Aus dem Leben eines deutschen Vorkämpfers
Als im Februar 1874 alle dem Gedankenkampfe der Zeit nicht abgewendeten Kreise von der Kunde erschüttert wurden, daß David Friedrich Strauß nicht mehr unter den Lebenden sei, hatte die „Gartenlaube“ sofort ihren Lesern die Hauptthat des verewigten Zeitgenossen zu charakterisiren gesucht und Weiteres über sein Leben und Wirken für fernere Darlegungen sich vorbehalten. Seitdem ist die Redaction vielfach durch Zuschriften aus dem Publicum an dieses Versprechen erinnert worden, es geschah aber nicht ohne Absicht, wenn der Verfasser des hier folgenden Charakterbildes, zwischen dem Vorsatze und seiner Ausführung eine längere Frist verstreichen ließ, da er von kundigen Freunden des Verstorbenen noch manche genauere Aufschlüsse über denselben erwartete, die inzwischen denn auch zur Genüge dargeboten wurden.
Um Strauß und die geschichtliche Bedeutung seiner ersten Wirkungen zu verstehen, muß man vor Allem scharf den Charakter der Zeit in’s Auge fassen, aus der er hervorgewachsen ist. Es war dies jene Zeit, wo der sogenannte patriarchalische Absolutismus, dieser metternichisch-bundestägliche Fürsten-, Adels- und Kastenstaat, mit eiserner Gewalt auf Deutschland lag, wo er soeben wieder einmal neu aufflammende Regungen des erwachenden Volkszornes, sowie einer freier aufstrebenden Literatur niedergeworfen hatte und nun von Neuem alle seine Kraft zusammenballte zur Einschüchterung, Entnervung und Herabdrückung des gefürchteten Volksgeistes.
Die Absicht wurde erreicht, ein Grabesschweigen herrschte auf deutschem Boden, aber nur Eines konnte von den selbstsüchtigen Gewalthabern nicht ausgelöscht und todtgeschlagen [737] werden: das warme Lebenslicht der deutschen Forschung. Von der Oberfläche verscheucht, arbeitete der Gedanke mit um so größerer Inbrunst auf den tiefer liegenden Gebieten der ernsten Wissenschaft, und erzeugte hier eine jugendfrische, von neuen Standpunkten des Denkens, neuen Methoden des Prüfens ausgehende Bewegung, die weithin die Seelen in ihre Kreise zog und die Keime einer Empörung in sich trug wider alle Knechtschaft und Unterdrückung. Ein Geist des Widerspruches war in den Reihen der Denkenden erwacht, aber er befand sich noch im Zustande der Verschwommenheit, des unklaren Zusammenhanges mit den despotischen Mächten, von denen er sich losringen wollte. Vergegenwärtigen wir uns jetzt das
Regen dieser merkwürdigen Dreißiger Jahre, so müssen wir uns sagen: überdeckt von unerträglichen Zuständen gährte in ihrem Schooße das Feuer eines großen Umschwunges der Gedanken, sie waren jedoch noch von einem Zittern beherrscht vor der Gefährlichkeit ihrer eigenen und nächsten Folgerungen. Die Zeit war ideen- und bewegungsschwanger, aber es fehlte ihr der selbstvertrauende Muth, und gleichsam unbewußt harrte sie eines Wortes, das den einschnürenden Zauber lösen, einer That, welche dem dunklen Drange nach Befreiung seine Ziele weisen sollte. Dieses Wort hat Strauß gesprochen, diese That hat er 1835 in seinem „Leben Jesu“ vollzogen.
Wer dieses Buch niemals in der Hand gehabt, möge sich keine irrige Vorstellung von demselben machen. Es ist keine Spur einer publicistischen Absicht, eines Angriffes auf bestehende Einrichtungen des Staates oder der Kirche darin; es ist eine streng gelehrte, streng nur innerhalb der gelehrten Forschungsinteressen sich bewegende Arbeit. Auch das Leben Jesu erzählt es nicht, sondern unterwirft nur die biblischen Erzählungen und Mittheilungen über dieses Leben einer erneuerten Besichtigung und Prüfung. Unbefriedigt und abgestoßen von den gezwungenen und abgeschmackten, oft sogar recht heuchlerischen Deutungen der damaligen Rationalisten, die sich unablässig bemühten, die in jenen Berichten enthaltenen Wundergeschichten als natürliche Vorgänge zu erklären, war Strauß durch seine Untersuchungen zu einem ganz anderen Einblick, einer ganz anderen Erkenntniß gekommen: er entdeckte, daß wir es in jenen evangelischen Erzählungen gar nicht mit Geschichtsurkunden aus der Zeit und Umgebung Jesu zu thun haben, überhaupt nicht mit Geschichtsbüchern im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Nicht Erzählungen wirklicher Ereignisse, thatsächlich so geschehener Vorgänge seien uns in diesen neutestamentlichen Schriften überliefert, sondern nur Erzeugnisse der dichtenden Volksseele, Aufzeichnungen der Vorstellungen, Sagen und Mythen, wie sie im Bewußtsein der urchristlichen Gemeinden über die Person, die Erscheinung und den Tod ihres Stifters allmählich sich gebildet hatten, und wie sie von den Verfassern der vier Evangelien bereits in der Gemeinde vorgefunden und aus der mündlichen Ueberlieferung in gutem Glauben aufgenommen wurden. Daraus erklärt Strauß das Wunderhafte und Uebernatürliche dieser Geschichten, daraus auch ihre vielfachen unlösbaren Widersprüche, ihr durchgreifendes Abweichen von allen bekannten Gesetzen natürlichen Geschehens, daher ihre so genaue Uebereinstimmung mit jenen Prophezeiungen des Alten Testaments, in denen das zukünftige Erscheinen des Messias verkündigt und im Voraus beschrieben wird.
Der Gedanke, welcher dieser Betrachtungsweise zu Grunde lag, war an sich selber kein neuer; er lag gleichsam in der [738] Luft der Zeit; die jungen Richtungen der Alterthumsforschung hatten ihn schon zu lichtvoller Geltung gebracht in Bezug auf die wunderhaften Geschichts- und Religionsbücher der altclassischen Völker und zum Theil auch des Alten Testamentes. An die neutestamentlichen Erzählungen von der Geburt, dem Leben, dem Tode Jesu aber, von seinen Wunderthaten, seiner Auferstehung und Himmelfahrt hatte sich eine solche historische Kritik noch nicht mit durchgreifendem Blicke herangewagt; es war das noch ein ganz apartes, mit eigens dafür geschliffener Brille angesehenes Bereich von Geschichten, an dem zwar endlos herumgedeutelt wurde, von dem eine ungläubige Frivolität vornehm sich abwendete, das ein befangener Freisinn der verständigen Auffassung möglichst annehmbar zu machen suchte, dessen Ursprung und Entstehungsart jedoch bis zu Strauß kein Deuter entziffert, von dem noch kein bisheriger Erklärer gesagt hatte: gewiß, hier ist ein heiliger Boden, aber der heilige Boden religiösen Anschauens, menschlichen Dichtens, ein erhabenes Phantasiegebilde des erlösungsbedürftigen Menschengemüths. Nicht ein von Einzelnen willkürlich erfundenes und gemachtes, sondern ein dem Volksgeiste entsprossenes Gebilde, eine poesievolle Wiederspiegelung der Lebensgeschichte und des Bildes Jesu, wie es lange nach seinem Tode die begeisterte Gemeinde sich gedacht und, den kindlichen Begriffen jener Zeit gemäß, reich mit Wunderkräften und überweltlichen Vorgängen, mit aller Verherrlichung einer anbetungsbedürftigen Liebe ausgestattet hatte.
Das hatte Strauß gesagt, und von Bedeutung schon wäre es gewesen, wenn das Aufleuchten dieser einfachen, jetzt den Gebildeten so geläufigen und doch damals so neuen Entdeckung nur in einer kurzen und schlagenden Gedankenfolge sich angekündigt hätte. Strauß aber war nicht mit einer hingeworfenen Behauptung aufgetreten, er bewies seine Auffassung, bewies sie mit unbeugsamer und unwiderstehlicher Consequenz, und es war natürlich, daß er damit tief hineingreifen mußte nicht blos in das Gedankenleben, sondern auch in die wirklichen Verhältnisse einer noch halb traumhaften, aber zu Entscheidungen sich spitzenden, des Erweckungsrufes gewärtigen Epoche. Die Folgen ergaben sich von selber, ohne daß er sie beabsichtigt und berechnet hatte. Auf der Unantastbarkeit der evangelischen Berichte ruhte ja die Autorität des sogenannten „positiven“ Kirchenglaubens, auf diesem Glauben die gebietende Macht der Priester- und Theologenkirche. Aus der Kirche aber und ihren von oben her decretirten, den Gewissen aufgenöthigten Glaubenssätzen hatte wiederum der absolutistische Polizeistaat sich eine Art geistiger Unterlage zurecht gemacht, aus der er sein „Recht“ herleitete, kraft deren er als „göttliche und von Gott so gewollte Ordnung“ sich hinstellte, und jeden Widerspruch oder Widerstand gegen sich als Empörung wider Gott und sein „Wort“ bezeichnete.
Es war eine fest in sich verschlungene und geschlossene Kette gegenseitig sich helfender und ergänzender Bedrückungen zum Vortheile einzelner Personen und Stände, ein System, das nicht blos äußerlich das Volk regierte, sondern dessen Geist auch durch die Erziehung den Geschlechtern in die Seelen geimpft wurde, so daß sein Einfluß mehr oder weniger auch die Gewohnheiten der Menschen bestimmte, mehr oder weniger auch die Klarheit ihres Blickes trübte, mehr oder weniger als eine lähmende und hemmende Schranke auch vor dem denkenden Erkennen der Beherrschten stand. Von Strauß ist diese Schranke durchbrochen worden. Absehend von allem Herumzerren an den fühl- und sichtbaren Folgerungen der hergebrachten Regierungweise, war er bis zu dem Kern derselben, bis zu den geschriebenen Grundlagen der Staatsreligion, des Glaubens an übermenschliche Einsetzungen und Offenbarungen vorgedrungen, hatte er diese Grundlagen als eine Glaubensdichtung nachgewiesen – als eine Glaubensdichtung, die zwar eine der tiefsten und ehrwürdigsten Blüthen der Vorzeit sei, die zwar große und erhabene Lehren, ewig gültige Wahrheiten in sich trage, deren sagenhafte Einkleidungen, Vorstellungen und Mittheilungen aber nur der Geschichte der Mythologie, der Religionsgeschichte an einem bestimmten Punkte ihrer Entwickelung angehören und nicht mehr bestimmend und begrenzend sein können für das Denken, Forschen und Leben der heutigen Menschheit.
Indem Strauß also die ungeheure, mit allen Künsten mühseliger Auslegung und Umhüllung nicht zu verdeckende Kluft zeigte zwischen dem Gesichtskreise der biblischen Erzähler und der ganzen Weltanschauung unserer beinahe zweitausend Jahre älteren Gegenwart, hatte er, ohne das zu beabsichtigen, nicht blos die Axt an die Stütze des bestehenden weltlichen und geistlichen Bevormundungsregiments gelegt – denn das war oft schon geschehen – , sondern er hatte diese Stütze bereits durchschnitten. Eine Grundsäule der willkürlichen Gewalt, die angebliche „Göttlichkeit“ ihres Rechtstitels, war vor dem Auge der fortschreitenden Wissenschaft zu einem haltungslosen Schatten verflüchtigt, und nur noch eine Frage der Zeit konnte das Wanken und der Zusammensturz dieses volkswidrigen Gebäudes sein, da es fortan noch als eine grundlos bestehende Thatsache mit äußerer Gewalt sich behauptet konnte. Wo die Forschung die überirdische Herkunft von hohen Götterbildern so erfolgreich bestritt, welche eine inhumane Herrschsucht in ihren Dienst gezogen und zu Scheuchpuppen für das Volk gemacht, da konnte es nicht fehlen, daß ein solcher Vorgang den Muth entzünden und den „beschränkten Unterthanenverstand“ antreiben mußte, nun auch die sichtbaren Erdengötter und die von ihnen geschaffenen Einrichtungen nach ihrer Existenzberechtigung zu fragen. Mit scharfem Morgenhauche war ein Geist entschiedener Kritik, einer unerbittlich auf den Grund der Dinge gehenden Untersuchung erweckt, der über das Feld der Theologie hinaus verjüngend und belebend in alle mit dem Staats- und Gesellschaftswesen zusammenhängenden Gebiete des Wissens drang und durch alle Maßregelungen nicht wieder zu ertödten war. Eine neue Sprache erklang nun bald aus den Werkstätten der Wissenschaft, eine neue Weise kühnen Urtheilens, ein neuer, frisch und doch warm aus den Herzen quellender Ton des Angriffs gelangte in der Literatur zur Geltung. Im Jahre 1835 war das streng gelehrte Buch von Strauß erschienen; von 1838 an hatten es die Bundestagsregierungen und die gesammte deutsche Reactionswelt in Ruge’s „Halleschen“ und „Deutschen Jahrbüchern“ schon mit einer Gedankenbewegung zu thun, welche sodann in der Revolution von 1848 als eine Macht ihnen gegenübertrat und seitdem nicht wieder gestorben ist. Das hatte das gesunde Lebenslicht deutscher Forscher- und Denkerarbeit in einer Epoche vollführt, wo man das Leuchten ihm verbieten, es in die engsten Wege zwängen, aus ihm den zitternden Diener eines kleinlichen und anmaßenden Despotismus hatte machen wollen.
Im ersten Augenblicke freilich, das heißt in den ersten Jahren nach dem Erscheinen des Buchs, war der Eindruck der Strauß’schen Beweisführung nur ein Eindruck bestürzter Ueberraschung auf der einen, des Zorns und Entsetzen auf der andern Seite. Man fühlte den schneidigen Hauch, der von dieser Forschungsweise aus ein Altes und Liebgewordenes erbarmungslos von dannen fegte, nicht aber auch sofort die dahinter sich regende, jung und lebenswarm aus tiefster Innerlichkeit strömende Erlösungskraft eines neuen Freiheits- und Humanitätsbewußtseins, das hier durch Abrechnung mit der Vergangenheit ein großes Hinderniß sich aus dem Wege räumte. Der Schlag war so jäh gekommen; wie ein Blitzstrahl war er plötzlich in die geistige Welt herniedergefahren; keine Ankündigung, keine der Reclamen und wiederholten Journalnotizen, wie sie heutzutage üblich sind, hatte darauf vorbereitet und die Gemüther in Spannung versetzt. Und Niemand kannte diesen Autor außerhalb des Kreises seiner nächsten Umgebungen, ohne die gebräuchlichen Vorspiele war er fix und fertig mit einer Leistung auf den Platz getreten, von der jeder Kenner sich sagen mußte, daß allein die dazu gehörigen Studien das volle Leben eines Mannes auszufüllen vermöchten. Wer war er, wo weilte er? So frug man längere Zeit hindurch namentlich in Norddeutschland. Nur wenige wußten es und diese gaben keine Auskunft. Nachdem Strauß das entdeckte Geheimniß der mythenbildenden Volksphantasie auf die religiösen Urkunden des Christenthums angewendet hatte, gerieth er selber in die Lage, ein Gegenstand der Legende zu werden. Und sie war nicht geneigt, ihre Sagen zu seinen Gunsten zu dichten. Gab es doch nicht gar Viele in dieser verzagten und kleinmüthigen Zeit, die zu dem Glauben sich erheben konnten, daß ein so schonungsloser Riß von innerlichen und sittlichen Beweggründen aus erzeugt sein könne, und zwar von den reinsten, die es giebt, von dem Drange des Gewissens und der Wahrheitsliebe.
[739] Bald jedoch wurde das Dunkel gelichtet; es gab damals zwar noch keine Eisenbahnen und Telegraphen, noch keine eigentliche Presse mit einem Heer von Correspondenten, die heute so geschäftig jeder Neugier des Publicums entgegenkommen; es drangen Aufschlüsse und Berichtigungen langsamer durch, aber sie konnten doch zuletzt nicht ausbleiben, wenn es der Welt irgend darum zu thun war. Zu allgemeinem Erstaunen erfuhr man denn auch nach Kurzem, daß der so viel und so eifrig besprochene, über Nacht so berühmt gewordene Verfasser des „Leben Jesu“ ein kaum dem Jünglingsalter entwachsener Mann von nicht viel über siebenundzwanzig Jahre sei. Gebildete Reisende, die ihm begegnet waren, schilderten ihn als eine anmuthige Persönlichkeit, eine jugendliche Gelehrtenerscheinung, die hohe Achtung erwecke und nur das directe Gegentheil der widerwärtigen Häßlichkeiten zeige, welche ein blinder Ingrimm so gern ihr angedichtet hätte.
Wir erinnern uns dieser in den Kreisen der damaligen akademischen Jugend mit besonderem Eifer erlauschten Mittheilungen noch sehr deutlich, und es stimmt mit ihnen vollständig das Bild überein, welches jetzt Professor Zeller in Berlin aus seiner eigenen Erinnerung von dem damaligen Strauß entworfen hat. „Schon in seiner äußeren Erscheinung,“ so heißt es in dieser Schilderung, „entsprach Strauß durchaus nicht der Vorstellung, welche sich wohl die Meisten nach seinem Werke über ihn gebildet hatten, und Wenige würden hinter den feinen Linien des jugendlichen Gesichtes, der leicht vorgebeugten Haltung des Kopfes, dem sinnig gesenkten Auge, das mit seinem eigenthümlichen, auf Schwäche des Organs hindeutenden Aufschlage den Eindruck einer fast jugendlichen Schönheit machte, den kühnen, seinen Gegenstand mit wissenschaftlicher Kälte erbarmungslos zergliedernden Kritiker gesucht haben. Gelang es Einem, ihm persönlich näher zu treten, so fand man einen geistvollen, vielseitig gebildeten Mann, und im vertrauteren Kreise einen lebendigen, heiteren, liebenswürdigen Gesellschafter und einen vortrefflichen Erzähler, mit dem feinsten Verständnisse für alles Naive und Humoristische, nach der gemüthlichen wie nach der komischen Seite, zugleich aber eine zarte, feinfühlige, künstlerisch angelegte Natur, die sich in der Reinlichkeit und inneren Geschlossenheit ihres Wesens ihre Kreise nicht stören lassen mochte, der jedes persönliche Hervortreten eine gewisse Ueberwindung kostete und die bei einer rauhen Berührung sich leicht verletzt und scheu in sich zurückzog. Daneben zeigten sich aber freilich auch scharf ausgeprägt schon jene Züge eines männlichen Charakters, die an dem öffentlichen Auftreten des Schriftstellers zunächst in’s Auge fielen: ein rasch und kräftig auflodernder Zorn, ein entschieden durchgreifender Wille, ein wissenschaftlicher Muth, der, wenn es sein mußte, der Meinung der ganzen Welt Trotz bot.“
So stellte sich den Umgebungen die schön aufgeblühte Erscheinung des jungen Denkers und Forschers dar, den die gährend nach entscheidenden Wendungen ringende Epoche in tiefer Stille und Abgeschiedenheit für eine ihrer großen Aufgaben bereitet hatte. Was die Natur ihm an Gaben, Eigenschaften und hohen Antrieben verliehen, das hatte in ihm frühe schon die Gunst der Atmosphäre und der Verhältnisse zur Reife gebracht, aus denen er hervorgegangen war. Ein Sohn des lieblichen und poesievollen Schwabenlandes, das Deutschland so viele bahnbrechende Geisteshelden gegeben, hatte er in seinem lieblichen Heimathsstädtchen Ludwigsburg eine glückliche Kindheit verlebt, bis er im vierzehnten Lebensjahre (er war am 27. Januar 1808 geboren) den gründlichen Bildungsweg der jungen schwäbischen Gelehrten und Theologen auf jener Klosterschule in Blaubeuren betrat, die damals eine besonders fruchtbare Saatstätte des neuen wissenschaftlichen Geistes war. Neben anderen bedeutenden Männern lehrte an diesem Gymnasium in den zwanziger Jahren noch in seiner vollen Lebensfrische der große und anregungsreiche Bauer, der nachherige Begründer der so bedeutsam gewordenen Tübinger Schule. Und um solche Lehrer schaarte sich dort ein wahrer Kranz von hochbefähigten und begeisterten, witzigen und strebsamen Jüngern, unter denen der junge Strauß nicht der Letzte gewesen. Als dieser vom Elternhause auf das Blaubeurer „Kloster“ gekommen war, erschien er als ein scheuer, von dem lärmenden Treiben seiner Cameraden verschüchterter, an Heimweh leidender Knabe. Als er aber 1825 zur Universität überging, war er zu einem voll mit dem Geiste des classischen Alterthums genährten, von der Liebe zum Idealen und einem tiefen Wahrheitsstreben beseelten Jüngling herangereift, der Altersgenossen und Lehrern, bei all seiner Heiterkeit und Liebenswürdigkeit, unverkennbar Achtung einflößte. Und wenn man auch allerdings, wie sein Freund und Schulgenosse Vischer erzählt, in der stolz aufgeschossenen Jünglingsgestalt mit den altdeutschen Haaren und dem Johanneskopfe den künftigen Kritiker nicht vermutet hätte, so zeigte sich doch das Bedeutsame schon „in dem Ernste der wissenschaftlichen Arbeit und der Selbstständigkeit des Urtheils, in der geistigen Originalität und dem entschiedenen Wesen“. Einem Menschen wie Strauß sind natürlich die dem jungen Theologen aus den Zweifeln aufsteigenden Kämpfe und inneren Stürme nicht erspart geblieben. Ein tiefes und warmes Gemüthsleben, ein feinfühliger ästhetischer Sinn und eine nicht gewöhnliche dichterische Anlage und Begabung – er hat von früher Jugend an viele reizende Gedichte verfaßt – trieben ihn zunächst in eine schwärmerisch-fromme, romantisch-mystische Richtung, aus der ihn nur das Fortschreiten seiner wissenschaftlichen Arbeit erlöste, da sie ihn zur Beschäftigung mit Schleiermacher führte und später zum Studium der Hegel’schen Philosophie, dem bewegungskräftigsten Denksysteme der Zeit, das außerordentlich anziehend und bestimmend auf ihn wirkte. So war er nicht blos mit reichem und tiefem positivem Wissen ausgestattet, sondern auch schon fest auf seine große Lichtbahn gewiesen, als er 1830 glänzend die theologische Prüfung bestand und zunächst Pfarrvicar im Dorfe Klein-Ingersheim wurde.
Von besonders pikantem Interesse ist sicher die Mittheilung, daß Strauß als junger Prediger sehr beliebt in seiner Dorfgemeinde war. Zeller erzählt, daß seine Vorträge sich bei aller Gediegenheit des Inhalts durch eine musterhafte Volksthümlichkeit auszeichneten; er hielt sich an den praktisch-religiösen Gehalt der biblischen Lehren und behandelte ihn, von einer ansprechenden Stimme unterstützt, klar, lebendig und in der schlichtesten Weise. Doch gestattete ihm sein wissenschaftlicher Drang nicht lange dieses beschränkte Wirken. Zur Wallfahrt nach Berlin trieb es ihn, zu den Männern, denen er so viel zu danken hatte. Hegel aber starb an der Cholera, nachdem Strauß im October 1831 kaum den Boden der Hauptstadt betreten hatte; er blieb auf den Umgang der hervorragenden Hegelianer beschränkt und auf Schleiermacher, dessen Anschauungen über die neutestamentlichen Bücher schon nicht mehr die seinigen waren. Hier unter den großen wissenschaftlichen Anregungen, in der kritikerfüllten Luft Berlins entstand im Geiste des unbekannten jungen Schwaben der Plan zu seinem „Leben Jesu“. Nach sechs Monaten war er wieder in der Heimath als Docent oder „Repetent“ am Tübinger „Stift“, wo er nun mit glänzendem Erfolge vor einem außerordentlich zahlreichen und begeisterten Auditorium philosophische Vorlesungen hielt. Seine ungewöhnliche Befähigung zum akademischen Lehrer stellte sich hier in einer Weise heraus, von der seine damaligen Zuhörer noch heute nicht ohne tiefe Ergriffenheit sprechen können. „Diese Vorlesungen,“ sagt Zeller, „wirkten wie ein wohlthätiger Regen auf dürstendes Erdreich.“ Nach drei Semestern jedoch wurden sie von dem jungen Docenten vorläufig wieder eingestellt; es arbeitete der Plan zum „Leben Jesu“ so gewaltig in ihm, daß er Zeit und Muße zur Ausführung gewinnen mußte. Schon ein Jahr aber nach Beginn der ersten Vorarbeiten war das Ganze, mit Ausnahme der Schlußabhandlung (mehr als vierzehnhundert Druckseiten) im Manuscripte fertig. Fast ebenso lange zog sich der Druck hin. Der erste Band erschien im Sommer; der zweite folgte schon im Herbste 1835.
Hiermit war der Trumpf ausgeworfen, der nicht blos die Ideenbewegungen der Zeit zu Entscheidungen treiben, die wirr und träge durch einander gemischten Lager des Veralteten und Neuen schärfer gegen einander stellen, sondern auch über den weiteren Lebensgang des Verfassers für immer entscheiden sollte. Was er da geschrieben, das war sichtlich, wie auch schon oben bemerkt wurde, ohne eine agitatorische Absicht und aus seinem wahrheitsmuthigen Denken und Forschen mit gleichsam zwingender Nothwendigkeit hervorgegangen; es war auch kein Buch für die lesende Masse, aber die geräuschvolle Wirkung konnte nicht ausbleiben, und sie wurde zunächst durch die ausgesteckten [740] Nothsignale und den brausenden Trommelwirbel der Gegner gefördert, deren Geltung als Kenner und Bewahrer der angeblichen göttlichen Geheimnisse so ernstlich bedroht wurde. Sie hätten völlig blind sein müssen, wenn sie nicht sofort die schwere Gefahr der Wendung erkannt, wenn sie nicht gesehen hätten, daß hier nicht ein dreister und frivoler Handstreich abzuwehren sei, sondern daß man es in dieser Leistung zu thun habe mit der imponirenden Würde echter Wissenschaft, mit der gründlichsten Sachkenntniß und dialectischer Meisterschaft, dabei mit dem Zauber einer Sprache, dem Schönheitsglanze einer Darstellung, wie sie bis dahin bei wissenschaftlichen Arbeiten in Deutschland unerhört gewesen. Ein Sturm brach los – mehrere Jahre lang drehte sich bei uns die ganze theologische Literatur um dieses einzige Buch, und eine englische und französischeUebersetzung bewiesen, wie lebhaft das Interesse dafür auch in außerdeutschen Ländern erregt war. Hunderte von Gegenschriften jeden Tones und Umfanges, unter denen viele sich als die gemeinsten Angriffe und die erbärmlichsten Denunciationen kennzeichneten, bliesen immer von Neuem die Flamme an, die sie austreten und aus der Welt schaffen wollten – sie loderte nur um so heftiger empor: schon 1838, also nach drei Jahren, war eine dritte Auflage des Werkes nothwendig geworden, welcher bald darauf eine vierte folgte.
Eines Erfolges aber konnte dennoch das zelotische Geschrei sich rühmen: noch vor dem Erscheinen seines zweiten Bandes war Strauß von seiner akademischen Docentenstelle in Tübingen entfernt und statt dessen als Knabenlehrer an das Lyceum seiner Vaterstadt Ludwigsburg versetzt worden. Ein Jahr lang hatte er es in dieser für ihn unpassenden Stellung ausgehalten, dann entsagte er, um in Stuttgart sich ungetheilt seinen literarischen Arbeiten zu widmen. Hier lebte der jugendliche, so schnell zu hohem Ansehen gelangte Schriftsteller in einem, seinem Geschmacke gemäß, auf’s Bescheidenste eingerichteten Gartenhäuschen das stille Leben eines Einsiedlers, unablässig seinen großen Aufgaben und Studien hingegeben. Und hier in Stuttgart sind denn auch jene berühmten „Streitschriften“ gegen Steudel und Eschenmayer, gegen Hengstenberg, Wolfgang Menzel etc. verfaßt, die Rudolph Gottschall treffend als ein Gemmencabinet mit den plastischen Charakterköpfen dieser Gegner bezeichnet, Thaten des nothwendigen Angriffs, wie sie glänzender die deutsche Literatur seit Lessing nicht gesehen hatte; von hier gingen ferner auch jene zum Theil gewaltigen kleinen Sachen aus, die unter den Titeln „Zwei friedliche Blätter“ und „Charakteristiken und Kritiken“ große Fragen der Zeit in neuer und schärfster Beleuchtung zeigten. Hier in Stuttgart ist später auch als nächste Folge des „Leben Jesu“ das große Werk über die „christliche Glaubenslehre“ entstanden, das in systematischer Reihenfolge die sämmtlichen Hauptstücke des Kirchenglaubens zergliedert, ihren menschlichen Ursprung und ihre Entwickelung oder Verflüchtigung im Kampfe mit der modernen Wissenschaft zeigt und nach Strauß’ eigener Bemerkung der kirchlichen Dogmatik das leisten sollte, was einem Handlungshause die Bilanz leistet.
Ein Zwischenfall unterbrach dieses arbeitsreiche Stillleben des Forschers und stellte ihn eine kurze Zeit hindurch vor das Ziel seiner innigsten Wünsche: es winkte ihm ein Lehrstuhl, der Beruf, auf den tiefe Neigung und große Befähigung ihn vor Allem hinwiesen. Man weiß, wie diese Berufung nach Zürich infolge eines dort von den Pfaffen und Frömmlern erregten Pöbelaufruhrs rückgängig gemacht wurde. Es war das ein harter Schlag für Strauß, denn es wurde ihm damit für immer eine Hoffnung abgeschnitten und eine Entsagung auferlegt, die er bis an sein Ende mit Schmerz ertragen hat. Später hat er selber über diesen Schmerzenspunkt seines Lebens in ergreifenden Worten sich ausgesprochen. „Eben in diesen Tagen,“ so schrieb er in einer seiner Vorreden, [742] reden, „ist es ein Vierteljahrhundert, daß mein ‚Leben Jesu‘ zum ersten Male in die Welt ausgegangen ist. Die Theologen werden das fünfundzwanzigjährige Jubiläum dieses Buches schwerlich feiern wollen, ungeachtet es mehr als Einem von ihnen erst zu allerlei hübschen Gedanken, dann zu Amt und Würden verholfen hat. Aber gar mancher bessere Mensch in allen Landen, der von dem Studium dieses Buches seine geistige Befreiung datirt, ist mir, das weiß ich, lebenslänglich dankbar dafür und macht so, ohne daran zu denken, im Stillen die Feier mit. Ich selbst sogar könnte meinem Buche grollen, denn es hat mir (von rechtswegen! rufen die Frommen) viel Böses gethan. Es hat mich von der öffentlichen Lehrtätigkeit ausgeschlossen, zu der ich Lust, vielleicht auch Talent besaß; es hat mich aus natürlichen Verhältnissen herausgerissen und in unnatürliche hineingetrieben; es hat meinen Lebensgang einsam gemacht. Und doch, bedenke ich, was aus mir geworden wäre, wenn ich das Wort, das mir auf die Seele gelegt, verschwiegen, wenn ich die Zweifel, die in mir arbeiteten, unterdrückt hätte, dann segne ich das Buch, das mich zwar äußerlich schwer beschädigt, aber die innere Gesundheit des Geistes und Gemüthes mir und, ich darf mich dessen getrösten, auch manchen Anderen noch erhalten hat. Und so bezeuge ich ihm denn zu seinem Ehrentage, daß es geschrieben ist aus reinem Drang, in ehrlicher Absicht, ohne Leidenschaft und ohne Nebenzwecke, und daß ich allen Gegnern wünschen möchte, sie wären, als sie dagegen schrieben, ebenso frei von Nebenabsichten und Fanatismus gewesen. Ich bezeuge ihm ferner, daß es nicht widerlegt, sondern nur fortgebildet worden ist, und daß, wenn es jetzt wenig mehr gelesen wird, dies daher kommt, daß es von der Zeitbildung aufgesogen, in alle Adern der Wissenschaft eingedrungen ist. Ich bezeuge ihm endlich, daß die ganzen fünfundzwanzig Jahre her über die Gegenstände, von denen es handelt, keine Zeile von Bedeutung geschrieben worden ist, in der sein Einfluß nicht zu erkennen wäre.“
[800] Man ersieht aus den zuletzt angeführten Aeußerungen zum Jubiläum des „Leben Jesu“, daß es Strauß nicht gleichgültig war, die Rolle des „Verfehmten“ zu spielen, welche die Jämmerlichkeit der Zustände ihm auferlegte. Der ganze Mann spricht aus jenen Worten, sein tiefes Leid, aber auch der jubelnde Triumph, mit dem er in der stolzen Vornehmheit seines Selbstgefühls über das ihm angethane Unrecht sich erheben konnte. Es gehört nicht in das Ehrenbuch der deutschen Hochschulen und Facultäten, daß sie eine so imponirend sich bekundende, hoch über das Mittelmaß hinausragende Kraft unbeachtet am [802] Wege stehen ließen, daß Jahrzehnte hindurch nicht eine einzige dieser akademischen Körperschaften das wissenschaftliche Anstandsgefühl, den Muth und die Selbstverleugnung zeigte, eine Berufung des Mannes zu verlangen. Bei Strauß schreibt sich wohl auch aus diesem Umstande der Ton verschärfter und rücksichtsloser Bitterkeit her gegen eine gewisse Art von zünftiger Wissenschaft, deren Bemühen darauf hinaus läuft, ihren Ueberzeugungen die Spitze abzubrechen, mit der Unwahrheit einen künstlichen Vertrag herzustellen, um sich Amt und Wirksamkeit nicht zu verscherzen. Hätte ihn der frühe schon reichliche Ertrag seines freien Leistens und die strenge Ordnungsmäßigkeit seines Wandels nicht hinlänglich vor materieller Sorge geschützt, so würde unsere Geschichte auch von diesem großen deutschen Schriftsteller zu erzählen haben, daß der Kampf mit der gemeinsten Noth sein Dasein verwüstet habe. Auch ein anderes Begehren seiner Natur, die Gründung eines traulichen Heim, die Sehnsucht nach häuslichem Glücke an der Seite eines geliebten Wesens sollte sich ihm nicht dauernd erfüllen. Die Wiener Sängerin Agnese Schebest hatte bei einem Gastspiele in Stuttgart durch den Zauber ihres Gesanges und die classische Vollendung ihrer Darstellung die hohe Bewunderung des Kunstkenners erregt, während die Anmuth ihres Wesens und ihrer Erscheinung unwiderstehlich sein Herz gewann. Die berühmte Primadonna ward die Gattin des stillen Gelehrten; die Neuvermählten wohnten zuerst in einem schön gelegenen Schlößchen bei Heilbronn, dann in Heilbronn selbst in freundschaftlichem Verkehr mit einer Anzahl hochgebildeter Familien; aber die Ehe war eine unglückliche, und die Gatten trennten sich nach fünf Jahren ohne gerichtliche Scheidung. Ihre beiden Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, blieben erst bei der Mutter; nach einigen Jahren nahm sie der Vater zu sich und gewann dadurch allerdings einen Quell der Beseligung und des reinsten, ungetrübtesten Glückes.
Der Schiffbruch seiner Häuslichkeit hatte Strauß in ein Wanderleben geworfen, aus dem er fortan nicht wieder herauskam. An den verschiedensten Orten schlug er sein Zelt auf und brach es nach einigen Monaten wieder ab. Von Heilbronn war er unter dem Verbrausen der Revolutionsstürme von 1848 nach München gegangen, dessen Kunstschätze ihn anzogen, dann verlebte er mit seinen Kindern eine Zeit in Weimar, die Erinnerungen an die goldene Zeit deutscher Poesie pflegend und namentlich den Spuren Goethe’s nachgehend, dessen wärmster Bewunderer er immer gewesen ist. Von Weimar zog er nach Köln, dem Wohnorte seines Bruders, von dort später nach Heidelberg, das ihn sechs Jahre fesselte, und das er dennoch mit Darmstadt vertauschte, wo er fünf Jahre wohnte. Dazwischen lagen kürzere oder längere Aufenthalte in Heilbronn, Berlin, Bonn, München, Bieberich, Baden-Baden etc. Der Wegzug wurde häufig durch den Tod oder Abgang von Freunden veranlaßt; für die Wahl entschied der geistig angeregte Verkehr des Ortes, die Darbietung von Kunstgenüssen, das Vorhandensein der literarischen Hülfsmittel, die Nähe angenehmer Waldspaziergänge, auch die Rücksicht auf das Gedeihen und die Ausbildung der Kinder. Im Ganzen jedoch hat Strauß unter der Ungemüthlichkeit dieses seinen innersten Neigungen widerstrebenden Wechsels schwer gelitten – er persönlich empfand diese Ungebundenheit als ein Uebel in seinem Dasein, aber der deutschen Nation und ihrer Literatur ist sie zu Gute gekommen, da wir unstreitig nur seiner unabhängigen Muße und der vollen Hingebung, welche sie ihm gestattete, jene reichen Schöpfungen zu danken haben, welche der freieren Thätigkeit dieses Schriftstellers entsprossen sind, in dessen Ausdruck und Styl Lessing und Goethe eine Wiedergeburt in Deutschland gefeiert haben.
Es ist hier nicht unsere Absicht, die ganze Reihe der weiteren Strauß’schen Werke vorzuzählen oder auch nur Einzelnes davon zu charakterisiren, aber Hauptsächliches muß doch genannt werden. Als Strauß nach und nach in kleinen wie umfassenden Schriften sein Werk hinreichend vertheidigt und in dieser Hinsicht mit wuchtiger Schärfe Alles erschöpft hatte, was er zunächst sagen konnte, als neben ihm auch Jünger und ebenbürtige Mitstreiter erstanden, die den begonnenen Kampf auf seinen Wegen fortsetzten, wandte er gegen das Ende der vierziger Jahre der Theologie den Rücken, um den anderweitigen in ihm arbeitenden Kräften und Antrieben seiner vielfältigen Bildung Genüge zu thun. Obwohl er aber, seiner Gewohnheit nach, unablässig las und studirte, fand er doch mehrere Jahre hindurch keinen Gegenstand, der ihn so stark zum Schreiben angeregt hätte, wie es bei ihm nöthig war. „Ich muß zornig sein, wenn ich schreiben soll,“ hatte er einmal einem Freunde gesagt. Der glückliche Instinct seiner großen Begabung aber ließ ihn bald schon die richtige Bahn finden. Unter den Gegenständen, die ihn unwiderstehlich anregten, stand oben an das Geheimniß des Menschenbildes, das innerste Wesen und Weben der menschlichen Persönlichkeit; ein tief in ihm lebender Drang führte ihn auf die oft so dunkeln und verworrenen Lebensgänge bedeutsamer und interessanter Männer, mißhandelter, verkannter oder nicht hinreichend gewürdigter Geisteskämpfer, in denen ihr Zeitalter sich gespiegelt oder die über dasselbe hinaus gewachsen waren. Hier eröffnete sich ihm ein weites und noch unbebautes Feld befriedigendster Thätigkeit, hier konnte der feine und scharfe Zergliederer, der humane Ergründer des Menschenherzens und seines Thuns und Leidens Genüge finden; hier konnte der Geschichtsforscher, der Literatur- und Kunstverständige seine Kraft erproben, hier auch konnte der Poet in ihm, der Drang nach künstlerischer Gestaltung zu vollstem Ausdrucke kommen. Fünfzehn Jahre im Leben unseres Schriftstellers sind von ihm fast ausschließlich dieser Thätigkeit gewidmet worden, aus der jene anziehenden und imposanten Lebensgemälde, classisch vollendete Meisterwerke, hervorgegangen sind, die zweifellos auch allen zukünftigen Geschlechtern als hohe und genußreiche Zierden unseres Schriftenthums erscheinen werden. Mit seinem scharfen und durchdringenden Geiste seiner säuberlichen und gesunden Schlichtheit, mit „dem großen, hellen und ruhigen Auge“, das Fr. Vischer an ihm rühmt, hat Strauß die Biographie zu einem lebendigen, lebensvoll ausgestalteten Kunstwerk erhoben und es bleibt ihm das als eines seiner glänzendsten Verdienste.
Sollen wir einzelne Erzeugnisse nennen, so leuchtet uns hier neben „Schubart’s Leben in seinen Briefen“, neben „Nikodemus Frischlin“, neben „Märklin“, dem Lebens- und Charakterbilde eines Jugendgenossen, in das der Autor gleichsam ein beträchtliches Stück seiner eigenen Entwickelungsgeschichte verwebt hat, vor Allem das große und sturmbewegte „Leben Ulrich’s von Hutten“ entgegen, sowie das brillante Buch „Voltaire“, das fast gleichzeitig mit dem plötzlichen Hereinbruche des letzten Franzosenkrieges erschien und trotz dieser Stürme einen so großen Eindruck machte, daß sofort eine zweite und 1872 schon eine dritte Auflage nöthig wurde. Alle diese Lebensschilderungen stehen aber nicht etwa als bloße Kunstwerke da zu ästhetischer Beschauung und müßigem Genuß, sondern zu den Helden, die er mit plastischer Kraft vor uns aufleben und an uns vorüberziehen läßt, hat es den Bildner hingezogen, weil er mit ihrem Bilde seiner Zeit etwas Nothwendiges sagen konnte, weil er in ihnen bereits die warme Blutwelle der Lebensströmung wahrgenommen, die unsere Gegenwart bewegt, weil ihr Kampf und ihr Geschick ernste Lehren und Mahnungen enthält für das Streben und Ringen unseres Jahrhunderts. In Bezug auf seinen „Hutten“ hat Strauß über diesem Punkt sich deutlich ausgesprochen. „In Zeiten der Drangsale wie der Wohlfahrt,“ so schrieb er 1870 in der Vorrede zur zweiten Auflage, „rufen die Völker gern die Geister ihrer großen Todten herauf; es sind dies meistens Kämpfer, die für das Licht gegen die Finsterniß, für die Freiheit gegen Despotendruck gestritten haben. Eine Wolke von Zeugen dieser Art um sich zu wissen, darin besteht der Adel einer Nation, und wenn eine eines solchen Adels sich rühmen kann, so ist es die deutsche. Eine Gestalt aus dieser Wolke habe ich ehedem hervorgerufen in einer bösen Zeit. Es waren die Jahre, da Germania nach einer erschöpfenden Fehlgeburt in tiefer Schwäche lag, da die großen und kleinen Dränger ihrer von Neuem Meister geworden waren, da übermüthige Nachbarn sie verhöhnten, da selbst jene schwarzen Vögel, als wäre sie schon eine Leiche, herangeflogen kamen und sie krächzend umschwärmten. Es war die Zeit der Concordate, jener Knechtungsverträge mit Rom. Damals rief ich: Ist denn kein Hutten da? Und weil unter den Lebenden keiner war, unternahm ich es, das Bild des Verstorbenen zu erneuern und dem deutschem Volke vor Augen zu stellen.“
Es geht daraus hervor, daß Strauß selbst in der Zeit scheinbarer Abwendung der Sache der religiösen Befreiung seine volle Theilnahme bewahrt hatte. Nachdem er Jahre hindurch,
[803] dem hochaufwogenden Streite der religiösen Fragen gegenüber, ein tiefes Schweigen beobachtet hatte, trat er 1864 mit jener umfassenden Weiterführung, Berichtigung und Bearbeitung seines Hauptwerkes hervor, die unter dem Titel „Das Leben Jesu, für das deutsche Volk bearbeitet“, allen Gebildeten bekannt geworden und von welcher bereits in dem schon erwähnten früheren Artikel gesprochen ist. Mit dieser bedeutsamen Leistung und zwei 1865 erschienenen kleineren Schriften („Der Christus des Glaubens“ und „Die Halben und die Ganzen“) hat Strauß seine Thätigkeit für die religiöse Befreiung abgeschlossen, so weit dieselbe in den thatsächlich sich vollziehenden Fortschrittsbewegungen ihre Wurzeln hatte. Das Buch „Vom alten und neuen Glauben“ mit welchem er sechs Jahre später die Welt überraschte, steht auf einem ganz anderen, durchaus neuen Boden; es wirft Fragen der Zukunft in Betreff der höchsten Dinge und Menschheitsziele auf, welche die Welt an den Kritiker des Bestehenden und Ueberlieferten nicht gerichtet, deren Beantwortung sie zu seinen Aufgaben nicht gerechnet hatte; es wendet sich an eine kleine Gemeinde innerhalb der Geistesaristokratie und läßt das noch ungeklärte und unsicher tastende Vorwärtsringen des Volkslebens wie einen verlorenen Posten achtungslos zur Seite liegen. Wir gehören aus dem letzteren Grunde nicht zu den Freunden dieses Buches, aber mit Unzähligen, die sein Inhalt befremdet und theilweise abgestoßen hat, verkennen wir nicht, daß es durch tiefsittliche Beweggründe veranlaßt wurde, daß es große Fragen aufgeregt und in Wunden der Zeit greift, vor Allem aber nicht, daß es wissenschaftlich und schriftstellerisch ein Meisterwerk ist und erhabenes Zeugniß ablegt von der ungebrochenen Kraft und dem Werthe seines Meisters. Es war sein Schwanengesang. Mitten im Tosen des gewaltigen Sturmes, den das Buch nach allen Seiten hin geweckt, war er 1872 von Darmstadt in die idyllische Stille seiner Geburtsstadt Ludwigsburg übergesiedelt, der er immer eine treue Anhänglichkeit bewahrt hatte. Hier in der Nähe seines Sohnes, der als Militärarzt in Stuttgart weilte, wollte er, gepflegt von einer alten Dienerin und Freundin seines elterlichen Hauses, den erquickenden und sänftigenden Athem seiner Kindheits- und Jugenderinnerungen auf sich wirken lassen. Aber kaum hatte der bis dahin fast jugendlich rüstige Sechsziger in der Heimath seine bescheidene Junggesellenwohnung sich eingerichtet, so erfaßten ihn die Vorboten der furchtbaren Krankheit, die ihn bald niederwarf und den Kämpfer vorzeitig hinwegführte in das Reich des Friedens.
Vier Jahrzehnte hindurch hatte unter den hervorragenden Geistern, welche unserer Culturepoche ihren Stempel aufgeprägt, der eigenartige und machtvolle Glanz dieses Mannes, ein Stern erster Größe, über Deutschland gestrahlt. Nicht immer wohlthuend und erquicklich wie mildes Frühlingslicht, hier und da sogar in schrillem und schroffem Widerspruche mit einem unleugbar guten Wollen, einer zweifellos gerechten Forderung des Freiheits- und Humanitätsstrebens, immer aber von der Höhe in die Tiefe leuchtend, immer auf große Ziele weisend, immer fördernd, rufend, weithin und tief die Geister erregend, und dies Alles stets in einer so mächtigen Weise, daß Feind und Freund nicht gleichgültig darüber hinwegsehen konnten. Rufen wir uns sein Bild vor das Auge,wie es die unparteiische Zukunft erschauen wird, so fällt unser Blick nicht blos auf einen großen Denker und auf ein großes Talent, wir sehen noch etwas viel Erhebenderes, wir sehen den mannesstarken Ueberzeugungs- und Wahrheitsmuth eines großen Charakters, der niemals seine Erkenntniß verhehlte oder umhüllte, niemals danach fragte, ob Das, was er war und sagte, ihm Schaden oder Nutzen bringe, ob es auch Anderen gefalle oder nicht. Wie er in den Reihen der Theologen sich die Anhängerschaft Derer verscherzte, die bei einiger Rücksicht seinerseits ihn zum Haupte einer großen Partei gemacht hätten, wie er unter Umständen über Fürsten und Regierungen seine Geißel schwang, so hat er auch niemals die vertrauensvoll zu ihm aufschauende Massendemokratie darüber in Zweifel gelassen, daß er nicht ihr Mann, sondern in wesentlichen Hauptpunkten ihr eifriger Gegner und Bekämpfer sei. Aus der urwüchsigen Unbefangenheit dieses heroischen Wahrheitsmuthes, der alle unwahren Mischungen haßte, wie einst Lessing sie gehaßt, entsprang von seinem ersten Auftreten an das Zündende seiner Wirkungen, die Schlagkraft seiner öffentlichen Thaten. Gern hätten die Pfaffen und Pfäffischen unter seinen zahlreichen Widersachern, ihrer Art gemäß, da seiner wissenschaftlichen Erscheinung sich nichts anhaben ließ, seinen Privatcharakter verkleinert und in den Staub gezogen, aber auch hier mußten ihre Künste die Segel streichen vor der musterhaften Lauterkeit eines stillen und schlichten, ausschließlich auf hoher Bahn sich bewegenden Wandels, dem das Gemeine, das Kleine und Niedrige so fern lag wie alles excentrische Wesen, alles Spiel der Eitelkeit und des renommistischen Dünkels.
Von seinen Jugendgenossen ist der spätere „Erzketzer“ geschildert worden als ein „Johanneskopf“, als eine halb schüchterne, vornehme Gelehrtennatur, ein zart besaitetes, leicht erregbares, poetisches Gemüth, aber als ein ungezwungener und liebenswürdiger Camerad, ein durchaus heiterer und witziger Gesellschafter. So ist er, trotz aller verbitternden Erfahrungen, bis an sein Ende geblieben. Seine Erholung und Erfrischung nach strenger Arbeit suchte er immer nur im stillen Naturgenusse, in der Beschäftigung mit Kunst und Poesie, namentlich in der Musik, vor Allem aber in einer geistig belebten Gesellschaft, im Umgange mit gebildeten Männer- und Frauenkreisen, auf welche die Anmuth seines Wesens einen unwiderstehlichen Zauber übte. Strauß war notorisch ein liebevoller Sohn, ein anhänglicher Bruder, ein überaus zärtlicher und aufopfernd pflichtgetreuer Vater, ein treuer und warmer Freund seiner Freunde, und es ist ihm die Liebe, welche er reichlich ausgab, auch in reichem Maße erwidert worden.
Nur ein einziger Schatten, den der nie ermüdliche Klatsch denn auch weidlich ausgebeutet hat, scheint auf seinem Leben zu ruhen: die unglückliche und bald schon wieder aufgelöste Ehe mit einer vielbelobten Gattin. In Bezug auf diese so delicate und rein persönliche Angelegenheit forderte die scandalsüchtige Neugier eine Rechtfertigung von ihm, und weil er sie natürlich nicht gab, war des Gezischels der klugen Leute und bösen Zungen kein Ende. Aber auch dieses Dunkel fängt jetzt sich nachträglich zu lichten an.
In einem Anhange zu dem kürzlich erschienenen zweiten Bande seiner „Religiösen Reden“ theilt nämlich Heinrich Lang in Zürich einen vertraulichen Brief mit, den bereits 1846 eine württembergische Frau an eine Freundin geschrieben und dessen Original sich in Lang’s Händen befindet. Aus diesem Briefe geht zur Genüge hervor, daß Strauß in seiner fünfjährigen Ehe mit außerordentlicher Liebe, Geduld und Seelengüte ein Martyrium durchlitten hat, wie es viel geringere Männer als er vielleicht nicht ein paar Monate ertragen hätten. Erst als das Schlimmste hereindrohte, der Untergang seiner geistigen Persönlichkeit, löste er das Band mit der ihm ganz verständnißlos gegenüberstehenden Künstlerin. An ihm bleibt hier keine Schuld bestehen, als die Unbesonnenheit der Wahl, bei der er sein Wesen und namentlich die gewohnheitsmäßige Schlichtheit seiner Lebensführung nicht in Rechnung brachte. – Ein anderer Vorwurf, der ihm von der linken Seite des Liberalismus gemacht wird, bezieht sich auf seinen politischen Standpunkt, und in der That lag hier ein Widerspruch. Der Mann, welcher auf dem religiösen Gebiete mit so radicaler Entschiedenheit aufräumte, huldigte in der Politik conservativen Neigungen. Er, der die Geburt und das dunkle Werden einer Weltreligion im Volksgeiste einer fernen Vergangenheit mit feinem Ohre erlauscht hatte, zeigte kein Verständniß und keinen Blick der Liebe für die gährenden Wiedergeburtsbewegungen des ihn umgebenden Volkslebens.
Es war das ein Mangel in seiner Natur, aber nicht mit Unrecht wird derselbe auf jene besonderen Vorzüge zurückgeführt, welche seinen Werken die Kraft und den Reiz gegeben, auf die Gedankenschärfe, der alles Unklare, Phrasenhafte, Confuse und Unreife zuwider war, auf den feinfühligen und geschmackvollen Künstlersinn, der sich durch Ungeordnetes und Wildes, durch Lärmendes und Gewaltsames erschreckt, verletzt und abgestoßen fühlte. Immerhin jedoch war es ein Mangel, und es ist zu bedauern, daß Strauß der Sinn abging für die thatsächlichen Entwickelungsgesetze, wie sie leidenschaftlich und geräuschvoll in großen Volksstürmen sich vollziehen. Nur möge deshalb Niemand glauben, daß Strauß nicht ein Mann der modernen Freiheit gewesen sei, daß er, im Widerspruche mit seiner Aufgabe, Unrecht, Unterdrückung, Erhaltung veralteter Knechtungswirthschaft gewollt habe nach irgend einer Seite hin. Deutschlands Macht und Größe, so schrieb er 1872, habe er sich immer nur begründet gedacht auf [804] menschlich freier, von keiner Clerisei, keiner kirchlichen Satzung beengter Geistesbildung, und wie er in dem soeben beendigten Kriege unter den Vordersten gegen den äußeren Feind mitgefochten haben würde, so würde er jetzt abermals unter den Vordersten gegen den inneren Feind der Freiheit und der Bildung kämpfen. Gegen einen Zusammenhang mit den Absichten der politischen Reaction schützte ihn schon seine klarblickende Vaterlandsliebe – er war einer unserer wärmsten und besten Patrioten.
Als 1870 der Krieg ausgebrochen war und im innersten Gewissen der von starker Leidenschaft emporgerissenen, begeisterungsvoll aufflammenden Nation noch der beklemmende Zweifel bebte, ob es nicht eine blos von der Noth gebotene, sondern auch eine sittlich berechtigte, vor der Gerechtigkeit bestehende That sei, zu der sie das Schwert ergriffe, da war der Verfasser des „Leben Jesu“ unter den Wortführern deutscher Wissenschaft der erste, der das Schweigen brach und aus der Stille seines Studirzimmers jene gewaltigen Manifeste, jene offenen Briefe an Renan in die Welt sandte, die jedes Bedenken lösten und diesem Kriege gaben, was er fordern durfte: das Zeugniß des Gedankens, die Weihe des freien, keinem Befehl und Commando unterworfenen Geistes. Nicht allein wegen der Größe des Moments, den sie begrüßten, sondern auch durch ihren Gehalt und ihre Form gehören die genannten Briefe zu den bedeutsamsten und wirkungsvollsten Aeußerungen, welche die Geschichte unserer nationalen Kämpfe aufzuweisen hat, und wie ein frischer Lorbeer haben sie sich um das ergrauende Haupt des Mannes gelegt, dem blinder Parteigroll auf dieser und jener Seite so gern das Herz abgesprochen hätte und die Wärme des Empfindens für große Zwecke der lebendigen Allgemeinheit.
Als seinen „Meister“ hatte im Beginne des großen Nationalkrieges der berühmte Franzose Renan mit ehrfurchtsvoller Betonung den deutschen Gelehrten angeredet und dabei sicher mit Unzähligen von uns nur die Meisterschaft auf dem Gebiete des Wissens, des forschenden Denkens und seines Ausdrucks im Auge gehabt. Daß an der Ueberlegenheit dieses heldenmüthigen Verstandes, der mit seiner unerbittlichen Schärfe eine Welt des Irrthums und versteinerten Mißbrauchs aus ihren Angeln gehoben, auch ein edles und reiches Gemüthsleben betheiligt war von seltener Tiefe und Innigkeit, das hatte in den Wirren stürmischer Jahrzehnte nur Wenigen selbst unter Denen sich ganz deutlich gemacht, die es aus den kleinen Schriften des Kritikers, – z. B. aus der schönen Grabrede auf seinen Bruder (1863) und aus den Erinnerungen an seine Mutter („geschrieben am Confirmationstage meiner Tochter“) – hätte wisse können. In voller Klarheit stieg vielmehr sein Charakterbild erst vor den Augen der Zeitgenossen auf, als glaubwürdige Stimmen hervorragender Männer von der wunderbaren „Geistes- und Seelengröße“ erzählten, mit welcher der vielgeschmähete „Apostel des Unglaubens“ das Zusammenbrechen seiner Manneskraft, die fürchterlichen Qualen seiner letzten, immerhin langwierigen Krankheit ertrug. Nicht gar lange hatte er in Bezug auf die Rettungslosigkeit seines Zustandes einer Täuschung sich hingegeben. Ueber seinem Schreibtisch im Ludwigsburger Wohnzimmer hingen bezeichnend genug zwei stimmungsvolle Bilder Wächter’s: „der sterbende Socrates“ und „Hiob mit seinen drei Freunden“. Als Strauß mit diesem Dulder der altjüdischen Dichtung sich sagen mußte: „Mein Odem ist schwach, und meine Tage sind abgekürzet; das Grab ist da“ – schloß er mit den Kämpfen seines Daseins ab und las nichts mehr, was über sein letztes Buch geschrieben wurde. Sich selbst getreu, mit voller Ruhe und unbewölkter Heiterkeit des Geistes ging er dem Tode entgegen und legte ungelesen die Bekehrungsbriefe zur Seite, mit welchen die dummdreiste Zudringlichkeit alberner Frömmlinge selbst an diesen Sterbenden sich heranwagte. Jede leidliche Stunde aber widmete der Kranke der Lectüre und geistigen Thätigkeit, der warmen Theilnahme für die Angelegenheiten des Vaterlandes und vor Allem dem liebevollsten mündlichen und schriftlichen Verkehr mit Allen, die seinem Herzen nahe standen und mit Beweisen inniger Liebe und zarter Sorge Licht und Erfrischung in seine verdüsterten und schmerzenreichen Tage brachte. Alle, die ihn besuchten, sprachen es aus, daß sie stets mit einem Eindrucke sittlicher Weihe und Erhebung dieses Krankenzimmer verlassen hatten, von dem auch noch manche bedeutsame Aeußerung, mancher herrliche Brief in die Welt gegangen, in welchem auch unter den schwersten Leiden jene eben so reizenden wie ergreifenden, vom reinsten Liebesathem durchhauchten Gelegenheitsgedichtchen des Vaters an die Kinder geschrieben wurden, mit denen Professor Zeller seinem hier vielfach von uns als Hauptquelle benutzten Werkchen „David Friedrich Strauß“ einen so überaus lieblichen Schmuck verliehen hat.
Weit und breit blieben die gebildeten Kreise nicht gleichgültig bei dieser traurigen Geschickswendung des wirkungsreichen Zeitgenossen, und zu den bemerkeswerthen Symptomen des Zeitumschwunges gehört es jedenfalls, daß unter den zahlreichen Männern und Frauen in der Nähe und Ferne, die den Vorkämpfer der Geistesfreiheit in seinen Leiden nicht ohne erquickende Zeichen der Hochachtung und des herzlichsten Mitgefühls ließen, auch zwei Fürstinnen sich befanden: die deutsche Kronprinzessin Victoria und ihre Schwester, die Prinzessin Alice von Hessen-Darmstadt. Vergebens aber hoffte die Theilnahme auf Genesung: um die Mittagsstunde des 8. Februar 1874 hauchte der Hartgeprüfte sanft und ruhig in den Armen des Sohnes sein Leben aus. Noch in den letzten Tagen vor seinem Tode hatte er Plato’s „Phädon“ in der Ursprache gelesen, und „wenn besuchende Freunde,“ so schreibt Zeller, „jedes Mal mit den Empfindungen von ihm geschieden waren, wie sie uns Platon am Schlusse seines ‚Phädon‘ geschildert hat, so war dies nicht ohne Grund. Denn mit ähnlicher Fassung und Gesinnung, wie dort der alte, wandelte hier ein Weiser und Philosoph unseres Jahrhunderts den letzten Weg.“
Die „Gartenlaube“ hatte im vergangenen Jahre ihren Lesern das Bildniß des lebenden Strauß gezeigt, durch eine freundliche Hand sind wir in den Stand gesetzt, unserem diesmaligen Rückblicke das Bild des Verklärten einzufügen (Nr. 44), von dem alle Zeugen sagten, daß er nach seinem Hinscheiden dagelegen „wie ein Schlummernder, die Züge des Antlitzes von überwältigender Hoheit“. Um dieses bleiche Antlitz, auf das die heiße Thränen trauernder Kinder fielen und dem Verehrung den reichverdienten Lorbeer um die Stirn gewunden, hatte am 10. Februar 1874 eine zahlreiche Schaar erlesener Menschen sich versammelt, die bei der Todeskunde von verschiedenen Seiten herbeigeströmt waren und unter denen wohl kein Einziger sich befand, der nicht mit innerster Ergriffenheit die Größe des Verlustes gefühlt und ermessen hätte. Ohne das übliche Glockengeläute und ohne geistliche Begleitung, wie der Verstorbene es selber angeordnet hatte, aber in langem und feierlichem Zuge führte man ihn über die stillen und schneebedeckten Straßen seiner Vaterstadt hinaus auf den freundlichen Kirchhof. Und wie er es selber gewünscht, so wurden auch an seinem offenen Grabe nur ein paar Lieder gesungen und ein paar kurze Worte des Abschieds gesprochen, dann rollte die winterliche Heimathserde herab auf die erloschenen Reste eines Lebens, dessen Bild fortan die ideal gesinnten Väter unserer Zeit ihren Söhnen hinstellen mögen als ein Muster und Beispiel, da es ein in seinem Leisten gewaltiges, in seinem Streben und seinen Zwecken großes, in seinem Wandel reines und – dem salbungtriefenden Gezeter aller professionirten Heiligkeit zum Trotz – wahrhaft heiliges Leben gewesen ist.