die Seitenkrystalle in dichter Folge, und der Stern scheint aus sechs Federn zusammengesetzt, bald sind sie von kürzeren Fiedern unterbrochen und jeder Theil gleicht einem gezähnten Blatte, dann stehen sie wieder in größeren Abständen oder einzeln, verbinden und kreuzen sich endlich mit den entsprechenden Fiederchen des Nachbarstrahls. Sehr häufig ist auch ein kleinerer Stern wie eine erhabene Arbeit auf einen größeren aufgelegt, so daß die Mittelrippen im Relief hervortreten. Es giebt in der Natur nicht zum zweiten Male, und weder in der Pflanzen- noch in der Thierwelt eine so erschöpfende Variation einer einfachen Grundform, die so viel Eleganz mit so viel gesetzmäßiger Starrheit verbände. Scoresby, der berühmte Walfischfänger, hat sechsundneunzig Stück durchweg verschiedene und in sich vollendete Gestalten, eine immer schöner als die andere, abgebildet, und andere Beobachter haben mindestens noch ein zweites Hundert hinzufügt.
Kein anorganischer Stoff, dessen Krystallformen beobachtet sind, hat einen annähernden Formenreichthum aufzuweisen wie das Wasser, wenn die Kälte der in ihm schlummernden Gestaltungskraft zu Hülfe kommt und – ich möchte sagen – seine Gedanken festhält. Wer die Schneeflocke aufmerksam betrachtet, wird sich bald der Anschauung zuneigen, daß die anorganischen Körper doch nicht so ganz jener Zusammenwirkung innerer Kräfte ermangeln, die wir bei Pflanzen und Thieren als Seele bezeichnen, das heißt als jene unbekannte Kraft, welche das Entstehen, Gestalten, Wachsen und Sein des Individuums bedingt und mit ihm vergeht. Vergleicht man die Schneesterne gemeinschaftlicher Bildung, so findet man, daß sie alle einer und derselben oder einigen wenigen nahestehenden Formen angehören, während die des nächsten Tages vielleicht ganz und gar abweichend gebaut sind. Daraus läßt sich schließen, daß jede dieser Gestalten der genaue Ausdruck eines besonderen Mischungsverhältnisses von Feuchtigkeit, Bewegung, Druck, Temperatur, Belichtung, elektrischer Spannung und chemischer Mischung der Luft sein mag, das bei ihrer Bildung vorhanden war. Es ginge hier also umgekehrt zu, wie im Menschenleben nach astrologischen Ansichten: hier sollen die Sterne die Verhältnisse regeln, dort regeln die Verhältnisse den Stern. Wer weiß, ob die Schneeflocken für den durchdringenden Blick des Naturforschers nicht dereinst die Zeichenschrift werden, aus welcher er die Vorgänge und Zustände der höhern Luftregionen entziffert?
Ueber den vermuthlichen Bildungsvorgang des Schnees sind die Naturforscher nichts weniger als einig. So viel ist gewiß, daß der Schnee niemals, wie man mitunter liest, gefrorener Regen sein kann – den umgekehrten Fall beobachtet man im Gebirge häufig – sondern direct wie Reif und Rauhfrost aus dem Wasserdampfe der Luft abgeschieden wird, darin verschieden von Graupeln und Hagel, die zum Theil wenigstens aus gefrierendem Wasser geballt werden. In nordischen Ländern bemerkt man nicht selten, daß in Räumen, die mit sehr feuchter Luft gefüllt sind, z. B. in Ballsälen oder Viehställen, ein wirbelnder Schneefall entsteht, wenn die eiskalte Luft von draußen plötzlich Gelegenheit findet, stürmisch einzudringen.
In neuerer Zeit hat man Maschinen gebaut, welche künstliche Kälte für fabrikmäßigen Betrieb dadurch erzeugen, daß die Luft in ihnen auf engen Raum zusammengepreßt und, nachdem sie ihrer bei der Verdichtung freiwerdenden Wärme durch Wasserkühlung beraubt, wieder ausgedehnt wird. Wenn diese verdichtete Luft viel Feuchtigkeit enthält, so entsteht bei ihrer mit starker Wärmebindung verbundenen Ausdehnung eine dichte weiße Wasserdampfwolke, und wenn die Ausdehnung recht plötzlich geschieht, ein Schneeschauer. Wahrscheinlich wird man das künftig benutzen, um für die Bretter, die die Welt bedeuten, künstliche Schneegestöber zu erzeugen; indessen bei solchen improvisirten Schneefällen im Zimmer können sich keine regelmäßigen Schneerosetten bilden, dazu gehört gleichsam Bedacht und Ueberlegung. Der Vorgang ist vermuthlich ein zusammengesetzter und hat mehrere Bildungsstufen.
In sehr hohen und kalten Luftschichten nimmt der Wasserdampf im Sommer wie im Winter nicht selten die Form mikroskopischer sechsseitiger Säulchen und Plättchen an, die aber so staubklein sind, daß sie, unterstützt von ihrer Durchsichtigkeit, mit bloßem Auge gar nicht wahrgenommen werden können. Auf ihre Gegenwart zu gewissen Zeiten aber haben die Physiker seit vielen Jahren aus einigen optischen Erscheinungen – den großen Höfen um Sonne und Mond, Nebensonnen – mit eben der Sicherheit geschlossen, mit welcher wir bei Erscheinung eines Regenbogens schließen, daß sich, wo er erscheint, Wassertropfen in der Luft befinden. Arago hat sich daraus die öfter beobachtete Thatsache erklärt, daß es zuweilen einige Minuten bei völlig klarem Himmel regnen kann, wenn nämlich solche Krystallchen in Masse niedersinken und schmelzen. In nordischen Breiten bildet sich ein solcher unsichtbarer oder fast unsichtbarer Staubschnee auch in niedern Schichten der kalten und trockenen Atmosphäre, und macht, durch alle Ritzen der Kleider und Wohnungen dringend, den Aufenthalt sehr unbehaglich. Der spätere Präsident der Berliner Akademie Maupertuis, welcher im Jahre 1736 im nördlichen Lappland Gradmessungen anstellte, hat von den Belästigungen dieses unentfliehbaren Staubschnees Schilderungen hinterlassen, bei denen Einem das Herz im Leibe friert, wenn auch Einiges davon auf Rechnung des frostigen, zu Uebertreibungen geneigten Franzosen zu setzen sein mag. In unseren Breiten haben die französischen Luftschiffer Barral und Bixio bei ihrer Auffahrt am 27. Juli 1850 zum ersten Male eine solche Eisnadel-Wolke angetroffen und durchschifft. Sie bestand unten aus Wasserdampf, der unter den Gefrierpunkt abgekühlt war, ohne zu erstarren, und erst bei achtzehntausend Fuß Höhe, bei einer Temperatur von zehn Grad in Eisnadeln überging, die sie nicht sahen, aber die auf ihren Wangen ein sehr schneidendes Gefühl hervorbrachten. Wenn auf eine solche Eisnadelwolke ein feuchterer Luftstrom einfällt, so wird ein ähnlicher Vorgang in hoher Luft stattfinden, wie bei der Rauhfrostbildung auf der Erde. Der Wasserdampf wird sich in strahlig krystallinischer Form auf den Eisplättchen abscheiden, wenn die Einwirkung eine allmähliche ist.
Man kann sich durch ein zierliches Experiment ein Bild des Vorganges machen, wenn man gleiche Gewichtstheile Bittersalz, Wasser und Gummischleim mit geringem Glycerinzusatz warm auflösen läßt und mit einem Haarpinsel davon im warmen Zimmer auf weißes Papier streicht, als wenn man dasselbe dick lackiren wollte. Wirft man nun sogleich einige ganz kleine, vereinzelte Sandkörnchen auf die bestrichene Fläche, oder berührt sie hier und da mit einer Nadelspitze, so werden diese Eindrücke die Mittelpunkte einer aus vielen hundert Strahlen sonnenartig gebildeten Krystallisation, die immer weiter wächst, bis sich die einzelnen Rosetten begrenzen. So bereitetes Krystallpapier, welches bei Anwendung des giftigen Bleizuckers statt des Bittersalzes besondere Schönheit erlangt, kam bekanntlich vor einigen Jahren als Material für Visitenkarten vielfach in den Handel. Seine Darstellung lehrt uns, daß feste Körperchen in einer krystallisirenden Flüssigkeit leicht sternförmige Abscheidungen bewirken, allein das sechsseitige Plättchen des Staubschnees, welches wir zuweilen gewachsen im Centrum des Schneesternes erkennen können, wirkt entschiedener bestimmend auf den Ansatz des Wassers ein. Seine sechs Ecken oder Kanten wirken wie eben so viele Magnetpole, wie ein Grundriß, nach dem der fernere Bau auszuführen ist. In seinen Strahlungsachsen vergrößert sich das Gebilde allmählich und verliert, schwerer werdend, die Fähigkeit zu schweben, indem es, immer noch wachsend, herabsinkt. Wenn die Lufttemperatur in den untern Schichten ebenfalls niedrig ist, so gelangt das Sternchen unversehrt bis auf unsere Mütze, ist sie aber daselbst höher, so ballen die einzelnen Sternchen aus Gründen, die uns der nächste Aufsatz darlegen wird, zusammen.
Daß diese Erklärung wahrscheinlich die richtige ist, können wir daraus schließen, daß jene durch schwebende Eisnadeln hervorgebrachten optischen Erscheinungen bei starker Winterkälte [153] oftmals die Vorboten des nahen Schneefalles sind. Nach langen heiter-kalten Tagen sieht man am Ende des Februars hoch am Himmel ein zartes Federgewölk sich bilden, und am Abende erscheint der Mond mit einem Ringhofe umgeben. Das sind die ersten Zeichen von der Ankunft des „leichten Südländers“ da oben, den das Barometer bereits mit einem Fallen begrüßt, während die Wetterfahne auf dem Dache noch gar nichts merkt und immerfort Nordost anzeigt. Aber dann fängt es bald an zu schneien, und es wird wärmer.
Auch die einfache Erscheinung der Eiszapfen hat ihre Sonderbarkeiten. Zuerst könnte man fragen, wie das Schmelzwasser des Schnees frieren kann, wenn die Luft zum Thauen warm ist. Bei thauwarmer Luft werden die Eiszapfen nicht lange fortwachsen, desto mehr aber, wenn die Sonne warm auf den Schnee und den Kopf des Eiszapfens brennt, während das Thermometer im Schatten weit unter Null steht. Die Eiszapfen sind Kinder der strahlenden Wärme, obwohl sie nur hinter ihrem Rücken wachsen. Geben weitere Schneefälle abwechselnd neues Material zum Schmelzen, so können diese Zapfen zu erschreckender Größe fortwachsen, bis sie die Aeste der Bäume niederziehen und abbrechen. Es kann dann lebensgefährlich werden, im Walde spazieren zu gehen.
Eine meisterhafte Schilderung eines jener höchst unheimlichen Eiszapfenwinter, in welchem sich die Leute kaum mehr aus den Wohnungen getrauten, hat Stifter in der „Mappe des Urgroßvaters“ gegeben. Dabei tritt zuweilen eine Erscheinung ein, die dem Laien beim ersten Anblicke ein vollkommenes Räthsel zu sein scheint: die Bildung sichelförmig gekrümmter Eiszapfen an den Baumästen. Sie entstehen sehr einfach dadurch, daß die zunehmende Schwere des Eises die Baumäste immer tiefer herunterzieht und dadurch die Verlängerungsaxe der Zapfen aus ihrer ursprünglichen Richtung bringt.
Eine Erinnerung an David Friedrich Strauß. Es war im Jahr 1840, wenn ich nicht irre, als ich eines Abends das Hoftheater in Stuttgart besuchte. Es wurde „Don Carlos“ gegeben. Seidelmann spielte den Groß-Inquisitor, der dicke Maurer den Marquis Posa, der damalige erste Liebhaber, Moritz, den Don Carlos und Fräulein Stubenrauch, die intime „Freundin“ des verstorbenen Königs, die Königin. Die übrige Rollenbesetzung ist mir nicht mehr erinnerlich, thut auch nichts zur Sache.
Das Haus war gut besucht, und das Publicum folgte mit gespannter Aufmerksamkeit der sehr gewandten und größtentheils sehr gelungenen Darstellung. In einer der Zwischenpausen hörte ich hinter mir zwei Herren über die Vorzüge und Schwächen des Stückes ihre Ansichten austauschen. Des ganzen Gesprächs weiß ich mich nicht mehr zu entsinnen, und nur eine Bemerkung, die mich besonders frappirte, ist mir geblieben.
„Was ich besonders an dem Stücke auszusetzen habe,“ sagte einer der beiden Herren, „das ist die allzu scharf zugespitzte Scenirung. Es soll zwar die Scenenfolge, bei aller Natürlichkeit im Fortgang der Handlung, überraschen, aber sie muß immer verständlich bleiben und darf den Zuhörer nicht in die Nothwendigkeit versetzen, den Faden, der die Scenen unter einander verbindet, mühselig erst wieder aufzusuchen. Der Faden muß offen zu Tage liegen, und für die Zuschauer darf es, selbst vorübergehend, keine dunklen Momente in der Handlung geben. Andernfalls entsteht eine ganz ähnliche Wirkung wie bei einem geistreichen Gedanken, den Jemand äußert, der aber so fein zugeschliffen ist, daß der Zuhörer erst auf dem Umweg der Reflexion hinter die Pointe zu kommen vermag. Ein geistreiches Wort übt nur dann eine zündende Wirkung, wenn der Sinn blitzartig klar wird. Dem Sinn erst nachgrübeln müssen, das heißt den Blitz mit der Laterne suchen.“
Ich drehte mich um, um nach dem Sprecher zu sehen. Es war ein Mann von ungefähr dreißig Jahren, mit geistvollem Gesicht, blaß, mager, die blonden Haare hinter die Ohren zurückgestrichen. Ein Bekannter, der neben mir saß und bemerkte, wie scharf ich den Sprecher fixirte, neigte sich meinem Ohre zu und sagte flüsternd:
„Wissen Sie, wer dieser Herr ist?“
Ich verneinte es.
„Das ist der Doctor Strauß, der Verfasser vom ‚Leben Jesu‘.“
Begreiflicherweise sah ich mir nun den Mann ein zweites Mal an. Ich hatte zwar sein berühmtes Buch damals noch nicht gelesen – ich war zu jener Zeit noch ein blutjunger Bursche und kümmerte mich um alle anderen Dinge eher als um theologische Werke – aber dem Namen nach waren mir Buch und Autor gar wohl bekannt. War doch das „Leben Jesu“ wenige Jahre zuvor wie eine Bombe mitten in die gläubige Christenheit hineingefahren und hatte unter Theologen und Laien eine Wirkung geübt, wie kein anderes, das in unserem Jahrhunderte bisjetzt erschien. Auch galt von Strauß keineswegs der alte Spruch, daß Propheten im eigenen Lande nichts gelten. Strauß galt schon damals im Schwabenlande gar viel. Seine Landsleute, die Frommen nämlich, betrachteten ihn zwar als etwas wie den Antichrist, und nur die Welt der Denker und Gelehrten würdigte seine kühne und mit bewunderungswürdigem Scharfsinn ausgeführte That nach Verdienst; allein Freund und Feind, die geistig Unmündigen wie die Mündigen, schauten mit einer Art scheuer Ehrfurcht zu dem Manne auf, der gewagt hatte, was keiner vor ihm. Man wird also begreifen, wie sehr ich meinem Glückssterne dankte, daß er mich dem berühmten Manne in so unmittelbare Nähe gebracht hatte.
Später sah ich Strauß öfter und zwar in seiner Vaterstadt Ludwigsburg, wo ich mich Berufsgeschäfte halber längere Zeit aufzuhalten gezwungen war. Ich sage mit gutem Bedacht gezwungen, weil Ludwigsburg unter allen langweiligen Orten, die es in der Alten und Neuen Welt giebt, sicher der langweiligste ist, der daher Niemanden zum freiwilligen Aufenthalte reizt. Die Stadt macht den Eindruck eines Kleides, das für den Körper, den es bedecken soll, viel zu weit ist. Ludwigsburg ist eine Soldatenstadt wie Potsdam, nur in Taschenformat. Das bürgerliche Element ist daselbst nur sehr schwach vertreten. Die Stadt gleicht einem Lager, in welchem die Zelte zu Häusern erstarrt sind. Außer Militär sieht man in den breiten, mit der Größe der Häuser in schreiendem Verhältnisse stehenden Straßen zu gewissen Tagesstunden nicht einen einzigen Civilmenschen; die paar Tausend Einwohner, die nicht dem Militärstande angehören, verlieren sich in der weitläufigen Stadt über die Gebühr. Wie die Eltern unseres Strauß dazu gekommen sind, sich in dieser Einöde niederzulassen, weiß ich nicht. Ich erinnere mich nur, daß sie im sogenannten „Thal“ einen Kaufmannsladen hatten, in welchem sie Kaffee, Zucker, Specerei- und Schnittwaaren feil hielten. Sie waren wohlhabende Leute und verscheuchten durch ihr strenges Wesen oft die Kinder.
Seinen ersten Unterricht erhielt Strauß in seiner Vaterstadt. Es ist möglich, daß gerade die Langweiligkeit des Ortes, der Mangel an Zerstreuung der Entwickelung seines sinnenden Geistes günstig waren. Erst als er die lateinische Schule hinter sich hatte, kam er in das evangelische „Stift“ nach Blaubeuren und später an die Universität nach Tübingen.
Zur Zeit, als ich mit ihm seine Vaterstadt bewohnte, hatte Strauß, obgleich erst zweiunddreißig Jahre alt, schon eine reiche Geschichte hinter sich. Nicht nur hatte er außer seinem epochemachenden „Leben Jesu“, dessen erste Auflage im Jahre 1835 erschien, verschiedene andere bedeutende Werke publicirt, er war auch inzwischen Repetent in Tübingen, Professor in Maulbronn, Professor in Berlin und in Zürich gewesen. Zeitgenossen wissen sich des Spectakels zu erinnern, zu dem seine Berufung an die Hochschule der letzteren Stadt Anlaß gegeben hatte.
Während seines damaligen Aufenthalts in Ludwigsburg begegnete ich Strauß im dortigen Schloßgarten fast täglich. Er pflegte zwischen elf und zwölf Uhr, bevor er zum Mittagstisch ging, seinen Spaziergang zu machen. Er wählte dazu die abgelegensten Alleen, meist jene, welche im oberen Theile, gegen die Schorndorfer Straße zu, gelegen sind. Dort wandelte er, die Hände auf dem Rücken, den Blick sinnend vor sich auf den Boden geheftet, unter den schattigen Bäumen dahin. Für gewöhnlich lagerte auf seinem Gesichte ein starrer, man möchte fast sagen, eisiger Ernst. So etwa mag sich Schiller den Jüngling gedacht haben, der sich erkühnte, das Bild von Saïs zu enthüllen. Grüßte man ihn aber oder sprach man mit ihm, so verschwand der Ernst wie mit einem Zauberschlage, und man hatte ein von reinster Humanität durchgeistigtes, freundliches Menschenantlitz vor sich. Es ist mir nie ein Mensch vorgekommen, bei welchem solche Umwandlung so vollständig und so plötzlich gewesen wäre. Man denke sich eine nordische Winterlandschaft ohne alle Staffage und überhängt von Schneewolken, starr und regungslos. Plötzlich verwandelt sich die Scene, und man hat eine im Frühlingsschmucke prangende, von einer lachenden Sonne beschienene Landschaft des mittleren oder südlichen Europa vor sich. Nur dieses Bild vermag den Contrast wiederzugeben zwischen Strauß’ Zügen bei sinnendem Ernste und bei belebtem Gespräche.
Da ich, ohne ein Strauß zu sein, ebenfalls gern solche Spaziergänge aufsuchte, wo ich nach Möglichkeit ungestört war, so begegneten wir uns, wie schon erwähnt, ziemlich häufig im Schloßgarten. Ich hätte ihn für mein Leben gern angesprochen, enthielt mich dessen aber aus Besorgniß, zudringlich zu erscheinen.
Ich erinnere mich sehr gut noch der Worte, die ich zwei Jahre früher während eines kurzen Aufenthalts in Aarau von Heinrich Zschokke gehört hatte.
„Sie glauben nicht,“ sagte er einmal, „was ein Mensch, dessen Name in der Welt einigermaßen bekannt ist, von gewissen Besuchern auszustehen hat. Von der besten Arbeit soll man aufstehen und sich angaffen lassen, wie sich Riesen und Zwerge und Kälber mit zwei Köpfen müssen begucken lassen. Und wenn sie sich nur mit dem Ansehen begnügten! Aber da soll man auch noch reden und die plumpesten und albernsten Complimente anhören! Und was haben diese Muskitos unter den Touristen von ihren Besuchen, die sie Einem machen? Weiter nichts als ein Mensch, der in eine Bibliothek kommt, aber kein Buch aufmachen darf; er sieht nichts als – Buchbinderarbeit.“
Diese Worte prägten sich meinem Gedächtnisse tief ein, und ich hütete mich seit jener Zeit fast ängstlich, mich an berühmte Leute hinanzudrängen. obgleich ich dazu in meinem bewegten Leben vielfach Gelegenheit gehabt hätte. Auch bei Strauß hielt mich diese Scheu zurück. Mein Wunsch sollte aber doch, ohne daß ich es absichtlich herbeiführte, befriedigt werden.
Einmal, es war der erste schöne Tag nach mehrtägigem Regenwetter, ging ich wieder im Schloßgarten spazieren. Das Gras und das Laubwerk, vom Regen förmlich abgewaschen und von Staub gereinigt, prangte im frischesten Grün. Es war einer jener Auferstehungstage, wo man, vor lauter Freude am Dasein, die ganze Welt an sein Herz drücken möchte. Ich nahm mir auch vor, mich für den mehrtägigen unfreiwilligen Verzicht auf den gewohnten Spaziergang durch eine um so ausgiebigere Promenade zu entschädigen. Der Boden freilich war nicht sehr einladend dazu. Der Regen hatte die Wege ganz durchweicht. An einigen vertieften Stellen [154] hatten sich breite Pfützen gebildet, die schwer zu passiren waren. An einer der breitesten derselben angekommen, überlegte ich eben, ob ich umkehren oder aber den Versuch machen solle, das Terrainhinderniß durch einen kühnen Sprung zu überwinden, als ich eine Stimme neben mir höre:
„Hindurchgehen, oder Nichthindurchgehen, das ist hier die Frage, nicht wahr?“
Ich wende mich rasch um und sehe Dr. Strauß vor mir, der, ohne daß sich es bemerkt hatte, hinter mir drein gekommen war, nun lächelnd den Hut zog und mit komischer Geberde auf die Pfütze wies.
„Sie haben ganz Recht,“ entgegnete ich, den Gruß erwidernd, „eine ähnliche Frage habe ich mir in diesem Augenblicke wirklich gestellt, wenn ich dabei auch nicht, wie Sie es thaten, an den berühmten Monolog des Hamlet dachte.“
Damit war die Bekanntschaft gemacht und das Gespräch eingeleitet. Da Strauß keine Lust bezeigte, seine Geschicklichkeit im Voltigiren zu erproben, so kehrte ich mit ihm um, und wir setzten Seite an Seite unsern Spaziergang auf gangbareren Wegen fort. Unterwegs erwähnte er, daß er zwar nicht wisse, wer ich sei und wie ich heiße, daß er mich aber vom häufigen Begegnen gar wohl kenne und daß dies ihn auch entschuldigen müsse, wenn er sich erlaubt habe, mich auf so vertrauliche Weise anzureden.
Ich entgegnete, daß mir seine Ansprache sehr willkommen sei, weil sie mir Gelegenheit gebe, einen längst genährten Wunsch zu verwirklichen, nämlich den, ihn persönlich kennen zu lernen, denn ich wisse wohl, daß ich in seiner Person den berühmten Verfasser des „Leben Jesu“ vor mir sehe.
Er erröthete wie ein schüchternes Mädchen und versetzte: „Sagen Sie lieber berüchtigt, so wenigstens pflegen meine fanatischen Gegner sich auszudrücken.“ Er ließ sich im Verlaufe des Gesprächs noch weiter über sein Buch aus und that es mit großer Bescheidenheit.
„Ich leugne nicht,“ bemerkte er, „daß ich mir sagte, der verwegene Riß, den ich in langgewohnte, liebgewordene, allem Zweifel entrückte Anschauungen that, werde Aufsehen machen und mir viele Feinde zuziehen. Ich war mir auch bewußt, meine Behauptungen durch alle Beweismittel, welche die Wissenschaft an die Hand giebt, erhärtet zu haben; ich hatte die Arbeit mit allem Eifer eines feurigen, von einer starken Ueberzeugung durchdrungenen Gemüthes unternommen, dennoch ging der Erfolg weit über meine Erwartungen hinaus. Ich müßte sehr eigenliebig sein, wollte ich mir einbilden, Andere hätten das Buch nicht ebenfalls und vielleicht weit besser machen können, als ich. Ich weiß auch, daß ich keineswegs etwas absolut Neues sagte, daß gar Mancher meine Ansichten über die Natur Christi theilte. Mein Verdienst, wenn man mir ein solches zuerkennen will, beruht darin, daß ich auszusprechen wagte, was Andere nur dachten.“
Zu einem anderen Thema übergehend, fragte er mich, woher ich ihn kenne. Ich erzählte ihm nun, wie ich ihn im Theater in Stuttgart zuerst gesehen, wie ich seinen Ausstellungen über „Don Carlos“ gelauscht und wie ich namentlich von der Aeußerung frappirt gewesen sei, daß man die Pointe eines geistreichen Wortes nicht erst durch Reflexion zu finden gezwungen werden dürfe, weil dies so viel hieße, als den Blitz mit der Laterne suchen.
„Sie haben ein treueres Gedächtniß als ich,“ entgegnete er lachend. „Ich erinnere mich wohl jener Aufführung des ‚Don Carlos‘, ich erinnere mich auch, daß ich Dies und Jenes über diesem Drama sagte, aber speciell jenes Ausspruches von Blitz und Laterne, der nichts weniger als ein treffendes Bild ist, kann ich mich nicht mehr entsinnen.“
Von diesem Tage an verkehrte ich mit dem Philosophen noch öfter, aber nie in seinem Hause, sondern nur ab und zu bei zufälligem Begegnen im Schloßgarten. Ein Gespräch in’s Besondere steht noch lebhaft in meiner Erinnerung. Es hatte die Eigenschaften der Materie und die ideale und reale Welt zum Gegenstand, worüber ich vielleicht später berichten werde.
Portraitirung der Deutschen. Aus Neapel schickt uns ein dort wohnender Landsmann nachfolgende Mittheilung.
In einem vor Kurzem veröffentlichten Buche von E. Reich, „Der Mensch und die Seele“ (Berlin, Nicolai’sche Verlagsbuchhandlung) ist Folgendes zu lesen: „Ob der Deutsche ohne die Knechtschaft, welche die kleinen Zaunkönige über ihn ausübten, ohne das übermäßige Biersaufen und Tabakqualmen ‚phlegmatisch‘ geworden wäre? Kaum; denn die weintrinkenden Rheinländer, obgleich richtigere Deutsche, als die Brandenburger und Pommern, sind nicht nur nicht phlegmatisch, sondern geradezu sanguinisch. Im Großen und Ganzen aber, und so wie die Dinge heutzutage liegen, wird man berechtigt sein, die deutsche Nation eine phlegmatische zu nennen, und zum Theil eine phlegmatisch-melancholische.“
Hierauf bringt der Verfasser ein längeres Citat von Carus über die Deutschen, „theilweise ein Posaunenconcert von Selbstlob und Weihrauch der Selbstverherrlichung,“ und fährt dann fort:
„Der Deutsche ist ein fleißiger Arbeiter, aber der Engländer, Franzose, Italiener etc. nicht minder, der Deutsche hat Mancherlei erfunden, aber jede der anderen Nationen nicht minder. Der Deutsche ist voll von Mißtrauen, der Engländer und Franzose ohne Mißtrauen; der Deutsche ist gut und redlich, aber die anderen Nationen sind desgleichen. Unter allen Völkern giebt es Schurken, und in Deutschland lebt dieses Geschlecht gleichfalls und in allen Schichten, nur zuweilen verkappter, als anderswo; der Deutsche ist vielfach der Theologie verfallen, gleich dem Engländer, aber der Franzose und der Italiener drehen der Theologie eine Nase. Der Deutsche ist deshalb nicht revolutionär, weil sein Herr es nicht erlaubt. Gelehrig sind Pudel und Menschen, und wenn der Deutsche in Gelehrigkeit den Vorrang zu behaupten sich bestrebt, so thut er dies auf Grund der Thatsache, daß an seinen geistigen Abrichtungsanstalten ehedem die Patente der Weisheit öffentlich gegen gleich baare Zahlung verkauft wurden. Der Deutsche lehrt meistens Doctrinen und lernt, anstatt die Tugenden, die Laster anderer Völker. Das Ganze können in jeder Nation, sei diese chinesisch, englisch, deutsch oder französisch, immer nur sehr wenige Auserlesene denken, und der große Haufe der deutschen Hochgelehrten zeichnet sich dadurch aus, daß er das Ganze nicht nur nicht hell, sondern gar nicht denken kann.
Wißbegierde und Scharfsinn findet man auch in O-Tahiti, und die Welt wäre zu beklagen, wenn nur die Deutschen Wißbegierde und Scharfsinn gepachtet hätten. Unter allen Völkern der Gegenwart hat der Deutsche die höchste Meinung von sich selbst, besonders seitdem er die Dänen, Oesterreicher und Franzosen beseitigt; die Titel- und Ordenssucht der Deutschen ist weit größer, als die anderer Völker, und nirgends wird der Mensch so sehr nach seinem äußeren Rang beurtheilt, als in Deutschland. Wo Barbarei in Deutschland vorkommt, nimmt sie entweder feine Formen an, wie im Norden, oder sie nimmt rüpelhafte Formen an, wie im Süden; in Nachahmung, Verleumdung, Neid, Verkleinerung leistet der Deutsche Großes, dürfte aber diese Eigenschaften in dem Maße ablegen, in welchem die Einigung und Borussificirung seines Vaterlandes vorwärts schreitet. Die Deutschen haben fast gar keinen Gemeinsinn und sind nicht im Stande, für gemeinnützige Dinge im Geheimen Opfer zu bringen, große Ideen und Unternehmungen zu protegiren; sie überlassen dies ihren Herren, und diese – schicken das Geld in die Bank von England und lassen die Gelehrten, Künstler etc. verhungern.“
So weit Herr Reich. Es steckt in der That etwas von Bedientenhaftigkeit im deutschen Charakter! Nachdem die Franzosen mit großem Geschrei die in den Tuilerien aufgefundenen deutschen Bettelbriefe publicirt haben, veranstaltet man hier eine deutsche Ausgabe derselben mit illustrirenden Randbemerkungen. Keine andere Nation wäre fähig, sich mit solchem Behagen selbst an den Pranger zu stellen.
Auf vorstehenden Passus des Reich’schen Buches machte ein Italiener den Einsender Dieses triumphirend aufmerksam, konnte sich jedoch nicht enthalten, zu bemerken, daß, wenn ein Italiener so über seine Nation schriebe, er öffentlich durchgeprügelt würde.
Noch eine Bitte an Eisenbahndirectionen. Auf den obscursten Bahnhöfen im lieben Deutschland sieht man jetzt zeigende Hände und Tafeln mit den ortsüblichen Inschriften: Brunnen, Pumpe etc. Wie wohlthätig ist dies, was man jahrelang unbegreiflicher Weise entbehrte, entbehren mußte wegen Sorglosigkeit und Inhumanität mancher Bahnverwaltungen! Dankbar ruft mancher Vorbeifahrende wohl aus:
„Das hat mit ihrem Artikel
Die Gartenlaube gethan!“
Diese könnte noch etwas thun, da es fast ebenso unbegreiflich lässig und inhuman ist, die Fahrpläne dem Publicum überhaupt nicht oder nicht lesbar auszuhängen.
Wie man nach Baltimore und Odessa kommt, das ist breit auf allen Corridoren und Wartesälen angeschlagen – aber die Nachbarstation?
Selbst auf königlichen Bahnen sah ich oft neben dem Billetschalter den Befehl: „Das Bahngeld abgezählt bereit zu halten!“ Wie aber, wenn weder Plan noch Taxe irgendwo zu lesen ist? In irgend einem Winkel des Flurs hängt ein abgelaufener und unlesbar gemachter Plan, dessen Ziffern gar nicht zu entziffern sind. Wie wäre es, wenn Befehl erlassen würde, neben jedem Billetschalter in angemessener Entfernung von Zugwind und Gepäckträgercarambolage einen auffallend eingerahmten Fahrplan der eigenen Bahn wenigstens anzubringen? Geschieht dies unter einer starken Glasplatte, so ist der Beschädigung auch besser vorgebeugt. Die einzelnen Stationen selbst müßten auf den verschiedenen Plänen nebst Abfahrtszeiten farbig unterstrichen werden.
Erwerben Sie sich durch Besprechung dieser Angelegenheit neue Verdienste um die reisende Menschheit, der von Reichswegen Manches jetzt zugestanden werden kann!
Ein ägyptisches Wunder. „Mose hob den Stab auf und schlug in’s Wasser und alles Wasser im Strome ward in Blut verwandelt.“ 2. Buch Mose, Cap. 7, V. 20.
Nahe bei Kahla in Thüringen findet man auf dem Grunde eines Teiches zur Zeit einige quadratellengroße rothaussehende Stellen, während das sie umgebende, ein bis zwei Ellen tiefe Wasser völlig klar ist. Werden die auf dem Boden befindlichen Pflanzen (Sumpfschachtelhalm) mit einem Stocke in Bewegung gebracht, so steigen alsbald rothe Wolken im Wasser empor, die sich ausbreiten und der Wassermenge ringsum rasch eine rosenrothe Färbung verleihen. Ein Tropfen dieses röthlich gefärbten Wassers zeigt unter dem Mikroskop Tausende von länglich-runden blaßröthlichen Infusorien, die noch nicht ganz die Größe der Blutkörperchen haben und sich schwimmend fortbewegen.
Bleibt derartiges Wasser einige Zeit in einem Glase stehen, und haben sich die mikroskopischen Thierchen, wie es bald geschieht, an irgend einem Pflanzenreste oder Schlammtheilchen angesammelt, dann erscheinen sie unter dem Mikroskop in der Dichtigkeit der Blutkörperchen im Blut.
Berichtigung. Zu dem in der vorigen Nummer unseres Blattes mitgetheilten Liede, „Abschied“ von Hoffmann von Fallersleben, haben wir berichtigend hinzuzufügen, daß dasselbe, wie uns von mehreren Seiten geschrieben wird, bereits vor Jahren in dem Capellmeister Herrn Wilhelm Tschirch in Gera seinen Componisten gefunden hat und in dieser Composition schon in mehrere Liedersammlungen übergegangen ist. Die irrthümliche Mittheilung, daß Hoffmann’s „Abschied“ noch nicht componirt worden, machten wir auf Grund einer Zuschrift des Einsenders jenes Liedes.
- ↑ Da dieser Fall auch für deutsche Rechtsgelehrte von Interesse sein dürfte, so will ich die Interpretationsregeln des römischen Rechts, wie sie vom Districtsanwalte citirt wurden, kurz hier anführen: „Cessante ratione legis, cessat lex ipsa. – Ubi eadem ratio, ibi idem jus. – Qui haeret in litera, haeret in cortice.“