Die Gartenlaube (1874)/Heft 8
[121]
No. 8. | 1874. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
„Ich muß etwas zur Sprache bringen, was mich tief verlegen macht,“ fuhr der Hofmarschall affectirt zögernd fort – er räusperte sich und strich mit der Hand über die Oberlippe, als wolle er in seiner Verlegenheit einen Bart streichen, der nicht vorhanden war; dabei aber funkelten seine kleinen, geistvollen Augen die junge Frau fest und gleichsam behexend an wie die furchterweckenden Lichter des heimtückischen Katzengeschlechts. „Uebrigens sind wir ja ganz unter uns, meine beste kleine Frau, und es wird nie über diese Wände hinausdringen, daß Sie sich in einem kleinen Irrthume befunden haben – wie ich vermuthe.“ Langsam griff er in die Brusttasche seines Fracks und nahm eine kleine Schmuckkapsel heraus. „Dieser Gegenstand fiel mir entgegen, als ich, ärgerlich über die Ungeschicklichkeit unserer Leute, das Kistchen ein wenig zu hastig aufnahm.“ Sein feiner Zeigefinger mit dem tief einwärts gekrümmten bleichen Nagel drückte auf die Mechanik und der atlasgefütterte Deckel sprang auf. Ein schöner Amethyst, von kleinen Brillanten umgeben, ließ sein rothblaues Feuer aufsprühen. Die Steine waren in Rosettenform gefaßt, um als Brosche oder auch am Halsbande getragen zu werden.
„Verzeihen Sie, wenn ich mich irre,“ sagte er, ihr den Schmuck hinhaltend, fast sanft, „aber ich wollte d’rauf schwören, daß ich diese hübsche, kleine Rosette oft am Halse meiner Tochter gesehen habe – ist es nicht ein Stück aus Raoul’s Familienschmucke?“ –
„Nein,“ versetzte Liane vollkommen ruhig und nahm die Rosette von der dunkeln Sammetunterlage – sie schob die Goldplatte auf der Rückseite weg. Das Wappen Fürsten von Thurgau kennen Sie jedenfalls, Herr Hofmarschall – haben Sie die Freundlichkeit, sich zu überzeugen, daß es hier im Innern der Rosette eingravirt ist. Ich habe sie von meiner Großmama, väterlicherseits, geerbt – Sie werden sich dabei sagen müssen, daß dem Enkelkinde dieser Prinzessin von Thurgau ein derartiger Mißgriff, oder, wie Sie ‚vermutheten‘, Irrthum, ganz unmöglich ist …“
„Um Gott – liebe, kleine Frau,“ rief er, jetzt mit einer wirklichen Verlegenheit ringend, „habe ich mich denn so ungeschickt ausgedrückt, daß Sie mich so total mißverstehen konnten? Unmöglich! Man kann doch nicht etwas aussprechen, woran die Seele nicht denkt. Uebrigens hatte ich ja immerhin Recht, wenn ich an einen Irrthum, das heißt eine Verwechselung glaubte – in unserem Hause existirt in der That dasselbe Schmuckstück.“
„Ich weiß es – der Koffer mit Raoul’s Familienschmucke steht in meinem Ankleidezimmer; ich habe bald nach meiner Hierherkunft die einzelnen Stücke mit dem Verzeichnisse verglichen.“
„Das heißt, Sie haben sofort Besitz ergriffen, was ich Ihnen keinen Augenblick verdenke, meine Gnädigste. Angesichts dieses Reichthums haben Sie ferner vollkommen Recht, wenn Sie die Brosamen einstiger Herrlichkeit an Ihr Haus, respective an Ihre Schwester Ulrike zurückverschenken – Sie brauchen sie nicht mehr, und ihr werden sie willkommen sein.“
Eine grenzenlose Erbitterung lag in diesen Tönen, der abscheulichste Hohn in dem Lächeln, das die Lippen des alten Herrn häßlich verzog. Liane rang hart mit sich selbst, um keine Thräne im Auge ankommen zu lassen – sah er diesen Zeugen einer inneren Niederlage, dann war sie verloren. Sie nahm das Kistchen vom Fußboden und stellte es auf den Rococoschreibtisch „mit den Raritätenkästen“, neben welchem der alte Herr saß.
„Sie irren, Herr Hofmarschall,“ erwiderte sie, ihm fest in das Gesicht blickend, „ich werde das Andenken Ihrer Frau Tochter ehren und die Juwelen, mit denen sie sich geschmückt hat, nie tragen. Ich habe sie nur revidirt, weil ich für ihre Vollständigkeit einstehen muß. … Sie irren ferner, wenn Sie meinen, ich schicke den Schmuck nach Rudisdorf, um mit ‚diesen Brosamen einstiger Herrlichkeit‘ meine Schwester zu schmücken – meine Ulrike, wie würde sie lächeln bei diesem Gedanken!“ – Sie stemmte ein auf der Tischplatte liegendes Papiermesser zwischen das Kistchen und den Deckelrest und hob den letzteren ab. Mit hastigen Händen nahm sie einen Stoß Fließpapier voll getrockneter Pflanzen heraus und legte ihn seitwärts, ebenso einen in Seidenpapier gehüllten flachen Gegenstand, anscheinend ein Bild – dann drehte sie das leere Kistchen um und klopfte mit der Hand leicht auf den Boden desselben. „Außer dem Erbstücke von meiner Großmama enthält es nichts von klingendem Geldeswerthe,“ sagte sie herb, mit fliegendem Athem, und sah stolz auf den Mann mit der ordinären Denkweise nieder, dem jetzt doch ein leichtes Roth der Beschämung über die fahlen Wangen huschte – diese Züchtigung hatte er vollkommen verdient.
Gott im Himmel, wozu diesen Beweis?“ rief er. „Soll ich um Vergebung bitten, wo es mir nicht eingefallen ist, zu beleidigen? Wie könnte ich mir je anmaßen, Zweifel in Ihre Wahrhaftigkeit zu setzen! … Ich glaube Ihnen stets auf’s Wort, meine Gnädigste, glaube Ihnen Alles, selbst wenn Sie [122] mir in diesem Augenblicke versichern wollten, daß, Sie das Schmuckstück lediglich in die Heimath zurücksenden, um es – dem Schooßhunde Ihrer Frau Mama um den Hals zu hängen.“
Seine Stimme klang zu impertinent – der grimme Spott jagte der jungen Frau das siedende Blut nach den Schläfen. Sie war im Begriff, dem Hofmarschall den Rücken zu kehren und das Zimmer zu verlassen – da sah sie, wie der Hofprediger, der sich bis dahin schweigend verhalten hatte, die verschränkten Arme mit einer heftigen Bewegung löste und dem alten Herrn einen Seitenblick zuwarf, als wolle er ihn mit seinen glühenden Augen erdolchen. … Wollte er ihr zu Hülfe kommen, sie vertheidigen? … War das einer der „schlimmen Augenblicke“, wo er von ihr gerufen zu sein wünschte? Nie, nie reichte sie diesem Priester auch nur eine Fingerspitze zum gemeinsamen Vorgehen, der mit eherner Faust, mit aller ihm zu Gebote stehenden weltlichen Macht die Menschenseelen knebelte, die in sein Bereich geriethen.
„Zu solchen Absurditäten verirrt sich allerdings mein Gehirn nicht,“ sagte sie sich rasch beherrschend, um jedem Laut von den Lippen des Geistlichen zuvorzukommen. „Ich bin eine Tochter der Trachenberge, und die haben es stets mit dem Leben zu ernst genommen, um so kindisch frivol zu sein. … Wozu soll ich es verschweigen? Die ganze Welt weiß, daß wir verarmt sind – ich schicke die Rosette meiner Mutter, um ihr eine Badereise zu ermöglichen.“
„Ei, was wollen Sie mir da weismachen?“ lachte der Hofmarschall auf. „Oder soll ich Sie der engherzigsten Knickerei beschuldigen? Sie beziehen Nadelgelder bis zu dreitausend Thalern –“
„Ich glaube, es ist einzig und allein meine Sache, wie ich über diese Gelder verfügen will,“ unterbrach sie ihn mit ernster Abwehr. –
„Sehr wohl – ich habe nicht das Recht zu fragen, ob Sie sie in Staatspapieren anlegen, oder Ihre Muslintoiletten davon bestreiten. … Uebrigens, was mögen Sie für Begriffe vom Werth der Schmucksteine haben!“ Er stippte verächtlich mit dem Finger gegen das auf dem Tische liegende Etui – „das Ding ist keine achtzig Thaler werth. … Ihr Götter, achtzig Thaler für die Badereise der Gräfin Trachenberg!“
„Das Stück ist bereits einmal taxirt worden,“ versetzte sie, ihre Fassung tapfer behauptend. „Ich weiß, daß der Erlös für den Zweck nicht ausreichen wird. Eben darum habe ich“ – sie stockte plötzlich, während eine heiße Röthe ihr zartes Gesicht überflog. Sie hatte sich hinreißen lassen, weiter zu gehen, als ihr die Klugheit gebot.
„Nun?“ fragte der Hofmarschall – er bog sich vor und sah ihr mit boshaftem Lächeln unter das Gesicht.
„Ich habe einen Gegenstand hinzugefügt, den Ulrike nicht unter vierzig Thalern verkaufen wird,“ sagte sie nach einem tiefen Athemholen mit leiserer, bei Weitem nicht mehr so zuversichtlicher Stimme, als vorher.
„Ei, was für merkwürdige Hülfsquellen stehen Ihnen zur Verfügung, gnädige Frau? … Ist es dieser Gegenstand?“ Er zeigte nach der Seidenpapierumhüllung, auf die sie unwillkürlich die Hand gelegt hatte. „Es ist ein Bild, wie ich vermuthe –“
„Ja.“
„Eine Arbeit Ihrer eigenen Hände?“
„Ich habe es gemalt.“ – Sie preßte die verschränkten Hände auf die Brust, als fehle ihr der Athem. Wie ein Blitz flog die Terrasse des Rudisdorfer Schlosses an ihrem geistigen Auge vorüber, und sie sah das von Mutterhand verächtlich hinausgeschleuderte Pflanzenbuch auf den Steinfliesen liegen.
„Und das Bild wollen Sie nun verkaufen?“
„Ich habe es vorhin schon gesagt.“ – Sie sah nicht auf. Sie wußte, daß sie in ein funkelndes Auge voll grausamen Triumphes blicken würde, so langsam lauernd war die Frage gestellt worden – es war das empörende Spiel zwischen Katze und Maus.
„Sie haben bereits einen Liebhaber dazu, wie ich denke – irgend einen guten, reichen Freund und Mäcen, der in Rudisdorf verkehrt und pflichtschuldigst dergleichen – Kunstwerke bezahlt?“ –
Jetzt war sie Herr ihrer furchtbaren inneren Aufregung geworden – die Ruhe, die ein rascher, fester Entschluß giebt, kam über sie. „Diese Art von Erwerb, die der Bettelei gleicht, wie ein Ei dem anderen, habe ich selbstverständlich verschmäht und meine Arbeiten lieber an den Kunsthändler verkauft,“ sagte sie vollkommen gelassen.
Der Hofmarschall fuhr empor, als sei er gestochen worden. „Das heißt mit anderen Worten, Sie haben sich vor Ihrer Verheirathung das Brod durch Ihrer Hände Arbeit verdient?“
„Zum Theil, ja! … Ich weiß, daß ich mich mit diesem Bekenntniß vollends in Ihre Hände gebe, weiß, daß ich mir die Stellung hier im Hause noch unerträglicher mache; aber ich will das weit lieber auf mich nehmen, als die Last der Verheimlichung, welche die Seele verdirbt. Ich will und darf hier nicht fortsetzen, was ich, um die Mama nicht aufzuregen, in Rudisdorf immer und immer wieder gethan habe.“
„Tausend noch einmal, da hat mir ja Raoul einen kostbaren Ersatz für mein stolzes, vornehmes Kind, meine Valerie, in das Haus gebracht!“ rief der Hofmarschall bitter auflachend, während er sich in den Stuhl zurückwarf.
Der Hofprediger war aufgesprungen und griff nach der Hand der jungen Frau; aber sie wich mit abwehrend ausgestreckten Armen vor ihm in die Tiefe des Zimmers zurück.
„Sie wüthen gegen sich selbst, gnädige Frau,“ rief er fast demüthig bittend. „Geben Sie zu, daß Sie jetzt in der höchsten Aufregung, in einer Art von Trotz Dinge aussagen, die, ruhig betrachtet, sich ganz anders verhalten!“
„Nein, Herr Hofprediger, das gebe ich nicht zu – es wäre gegen die Wahrheit. Ich wiederhole es ausdrücklich: Diese meine Hände haben bereits Geld verdient, haben um den Erwerb gearbeitet! … In diesem Augenblicke, wo ich den Eindruck sehe, den mein Geständniß gemacht hat, athme ich auf.“ – Ein bitteres Lächeln flog über ihr reizendes Gesicht. „Ich weiß, daß dem scharfen Blick des Herrn Hofmarschalls nicht verborgen bleibt – er hätte früher oder später den wahren Sachverhalt doch erfahren; dann wäre mir lebenslänglich ein Vorwurf aus meinem Schweigen gemacht worden, und ich hätte mir den Anschein gegeben, als schäme ich mich meiner Vergangenheit – Gott soll mich behüten! … Wäre es Ihnen in der That lieber, zu hören, daß ich vor meiner Verheirathung von Almosen gelebt hätte?“ wandte sie sich an den Hofmarschall. „Sie verachten die adelige Hand, die arbeitet, weil ihr keine ererbten Revenüen zu Gebote stehen? Wie sollen dann die anderen Stände Respect vor dem Geburtsadel haben, wenn er selbst meint, sein Wappen dürfe nur auf einem goldenen Hintergrunde liegen? Zertrümmert er mit diesem Tanz um das goldene Kalb nicht selbst die Idee, die ihn über die anderen Stände erhebt? … Gott sei Dank, unser Jahrhundert zeigt uns Standesgenossen genug, die zu adelig denken, um sich der ausübenden Kunst zu schämen!“
„Kunst!“ lachte der Hofmarschall abermals auf – „Kunst, die Klexerei, die der Zeichenlehrer im Stift den hochgeborenen Fräuleins nach ein und derselben Schablone eintrichtert, und“ – er hatte dabei das Bild ergriffen und schlug das Seidenpapier zurück – das letzte Wort ging unter in einer Art von Zischlaut – war es Schrecken oder Beschämung, die dem Manne eine Flamme nach der andern über das fahle Gesicht jagte? Er lehnte wiederholt, als überkomme ihn eine Schwäche, den Kopf mit zugesunkenen Lidern an die Stuhllehne zurück, und als ihm der Hofprediger betroffen näher trat, da breitete er die Hand über das Bild, als wolle er ihm den Anblick vorenthalten.
Die junge Frau hatte den tiefen Eindruck, den sie im indischen Hause empfangen, auf dem Papiere fixirt, allerdings in etwas idealisirter Weise. „Die Lotosblume“ lag nicht auf dem Rohrbette, dem Marterroste, an den sie die Lähmung seit dreizehn Jahren schmiedete – in schwellendes, sammetweiches Rasengrün schmiegte sich der zarte Frauenleib, dem der Stift die elastischen Formen der Jugend zurückgegeben hatte. Das war die Bajadere aus Benares, wie sie der deutsche Edelmann über das Meer gebracht hatte. Den Oberkörper halb aufgerichtet, stützte sie den Kopf in die Hand. Angereihte Goldmünzen lagen verstreut über Stirn und Scheitel und hingen neben den langen schwarzen Flechten auf den Busen nieder, auf das goldgesäumte purpurseidene Jäckchen, das nur die Schultern und einen kurzen Theil der Oberarme deckte; die gewaltigen, zerfransten Blätter [123] einer Musa warfen einen günstigen Halbschatten über die liegende Gestalt, während im fernen Hintergrunde das Sonnenlicht auf der Marmortreppe des Hindutempels, in dem leicht bewegten Teichwasser glitzerte. … In Wasserfarben ausgeführt, war die Zeichnung, besonders in der Staffage, fast skizzenhaft hingeworfen – man sah, sie wurde aus der Hand gegeben, ohne ganz vollendet zu sein; aber in den Linien lag die geniale Sicherheit des Meisters. Der Kopf mit den schwermüthig dämmernden Augen in dem dämonisch schönen, schmalen Gesichte, die Art und Weise, wie sich die nackten, an den Knöcheln goldenberingten Füßchen in den Rasen drückten, so daß einzelne Halme darüber hinschwankten, die unnachahmlich graciöse Biegung der Taille und Hüften unter den weichen Falten des Bajaderenschleiers – das Alles war sorgfältig, mit größter Freiheit und doch kräftig ausgeführt und machte das Bild in der That zu einem Kunstwerke, was der Herr Hofmarschall eben noch so sehr angezweifelt hatte.
Er gewann übrigens ziemlich rasch seine Fassung wieder. „Ei, sieh da – selbst diese junge Frau mit der passiven, kalten Außenseite hat ihre ganz beträchtliche Dosis weiblicher Neugier, die sie daheim in den Familienarchiven und hier im indischen Garten ‚das Pikante‘ unseres Hauses aufstöbern läßt,“ sagte er beißend. „Sie haben sich ja meisterhaft in die vergangenen Zeiten zu versetzen gewußt – das läßt auf peinlich sorgfältige Studien schließen. Aus eben diesem Grunde aber werden Sie auch begreifen, daß dieses Bild die Mauern von Schönwerth nie verlassen darf. Daß wir Narren wären, und ein Stück Schande unseres Hauses – es sei leider gesagt – noch einmal an die große Glocke der Oeffentlichkeit schlagen ließen, und zwar durch eine Frau, die unter dem Vorwande töchterlicher Liebe und Aufopferung als Künstlerin in der Welt brilliren möchte! … Meine Liebe, das Bild bleibt in meinen Händen – ich werde der Frau Gräfin Trachenberg so viel Geld zur Badereise schicken, wie sie wünscht.“
„Ich danke, Herr Hofmarschall – ich protestire im Namen meiner Mutter,“ rief Liane zum ersten Male mit leidenschaftlicher Heftigkeit. „Sie wird stolz genug sein, lieber zu Hause zu bleiben.“
Der Hofmarschall stieß ein schallendes Gelächter aus. Er erhob sich mühsam, schloß einen der Raritätenkästen auf und nahm ein kleines, rosenfarbenes Billet heraus, das er entfaltete und ihr hinhielt. „Meine Gnädigste, lesen Sie diese Zeilen und überzeugen Sie sich, daß eine Frau, die einen ehemaligen Anbeter um viertausend Thaler Darlehen zur Tilgung heimlicher Spielschulden bittet, ganz sicher nicht so penible ist, seine wohlmeinende Freundeshand mit der Unterstützung zu einer heißgewünschten Badereise zurückzuweisen. … Sie hat damals die Viertausend mit glühender Dankbarkeit entgegengenommen, deren Zurückgabe dann leider – der Concurs verhindert hat.“
Automatenhaft, mit versagenden Blicken, ergriff die junge Frau das compromittirende Papier und schwankte seitwärts nach dem Fenster. Sie konnte und wollte sie ja nicht lesen, die wohlbekannten unschönen Züge der mütterlichen Hand – schon die Aufschrift „mon cher ami!“ traf sie wie ein Messerstich – sie wollte nur für einen kurzen Moment den Augen der zwei Herren entrückt sein und trat in die Nische; aber erschrocken fuhr sie zurück. Der Fensterflügel war geöffnet, und da draußen auf der Freitreppe, mit dem Rücken nach dem Hause und die Hände auf das Steingeländer gestemmt, keine zwei Schritte von ihr entfernt, stand Mainau unbeweglich – von Allem, was im Salon vorgefallen war, konnte ihm kein Wort, auch nicht die leiseste Silbe, verloren gegangen sein. Hatte er wirklich den ganzen Wortwechsel mit angehört und sie mit ihrem heimtückischen Gegner allein ringen lassen, dann war er ein Elender. Sie war ja himmelweit entfernt, Liebe von ihm zu heischen, aber den ritterlichen Schutz durfte er ihr nicht versagen, den gewährte ja auch ein Bruder der Schwester.
„Eh – geben Sie mir das Papier zurück, kleine Frau!“ rief der Hofmarschall herüber – er mochte fürchten, sie werde es in die Tasche stecken, weil sie unwillkürlich die Hand sinken ließ. „Für Sie, in Ihrer Oppositionslust, muß man einen Dämpfer in den Händen haben – Sie sind eine nicht zu unterschätzende Gegnerin – ich habe Sie heute kennen gelernt; es steckt Nerv und Race in Ihnen – Sie haben mehr Geist, als Sie zu verrathen wünschen. … Bitte, bitte, geben Sie mir mein allerliebstes, kleines, rosenfarbenes Briefchen!“
Sie reichte ihm den Brief hin; er ergriff ihn hastig, um ihn wieder im Kasten zu verschließen.
In dem Augenblick trat Mainau auf die Schwelle der Glasthür; diesmal nicht mit jener eleganten Lässigkeit, jenem oft verletzenden Gemisch von Langeweile und pflichtschuldiger Höflichkeit, mit welchem er stets im Versammlungszimmer der Familie einzutreten pflegte – er sah stark erhitzt aus, als habe er eben einen anstrengenden Ritt zurückgelegt.
Der Hofmarschall fuhr zusammen und sank in den Stuhl zurück, als der hohe Mann so unerwartet erschien, und wie eine dräuende Wetterwolke einen dunklen Schatten in das Zimmer warf – man hatte kein Geräusch von Schritten auf den Steinstufen gehört. „Mein Gott, Raoul, wie hast Du mich erschreckt!“ stieß er heraus.
„Weshalb? Ist es etwas Absonderliches, wenn ich von drunten herauf komme, um die Herzogin hier zu empfangen, wie Du auch?“ versetzte Mainau gleichgültig – er sah über den kranken Mann im Rollstuhl hinweg wie in athemloser Spannung nach der Stelle, wo seine junge Frau stand. … Sie hatte die Linke auf die Ecke des Schreibtisches gestützt; an den duftigen Kanten des Spitzenärmels sah man, daß diese Hand heftig bebte. Die boshafte Mittheilung des Hofmarschalls über ihre Mutter hatte sie zu tief getroffen, sie fühlte, daß diese Erschütterung lebenslang in ihr nachzittern werde – trotzdem erkämpfte sie sich eine aufrechte, ungebrochene äußere Haltung, und die grauen Augen unter den leicht zusammengezogenen Brauen begegneten dem Blick ihres Mannes fest und finster; sie machte sich auf neue Kämpfe gefaßt.
Vorläufig schritt er nach dem großen Tisch inmitten des Salons, nahm eine dort stehende Caraffe und goß etwas Wasser in ein Glas. „Du siehst fieberhaft aus, Juliane – ich bitte Dich, trinke!“ sagte er, ihr das Glas hinreichend.
Sie wies es erstaunt, nicht ohne Entrüstung zurück – er bot ihr einen Schluck Wasser, um die Aufregung zu dämpfen, die er mit einigen strengen, energischen Worten, ihrem unversöhnlichen Feind gegenüber, hätte verhindern können.
„Lasse Dich durch diese Fieberrosen nicht erschrecken, bester Raoul!“ beruhigte der Hofmarschall, während Mainau das Glas wegstellte. „Es ist das Fieber der Debütantin, das heißt der Debütantin in Schloß Schönwerth – draußen in der Kunstwelt, respective im Laden der Kunsthändler, ist die schöne Frau als Gräfin Trachenberg längst mit Glück aufgetreten – was sagst Du dazu, Du geschworener Feind aller weiblichen Raphaele, Blaustrümpfe und dergleichen? Da sieh ’mal her, was für ein Talent sich heimlicher Weise, uns den Ehecontract herum, in Schönwerth eingeschmuggelt hat! Nur schade, daß die Verhältnisse mich zwingen, dieses Blatt zu confisciren.“
Mainau hatte das Bild schon ergriffen und betrachtete es. Liane sah mit Herzklopfen, wie ihm das Blut in die gebräunten Schläfen stieg. Sie erwartete jeden Augenblick einen gegen „die Stümperei“ gerichteten Spottpfeil hinnehmen zu müssen; aber ohne den Blick von dem Blatt in seiner Hand wegzuwenden, sagte er nur in kaltem Ton über die Schulter zu dem alten Herrn: „Du wirst nicht vergessen, daß das Recht zu confisciren oder zu erlauben in diesem Fall einzig mir zusteht. … Wie kommt das Bild hierher?“
„Ja, wie kommt es hierher!“ wiederholte achselzuckend und sichtlich verlegen der Hofmarschall. „Durch die Ungeschicklichkeit unserer Leute, Raoul – das Kistchen, in welchem es verschickt werden sollte, wurde mir zerbrochen übergeben.“
„Ei, das werde ich streng untersuchen. Solche grob ungeschickte Hände dürfen nicht straflos ausgehen,“ sagte Mainau. Er legte das Bild ohne ein Wort des Beifalles, oder auch nur des Tadels wieder hin. „Und was ist das?“ fragte er und nahm das Paquet Fließpapier mit den getrockneten Pflanzen in die Hand; obenauf lag ein dünnes, betriebenes Heftchen. „Lag das auch in dem verunglückten Kistchen?“
„Ja,“ sagte Liane an Stelle des Hofmarschalls, fest, fast rauh, wie im Trotze der Verzweiflung. „Es sind getrocknete, wildwachsende Pflanzen, wie Du siehst – einige Gattungen aus dem Orchideengeschlecht, die man in der Umgebung von Rudisdorf nur äußerst selten findet. … Magnus verkauft Herbarien [124] nach Rußland, und ich habe bei der Zusammenstellung ihm stets geholfen. … Habe ich auch mit dieser harmlosen Beschäftigung gegen die Etiquette, die Ansichten im Hause Mainau verstoßen, so bedaure ich den abermaligen Mißgriff.“ – Sie streckte Mainau, der das Heftchen mit den Augen überflog, bitterlächelnd ihre edelschönen Hände hin. – „Du wirst mir bezeugen müssen, daß keine Tintenflecken an den Fingern sind, und daß ich niemals die Sünde begangen habe, Dich auch nur mit einem Wort über dieses Bischen lückenhafte botanische Wissen zu langweilen. … Dank der Ungeschicklichkeit Deiner Leute, stehe ich da vor Deinen Augen wie entlarvt, und ich muß still halten.“ – Mit einer lieblich sanften Geberde legte sie die schlanken, biegsamen Hände an die Schläfen, als wolle sie die klopfenden Pulse beschwichtigen. „Es thut mir leid, daß ich wider Willen diese Scene veranlaßt und gegen Dein mir aufgestelltes Programm, dieses – lasse es mich nur einmal, nur dieses einzige Mal aussprechen! – dieses grausam ausgeklügelte Programm geistiger Tödtung – verstoßen habe. Meine Schuld war es nicht – es geschieht auch nicht wieder. … Nur Eines habe ich noch zu sagen, ich muß die Beschuldigung des Herrn Hofmarschalls, daß ich in der Kunstwelt mit meinen kleinen Leistungen aufgetreten sei, um zu brilliren, entschieden zurückweisen. … Als ich mein erstes Bild den Blicken der Oeffentlichkeit ausgesetzt wußte, da hat mich wochenlang das Fieber geschüttelt – nicht aus Angst um den Erfolg, nein, vor Beschämung über mein Wagniß; das Geld aber, das man dafür in meine Hand legte, hat mir bittere Thränen erpreßt, weil ich einen Theil meiner Seele, meines Empfindens verkauft hatte – und doch mußte es immer wieder geschehen.“
Der Hofprediger war während dieser peinlichen Scene, die fast den Charakter einer Inquisitionssitzung trug, im Hintergrund des Salons auf- und abgegangen. Seine Hände lagen ruhig gefaltet auf dem Rücken; aber die breite Brust wogte und hob sich schwerathmend, als ringe er mit einem Erstickungsanfall. Ein einziger Blick hätte die beiden Herren überzeugen müssen, daß der Mann im langen schwarzen Rock, mit dem elfenbeinbleichen Fleck der Tonsur auf dem Haupte, heftig mit sich kämpfte, um nicht wie ein gereizter Tiger auf sie loszustürzen. … Bei den letzten Worten der jungen Frau trat er in die Glasthür und sah angestrengt, die Hand über die Augen haltend, seitwärts über den Park hinweg, wo die Linie der Chaussee, schmal und blendend, für eine kurze Strecke bloßgelegt erschien. „Ich habe recht gehört,“ rief er tiefaufathmend in das Zimmer zurück, „die Herzogin wird gleich hier sein.“
„Ah, sehr gut, wir waren auf dem besten Wege, sentimental zu werden!“ sagte der Hofmarschall. „Vorwärts denn!“ Er erhob sich; seine schmale, lange Gestalt mit nicht zu unterdrückendem Aechzen hoch aufreckend, trat er vor den Spiegel, zupfte an der weißen Halsbinde, goß eine Odeurfluth über das Taschentuch und besprengte Frack und Weste mit den köstlich duftenden Tropfen; dann nahm er den Hut in die Hand und ging halb steifbeinig, halb zusammenknickend hinaus. Die junge Frau aber legte ruhig die Papiere in das Kistchen und versuchte den Deckel darauf zu drücken.
„Nun, Hochwürden,“ sagte Mainau zu dem Geistlichen, der wie ein Fels an der Thür verharrte – er wartete offenbar darauf, daß Mainau vor ihm den Salon verlasse. „Vergessen Sie, daß die Frau Herzogin es Ihnen sehr übel vermerken wird, wenn der übliche Weihespruch aus Ihrem Munde sie beim Aussteigen nicht begrüßt?“
Beider Blicke begegneten sich – spöttisches Befremden in Mainau’s Augen und glühender, unverhohlener Ingrimm in denen des Geistlichen trafen aufeinander – es sprühten Funken.
„Bitte, bitte, nach ihnen, Herr Hofprediger!“ protestirte Mainau mit der Hand hinauswinkend, aber keineswegs in ritterlich achtungsvollem Zurücktreten vor der geistlichen Würde, sondern als höflich gebietender Schloßherr, wobei er ein sarkastisches Lächeln nicht zu unterdrücken vermochte. „Sorgen Sie sich nicht um mich – ich werde im rechten Moment unten stehen,“ versicherte er.
Der Hofprediger ging mit einer leichten Kopfneigung hinaus. Mainau verfolgte den Zipfel des schwarzen Rockes, wie er langsam zögernd von Stufe zu Stufe glitt – dann wandte er sich plötzlich um, und mit einem feurigen Aufblicke seiner dämonischen Augen trat er rasch auf die junge Frau zu und streckte ihr beide Hände entgegen.
„Wozu das?“ fragte sie, unbeweglich wie eine Statue auf ihrem Platze verharrend. „Soll das ein Act großmüthiger Verzeihung sein? Ich appellire nicht an sie, denn ich habe nichts verbrochen. Ich bin mir bewußt, weder meine Pflichten als Leo’s Mutter, noch die der Hausfrau und dame d’honneur in irgend einer Weise durch meine kleinen Studien beeinträchtigt zu haben. Die Pflanzen habe ich auf meinen Spaziergängen mit Leo gesammelt und bereits das ABC der Botanik für ihn darangeknüpft. Gemalt und geschrieben aber habe ich nur in den frühesten Morgenstunden, wo Niemand meiner bedurfte. … Ist es Dein Wunsch und Wille, daß ich auch diesen erholenden Beschäftigungen entsage, dann soll und muß es geschehen. Aber ich gebe Dir zu bedenken, daß, wenn der Mann das Recht für sich beansprucht, allen Unannehmlichkeiten, aller Langeweile des Familienhauses ohne Weiteres den Rücken zu kehren und jahrelang in der Fremde umherzuschweifen, der Frau dann wenigstens einige Erholungsstunden nicht versagt werden dürfen, in denen sie sich über die stündlichen Plackereien und Anfechtungen während seiner Abwesenheit erheben kann. … Wie bereits versichert, unterwerfe ich mich auch in diesem Punkte, jedoch nicht als Deine blind und gehorsam nachgebende Frau, sondern als Leo’s Mutter. Ich habe die mütterlichen Pflichten übernommen und werde meine Aufgabe durchführen – wäre das nicht, dann ginge ich jetzt nicht der Herzogin entgegen, sondern, wie es der eben stattgefundene Auftritt und meine Sehnsucht fordern – in die Heimath zurück.“ …
Sie nahm ihre Schleppe auf, ergriff das Bouquet und wollte mit vornehm ruhiger Haltung an ihm vorüberschreiten; aber er vertrat ihr den Weg. Fast überkam es sie wie Furcht und Angst, als sie so nahe vor ihm stand – ein blühend kräftiges, von einem ungestümen Geist beseeltes Männerantlitz tief erbleichen zu sehen, hat stets etwas Erschreckendes für die Frauenseele.
„Noch einen Augenblick!“ sagte er die Hand aufhebend, beherrscht, aber mit tiefer Bitterkeit. „Du irrst, wenn Du meinst, ich habe Dich mit meiner Verzeihung behelligen wollen – in der Weise kann ich mich Dir vorhin unmöglich genähert haben. Ich bin nicht so verstandesüberlegen wie Du, um genau das zu analysiren und zu controliren, was in meinem Innern vorgeht – ich lasse mich hinreißen, es unbedenklich auszusprechen, wie es emporquillt, und so mag es vorhin weit eher das Verlangen gewesen sein, Dich um Verzeihung zu bitten, als der Wunsch, Dich zu demüthigen. Entweder Du hast kein Verständniß für den Gesichtsausdruck Anderer – was ich bei Deiner außerordentlichen künstlerischen Begabung nicht annehmen kann – oder die stolze, tief verletzte Gräfin Trachenberg hat nicht verstehen wollen. Ich glaube das Letztere und respectire Deinen Wunsch und Willen, der eine innere Ausgleichung zurückweist. … Trotzalledem müssen wir uns doch der Welt als friedliches Ehepaar präsentiren,“ fuhr er, wieder in seine leicht frivole Ausdrucksweise verfallend, fort, „und darum habe die Güte, Deine Fingerspitzen auf meinen Arm zu legen, wenn wir die Treppe hinabsteigen.“
Saat in’s Wasser.
Schütz’ und stütz’ die Natur, belausch’ ihr verborgenes Walten,
Forsche nach Willen und Drang, zügle Verschwendung der Kraft!
Wahrlich, sie lohnet dich reich; die wohlgeleitete Freundin
Danket der schirmenden Hand mit hundertfältiger Frucht.
Dieses Motto enthält eine so alte Wahrheit und berührt eine so selbstverständliche Thatsache, daß Mancher sich über die Naivetät des Gesagten wundern wird, und doch hat der Mensch so oft und schwer gegen die Natur gesündigt. Der dürre, ermüdete Acker des Landwirths und dessen versumpfte Wiesen sind nur kleine Beispiele, denn es sind leider auch große Naturtragödien anzuführen, bei denen die menschliche Habsucht und Verblendung die tragische Schuld vertritt und die Rache der beleidigten Natur das ewig waltende Fatum. Die entwaldeten und deshalb ausgedörrten und entvölkerten Strecken Spaniens, Griechenlands
[126] und des Karstgebirges sind uns und den kommenden Geschlechtern ungeheure Warnungszeichen. Trotzdem macht der Mensch sich noch immer, wenn auch nicht so schwerer, so doch bedenklicher Mißhandlungen an der Natur schuldig.
Eine ganze Thiergattung scheint einer unsinnigen Verfolgungswuth ausgesetzt zu sein, und nur wenige Maßnahmen deuten in den letzten Jahrzehnten auf eine Umkehr hin. Ich meine die stumme Gesellschaft des Wassers, die Fische.
„Ach, wüßtest du, wie’s Fischlein ist
So wohlig auf dem Grund!“
singt Goethe; aber das ist schon lange her! Zu einem Wohlbefinden läßt der Mensch die Fischlein nicht mehr kommen; selbst in den ungeheuren Jagdgebieten des Meeres hat er es fertig gebracht, einzelne Gattungen zu decimiren, und in den Binnengewässern, namentlich in den kleineren, führen die Fische kein ruhigeres Dasein als die Hasen in England, wo bekanntlich seit Jahrhunderten keiner mehr eines natürlichen Todes gestorben ist. Und Freund Lampe erfreut sich dort noch einer Schonzeit, wo er sich den süßen Sorgen um eine Nachkommenschaft hingeben kann; der unglückliche Fisch aber kennt eine solche Begünstigung nicht, ja, in den meisten Fällen trifft ihn der Tod in den erfolgreichsten und glücklichsten Stunden, in denen er sich der Zukunft seines Geschlechts gewidmet hatte. Die Gewässer namentlich unseres Erzgebirges sind ferner durch die niederträchtigsten Fangarten, wie die durch Kalk, Kockelskörner, Dynamit etc., mit denen wohl Hunderte von Fischen getödtet, aber nur wenige erbeutet werden, geradezu entvölkert worden; auch Mutter Industrie mit ihren malitiösen Abgängen in die Flüsse hat das Ihrige dazu beigetragen, obwohl sie ihren Unrath auf leichte Weise oft noch verwerthen oder wenigstens filtriren könnte; im Ganzen wollen wir ihr indeß keine großen Vorwürfe machen, denn ihr Gedeihen hebt einen guten Fischbestand mittlerer Flüsse, wie solche unser Erzgebirge durchströmen, reichlich auf; nur wo sie unnöthiges Unheil anrichtet, da sollte sie in Strafe genommen werden.
Dem aristokratischen Touristenfische, Ritter Salm, muß es bei uns längst zu bürgerlich industriös geworden sein; er besucht uns fast gar nicht mehr, und thut er es hier und da noch, so bezahlt er seine alte Anhänglichkeit fast regelmäßig mit dem Tode. Die vielen Fabrikwehre mit ihren mörderischen Fangvorrichtungen sind ihm zum Sterben unbequem geworden, und einer frisch-fromm-fröhlich-freien Springstange, die ihm eigentlich, nach Darwin’scher Theorie, wachsen müßte, erfreut er sich zur Stunde noch nicht. Fast ebenso selten sind die Forellen bei uns geworden, und im übrigen Deutschland sieht es nicht viel besser aus.
Der Schottländer Burns vergleicht in einem seiner herrlichen Volkslieder die Freude mit einer Forelle, wer aber die Freude auf Grund seines hungrigen Magens mit Forelle definiren wollte, der darf nicht zu uns in das einst so forellenberühmte Erzgebirge kommen, wo gegenwärtig das Pfund Forellen mit drei Mark bezahlt wird und dafür noch schwer zu haben ist. Kurz, es ist nicht nur Etwas, es ist Alles faul im Staate der Ichthyophagen. Aber, wie gewöhnlich, wenn die Noth am höchsten ist, so ist auch diesmal – eine Erfindung am nächsten, wenigstens die Ausbeutung einer solchen, ich meine die Ausbeutung der Jacobi’schen Erfindung, die künstliche Befruchtung der Fischeier. Andere Länder sind bereits darin vorangegangen und Sachsen reiht sich jetzt mit einem umfangreichen Unternehmen diesen Bestrebungen an.
Gelehrte und Volkswirthe hat das Versiechen der einst so reichen und gesunden Ernährungsquelle längst beängstigt, und in Büchern und Zeitschriften, auch in der Gartenlaube, haben sie warnend oder belehrend ihre Stimme erhoben. Wenigen ist jedoch Gelegenheit geboten gewesen, der schwerfälligen Menge mit augenscheinlichen Beispielen voranzugehen und ihr zu zeigen, welche Reichthümer sie sich erschließen könnte. Bloße Belehrungen sind nicht hinreichend; um so mehr darf des Verdienstes eines Mannes gedacht werden, der, ohne viel Aufhebens davon zu machen, unermüdlich arbeitete, um einen so wichtigen Zweig der modernen Cultur in Credit und Aufnahme zu bringen, eines Mannes, der, von Mißerfolgen nicht entmuthigt, dem Volke zeigen wollte, daß auch eine Saat in’s Wasser sich lohnt, ja bei Weitem ertragfähiger werden kann als eine solche in das Erdreich. Es ist dies der königlich sächsische Forstwirth Richard Bruhm, der Gründer der Gesellschaft für Edelfischzucht zu Chemnitz, welcher bereits seit 1869, und zwar zuerst in Dittersdorf, sich mit der Anlage von Fischzuchtanstalten beschäftigte und später durch Ankauf zweier Bauergüter zu Einsiedel für zwanzigtausend Thaler die Anstalt in’s Leben rief, unterstützt durch das schöne silberreine Quellwasser, welches jenes Grundstück in reicher Fülle darbietet.
Große Reisen in die verschiedenen Anstalten Oesterreichs, Deutschlands und Frankreichs ergänzten die praktischen Erfahrungen Bruhm’s. Der Bau der Einsiedler Anstalt begann vor etwa zwei Jahren mit zahlreichen Arbeitskräften, so daß die Herstellung der ganzen Arbeit bis auf einige erweiternde Teichbauten bis zur gegenwärtiges Brutsaison ermöglicht werden konnte.
Es ist eine für das Gedeihen der Anstalt zwar gleichgültige, aber recht angenehme Thatsache, daß dieselbe eine anmuthige, wahrhaft poetische Stätte gefunden hat. Die beiden erkauften Güter, welche eine Grundfläche von zwanzig Hectaren umfassen, liegen in einem kleinen Seitenthale des Zwönitzflusses, wie es lieblicher nicht gedacht werden kann; das Gute dabei ist, daß diese romantische bergige Beschaffenheit die Ausnutzung des Terrains außerordentlich erleichterte und verbilligte; fichtengrüne Höhenzüge schließen die Stätte fast ringsum ein. Vierzehn tiefe, meergrüne Teiche reihen sich an einander; eine Menge von krystallhellen Quellen liegen wie ebenso viele klare Augen verstreut auf den Fluren, und ihre silbernen Thränen plätschern, zu einem kleinen Bach vereinigt, von Teich zu Teich und dem Zwönitzthale zu. Neben den Teichen erstrecken sich schlangenartig verschlungen etwa achthundert Meter lange Gräben, zur Aufnahme der jungen Fischbrut angelegt. In den Teichen selbst zanken sich drei- bis viertausend angekaufte Zuchtforellen um das Futter. Diese selbst bilden den Stamm des zukünftigen Bestandes und repräsentiren ein schwimmendes, eierlegendes Capital von über fünfzehntausend Mark.
Ein Hauptfactor des Gedeihens und ein nicht genug zu schätzender Vorzug dieser Anstalt vor anderen ihrer Art ist der, daß kein Wasser verwendet zu werden braucht, welches nicht auf eigenen Grundstücken entsprungen wäre. Mutter Industrie wäscht sich jetzt fast an jedem Wässerlein ihre schwieligen unreinen Hände, und die Anstalt müßte in beständiger Angst um ihre Zöglinge leben, wenn es Jener einmal einfallen sollte, dem Lämmlein das Wasser zu trüben und es hinterher auch noch aufzufressen. Ferner ist der bedeutende Fall des Terrains ein großer Vortheil; er ermöglicht die eigene Aufzucht eines guten Theils der ausgebrüteten Fische und reducirt die Kosten der Teichanlagen auf die Hälfte. Man konnte sich an den meisten Stellen mit einem bloßen Querdamm begnügen. Die deutsche Verwaltung der großen Fischbrutanstalt zu Hüningen im Elsaß hat dagegen mit Bedauern erkannt, daß die Franzosen in der Wahl des Platzes sich unbegreiflicher Weise vergriffen haben; sie sieht sich der ebenen Lage wegen außer Stande, Lachse und Forellen in großer Menge selbst aufzuziehen. Ein weiterer Vortheil der Einsiedler Anlage ist der, daß zur Verbrütung der Eier ganz nach Belieben Quellwasser oder auch das im Winter kältere Bachwasser verwendet werden kann; hierdurch ermöglicht sich eine ganz genaue Regulirung der bei diesem Geschäfte so wichtigen Temperatur. Der für die Entwickelung der Eier günstigste Wärmegrad kann also bei ganz extremen Witterungszuständen festgehalten werden, da die Quellen bekanntlich nur wenig differiren. Eine Wasserleitung von Steingutröhren führt das zum Brüten bestimmte Quellwasser in ein dreißig Meter langes und zwanzig Meter breites Bruthaus, in welchem achtundzwanzig große, von Cement gegossene Bruttröge stehen, von denen ein jeder sechszigtausend Eier aufzunehmen im Stande ist. Das Wasser vertheilt sich im ganzen Gebäude durch eine Rohrleitung, so daß jeder einzelne Trog seinen selbstständigen Zu- und Abfluß hat. Das Haus für die Beamten der Anstalt ist ein stattliches Gebäude mit schönen geräumiges Wohnungen, und es wäre sehr zu wünschen, daß jede andere Industrie für ihre Mitglieder ebenso gut sorgte. Unter dem Wohngebäude befinden sich in einer Art Halbstock die Verpackungsräume, von welchen aus die jungen erst halblebendigen Wesen, die in der Anstalt nicht selbst aufgezüchtet werden können, ihre Reise in die weite Welt wohlverpackt antreten sollen.
[127] Die Anstalt macht in allen ihren Theilen den Eindruck der frischesten Gesundheit; Kinderkrankheiten werden auch ihr freilich nicht ganz erspart bleiben, ist doch die Wissenschaft der Fischzucht noch sehr jung; aber Vertrauen erweckend ist es, daß die unternehmenden Leiter der Anstalt selbst von dem besten Vertrauen beseelt sind.
Die Direction gedenkt die Lebensdauer einer Anstaltsforelle auf fünf bis sechs Jahre auszudehnen, will also der Anzucht eine Mast folgen lassen. Die künstliche Befruchtung der etwa erbsengroßen Eier, welche sich der Laie, durch das Wort „künstlich“ verführt, gewöhnlich sehr complicirt vorstellt, ist eine einfache Vermengung des Rogens mit der Milch und kommt dadurch zu Stande, daß man durch einen leisen Druck auf die Bauchfläche der laichfähigen Fische diese veranlaßt, die Milch oder die Eier von sich zu geben. In den feineren Vorgang bei der Verbindung beider Substanzen läßt uns die Natur absolut nicht blicken, und er wird uns ein Geheimniß sein und bleiben. Die Befruchtung gelingt, wenn ein sachkundiges Auge die gehörige Reife des Rogens vorher richtig erkannte, fast auf alle Fälle. Die Eier nehmen sofort eine glänzende blaßrothe Farbe an und man vertheilt sie dann in zartester Weise, vermittelst der Fahnen von Gänsefedern, gleichmäßig in die Bruttröge und überläßt das Geschäft der Ausbrütung dem Wasser und der Zeit. Das Wärmebedürfniß ist hierbei ein ganz geringes; die Forelle sucht auch in der Natur als sogenannter Winterlaichfisch die frischesten Gewässer hierzu auf. Der Mensch hat in der eigentlichen Brutzeit nichts zu thun, als für einen regelmäßigen Zufluß von sauerstoffreichem Wasser zu sorgen und außerdem die Feinde fernzuhalten. Unter diesen zählt merkwürdiger Weise unser Aller Freund, das Licht, zu den gefährlichsten.
In der Natur bedeckt die weibliche Forelle diejenigen Eier, welche der hinterdreinschwimmende Herr Gemahl nicht gleich auffrißt, durch Wedeln der Schwanzflossen mit Sand; wahrscheinlich lebt auch schon in ihrem Instinct das dumpfe Bewußtsein von der Lichtscheu ihrer zukünftigen Sprossen. Diese an und für sich so häßliche vaticanische Eigenschaft begründet sich ganz wie bei den Römlingen auf Furcht vor neuem jungen Leben, und so sehr wir wünschen müssen, daß das junge Licht und Leben des Geistes dem vergreisten Institut zu Rom bald vollends heimleuchten möge, ebenso sehr müssen wir hoffen, daß unser Einsiedeler Institut dem jungen Leben dauernd trotzen möge, nämlich dem vegetabilischen, welches das frische animalische bedroht. Das Licht bringt nämlich die massenhaften Samensporen im Wasser zur Entwicklung und die verschiedenartigsten Algen und Pilze ersticken, zerfressen und zersetzen das junge animalische Leben. Ein weiterer sehr gefährlicher Feind ist unreines Wasser. Der abgesetzte Schlamm befördert die Entwickelung jener gefährlichen Feinde und die Samensporen sind in ihm in viel größeren Mengen vorhanden, so daß selbst die dichteste Finsterniß, welche man durch einfache Holzdecken in den Brutkästen herstellt, nicht im Stande ist, das Uebel ganz aufzuheben. Glücklicher Weise liegen die Quellen der Anstalt sehr tief im Schiefergebirge, so daß sich das Wasser selbst nach langem Regen nicht trübt.
Nach ungefähr ein bis zwei Monaten nach der Befruchtung werden die Augen des jungen Wesens als zwei unverhältnißmäßig große schwarze Punkte sichtbar und das Leben hat begonnen; bei leisem Druck dreht das Thierchen sich in seiner gummiartigen zähen Hülle im Kreise herum. Jetzt sind die Eier am wenigsten empfindlich, und die Zeit ist gekommen, in welcher sich die Anstalt der Ueberzahl ihrer Zöglinge entledigen muß. In Holzkästen, etwa auf zwei- bis dreitausend Stück berechnet, wird das halblebendige Volk in feuchtes Moos sorgfältig verpackt und den Bestellern per Post oder Bahn zugesandt. Auf diese Weise hat man selbst von England aus embryonirte Lachseier mit Erfolg nach Australien spedirt.
Die zurückbleibenden, die eigentlichen Zöglinge der Anstalt, kriechen je nach der Temperatur des Wassers in zwei bis drei Monaten aus ihren immer dünner gewordenen Hüllen, ähnlich wie der Keim aus einer enthülsten Erbse, und es kommt ein Geschöpf zum Vorschein, welches der Nichteingeweihte eher für einen vorweltlichen Lurch, als für eine Forelle halten wird. Ein dünnes, durchsichtiges, fadenartiges Gallert mit einem großen Kopf, der eigentlich nur aus zwei Augen besteht, schwankt unbehülflich auf einem gelblichen Dottersack und müht sich mit dieser Last vergeblich vorwärts. In dieser Dotterblase hat ihm die Natur für die erste Zeit seines Lebens einen Freßkorb mitgegeben, dessen Vorrath circa vier bis fünf Wochen ausreicht. In dieser Zeit ist das junge Wesen so unbehülflich, daß jedenfalls in der Natur Abermillionen derselben zu Grunde gehen.
Nicht einmal gegen die Welle kann es sich halten und seinen zahllosen Feinden (seine liebevollen Eltern inbegriffen) ist es hülflos preisgegeben; ein einziger Elritze, dieser bubenböse Sperling des Wassers, kann in kurzer Zeit ganze Massen dieser gesuchten Nahrung vertilgen. Selbst der aufgewirbelte Sand wird ihnen schon gefährlich – ein Körnchen, das sich in die Kiemen legt, führt sehr oft den Erstickungstod herbei. Man sieht, wie erfolgreich hier die Menschenhand die Natur unterstützen und schützen kann.
Nach abermals vier Wochen hat sich die Nabel-Ernährung unmerklich in eine Freßwerkzeug-Ernährung verwandelt. Die Durchsichtigkeit, welche anfänglich dem bloßen Auge schon allerhand Beobachtungen des innern Baues, des Herzschlages etc. zuließ, hat sich verloren, und das Thierchen ist reif, nunmehr selbstständig seine Laufbahn zu beginnen. Jetzt drängen sie sich tausendweise an die künstlich hergestellten Rüsche und zeigen ihren Pflegern damit, daß sie Hunger haben und daß sie fähig geworden sind, ihr Futter selbst zu suchen. Die Quellen werden nun aus dem Bruthause in die bereits genannten Gräben geleitet und das schwärzliche, fröhlich wimmelnde Volk folgt ihnen nach. Die feine und so verschiedenartige Nahrung, wie sie das Wasser enthält und wie sie das junge Fischchen bedarf, kann ihm nur die Natur bieten. Der Mensch hat jetzt ein Vierteljahr lang nur auf Schutz gegen Krähen, Wasserratten und ähnliches Gethier bedacht zu sein; später gewöhnt man sie allmählich an das Mastfutter. Maden, Kerbthierchen, feingehacktes Pferdefleisch wird ihnen wechselsweise gereicht, bis sie sich schließlich mit bloßem Pferdefleische begnügen müssen. Es bilden sich bald sogenannte „Fresser“ heraus, welche ihre Cameraden oft an Umfang um Leibeslänge überholen. Diese gefährlichen Burschen müssen entfernt und allein gehalten werden, denn hier schont die Schwester leider den Bruder nicht. Ein einziges solches Exemplar kann nach und nach, à la Hecht, ganze Teichbevölkerungen auffressen.
Je größer nun das Völkchen wird, je weniger dicht darf es gehalten werden, was die Anstalt in den Teichen nicht unterbringt, verkauft sie als Satzforellen weiter. Die fernere Pflege ist ohne Interesse. Man hält die Jahrgänge sorgsam auseinander und füttert sie mit Pferdefleisch; zu bemerken ist nur, daß auch die Forelle in gewisser Hinsicht sich civilisiren läßt. Sie sucht bald, wie ein Hausthier, regelmäßig die Futterbänke auf und denkt nicht mehr an das gegenseitige Auffressen. Nach drei Jahren stellen die nunmehr unter die Reihe der erwachsenen Forellen aufgenommenen Fische ihre erste Lieferung an Eiern für die Anstalt. Die Männchen werden jetzt meistens ausgeschieden und verkauft, denn zur Zucht bedarf man etwa auf vierzig Weibchen ein Männchen. Man nimmt ihnen, wie es bereits mit den Eltern geschah, die Sorge für Nachkommen, vielleicht in unliebsamer, aber gewiß sehr „zuvorkommender“ Weise ab, und der Rundlauf beginnt von Neuem.
In fünf bis sechs Jahren ist die „Saat im Wasser“ zur wohlschmeckenden, gesunden Fracht herangereift und harrt blau oder in Butter ihrer endlichen Bestimmung entgegen.
Das ist, dem reichen Stoffe gegenüber in kurzen Worten das Schicksal einer Anstaltsforelle. Möchten aber auch diejenigen Zöglinge der Anstalt, welche hier nicht aufgezogen werden können, immer eine Stätte finden, daß der Absatz leicht von Statten gehe und daß die in’s Leben gerufenen Thierchen nicht frühzeitig wieder zu Grunde gehen. Und darum rufe ich den Besitzern von Seen, Teichen, Flüssen, Bächen und Quellen zu:
Saat in’s Wasser! Verwandelt Eure todten Moore in lebendige! Hier ist die Anstalt, aus der Ihr jetzt embryonirte Eier und im Frühjahre junge Satzforellen beziehen könnt. Manche Quelle, die sich jetzt miasmenträge durch das Moor dahinwindet, kann Euch zu einer silbernen werden. Ihr namentlich im Erzgebirge, die Ihr es so in der Nähe habt und dazu die schönen forellenfrischen Gewässer, eßt Euch und Euren Nachkommen nicht mit den ewigen Kartoffeln die Scrophulose an den Hals, schafft Euch eine gesündere Nahrung an, schüttet [128] den letzten Teich nicht zu oder legt ihn trocken, um saures Futter darauf zu erbauen. Bebaut die flüssige Ackerkrume rationell! Sie ist nicht weniger dankbar, als das Feld! darum: Saat in’s Wasser! Vielleicht erleben wir noch, daß die traditionellen Forellenwirthshäuser des Erzgebirges wieder in die alten Rechte ihres Ruhmes eintreten, die sie mit ihren bejammernswerthen Miniaturausgaben gegenwärtig ganz verloren haben.
Den Männern aber, welche die Natur so wacker unterstützen, ein treues erzgebirgisches Glückauf! Möge sie Euch danken mit hundertfältiger Frucht!Gampe.
Vom Ewigen Juden.
An einem winterlichen Sonntage des Jahres 1542 bemerkten die andächtigen Besucher einer der Hauptkirchen Hamburgs während der Predigt einen Mann von auffallendem Aeußern, welcher der Kanzel gerade gegenüber stand. Trotz der strengen Winterkälte war er barfuß und trug an Kleidern nur ein Paar durchlöcherte Hosen, einen bis zu den Knieen herabreichenden mit einem Strick um die Hüften gegürteten Rock und darüber einen grauen fadenscheinigen Mantel, der bis zu den Füßen hinabreichte. Das ergraute Haar des unbedeckten Hauptes wallte in langen Strähnen auf die Schultern herab. Seine hohe mächtige Gestalt ragte weit über die Umstehenden empor. Er lauschte mit solcher Andacht den Worten des Predigers, daß seine Gestalt unbeweglich schien. Nur wenn der Name Christi von der Kanzel erscholl, verneigte er sich, kreuzte die Arme über der Brust und seufzte tief auf.
Die Erscheinung erregte Aufsehen, und man forschte ihr weiter nach. Da erfuhr man, daß der geheimnißvolle Fremde schon einige Zeit sich in Hamburg aufhalte, in Jerusalem geboren, seines Handwerks ein Schuster sei und sich nenne Ahasver. Er sei, so hieß es, ein persönlicher Zeuge der Kreuzigung Christi gewesen und seitdem am Leben geblieben. Zur Bestätigung dieser seltsamen Mähr erzählte er die Umstände, unter denen das Leiden und die Kreuzschlagung Christi vor sich gegangen, weit genauer, als die Evangelien und heiligen Geschichten. Ebenso genau kannte er die Ereignisse, welche in den nächsten Jahrhunderten nach Christi Tode im Morgenlande sich zugetragen hatten, wußte die Lebensschicksale, das Lehren und Leiden der Apostel. Er führte ein stilles und eingezogenes Leben, war in sich gekehrt und schweigsam, sprach nur, wenn man fragend in ihn drang, und nie sah man ihn lachen. Dabei redete er die Sprache fast aller Länder. Um ihn zu sehen und zu hören, kamen viele Neugierige oft aus weiter Ferne nach Hamburg. Manche luden ihn auch wohl zu sich ein. Dann bekundete er stets eine große Mäßigkeit im Essen und Trinken. Kleine Geldgeschenke nahm er gern an, vertheilte sie aber sofort unter die Armen, indem er angab, selbst nichts zu bedürfen.
Einigen, darunter namentlich dem späteren Bischof von Schleswig, Doctor der heiligen Schrift, Paulus von Fitzen[WS 1], der damals noch in Wittenberg studirte, sich aber besuchsweise bei seinen Eltern in Hamburg aufhielt, gelang es, weiter in das Geheimniß einzudringen, das den Fremden umgab. Diesem erzählte er: Er habe zur Zeit des Auftretens Christi das Schuhmacherhandwerk in Jerusalem betrieben, gleichzeitig aber viel Verkehr gehabt mit den Schriftgelehrten und Pharisäern. Mit ihnen und den Hohenpriestern habe er Jesus, den er für einen Volksverführer gehalten, verfolgt, an seiner Gefangennahme mitgewirkt und das „kreuzige“ über ihn mitgerufen. Als derselbe nun auf dem Gange zum Tode an seinem Hause vorübergekommen, habe er sein Hausgesinde zusammengerufen, damit sie sich Alle an dem Anblick des Verurtheilten laben möchten. Sein kleines Kind habe er selbst auf den Arm genommen, um ihm den Vorüberwandelnden zu zeigen. Da sei dieser unter der Last seines Kreuzes zusammengebrochen und habe sich an die Pfosten seiner, Ahasver’s, Hausthür gelehnt, um ein wenig auszuruhen. Er, Ahasver, sei aber scheltend zu ihm herangetreten und habe ihn gehen heißen. Da habe Jesus sich erhoben, ihn angesehen und also geredet: „Ich will stehen und ruhen, Du aber sollst gehen und wandern immerdar.“ Und von Stund an habe es ihn im eigenen Hause nicht mehr gelitten, er habe sein Kind hingesetzt, sei dem Zuge nachgefolgt gen Golgatha, habe die Kreuzigung mit angesehen und nicht vermocht, in die Stadt Jerusalem zurückzukehren. Ohne Weib und Kind wieder zu begrüßen, sei er ruhelos gewandert von Land zu Land. Als er nach hundert Jahren wieder nach Palästina gekommen, sei Jerusalem ein Trümmerhaufen gewesen. Inbrünstig sehne er sich nach Ruhe und Erlösung.
Dies Alles erzählt uns das Volksbuch vom Ewigen Juden, das als solches in erster Ausgabe, „gedruckt in diesem Jahre“ (1662) zu Leyden und gleichzeitig zu Bautzen erschien. Es gründet sich auf einen Bericht eines der Schüler jenes Paulus von Fitzen, des Westphalen Chrysostomus Dädalus, der diesen nach einer mündlichen Erzählung seines theologischen Lehrers bereits im Jahre hatte 1564 hatte zum Druck gelangen lassen.
Doch war Das nicht die erste schriftliche Erwähnung des wunderbaren Wanderers. Schon im dreizehnten Jahrhunderte hatte ein englischer Chronist, der Mönch Paris (Matthäus Parisiensis) in seiner historia major berichtet, daß ein armenischer Bischof die Nachricht nach England gebracht habe, in Armenien lebe ein Mann, der Jesus noch gesehen hätte. Er sei unter dem Namen Cartaphilus Pförtner des Palastes von Pontius Pilatus gewesen, habe Jesus, als er durch das Thor des Palastes gegangen, mit der Faust in den Nacken geschlagen und spottend zu ihm gesagt:
„Geh’ hin, Jesus, immer geh’ schnell! Was zögerst Du?“
Darauf habe Jesus geantwortet: „Ich gehe, und Du sollst warten, bis ich wiederkomme.“
Alle hundert Jahre befalle diesen Armenier eine unheilbare Schwäche, er liege eine Zeitlang in Ohnmacht, lebe dann aber wieder auf und komme wieder in das Alter, in welchem der Herr zur Passionszeit gestanden habe. Später sei er Christ geworden und habe in der Taufe den Namen Joseph erhalten. Er harre der Wiederkunft Jesu und damit seiner Erlösung.
Das Stillleben in dieser seiner Heimath Armenien mochte ihm später wohl nicht behagt haben; er bricht also auf und beginnt im Anfange des sechszehnten Jahrhunderts als Ahasver seine Wanderung durch Europa, durch die Welt. Denn nach seinem Auftauchen in Hamburg – einige Jahre vorher auch in Böhmen – kommt er rasch nacheinander zum Vorschein in Madrid, Wien, Lübeck, Krakau, Moskau, Paris, Naumburg, Stade, Brüssel, Leipzig und München. In den Niederlanden führte er den Namen Isaak Laquedem; in Spanien bemerkte man ihn mit einer schwarzen Binde auf der Stirn, mit welcher er ein flammendes Kreuz bedeckt, das sein Gehirn ebenso rasch, als es wächst, wieder verzehrt.
So war denn die geheimnißvolle Figur des Ewigen Juden, welche den Beinamen Ahasver sich erwarb, auf einmal in der Welt. War die Sage früher da, als die sie tragende Person? Trug man sie erst auf diese über oder ist die Sage erst von der auftretenden Person erfunden worden, sei es aus egoistischem Interesse, sei es aus geistigem Wahne? Wer weiß es? Das Geheimniß aller Schöpfung liegt auch zumeist auf der Entstehung der Sagen. Aus der Bibel stammt unsere Sage nicht. Im neuen Testamente kommt nicht einmal der Name Ahasver’s, geschweige seine Geschichte, vor, im alten wenigstens die letztere nicht. Der Versuch, die Stelle im Capitel 21 des Evangeliums Johannis mit ihr in Beziehung zu bringen, nach welcher Jesus im Bezug auf seinen Lieblingsjünger geäußert haben soll: „Dieser Jünger stirbt nicht, er wird bleiben, bis ich komme,“ ist so gezwungen, daß er jedenfalls erst später gemacht worden ist, nachdem die Sage bereits entstanden war.
Es besteht vielmehr die Wahrscheinlichkeit, daß die Figur und ihr angedichtetes Schicksal eine ursprünglich geistliche Erfindung war, in der Absicht geschaffen, gegenüber dem hier und da auftauchenden Unglauben an die einstige wirkliche Existenz Jesu ein lebendiges Zeugniß zu gewinnen. Auch gehört der Fluch, der Ahasver’s Unglauben folgt, gewissermaßen in das Capitel der Erbsünde. Jedenfalls aber hat sich die Sage bald aus dem geistlichen Gewande herausgeschält. Sie drang ein in das Bewußtsein [129] des Volkes, ganz besonders des deutschen Volkes. Sie wurde, um mit Julius Mosen zu reden, zu einem deutschen Nationalmythus neben der Faustsage, wie einst beim Volke der Hellenen die ihr nah verwandte Prometheussage.
Wenn auch die leibliche Person Ahasver’s selbst nicht mehr zur Erscheinung kam, obwohl Mosen sich erinnert, daß sie zu seiner Jugendzeit noch durch sein voigtländisches Heimathsdorf gegangen sein soll, so entwickelte sich um so mehr die Sagenperson des Ewigen Juden. Der Gedanke des irdischen Fortlebens in Folge einer unseligen That oder gottverhöhnenden Wandels, dem wir hier begegnen, war der germanischen Anschauung durchaus nicht fremd. Er fand sich in vielen anderen Sagen niedergelegt, so in der „Frau Holle“, dem „Wilden Jäger“, „Fliegenden Holländer“, „Ritter Tannhäuser“, und bei so manchen in Burgen und Klöstern nächtig umgehenden Geistern. Lebte doch fast die ganze altgermanische und heidnische Götterwelt, soweit sie sich nicht in ein christliches Gewand einzuschließen vermocht hatte, heimlich in Bergen, in den Lüften und Wässern. Zu ihnen gesellten sich dann allerhand volksthümliche Helden, Fürsten und Könige, nicht fluch-, sondern segenbeladen, von Theodorich und Karl dem Großen an bis hinauf zu den erhabenen Staufenkaisern Friedrich dem Ersten und Zweiten, obwohl die neuere Forschung in ihrer sagenhaften Erscheinung auch in ihnen nur Nachfolger des alten germanischen Hauptgottes Odin erblickt, den das Volksgemüth nicht sterben lassen konnte.
Zuletzt war ja dieser ewige Wanderer nichts weiter als das unstät und flüchtig auf der Welt umherirrende Volk der Juden mit seiner unverwüstlichen Lebenskraft. Wie sehr man das Schicksal dieses Volkes mit der Person unserer Sage in’s Gleiche stellte, ergiebt unter Anderm der Umstand, daß man an die Erscheinung der letztern Unheil und Verderben knüpft, gleichwie man auch jenem Schuld gab, daß es Pest und Seuchen bringe.
So lebte die Sage lange im Volke ihr heimliches Dasein, bis Poesie und Reflexion sich ihrer bemächtigten, und wie diese aus dem Schwarzkünstler Johannes Faust den Träger des Menschengeistes in seinem Streben und Ringen nach Wahrheit und Vollendung zu schaffen verstand, so machte sie auch den armen wandernden Schuster zum Repräsentanten tiefsinniger Probleme.
Auf dieser geistigen Wanderung Ahasver zu folgen, zu sehen, wie er sich da wandelte und fortentwickelte, ist von großem Interesse.
Die Reihe dieser Ahasver-Dichter und -Denker beginnt mit Christian Schubart und endet mit Robert Hamerling. Novelle, Roman, Ballade und Epos haben sich seiner bemächtigt; ja selbst über die Bühne ist er gewandelt, der ewige Wanderer, und fand dort in der dämonisch angelegten Natur Ludwig Devrient’s einen vortrefflichen Interpreten.
Der Schubart’sche Ahasver füllt die gräßliche Oede seines Lebens damit aus, daß er Todtenschädel in wahnsinniger Freude von sich wirft, daß sie hüpfen und splittern, darunter die Schädel seiner Eltern, seines Weibes, seiner Kinder. Die Vernichtung tritt in allen Gestalten zu ihm heran; er empfindet alle ihre Qualen bis zum letzten Moment, zum – Tode, der jedoch nie eintritt. Im Gegensatze zu ihm ist der Ahasver von Alois Schreiber ein empfindungsloser Schatten, dem die Ruhelosigkeit seines Dahinstürmens jeden Genuß, jede Theilnahme an den Leiden und Freuden der Erde versagt. Bei Lenau wird er zur Folie tiefsinnigen Weltschmerzes, der in der Erde nur eine Lüge des Paradieses, immer nur den „alten Tand von Blüthentreiben und Zerstören im öden Spiele“ sich wiederholen sieht. Auch Wilhelm Müller gewinnt in dem ruhelosen Wanderer ein Bild der Verödung, der Qual des übersättigten und nur noch im Tode Ruhe suchenden und Ruhe findenden Lebens. Aehnlich läßt Gustav Horn seinen Ahasver nur leben, um die Unzulänglichkeit des bloßen Lebens quälend zu empfinden, um zu erkennen, daß das Leben nichts ist als ein immerwährendes Sterben, daß der Tod kein Unglück, sondern eine Wohlthat der Menschheit ist. In dieser Erkenntniß erfüllt sich bei ihm der Fluch, da er, der Lebemann, der nichts mehr haßte als den Tod, sich der Hoffnung hingegeben hatte, Christus, der Auferwecker des Lazarus, werde den Tod abschaffen, und im Grolle über diese Enttäuschung den zum Tode Schreitenden verhöhnt hatte. Klingemann, der sein Drama Ahasver nach Horn’s Novelle bildete, findet in der Sage die Idee der Läuterung der Menschheit zur unumgänglichen Freiheit durch das Leid: „Sie, die Sage, wäre dann das höchste religiöse und zugleich poetisch-tragische Mysterium, sowie Christus selbst als der echte Vermittler des Irdischen zum Ueberirdischen erscheint und den ewigen Wanderer auf sein kommendes Reich verweist.“
Lebhaft gefesselt von dem Träger unserer Sage wurde auch Goethe. Er faßte wiederholt den Gedanken, ihn zum Helden eines Epos zu formen, in welchem „die hervorragendsten Punkte der Religions- und Kirchengeschichte zur Darstellung kämen“. In „Wahrheit und Dichtung“ giebt er seine Auffassung des Verhältnisses des jüdischen Schusters zu Jesus. Das Epos selbst, obwohl er wiederholt darauf zurückkommt, kam jedoch nicht zu Stande. In den wenigen „Fetzen“ – wir gebrauchen hier sein eigenes Wort – seines Fragments „Der Ewige Jude“ hebt sich nur der tiefsinnige Gedanke der Wiederentsendung Christi zur Erde über das niedrige Niveau der Burleske. Auch bei Schiller mag zu der geheimnißvollen Figur des Armeniers im „Geisterseher“ der armenische Ahasver, Cartaphilus, Modell gesessen haben.
Und wie vielerlei sind die Wanderziele, die dem abgehetzten Meister von der Ahle angedichtet worden sind! Während in der alten Sage, auch bei Schubart und Goethe, die Wiederkunft Christi auf Erden seiner Wallfahrt ein Ziel setzt, soll er nach Ludwig Köhler wandern, bis die Freiheit in die Welt kommt, bei Zedlitz, bis „die weiße Friedenstaube der Arche Noäh wiederkehrt, bis von Land und Meer der Freude Jauchzen tönt, die Wuth gebunden und der Haß versöhnt, in neuer Liebe sich die Völker küssen“, was ungefähr mit dem goldenen Zeitalter Elihu Burritt’s zusammentreffen wird. Weit schlimmer ergeht es ihm bei Oelckers, der ihn nicht eher rasten läßt, bis das Ende der Zeit überhaupt gekommen ist, und der dabei die Qual seines Daseins noch dadurch verschärft, daß er ihn das Schicksal aller seiner Nachkommen voraussehen läßt. Nach Julius Mosen’s Auffassung würde der Zeitpunkt seiner Erlösung dann einzutreten haben, wenn die Menschheit sich mit dem Christenthum völlig versöhnt haben wird, denn er erblickt in Ahasver, den er zum Gegenstande eines längeren, viel Geist sprühenden Gedichts gemacht hat, die im irdischen Dasein befangene Menschennatur, gleichsam den in einem Einzelwesen verleiblichten Geist der Weltgeschichte, der erst im unbewußten Trotze, dann endlich mit deutlichem Bewußtsein dem Gotte des Christenthums sich entgegenstellt. In ähnlicher Weise ist es bei Sue, der aus dem weiland Schuster sogar eine Species von Socialdemokraten gemacht hat, der Zeitpunkt, in welchem der christliche Liebesgedanke seine allgemeine Verbreitung gefunden und die Aufhebung aller Classenunterschiede herbeigeführt haben wird. Andersen, der in ihm einen zur Erde gestiegenen Engel, Ahas, den Engel des Zweifels, erkannt hat, läßt ihn nicht eher zur Ruhe kommen, d. h. zum Himmel wieder zurückkehren, als bis die Entwickelung der Menschheit derart gewachsen und fortgeschritten ist, daß das zweifelnde, verworfene Geschlecht der Kinder Eva’s in Kraft und Wahrheit dem Himmel zugeführt ist. Es ist darnach also die Himmlischwerdung der Menschheit das Ziel der Erdenwallfahrt Ahasver’s. S. Heller, der die umfangreichste dichterische Wiedergeburt der Sage geliefert hat, sieht den Höhepunkt der menschlichen Entwickelung schon da erreicht, wo der Cultus des freien Menschenthums als höchste und letzte Religion in der Menschheit oder doch zunächst in ihren höchsten geistigen Vertretern herrscht. Diesem Culminationspunkte schritt die Menschheit schon seit Erfindung der Buchdruckerkunst, der Entdeckung der neuen Welt rüstig entgegen; er ist aber nach Heller bereits eingetreten in der Person Goethe’s, des echten Menschen. Sonach läßt Heller seinen geplagten Wanderer bereits die ersehnte Ruhe finden, die ihm fast alle Anderen versagen.
Um seine Wanderung daher einigermaßen zu versüßen, hat der galante Sue ihm eine ewige Jüdin in der Person jener Herodias beigesellt, die einst das Haupt Johannes des Täufers um einen Tanz begehrte und um dieser glaubenslosen Unthat willen der gleichen Flucht der Ruhelosigkeit verfiel.
In anderer Weise bringt Levin Schücking in einer prachtvollen Episode seines Romans „Der Bauernfürst“ den Ewigen Juden in Verbindung mit dem fliegenden Holländer und dem wilden Jäger – drei Geächtete, von denen der Eine der Erde, der [130] Andere dem Wasser, der Dritte der Luft angehört, im feindlichen Gegensatze zu einem alle Drei beherrschenden Vierten, dem Satan, dem Herrn des Feuers. Auch Heller läßt am Ausgang seines Gedichts Ahasver einen Bund schließen mit Faust und Don Juan. In ihnen incarnirt sich „die Menschheit in ihrer Zauberblüthe“, denn sie vertreten dieselbe in den drei Richtungen des Glaubens (Ahasver), des Denkens (Faust) und der Kunst (Don Juan), richtiger wohl der Sinnlichkeit, des Lebensgenusses.
Hamerling, der neueste aller dieser Ahasver-Poeten, stellt ihn in Gegensatz zu Nero, dem eigentlichen Helden seines Poems „Ahasver in Rom“. Hier in Nero unermessener Lebensdrang, dort bei Ahasver unermessene Todessehnsucht. Beide erfüllen trotz dieser Gegensätze insoweit eine Mission, als sie gemeinsam arbeiten an der Entwickelung der Menschheit, denn diese bedarf, um rascher fortzuschreiten, namentlich in Zeitaltern, wo Ueberlebtes und todtreif Altes mit neuen Lebensformen ringt, solcher Titanen der Zerstörung wie Nero. Der in ihm vertretenen negativen Macht der Zerstörung tritt in Ahasver dann das Unzerstörbare positiv entgegen und bereitet in der hervorgerufenen Erkenntniß seiner Ohnmacht seinen Sturz vor. Dies Unzerstörbare, das zu vernichten keine Kraft stark genug ist, das „wie ein Phönix aus ewigen Verwandelungen sich erhebt, das aus erloschenen Daseins Ueberresten die Funken neuer Lebensblüthe lockt“, ist, wie Hamerling meint, die ewige Menschheit. Das Spiegelbild, der Vertreter derselben ist danach Ahasver. Seine Todessehnsucht ist nur die Ruhesehnsucht der ewig ringenden, nie zum Frieden kommenden Menschheit. Es ist also nicht mehr der ewige Jude, sondern der ewige Mensch. Die Consequenz dieser Auffassung führte den Dichter dahin, Ahasver auch so alt sein zu lassen, wie die Menschheit. Deshalb identificirte er ihn mit dem ersten Menschen, mit Kain, der den Tod in die Welt gebracht.
So hat im Laufe seiner poetischen Wanderung und Wandlung der Schuster von Jerusalem sein Pharisäerthum, Judenthum und Christenthum abgeworfen und sich endlich zum ewigen Menschen gewandelt. Bewundernswerth ist hierbei namentlich die stetige Steigerung, die sich in diesem Processe ausspricht. Rechnet man hinzu, wie außerdem in allen Denen, welche sich dichtend und denkend in die Sage versenkten, dieselbe nach den verschiedenartigsten Seiten hin – rollen doch Andersen und Heller die ganze Weltgeschichte vor unseren Blicken auf – befruchtende Gedanken angeregt hat, Gedanken, welche in ihrer Zusammenfassung ein eigenes philosophisches System, eine Art Ahasver-Philosophie darstellen, die sich in dem Schlußsatze gipfelt, daß Tod und Leben eigentlich Eins sind – so wissen wir nicht, ob wir nun noch die Sage oder nicht vielmehr die schöpferische Beweglichkeit des menschlichen Geistes bewundern sollen, der aus dem unscheinbaren Samenkorne ein so reiches Leben zu locken verstanden hat und uns gleichzeitig dafür bürgt, daß die geistige Wanderung Ahasver’s noch nicht beendet ist. Immer noch wird die alte wunderliche Figur die Folie abgeben für neue Gedanken und Axiome, immer von Neuem werden wir ihm in dem Wunderlande der Poesie begegnen, dem müden Waller mit seinem harten, furchenreichen Gesichte, seinen tiefglühenden Augen mit den darüber herabhängenden buschigen Brauen, den weißen strähnigen Haaren, im schleppenden zerfetzten Gewande, wie er dahin geht durch die Welt, ohne Ruhe, ohne Rast weiter – und weiter.
Anmerkung. Ausführlicher ist derselbe Gegenstand von dem Verfasser in einer Abhandlung in Heft 196 der „Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge“, herausgegeben von R. Virchow und Fr. von Holtzendorff (Verlag der Lüderitz’schen Buchhandlung) behandelt, auf welche wir Freunde des Stoffes hinweisen.
Was der Wald von Fontainebleau für Paris, das ist „der Grunewald“ für Berlin. Wie jener das alte Jagdrevier der Bourbons, so ist dieser gleichsam der privilegirte Hofforst für die Hohenzollern, mögen diese auch keine so hervortretenden Jagdpassionen haben wie die Nachkommen des Bearners. Wie von Paris im Sommer Alles, was ein paar Franken in der Tasche, einen leidlichen Sommeranzug auf dem Leibe und ein verstaubtes und nach Grün und reiner Luft sehnsüchtiges Herz besitzt, nach dem Forêt von Fontainebleau auswandert, so ist für das Berliner Publicum der Grunewald das Lustrevier, wo es seine Sommerfeste feiert. Am Morgen geht es mit gefüllten Kobern und unter Singen und Klingen, wobei die in unseren Tagen so vernachlässigte Guitarre wieder zu Ehren kommt, hinaus in „den Jrunewald“. In anderthalb bis zwei Stunden ist der grüne Hag erreicht. Zwar nicht die üppige Vegetation wie im Walde von Fontainebleau schützt die Wandernden vor den brennenden Sonnenstrahlen, es ist lediglich Kiefernbestand, und das Marschiren in dem tiefen Sande ist oft sehr beschwerlich, aber es sind doch recht respectable Bäume, die da ihre grünen Nadeläste niederbeugen, und die saftgrünen, behaglichen und schattigen Plätzchen, welche sie den Ankömmlingen bereitet haben, sind deutscher Boden. Durch die grauen Stämme hindurch blinkt das dunkelblaue Wasser eines Sees; ein Kranz von Kiefern und Fichten schlingt sich um denselben, und in dem klaren Spiegel des Wassers zeigen sich die Fronten und Giebel eines ansehnlichen Hauses aus der Renaissancezeit, dem man die Bezeichnung eines Schlosses beigelegt hat, einfach in den Ornamenten, hin und wieder sogar verwittert, sonst ist es ernst und still im grünen Tann – nur manchmal fliegt aus dem dichten Schilfe ein Wasservogel auf –, bis der Berliner kommt mit seiner Amusirlust. Dann geht das Singen und Jauchzen durch den ganzen sonnenlichten Tag – und am andern Morgen kann der Wald aus fetten Papieren, zerstreuten Wursthäuten und geknickten Kümmelflaschen von dem Sommervergnügen der Berliner erzählen.
Das geht so bis Ende September. Dann werden die Morgen und Abende kühl, das Laub gelb und der Grunewald bereitet sich zur Winterruhe vor. Zuvor aber ladet er noch zu einem letzten Feste ein. Das findet am 3. November, am Namenstage des heiligen Hubertus, des Herzogssohnes von Guyenne, statt, der ein so gewaltiger Nimrod war, daß der Schöpfer und Erhalter der Thiere im Walde das Abschießen seiner prächtigen Geschöpfe nicht mehr so ruhig ansehen konnte und ihm als Mahner einen Hirsch mit einem goldenen Kreuze zwischen dem Geweihe sandte, worauf der Genannte von seinen blutdürstigen Neigungen sich bekehrte, ein frommer Bischof und sogar selig gesprochen wurde, was indeß seine ganze jagdlustige Nachkommenschaft nicht hinderte, ihn als ihren Patron zu betrachten und dem edeln Waidwerke je nach den Bedingungen und Wandelungen der Zeit noch ferner nachzugehen.
Am dritten November wird’s im Grunewalde noch einmal lebendig. Zu Tausenden strömt das Publicum herbei, aus Berlin, Charlottenburg, Potsdam und Spandau. Für alle diese Städte ist der Wald gleich günstig gelegen. Sie kommen zu Fuße und zu Wagen; sie kommen im Arbeitskittel mit dem Pfeifenstummel im Munde und der platten „Kümmelpulle“ in der Seitentasche; sie kommen in prächtigen Kaleschen, mit duftenden Havannas, mit feinen Damen und gefüllten Speisekörben, und stellen sich am Wege beim Ausgange aus dem Schloßhofe auf. In den weiten Hof fahren nur die Equipagen des Kaisers und der Prinzessinnen ein. Die Prinzen sind zu Pferde. Für sie wie für die übrigen an der Jagd Theilnehmenden ist ebenfalls der Schloßhof der Sammelplatz.
Die Parforcereiter ergänzen sich zumeist aus den Officieren der Garde, und die jugendlichen schönen Gestalten nehmen sich in den kleidsamen Jagdcostümen gar schmuck aus. Roth war von Alters her die brandenburgische Jagdfarbe, wie aus den im Schlosse aufgehängten Schildereien berühmter Hetzjagden zu erschauen ist. Nur ist aus den goldbetreßten Röcken, in denen die Herren vom Hofe des großen Kurfürsten erschienen, ein eleganter Frack geworden und weiße oder graue hirschlederne Beinkleider, Stulpenstiefel, eine weiße Weste und Cravatte und ein schwarzer Cylinderhut vervollständigen die Toilette eines Parforcereiters. Nur Einer von den im Hofe beim Frühstück Versammelten macht davon eine Ausnahme. Er trägt einen schwarzen Sammetrock und Brust und Rücken mit einem grellfarbigen Plaid umwickelt. Er ist der Aelteste unter Allen und [131] zwischen ihm und dieser Blüthe der adligen Jugend Preußens ist keine vermittelnde Altersstufe. Aber wie könnte er, gleichsam der Reorganisator der preußischen Cavallerie, auf deren Ausbildung diese Reiterübungen von nicht unwesentlichem Einflusse sind – wie könnte „Papa Wrangel“ bei einer Hubertusjagd zu Hause bleiben! Ebenso fehlt fast bei keiner der wöchentlichen Parforcejagden, welche dieser letzten am 3. November vorausgehen, der Protector derselben, Prinz Karl, der älteste Bruder Kaiser Wilhelm’s. Obwohl schon Anfangs der Siebenziger, reitet er drauf und drein, mit den Jüngsten und Kühnsten um die Wette. Schmetternde Fanfaren haben seine Ankunft verkündigt.
Sie kommen! Wer? die Reiter? Nein, vorerst die Herren Hunde. Es ist die königliche Meute, die im Parke des Prinzen Karl, in dem reizenden Glienike bei Potsdam unterhalten wird. Es ist zum größten Theile englische Race und unser heutiges Bildchen stellt den Moment dar, wie sie, die Jagd witternd, in Erwartung des Momentes sind, wo die Fährte „verbrochen“ wird. Der Oberpiqueur Salomon im rothen Jagdrocke, mit dem blanken Hüfthorn um die Schultern und mit dem zarten, aber deutlichen Mahner in der Hand, führt sie. Schnaubend und scharrend bezeigen
die Rüden, etwa sechszig an der Zahl, ihre Ungeduld; nur der Respect vor der Hetzpeitsche ihres Führers ist im Stande, sie beisammen zu halten. Von der vortrefflichen Disciplin, in der sie erzogen werden, zeugt der Umstand, daß sie in einem so damwildreichen Revier, wie dem des Grunewalds, dieselbe Fährte festhalten. Sie zählen mit ihrem scharfen Instincte gleichsam die Minuten, bis sie losgelassen werden. Unterdeß ist das zur Jagd bestimmte Wildschwein aus der „Bucht“ losgelassen worden. Fünfzehn Minuten sind seitdem verstrichen – noch fünf Minuten – nun ist der Augenblick da. Der Leithund wird auf die Fährte gelassen – die übrigen Hunde nehmen dieselbe auf – der Oberpiqueur bläst die Jagd an. Voran die Meute, mit Wuthgeheul die Fährte des gehetzten Wildes suchend, ihnen nach der Führer und nach diesem der Leiter der Jagd mit sämmtlichen Jagdreitern und dem Vornehmsten voraus – so geht die verwegene Jagd, durch Dick und Dünn, über Dämme und Gräben.
Unser zweites Bild zeigt uns einen Parforcereiter, wie er auf seinem etwas langgestreckten Gaule eben über ein Terrainhinderniß hinwegsetzt. Zum Sprunge ausholend, macht das Pferd mit schnaubenden Nüstern vielleicht eine letzte Kraftanstrengung. Es hat vor den übrigen einen Vorsprung um einige Pferdelängen; vor ihm her tobt die Meute – das Wild ist in Sicht, und da ist es von den Rüden auch schon „gedeckt“, d. h. erreicht und festgehalten. In gleichem Augenblicke steht auch schon der Gaul; mit einem Sprunge ist der Reiter auf der Erde und legt die Hand an den linken Hinterlauf des Wildschweins. Er hat „ausgehoben“ – er ist Sieger und überläßt es von den Nachkommenden dem vornehmsten Jagdherrn, dasselbe „abzufangen“, d. h. mit dem Hirschfänger zu tödten. Der Forst hallt von dem lauten fröhlichen Jagdruf wieder – das Hallali wird geblasen und aus der Hand desjenigen Herrn, der ausgehoben hat, erhält jeder der beim Hallali anwesenden Reiter einen „Bruch“, d. h. einen grünen Zweig. Das ist so alter Jagdbrauch.
Die königliche Jagd beschränkt sich indeß nicht blos auf die Umgebung von Berlin und Potsdam. Da giebt es im weiten Lande noch viele Jagdreviere mit vorzüglichem Hochwildstande. So ein uralt märkisches ist die „Werbelliner Forst“. Ein wildreicheres Revier giebt es wohl so leicht nicht. Seit einem halben Jahrtausend, und jedenfalls noch viel weiter zurück, ist es zur Brunstzeit ein Sammelplatz von Tausenden von Hirschen, die von weit und breit, selbst aus dem fernen Polen, hierher kommen. Da wird es dann um das stille Jagdhaus Hubertusstock lebendig. Die Zweige krachen ringsum unter den Läufen der Hirsche, und grausig tönt ihr Geschrei über den ruhigen Werbelliner See. Der alte Wärter, der vor dem Jagdhause dann Abends vor der Thür steht, kann merkwürdige Beiträge zu dem Thierleben im Walde liefern, wie die sinnlichen Triebe der Creatur sich rückhaltslos in dem Thiere offenbaren, wie dasselbe nicht minder als das Menschenherz von Leidenschaft und Eifersucht bewegt wird, so daß oft zuletzt ein erbitterter Kampf die Entscheidung herbeiführt, wer die Braut heimführen wird. Wie viele solche Geweihduelle zwischen Capitalhirschen hat der Alte von Hubertusstock gesehen! Ebenso kann er viel von der Gefahr erzählen, welcher die Jäger in der Brunstzeit der Hirsche ausgesetzt sind. Sonst scheu und flüchtig vor dem Menschen, nehmen sie ihn in dieser Periode geradezu an. Hubertusstock hat von allen königlichen Jagdschlössern die meiste Poesie. Hierher führte Kaiser Wilhelm seinen Gast, Victor Emanuel, den waidgerechten Fürsten aus Italien, damit dieser sehen sollte, was eine Jagd in märkischer Haide ist, und daß der Waidmann des Nordlandes für die Romantik der südlichen Landschaft durch den Reichthum des Jagdbaren vollauf entschädigt werden kann.
Weiter muß man von königlichen Jagdrevieren noch Königswusterhausen nennen, den Lieblingsaufenthalt des Vaters Friedrich’s des Großen, und ferner die Göhrde im Hannoverschen. Auf diesen Revieren veranstaltet das Hofjagdamt alljährlich große Treibjagden, zu denen Einladungen an die Prinzen des Hauses, an die Minister, Generale und Hofchargen ergehen. Der Minister des königlichen Hauses, Freiherr von Schleinitz, macht in Abwesenheit des Kaisers dabei die Honneurs. Nicht regelmäßig [132] nimmt der Kaiser an diesen
Jagden Theil. In diesem Jahre nöthigte der körperliche Zustand den Monarchen, auf die ihm angenehme Bewegung in frischer Luft zu verzichten, wogegen früher nicht die Unbilden des Spätherbstes, höchstens nur die Geschäfte, vermögend wären, bei dem Kaiser ein Veto gegen die Uebungen des Waidwerkes einzulegen. Kaiser Wilhelm ist keine Jägernatur, wie z. B. sein Neffe, der Prinz Friedrich Karl; aber er ist ein Jagdfreund, wenn auch immer nur in den Grenzen seiner maßvollen Natur. Dazu kommt, daß die Jagd traditionell zu den Vergnügungen des Hofes gehört; außerdem bekam die Bewegung in frischer Luft ihm gut; darum wurden, wenn die ersten Herbstnebel fielen, in früheren Jahren vom Garderobier der graue dicke Jagdrock
und der gleichfarbige runde Filzhut, die langen grauen Beinkleider und dicken rindsledernen Stiefel hervorgeholt und die Jagdtoilette in Stand gesetzt, welches Costüm der graue Militärmantel vervollständigte, und so fuhr der König von Preußen und Kaiser von Deutschland zur Jagd entweder nach den beiden zuletzt genannten Revieren, oder auch wohl zu einem der großen Grundbesitzer des Landes, wie zu Herrn von Jagow auf Aulosen, der eine große Fasanerie hält, und jährlich fast regelmäßig
nach Blankenburg zu dem Herzoge von Braunschweig, in dasselbe Harzrevier, wo schon die salischen Kaiser dem Hirsche, wenn auch noch nicht mit dem Lefaucheux, nachgegangen sind.
Alle diese Fahrten haben gleichsam einen privaten Charakter; als königlicher Jagdherr dagegen tritt der Kaiser in Letzlingen auf. Das genannte Revier, die Haide genannt und in der Altmark, im Regierungsbezirk Magdeburg, gelegen, ist eins der größten der preußischen Monarchie; es hat vier Oberförstereien, den prächtigsten Wildstand und ein vollkommen eingerichtetes Schloß, welches eine zahlreiche Jagdgesellschaft beherbergen kann. Hält der Kaiser die übrigen Jagden mit kleinem Gefolge ab, so entbietet er hierher die vornehmsten Würdenträger des Hofes und Staates, fremde Fürsten und Gesandten. Ein Extrazug führt die ganze Jagdgesellschaft bis Gardelegen an der Lehrter Bahn; von da sind noch einige Stunden Weges per Wagen zurückzulegen. Die Letzlinger Jagden finden Ende November statt und dauern gewöhnlich drei Tage.
Eine spätere Illustration läßt uns einen Einblick in die Vorbereitungen thun, welche zu dieser Jagd gemacht sind. Das Wild ist „eingestellt“, das heißt auf den Umkreis der Jagd zusammengetrieben. Den Bereich [133] derselben bezeichnen
die Lappen aus Leinewand; sie hängen an Stricken, die von Stamm zu Stamm gezogen sind. Der schwarze Adler deutet an, daß sie zum Hofjagdzeug gehören. Ein Leichtes wäre es für die Sprungkraft eines Rothhirsches, über die Leine hinwegzusetzen. Um jedoch dem Ausbrechen derselben zu begegnen, ist ein Mann hingestellt – ein Treiber – ein Holzfäller aus der Umgegend – seine Aufgabe ist es, die Lappen zu bewegen und das Thier dadurch zu schrecken.
Des Nachts unterhält er auch wohl die Feuer, die rings um die Einstellung angezündet werden. Sie haben denselben Zweck, wie die Leinwandstücke, welche in der Dunkelheit ihre beabsichtigte Wirkung auf das eingestellte Wild verlieren.
Solche Jagden erfordern ein großes Personal; meilenweit werden Forstleute und Treiber dazu in Bewegung gesetzt. Die Linie der Schützen, die in eigens dazu hergerichteten Schirmen sich aufstellen, ist viele hundert Schritte lang Nachdem nun Alles so vorbereitet, erwarten Fürst Pleß als Oberjägermeister an der Spitze des höheren Jagdpersonals und die übrige geladene Gesellschaft des Morgens am Rendezvousplatze die Ankunft des Kaisers. – Ihnen hat sich ein zahlreiches Publicum aus
der Umgegend zugesellt. Aller Augen gehen in die Richtung des Schlosses. Da – zwei Pferde – auf dem Handgaule ein königlicher Bereiter – ein offener Halbwagen – der Kaiser! Ein lautes Hurrah schallt weithin in den Wald. Leicht schwingt sich der Monarch aus dem Wagen und begrüßt die Gesellschaft.
Dann geht es zum Frühstück. In großen Körben haben die königlichen Lakaien Wein und kalte Küche herbeigeschafft. Auf einer Maschine brodelt der Punsch. Zum regelrechten Serviren ist hier der Platz nicht. Jeder der Herren langt zu, wo und wie es seinem Gaumen und Appetite entsprechend ist. Es ist ein echtes Jägerfrühstück, bei dem die heiterste Stimmung herrscht. Der Himmel ist etwas bedeckt, der Boden weich; der Wind und die Witterung sind günstig. „Es wird eine gute Jagd werden,“ sagt einer der alten Oberförster zum Oberjägermeister, und bald beginnt das Treiben.
Fünf oder sechs Stunden später. Der Abend ist hereingebrochen. Es ist still geworden im Walde, nachdem es den ganzen Tag über mit einer kurzen Unterbrechung auf der Schützenlinie tüchtig geknallt hatte. Jetzt gehen die Töne eines Jägerhorns durch den Forst und den Abend, langgezogen, melancholisch, abschiedstraurig. Eine [134] kurze Pause, dann ein anderer Ruf, aber in derselben Tonfärbung. Es ist gleichsam die Begräbnißmusik für das erlegte Wild, das da in langen Reihen auf der Wildstrecke liegt. Der Jäger von Profession wird sagen: die Wildstrecke wird abgeblasen. Da liegen sie, die Capitalrothhirsche, das Damwild, die Sauen, die das Geschoß des Jägers erreicht hatte. Vor wenig Minuten noch stürzten sie geängstigt von dem lebhaften Feuer der Schützen in wilder Todesverzweiflung an den Gehegen entlang, aber der Kugeln und der Jäger waren zu viele. Nun sind ihre Leichname in einer gewissen Rangordnung nach der Vornehmheit des Wildes gestreckt. Für jede einzelne Gattung gilt ein besonderer Ruf des Jagdhorns, und nachdem dieser verstummt ist, hört man im Walde nur noch Töne, ähnlich denen, welche durch das Fällen von Kleinholz hervorgebracht werden. Der Mann, welcher auf dem Bilde vor einem feisten Hirsche kniet, ist in der That ein Holzfäller, vielleicht derselbe, der die Lappen bewegt hat. Er hält das Tempo seines Handwerkes fest, auch wenn er den Schädel mit dem Geweih abschlägt.
Ein anderes Bild! Ein Vorgang fast zu gleicher Zeit. Zur Erhaltung des Wildes ist es nöthig, daß es noch vor dem Verladen „aufgebrochen“, das heißt der Eingeweide entledigt wird. Vom Beginne der Jagd an lauern arme Bauerfrauen der Umgegend mit ihren Tragkörben, meistens die Frauen der Treiber, um das „Gescheide“ in Empfang zu nehmen. Namentlich ist ihnen das der Wildschweine erwünscht, indem sie die Gedärme derselben zum Wurstmachen verwerthen.
Nehmen wir an, daß die vor dem Korbe Knieende die Frau des Schädelabschlägers ist. Eine Zierde ihres Geschlechtes ist sie freilich nicht zu nennen, aber mit welchen Anzeichen der Freude und Dankbarkeit nimmt sie die Gabe des Försters in Empfang! Der Forstmann übt eine besondere Höflichkeit gegen das zarte und schöne Geschlecht, indem er das Geschenk selbst in den Tragkorb legt. Aber wenn die Frau achtzehn Jahre wäre, und wenn er selbst sein Herz mit in den Korb legte, etwas würde er nimmermehr mit hineingeben – die Leber des Wildes. Die gebührt ihm nach uraltem Wald- und Jagdgebrauche, und die Jäger sind die conservativsten Leute, die von solchem Herkommen nicht ablassen. Das nächste Bild läßt es unentschieden, ob die geladenen Theilnehmer der Jagd das Geweih des Wildes, das sie erlegt haben, vom königlichen Jagdherrn, vielmehr dessen Bevollmächtigen, zum Geschenk erhalten haben, wie das so die Sitte verlangt. Möglich, daß der junge Forstbeamte, der die Aufsammlung des Wildes controlirt, die auf dem Wagen liegenden Geweihe nach dem Schlosse bringen läßt, möglich auch, daß die Hirsche nicht für die Jagdbeute bereits harrender Wildhändler, sondern für die Küche des Kaisers bestimmt sind. Eines ist gewiß, daß an dem Abende der Jagd der unter Fackelschein in Begleitung seines Oberjägermeisters nach dem Schlosse zurückfahrende Jagdherr Eines mit dem geringsten Holzfäller des Waldes gemeinsam hat – einen tüchtigen Jägerappetit, für dessen Befriedigung jedenfalls der königliche Mundkoch wohl gesorgt haben wird.
Den Abend bringt die Jagdgesellschaft beim Gläserklange an fröhlicher Tafel zu. Hier schmettert die Tafelmusik der altmärkischen Ulanen. Die Fenster des sonst so ruhigen einsamen Schlosses leuchten weit in den Wald hinein. In den Wirthshäusern des Dorfes sitzt derweilen das nicht geladene Jagdpublicum, beim Biere die Ereignisse und Ergebnisse des Tages zu besprechen. Im reinsten Jägerlatein werden die seltsamsten Jagdgeschichten erzählt, die nie gedruckt werden und doch immer wieder zum Vorschein kommen. Dem Jägersmanne, der ohne Gesellschaft monatelang schweigend seine Pflicht thun muß, geht bei solcher Gelegenheit das Herz auf; sind doch diese paar Tage die einzige Zeit im Jahre, wo er alte Freunde und Gefährten von weit und breit wiedersieht, um sich dann wieder auf ein Jahr in seiner grünen Einsamkeit zu verlieren, bis zu dem Tage, wo der Kaiser wieder in Letzlingen erscheinen wird. Das ist für die Jäger und die ganze dortige Gegend eine Festzeit.
Nicht blos das Leben der Bergbewohner im Winter bietet manche originelle Eigenthümlichkeiten dar, auch die Hochgebirgsnatur zeigt in ihrem Schneekleide interessante Seiten. Eine Wanderung in die Berge und in die stillen Hochthäler mitten im tiefsten Winter gewährt unstreitig hohen Genuß, der allerdings in der Regel mit nicht geringer Anstrengung erkauft werden muß. Da es dem freundlichen Leser keine besondere Mühe verursachen wird, im gemüthlich durchwärmten Zimmer zu sitzen und dabei im Geiste eine solche Winterfahrt mitzumachen, so dürfen wir es wagen, denselben hierzu einzuladen. Allerdings wird von allen Seiten von einer solchen Schneetour abgerathen. Haushoher Schnee, unübersteigliche Schneewehen, „Gehwinden“ wie der Allgäuer sagt, sollen die Wanderung und besonders den Aufstieg zum Schrofenpaß, der auf dem Wege der projectirten Route liegt, gefährlich machen. Doch der Himmel ist so blau und rein, und die Berge glänzen in so wunderbarer Pracht, daß der Lust, in den stillen Hochgebirgswinkel einzudringen, nicht widerstanden werden kann. Pfeilschnell fliegt der Schlitten auf festgefrorner Bahn von Oberstdorf zum Dörfchen Birgsau, jenem reizend gelegenen, im Sommer von Touristen zahlreich besuchten Orte, bei welchem der Blick auf die im südöstlichen Winkel des Rappenalpenthales majestätisch emporragenden Zacken der Mädelegabel sich öffnet. Neben ihr blickt der hohe Felskoloß des Wilden Mannes auf das steile Thal hernieder. Seine Felsstirne ziert ein schimmerndes Diadem von blendendem Schnee, und unwillig scheint er sein finsteres Haupt über das frevle Beginnen der kleinen Erdenmenschen zu schütteln, welche es auch im Winter nicht unterlassen können, in das Bergheiligthum einzudringen. Von Birgsau beginnt die Fußwanderung nach Einödsbach, um daselbst den als tüchtigen Bergführer und Kletterer bekannten „Moosrainer-Sepp“ zum Mitgehn zu bewegen; denn ohne Führer im Winter die Tour über den Schrofenpaß zu unternehmen, möchte wohl Keinem anzurathen sein.
Auf dem schmalen Pfade knirscht der festgefrorne Schnee unter den Füßen. Die scharfe Winterluft beschleunigt die Schritte; bald zeigen sich die wenigen Häuser des Weilers Einödsbach, des südlichst gelegenen Wohnorts im gesammten deutschen Reiche. Die blauen Rauchsäulen, welche senkrecht in die klare Luft emporsteigen, bezeichnen die Stellen, wo die an die äußersten von erhabenen Felsgipfeln gebildete Marken des großen Vaterlandes vorgeschobenen Herdstätten liegen. Moosrainer Sepp leistete der Aufforderung Folge, trotz der in Oberstdorf und Birgsau wiederholten Prophezeiung: „Es gaht koi Mensch üb’rn Schrofen“. Die nötigen Reise-Vorbereitungen waren bald getroffen und besonders wurde nicht vergessen, ein paar tüchtige Schneereife, ein unentbehrlicher Ausrüstungsgegenstand für Hochgebirgswanderungen im Winter, mitzunehmen. Die „Wobsbilder“, wie Sepp die weiblichen Bewohner seines Hauses nannte, sorgten auch noch für eine „Buttl ächten Enzioners“, jener Branntweinsorte, mit der man nach Behauptung des Berglers alle Uebel, Seuchen und Pestilenzen beschwören kann. – Hinter Einödsbach endete bald jegliche Pfadspur, und die Schneemassen mehrten sich in dem Maße, als man in dem engen Rappenalpenthale aufwärtsstieg. Das im Sommer von Heerdengeläute und den Jodlern der Sennen belebte Thal ist nunmehr höchst einsam und still. Die ernsten weißen Berggestalten scheinen noch feierlicher und mächtiger auf das unbewohnte Thal niederzublicken. Da, wo sonst kleine Wasserfälle rauschten, hängen starre Eismassen und groteske Eiszapfen, und die dunklen Tannen beugen ihre Aeste unter schweren Schneelasten zur Erde.
Die Darstellung der Schwierigkeiten der Wanderung über den stellenweise erweichten Schnee, aus dem kaum mehr die Firste [135] der Heustädel ragen, und des Aufstieges zu dem fünftausendzweihundertsechsundzwanzig Fuß hohen Schrofenpasse werden die Leser um so weniger vermissen, als heut zu Tage kühne Gipfelstürmer ohnehin mit zahlreichen Schilderungen von Berg- und Gletscherfahrten die Menschheit beglücken; doch kann das Geständniß nicht unterdrückt werden, daß, wenn nicht Sepp mit seiner Bärenkraft über zahlreiche wilde Schneewehen und höchst fatale Stellen hinweggeholfen hätte, die Schlußhälfte dieses Aufsatzes buchstäblich im Schnee stecken geblieben wäre. Nach vielen Mühen rückten endlich die gewaltigen Wände des Biberkopfes näher, nach und nach verschwanden auch die höchst gelegenen Zeugen alpiner Baumvegetation, und nur hier und da ragten noch einzelne Wettertannen aus dem Schnee hervor. Diese gewähren einen eigenthümlichen Anblick durch die hohen Schneewälle, welche sich am Stamme anlehnen und diesen so wie die unteren Aeste gleichsam vor den rauhen Winterstürmen schützen. Die aus dem Schnee hervorragende obere Hälfte ist bis an die äußersten Spitzen der Tannennadeln mit schimmernden Schneekrystallen behangen, die im Sonnenscheine die prachtvollsten Lichteffecte und Farbenspiele zeigen. Wem fällt beim Anblicke einer solchen silberweißen, halb im Schnee vergrabenen, wetterfesten Tanne nicht der Vers Heine’s ein:
Ein Fichtenbaum steht einsam
Im Norden auf kahler Höh!
Ihn schläfert; mit weißer Decke
Umhüllen ihn Eis und Schnee.
Der Anblick der Berge im Winter von solchen Höhen ist ein unvergleichlicher. Mit ungemein klaren Contouren ragen die majestätischen Felsgipfel in die Luft und werfen tiefblaue Schatten in die verschneiten Schluchten und Thäler. Ringsum glitzern und funkeln auf dem Schnee Millionen von Sternen, die bei jedem Schritte mit wechselndem Lichtgefunkel aufleuchten. Ueber den Rand der Felshänge, die im Herbste vom Rosenschein der untergehenden Sonne erglühen und an denen sonst die purpurne Alpenrose leuchtet, ragen weit hinaus hartgefrorne Schneewände, in denen Wind und Sonne die bizarrsten Figuren geformt haben. Von der Paßhöhe fällt der Blick auf die mächtigen Berge des obersten Lechgebietes. Der kleine Kirchthurm von Warth ragt mit den wenigen Häusern des Dörfchens aus der mit hohem Schnee bedeckten jenseitigen Bergterrasse unmerklich hervor, und tief zu Füßen des Beschauers bezeichnen emporsteigende bläuliche Rauchwölkchen die Lage des einsamen Weilers Lechleiten. Schnee, nichts als Schnee erblickt das Auge und die Stille der ganzen Natur erhöht den Ernst der Landschaft. Würde nicht die Sonne so schön leuchten und das Blau des Himmels lächeln, man könnte sagen: hier sieht es traurig aus.
In Lechleiten erregte die Ankunft der „Städtler“ das unverhohlene Erstaunen nicht blos des Wirthes, der sich ob dieses unverhofften Besuches sogar entschloß, für einige Minuten die qualmende Tabakspfeife aus dem Munde zu nehmen, um die mit weißem Reife dicht überzogenen Ankömmlinge besser anstaunen zu können, sondern auch aller Anwesenden in der Wirthsstube. Diese war nämlich gedrängt voll und ein dichter Tabaksrauch erfüllte den niedrigen Raum, in welchem die Gluthhitze eines Backofens herrschte. Ein Dutzend Bursche und Mädchen gaben sich Sonntags-Vergnügungen hin und tanzten auf dem beschränkten Platze, welchen der ungeheure gemauerte Ofen und drei bis vier rohgezimmerte Holztische frei ließen. Die Tänzer stampften mit wahrhaft bewunderungswürdiger Ausdauer mit den schweren nägelbeschlagenen Bergschuhen auf den Dielen und schwenkten bei dem Klange einer Cither ihre Mädchen wirbelnd im Kreise, so daß die Fensterscheiben der Stube erzitterten. Die Bauern des Dorfes saßen, unbekümmert um den Höllenspectakel, eng aneinander gedrängt mit Pelzkappen oder spitzen Hüten auf dem Kopfe um die schweren Tische und sprachen dem „Tiroler“ fleißig zu. Sie unterhielten sich einsilbig und richteten ihr Hauptaugenmerk auf ihre dampfenden Pfeifen, die, mit österreichischem Knaster gefüllt, gerade nicht das feinste Parfüm in der Wirthsstube verbreiteten. Ab und zu trugen der Wirth und die Wirthin, ein knochiges Mannweib, deren ungeschlachte Gestalt auf die Prädicate graziös und zart gewiß keinen Anspruch machte, die „Seidel“ und „Halben“.
Der gräuliche Spectakel, welcher die dumpfe Wirtsstube erfüllte, wurde plötzlich noch vermehrt, als der Kraxen-Michel eintrat und sich bei der Unterhaltung betheiligte. Dieser, seines Gewerbes ein Maurer, der im Sommer sein Geschäft in den hoch gelegenen Orten des Lechgebietes ausübt, im Winter dagegen seinen Verdienst verjubelt, war eine Art von Dorfdemokrat, wie aus seinen lärmenden Aeußerungen hervorging. Mit herausfordernden Mienen zog er seinen Geldbeutel und ließ dem Spielmann eine Halbe kommen, damit dieser einen Extratanz für ihn aufspiele. Dabei betheuerte er hoch und theuer, kein Mensch hätte ihm etwas einzureden, wenn er auch sein ganzes Geld vertrinke, er habe es im Sommer verdient und die reichen Bauern – dabei warf er einen zweiten herausfordernden Blick auf die an dem Tische sitzenden Dorfaristokraten – hätten ihm noch nie etwas zu schenken gebraucht. Mit einem Zuge leerte er hierauf ein Glas, bestellte eine frische Halbe und tanzte wie toll nach dem Tacte des lustig klingenden Ländlers, den der alte Citherspieler anschlug, in der Stube herum. Da er in seinem stolzen Selbstbewußsein keine der Tänzerinnen beachtete, so machte er sich das Privatvergnügen, allein herumzuhüpfen, die verwegensten Capriolen auszuführen, dabei die wunderlichsten Gesichter zu schneiden und die Gäste mit Jauchzen und Schnaderhüpfeln zu vergnügen.
Diese Sonntags-Belustigungen dauerten bis spät in die Nacht. Kraxen-Michel wurde zum Schlusse von den Burschen an die Luft gesetzt und schimpfte noch weidlich auf die Reichen und die ganze Dorfschaft. Nach und nach verließen auch die Zecher die Schenke. Allmählich wurde es ruhiger im Wirthshause und die Tanzpaare eilten über die vom Monde beleuchteten beschneiten Pfade. So endete ein Sonntagsball in Lechleiten.
Lechleiten gehört mit Warth, Hochkrummbach, Zürs, Bürselegg, Zug und Anger zu den höchstgelegenen Orten von Vorarlberg und Westtirol und zu dem Bergbezirke, der mit dem Namen Thamberg bezeichnet wird. Dieses Bergland liegt im rauhesten Gebiete der Lechthaler- und Vorarlberger Alpen. Die ungewöhnlich hohe Lage über der Meeresfläche (Hochkrummbach liegt fünftausendzweihundertzweiundsiebzig, Bürselegg fünftausendzweihundertzweiundachtzig Fuß hoch) bedingt ungemein strenge, schneereiche Winter, und besonders Hochkrummbach ist in dieser Beziehung berüchtigt. Der Schnee liegt oft mehr als zwanzig Fuß hoch auf dem öden Plateau, über welches sich die ärmlichen Häuser des Dörfchens zerstreuen. Da die Höhenlage und die rauhen Winde jegliche Baumvegetation unterdrücken, so müssen die Einwohner die Holzvorräthe für den Winter während der bessern Jahreszeit von tiefern Lagen herauftransportiren, und traurig genug ist es, wenn bei ungewöhnlich lang dauerndem strengem Winter das gesammelte Holz zu früh zu Ende geht und starker Schneefall den Verkehr mit den nächst gelegenen Orten unterbrochen hat. In einem solchen Winter soll sich der Pfarrer des Ortes nur dadurch vor dem Erfrieren gerettet haben, daß er, als sein Holzvorrath verbraucht war, Betstühle und zuletzt die hölzernen Heiligen des Kirchleins zum Einheizen benutzte. Der ehrwürdige St. Petrus und die übrigen Apostel mußten den Feuertod erleiden und sollen im mächtigen Ofen des Seelenhirten gar gräulich geprasselt haben. In solchen strengen Wintern, die in ähnlicher Weise auch im Orte Balderschwang, dem sogenannten baierischen Sibirien vorkommen, werden unter dem haushohen Schnee förmliche Tunnel ausgeschaufelt, welche den nothdürftigsten Verkehr zwischen den einzelnen Häusern des Ortes vermitteln. Uebrigens ziehen die meisten Bewohner im Herbste von Hochkrummbach nach Warth, da hier das Klima etwas milder ist. Welchen Begriff von mildem Klima man in diesen Gegenden hat, möchte aus der Höhenlage von Warth, die nicht weniger als viertausendsechshundert Fuß beträgt, hervorgehen.
Von einer Wanderung nach Hochkrummbach wurde um so mehr abgesehen, als nach glücklich vollbrachter Uebersteigung des Schrofenpasses die Sehnsucht nach wirthlicheren Gegenden erwachte. Moosrainer-Sepp machte noch bis Anger, dem Hauptorte des ganzen Hochlandes, den getreuen Begleiter. Von da besserte sich der Weg einigermaßen, indem der Pfad von genanntem Orte nach Stuben häufiger begangen und daher auch mehr ausgetreten wird.
Auf dem Flexenjoche zwischen Zürs und Stuben kam eine Anzahl von Bauern mit Schaufeln bewaffnet den Berg herauf; unter der rasch dahin schreitenden Schaar befanden sich [136] auch ein paar Gebirgsschöne, die gleich ihren männlichen Begleitern aus mächtigen Pfeifen rauchten, denn es gehört beim zarten Geschlechte dieses rauhen Hochlandes zur allgemeinen Sitte, den ganzen Tag dieser Passion nachzuhängen. Wie in Stuben, dem obersten Orte des Klosterthales, zu hören war, kam die Schaar eben vom Arlberge herunter, wo auf der Höhe bei St. Christoph, dem höchst gelegenen Kirchlein der österreichischen Monarchie, der Postschlitten im Schnee stecken geblieben war. Die Bewohner der umliegenden Orte eilten daher zur Freimachung der Straßenbahn mit Schaufeln und Schneepflügen herbei. Schon sechs Tage lang war die Postverbindung unterbrochen. Passagiere, Postillon und Pferde mußten im Hospiz von St. Christoph untergebracht werden, und erst nach angestrengtester Arbeit gelang es, die Straße prakticabel zu machen. Gegen hundert Personen arbeiteten im Schnee auf den Höhen des Arlbergs, und der mit zwanzig Pferden bespannte große Schneepflug wurde durch die hoch aufgehäuften Schneewälle gezogen. Im Posthause zu Stuben herrschte in Folge dieses Zwischenfalls das regste Leben; die schmucken Wirthstöchter hatten vollauf zu thun, den Hunger und Durst der vom Arlberge zurückgekommenen Schneearbeiter zu befriedigen, und im Herrenzimmer erholten sich die eben angekommenen vom unfreiwilligen Aufenthalte auf den Höhen von St. Christoph erlösten Passagiere und Conducteure an den Erzeugnissen der Postküche.
Der Postillon blies zum Aufbruche. Alles stieg ein, und die lustigen Klänge des Posthorns verkündeten laut, daß die Verbindung wieder hergestellt sei. Rasch eilte der mit vier Pferden bespannte Schlitten abwärts gegen Bludenz.
Das links an der Straße aus dem Schnee hervorragende Vermessungssignal, welches den Ausgang des projectirten großen Tunnels durch den Arlberg bezeichnete, lenkte den Blick in die Zukunft, wo das geflügelte Dampfroß auf Tausende von Fuß langen Strecken durch den Berg brausen wird, und in durchwärmten Waggons die Reisenden die Tunnelfahrt verschlafen können, während hoch oben das Kirchlein von St. Christoph und der verödete Arlberger Paß unter Eis und Schnee begraben liegen.
Die Eisenbahn führt von Bludenz in wenigen Stunden an die Spiegelfläche des Bodensees. An seinen schönen milden Ufern reihen sich freundliche Landhäuser, Villen und Schlösser aneinander. Die Weinberge sind in lichtes Weiß gekleidet; auf der spiegelnden Eisfläche der freundlichen Inselstadt tummeln sich muntere Schlittschuhfahrer, und von den Lippen gewandter Eisläuferinnen hört man wohl auch den Ausruf: wie schön sie doch sind, die silberglänzenden Berge und die eisumstarrten Gipfel des Hochgebirges im Winter, die fern im Hintergrunde hoch über den blauen Fluthen emporsteigen! –
Als Papst Alexander der Sechste durch die berüchtigte Demarcationslinie alle Länder der Erde zwischen den katholischen Majestäten der Spanier und Portugiesen theilte, hatte seine Unfehlbarkeit keine Ahnung davon, daß alsbald auch die ketzerischen, protestantischen Holländer Ansprüche auf solchen Länderbesitz mit glücklichstem Erfolge geltend machen würden. Der Freiheitskampf derselben gegen Spaniens Despotismus hatte für Holland nicht nur die Freiheit in der Heimath errungen, sondern auch einen Theil der fernen Meeresherrschaft. Die Holländer bethätigten damals alle Eigenschaften und Kräfte, die zum Ziele großer Unternehmungen führen; sie hatten Ausdauer, Sündhaftigkeit, Kühnheit, Glück.
Aber allmählich zeigte sich die Verschiedenheit der natürlichen Eigenart und der Grundsätze zwischen den Holländern und Iberiern, den Spaniern, Portugiesen. Die Seeunternehmungen der Holländer waren anfangs mehr darauf gerichtet, den Feind an leicht verletzbaren Stellen anzugreifen und seine Macht zu schwächen, als Eroberungen und Entdeckungen zu machen. Darum schlichen sie nur an meistens schon bekannten Küsten umher. Der Spanier trat überall als Ritter auf, der Holländer als Krämer. Der Iberier suchte Abenteuer und glänzende Thaten, der Holländer Geschäfte und kaufmännischen Gewinn; der Iberier suchte Heiden, um sie zu bekehren, der Holländer zweibeinige Wesen, um mit ihnen zu handeln. Der Iberier durstete nach Gold, um alsbald seine stolze Grandezza, seine Prachtliebe und Genußsucht zu befriedigen; der Holländer hungerte nach Schätzen, um sie aufzuspeichern für die stille Behaglichkeit in alterschwachen Jahren. Unähnlich den Spaniern, die auf ihre Opfer losstürzten und nicht eher rasteten, als bis mächtige Reiche ihnen zitternd zu Füßen lagen, überließen die Holländer die Erringung ihrer Herrschaft dem schleichenden Gange der Zeit und waren vorläufig mit dem ersten Theile ihres Wahlspruchs, divide et impera (theile und herrsche)! zufrieden.
Schweigsam waren sie Beide, der Iberier und der Holländer; aber der Erstere brütete, der Letztere calculirte. Auf der geschlossenen Lippe des Iberiers saß Stolz, Verwegenheit, Verachtung, auf der Lippe des Holländers Kälte und Schlauheit. Das Feuer, das dem Iberier aus dem Auge blitzte, sein durchbohrender Falkenblick, die Gluth, die seine dunkle Wange im Zorne überflog, sie zeigten offen die glühenden Leidenschaften im Innersten seines Busens, während die blutleere Wange des Holländers, seine amphibienhafte Kaltblütigkeit, der nebelhafte Blick im feuchten, grauen Auge die angenommene Maske nur täuschender machten.
Daher traten auch die Holländer anfangs in keine feindliche Berührung mit den Eingeborenen. Nur Verdrängung, Vernichtung der Iberier war ihre Hauptaufgabe, zu deren Lösung der Eingeborene ihnen hülfreich beistand. Seitdem vollends Portugal und seine ostindischen Colonien 1580 mit Spanien vereint wurden, waren es diese einst portugiesischen Colonien, gegen welche die Holländer ihre Angriffe richteten, und sie erwarben dabei als Schutzmacht der Eingeborenen außer dem Krämergewinn auch noch Dank und Ruhm. So fallen in die drei ersten Viertel des siebenzehnten Jahrhunderts ihre wichtigsten Erwerbungen. Sämmtliche portugiesische Besitzungen an der Küste Malabar und Koromandel wurden bis auf Goa und einige unbedeutende Niederlassungen erobert; die gewürzreichen Molukken und Sundainseln wurden besetzt, in Japan ein ausschließlicher Handel und am Cap der guten Hoffnung, wie in einzelnen Punkten auf Ceylon die vortrefflichste Vormauer der östlichen Besitzungen gesichert.
Aber in der Wahl ihrer Ansiedelungen waren sie nicht immer glücklich; für Moräste behielten sie die heimische Vorliebe. Batavia, gegründet 1621, sollte an den Ruhm der alten Bataver erinnern und wurde ein indisches Amsterdam. Diese Hauptstadt, fast unter dem Aequator, ist ebenso von Canälen und Cloaken, von infernalen, mephitischen Dünsten durchzogen, wie die europäische Mutterstadt unter dem zweiundfünfzigsten Breitengrade. Batavia ist die größte Leichenkammer der Europäer geworden. In dreiundzwanzig Jahren erlagen hier nach Sir Stamford Raffles eine Million und hunderttausend Menschen. Die tropische Sonne hat hier das dicke Holländerblut, statt es zu wallender Leidenschaft zu entflammen, nur zu phlegmatischer Indolenz verdickt. Die unendliche Lebensfülle hat zu keinem höheren Aufschwung beseelt; der feenhafte Glanz des indischen Lebens, die blitzende Pracht der Juwelen und Perlen, der Farbenglanz, der berauschende Duft blühender Wälder, Alles ging spurlos an ihnen vorüber. Die steife Förmlichkeit der Heimath wurde nur darin gemildert, daß in heißen Tagen der schwere Rock mit leichtem Camisol, die Stutzperrücke mit baumwollener Schlafmütze vertauscht wurde.
Seitdem aber diese Zustände, namentlich durch die erbliche Colonialaristokratie, hier bleibend geworden, folgte Zerrüttung und Verfall noch schneller, als der Aufschwung gekommen. Die Schulden der ostindischen Handelscompagnie wurden untilgbar. Der Staat konnte nicht helfen; die Besitzungen wurden ein unheilbar schadhaftes Glied, dessen Amputation das Leben des Ganzen gefährdete. Inzwischen hatten auch die Engländer weit und breit, auch auf Sumatra, festen Fuß gefaßt und, seitdem Holland 1810 französisch geworden, alle holländischen Colonien in Besitz genommen. Hollands Colonialmacht in Ostindien war erloschen. Erst mit der Restauration der europäischen [137] Machtverhältnisse, 1814, kam Holland wieder in Besitz seiner früheren Colonien, mit Ausnahme des Caps der guten Hoffnung und einiger anderer Punkte. Endlich vertauschte es 1824 seine Besitzungen auf dem asiatischen Festlande und die Insel Singapore an England gegen dessen Colonien im indischen Archipel. So wurde Holland nach unvermeidlichen, aber glücklichen Kämpfen mit den Eingeborenen die größte europäische Macht im ostindischen Archipel, und sein Colonialbesitz hier, der nur dem Englands nachsteht, bildet die Grundlage für den Wohlstand des europäischen Mutterlandes. Das gesammte Ländergebiet mit fast neunundzwanzigtausend Quadratmeilen und über dreiundzwanzig Millionen Bewohnern ist überreich an Naturproducten jeder Art, an Edelsteinen, Gold, Zinn, Eisen, vor allem an edlen Gewürzen, Zimmt, Muscaten, Nelken, Pfeffer, an Kaffee, Tabak, Opium, Betel, Thee, Reis, Zucker, Campher, an Indigo und Cochenille und den vortrefflichsten Holzarten. Und wie die Flora bietet auch die Fauna werthvolle Producte, wie Elfenbein, Thierhäute, Vögel und viele andere, so daß die Gesammtausfuhr jährlich hundert Millionen holländische Gulden übersteigt.
Was Wunder, daß die Holländer diese Colonien in hohem Werthe halten und sie fort und fort durch Tausch, Verträge und blutige Kämpfe zu verstärken und zu vergrößern suchen. Gegenwärtig sind sie auf Sumatra schwer beschäftigt, und hier kam in letzter Zeit – – „Holland in Noth“.
Sumatra, von allen Inseln auf der Erde, wenn man Neuholland ausnimmt, der Größe nach die dritte, liegt in paralleler Nähe von Malakka, fast sechs Breitengrade auf beiden Seiten des Aequators. Von ihrem auf acht- bis zehntausend Quadratmeilen geschätzten Areal besitzt Holland im Süden und an der Westküste weit über die Hälfte mit über anderthalb Millionen Bewohnern.
Das Innere von Sumatra ist größtentheils noch wenig bekannt, von vulcanischen, in einzelnen Höhen auf über zehntausend Fuß aufsteigenden Gebirge durchzogen und von wilden Stämmen bewohnt, von denen die Battas Menschenfleisch auch noch roh, wie Beefsteak à la Tartare, verschmausen. Das Klima ist in den heißen und niedrigen Küstenstrichen nicht besser, als das von Java; die Wärme variirt zwischen achtundzwanzig und dreiunddreißig, und im innern Hochlande zwischen achtzehn und zweiundzwanzig Centesimalgraden. Die Westküste, von der die Holländer über drei Viertel inne haben, unterscheidet sich indeß vortheilhaft von der im Osten durch eine Reihe mehr oder weniger geschützter Häfen und Ankerplätze, von denen die unter anderthalb Grad nördlicher Breite gelegene Bai von Tappanoli groß und tief genug ist, um eine Kriegsflotte, wie die englische, aufzunehmen. Die Ostküste ist dagegen flach, nur an den Flußmündungen von mephitischen Morästen unterbrochen, und meilenweit landeinwärts unbewohnbar.
Die Mannigfaltigkeit, Fülle und Schönheit der Naturproducte ist größer als auf irgend einer andern Insel des indischen Archipels und übertrifft selbst den wunderbaren Reichthum Javas. Vor Allem ist die Vegetation an Nahrungsstoffen, edlen Gewürzen, Pflanzen- und Baumgattungen, die in technischer oder ökonomischer Weise hochgewerthet werden, überschwänglich groß. Hier blühen die Muscaten- und Cardamomwälder, hier ist seit Alters her die unerschöpfliche Urheimath der Pfeffersäcke, von andern Gewürzen und Harzen, von Kaffee, Tabak, Baumwolle u. dgl. gar nicht zu reden.
Die Menge der Holzarten ist zahllos in allen nur denkbaren Abstufungen und Uebergängen, von den leichtesten und losesten bis zu den allerhärtesten und festesten. Während das Holz der Aeschynomene-Arten kaum ein Gewicht besitzt und sich wie Hollundermark zwischen den Fingern zusammendrücken läßt, ist das verschiedener Sideroxylon-Arten so hart, fest und schwer, daß das schärfste Beil sich daran nach wenigen Hieben abstumpft, und alle sonst zerstörenden Einflüsse des Klimas und der Atmosphäre machtlos gegen dasselbe erscheinen. Dieses Eisenholz ist das vortrefflichste Material für den Schiffsbau.
Auch die Thierwelt ist hier reichlichst vertreten. Wir nennen nur die Aristokraten von uraltem Grundbesitze, den Elephanten, Tiger, Büffel, das Nashorn, den Orangutang nicht zu vergessen, der hier von den Eingeborenen schon lange vor Darwin und Vogt als Urahn und Erzvater verehrt und daher niemals getödtet wurde, weil in ihm die Seelen ihrer Voreltern wohnen sollen.
Den nördlichen Theil dieser an werthvollen Ausfuhrproducten überreichen Insel Sumatra bildet das Königreich oder Sultanat Atschin mit der Hauptstadt gleichen Namens. Auf einem Areal von etwa achthundert Quadratmeilen mit zwei Millionen Bewohnern hat es von jeher vollen Antheil an dem Productenreichthume der Insel und für die Verwerthung derselben durch die Nähe Malakka’s die günstigste Lage. Die Ausfuhr an Pfeffer allein beträgt an zweihunderttausend Picol oder eine Viertelmillion Zollcentner. Hier liegt der Hase im Pfeffer, und dies der Grund, die Besitzlust der Holländer zu reizen, die seit Kurzem in blutigen Krieg ausgebrochen ist.
Atschin ist das einzige Reich auf der großen Insel, welches eine Geschichte in unserem Sinne hat und die schon bis zur Zeit der Hedschra hinaufreicht. Es war immer unabhängig und mächtig durch Handel und mußte schon eben deswegen mit den Portugiesen und ihren Nachfolgern, den Holländern, in mehr ober minder harte und anhaltende Conflicte kommen. Bemerkenswerth ist indeß, daß nach dem Tode des mächtigsten Herrschers, Iskander Muda, 1641, vier Frauen in ungestörter Folge nacheinander achtundfünfzig Jahre, bis 1699, die Regierung führten, von denen die erste sich sogar mit einem Holländer vermählen wollte, wozu indeß die Handelscompagnie die Zustimmung versagte.
In neuerer Zeit sollen – sagen die Holländer – anhaltende Beleidigungen, Menschenraub, Grenzverletzungen, Piraterie alle friedlichen Vermittelungen vereitelt haben, und es sei ihnen nichts übrig geblieben, als am 26. März 1873 dem Fürsten von Atschin den Krieg zu erklären. Wie gewöhnlich in solchen Fällen wurde auch hier das sachliche und formale Recht auf die Interpellation eines Abgeordneten den überraschten Kammern nachträglich vom Colonial- und Kriegsminister vordemonstrirt, als die Holländer schon nach ihren ersten Angriffen im April 1873 mit einem Verlust von zweiunddreißig Officieren, unter denen auch der commandirende Generalmajor von Köhler, und über vierhundert Mann zurückgeschlagen waren, ein Verlust, der bei dem nur viertausend Mann starken Expeditionscorps schwer in’s Gewicht fällt. Und noch schwerer wiegt die Schuld der Unwissenheit und Indolenz, die das Eintreten des hier beginnenden Monsuns nicht früh genug beachtet, die ganze Expedition der größten Gefahr ausgesetzt und zu einer fluchtähnlichen Heimkehr genöthigt hat.
Die Atschinesen sind übrigens kriegerisch, groß, kräftig, heftiger und stolzer Gemüthsart und zeichnen sich vor allen übrigen eingeborenen Bewohnern Sumatras durch Intelligenz und manche Kunstfertigkeit aus. Sie sind größtentheils Mohammedaner. Die Hauptstadt Atschin ist zwar lange nicht mehr von der früheren Bedeutung, zählt aber noch immer in achttausend Häusern an dreißig- bis vierzigtausend Einwohner. Der Palast des Sultans, der „Kraton“, ist ziemlich verfallen, aber auch nicht der einzige und Hauptpalast, wie denn überhaupt der Besitz der Stadt Atschin noch in keiner Weise für die Eroberung des Landes maßgebend wäre, das sehr respectable Mittel hat, den Widerstand längere Zeit mit Erfolg fortzusetzen. Die Befestigung von Atschin, das an der äußersten Nordspitze etwa zwei und eine halbe englische Meile vom Meere entfernt liegt, beschränkt sich auf einige Schanzen und Wälle an der Küste, von denen der „Missigit“ am stärksten ist. Von den drei Mündungen des Flusses, an dem die Hauptstadt liegt, ist die mittlere zwanzig bis dreißig Fuß tief und an dreihundert Fuß breit, während die beiden andern meist ziemlich seicht sind und nur zur Regenzeit einigen Tiefgang gewähren.
Wer sich der brüsken Haltung der Holländer gegenüber Deutschland zur Zeit des letzten Krieges mit Frankreich erinnert, wird ihren Eifer erklärlich finden, die Schmach vor Atschin zu rächen und zu tilgen. Ein Credit von fünf und einer halben Million holländischen Gulden wurde dem Ministerium zur Fortführung des Krieges bewilligt. Die Küsten Atschins wurden in Blokadezustand versetzt. Von vierzehn zu vierzehn Tagen gingen aus den holländischen Häfen Truppentransporte, Waffen und Munition ab, und die holländische Armada soll an neunundzwanzigtausend Mann zählen, unter denen aber kaum dreitausend Europäer, während die Atchinesen an fünfzigtausend Krieger haben, die durch befreundete Stämme noch vermehrt werden. General van Swieten, in den Kriegen der ostindischen [138] Colonien wohl erfahren, ist in seinem sechsundsechszigsten Jahre aus dem Haag als Oberstcommandirender abgegangen und Ende August vorigen Jahres in Batavia gelandet.
Seit einigen Wochen nun wissen wir, daß neuntausend Mann Holländer, mit allen Erfordernissen zu einer energischen Kriegführung ausgerüstet, am 9. December vor Atschin unter lebhaftem Feuer zwischen ihren Schiffen und den Küstenbatterien der Eingeborenen gelandet sind, um nicht allein den Sultan zu strafen, sondern auch sein Reich in Besitz zu nehmen. Und am 27. Januar wurde aus dem Haag gemeldet: „Officielle Nachrichten aus Penang vom gestrigen Tage bestätigen, daß der Kraton, nachdem derselbe ringsum eingeschlossen und seine Verbindung mit dem Lande abgeschnitten worden war, am 24. dieses Monats von den Holländern genommen worden ist. Von der Westseite aus wurde ein Angriff auf den Kraton gemacht und hierbei derselbe von den Vertheidigern verlassen gefunden.“
Der „Kraton“ ist indeß, wie schon bemerkt, kein Malakoff; er war nicht befestigt und ist nicht vertheidigt worden, aber die Natur des Tropenlandes kommt hier den Angegriffenen vielfach zu Hülfe. Voraussichtlich wird der Krieg langwierig, und Holland befindet sich vor Atschin in ungleich schwierigerer Lage als die Russen vor Chiwa gewesen und die Engländer jetzt vor Cumassie sind, da die Kosten und Anstrengungen ihm mit der Zeit zu groß werden dürften und seine Marine kaum ein Schatten ihrer ehemaligen Größe ist.
Aus dem brausenden Menschenmeer von Paris ist soeben ein Nothruf zu uns herübergedrungen, ein herzbewegender Hülferuf für stilles, und doch unbeschreiblich schmerzenreiches und vielseitiges Elend. Wäre der Ruf von Franzosen gekommen und für Franzosen laut geworden, so würde er schon einen Anspruch auf unsere menschliche Theilnahme mit sich führen. Es ist aber deutsche Noth, die er unseren Blicken enthüllt, es ist deutsche Bedrängniß und Hülfsbedürftigkeit, die flehend aus ihm uns ihre Hände entgegenstreckt. Deutsche Noth und Hülfsbedürftigkeit in dem heutigen Paris! Das Wort sagt Alles, und sein bloßer Klang schon muß zehndoppelt erschütternd auf Jeden wirken, dem die dortigen Stimmungen und Verhältnisse nicht gänzlich fremd geblieben sind.
Obwohl die glänzende Weltstadt an der Seine seit dem letzten Kriege für jeden deutschen ein ungastlich harter, frieden- und freudenloser Boden geworden, so lebt doch wiederum eine sehr beträchtliche Zahl unserer Landsleute inmitten dieser feindseligen, von den wildesten Haß- und Rachegefühlen gegen Deutschland erfüllten Bevölkerung. Viele Derjenigen, welche im Sommer 1870 so grausam hinausgetrieben wurden, haben nach erfolgtem Frieden allen Schrecken und Gefahren der Wiederkehr sich aussetzen müssen, weil sie durch wichtige Lebens- und Nahrungsinteressen, durch Besitz und Geschäft, durch Bande der Familie, des Berufs und der Arbeit an diesen Leidensplatz gefesselt sind.
Es sind das aber nicht etwa lauter Wohlhabende und Begüterte. Ein großer Theil der deutschen Bevölkerung von Paris besteht vielmehr aus durchaus mittellosen Leuten jeden Alters, Geschlechtes und Standes, die hier rettungslos verloren, den Qualen des Verhungerns, der Verzweiflung und dem Untergange preisgegeben sind, wenn ihnen in Fällen des Mißgeschicks und Rückgangs, der Arbeitslosigkeit oder Krankheit nicht eine hülfreiche Stütze wird. Und zu diesen regelmäßigen Armen gesellt sich nach wie vor der unaufhaltsame Strom jener unerfahrenen und abenteuernden Deutschen, die, trotz aller Warnungen, dem anlockenden Glanze der Weltstadt nicht widerstehen können. Gänzlich entblößt oder mit nicht ausreichenden Mitteln versehen, kommen sie noch fort und fort nach Paris, um hier ihr Glück zu versuchen, und dann nach dem nur selten ausbleibenden Scheitern ihrer Hoffnungen an den Rand des Abgrundes zu gerathen.
Eine Fülle deutschen Elends hatte Paris schon in früheren harmloseren Zeiten geborgen, und schon vor dreißig Jahren hatte dasselbe zur Gründung und Organisation jenes Pariser „Deutschen Hülfs-Vereins“ geführt, der seitdem in der Geschichte des Wohlthuns und der patriotischen Bestrebungen eine hervorragend glänzende Stellung behauptet hat. Nicht weniger als 14,000 Deutsche jeden Stammes und Landes waren es, welche früher der Verein jährlich in Paris liebreich unterstützen, die er vor dem Versinken bewahren, aus vorübergehenden Gefährdungen erlösen, in Krankheiten verpflegen, in den Tagen des Alters und der Schwäche mit Nothwendigem versehen, oder denen er wenigstens die Rückkehr in die Heimath ermöglichen konnte. So stand es bis zum Ausbruche des Nationalkrieges, der natürlich all diesem Wirken eine tiefgreifende Störung bereiten mußte.
Obwohl aber der Verein in den Kriegsjahren 1870 bis 1872 sich auf eine ganz stille Thätigkeit beschränken mußte, gab es doch in dieser schweren Zeit viel und Schweres für ihn zu thun. Außer der österreichischen, der deutschen und baierischen Regierung zahlten damals nur noch wenige Mitglieder ihre Beiträge. Die Einnahmen deckten bei Weitem nicht die Ausgaben und es mußte der Reservefond angegriffen werden, welcher dadurch bei der Wiederaufrichtung des Vereins am 10. Mai des vergangenen Jahres von 40,765 auf 33,432 Franken herabgesunken war, unter denen sich jene 20,000 Franken befinden, welche die bairische Regierung dem Verein als unantastbares Capital geschenkt hat.
Im letzten Rechnungsjahre vor dem Kriege (1869) betrug die Gesammteinnahme des Pariser Deutschen Hülfsvereins noch 54,969 Franken, darunter Zuschüsse deutscher Regierungen: 6828 Franken, Reinertrag eines Balles mit Ausspielung 13,020 Franken, Beiträge der 674 Mitglieder 22,295 Franken. Wie anders im vergangenen Jahre 1873! Hier erreichte die Gesammteinnahme nur die Summe von 19,500 Franken, worunter sich die Jahresbeiträge der deutschen Regierung (4000 Franken), der baierischen und elsässisch-lothringischen Regierung (2000 und 1000 Franken), sowie des Großherzogs von Hessen (500 Franken) befinden, während in Folge des Krieges und durch den erfolgten Austritt der Oesterreicher und Ungarn die Mitgliederzahl von 674 auf 152 gesunken ist, deren Opferfreudigkeit die verhältnißmäßig bedeutende Summe von 9300 Franken aufbrachte.
Mit diesen schwachen Mitteln soll der Verein den verschiedenartigen und vielfach sehr gesteigerten Anforderungen genügen, welche täglich auf ihn einstürmen, soll er der oft himmelschreienden Noth armer Landsleute steuern, deren Unglück dort unter den gegenwärtigen Verhältnissen ein doppelt verhängnißvolles geworden, da sie mit der verzweiflungsvollen Armuth auch noch alle Folgen eines zornentbrannten, in Schimpf und Kränkung, in persönlicher Aechtung, Bedrückung und Mißhandlung sich äußernden Nationalhasses zu tragen haben. Zwar hat der Aufschwung unseres Nationalbewußtseins und des Gefühls deutscher Zusammengehörigkeit die Kinder unseres Vaterlandes überall in der Fremde und namentlich in dem feindseligen Frankreich zu innigerem Bunde aneinandergeschlossen; aber für die Aufgabe des gegenseitigen Beistandes, der Hülfe und Rettung, welche dieses Bündniß in sich schließt, reichen die jetzt in Paris vorhandenen Kräfte um so weniger aus, als die Zahl der Hülfsbedürftigen auch durch den nothleidenden Theil jener Elsaß-Lothringer vermehrt ist, die nicht für Frankreich optirt haben und deshalb gleichfalls unterstützt werden müssen.
Niemals in seinem bisherigen dreißigjährigen Wirken hatte sich der „Deutsche Hülfsverein in Paris“ mit einer Bitte um Gaben an das deutsche Publicum gewendet, so lange er sich selber erhalten, frei den Kreis der Beitragenden erweitern und durch Veranstaltung öffentlicher Festlichkeiten sich erhebliche Zuschüsse verschaffen konnte. Alle diese Wege sind ihm jetzt verschlossen und abgeschnitten, und bei der vollständigen Unmöglichkeit, dem Andrange bitterer Noth auch nur annähernd genügen zu können, bleibt ihm nichts weiter übrig, als an die Thüren der deutschen Häuser zu klopfen und von der Mildthätigkeit der Heimath zu erbitten, was er selber nicht mehr zu erschwingen vermag.
Wenn aber jemals, so handelt es sich für uns in diesem Falle um eine Bethätigung deutschen Familiengeistes, um eine Pflicht des Erbarmens und eine Pflicht der Ehre. Wir dürfen arme Landsleute nicht elend in einer feindseligen Fremde verkommen lassen; wir dürfen den Franzosen nicht das Schauspiel geben, Hunderte von Angehörigen der deutschen Nation fortwährend schutzlos unter ihren Augen in Nöthen aller Art verzweifeln und verkümmern zu sehen. Wäre eine Organisation wie der „Deutsche Hülfsverein“ in Paris nicht vorhanden, wir müßten sie von Deutschland aus zu schaffen suchen. Da sie besteht, müssen wir sie hinreichend ausstatten, daß sie ihren Pflichten nicht blos in Paris genügen, sondern der Verein seine helfende Thätigkeit auf alle Orte erstrecken kann, wo in Frankreich jetzt arme Deutsche ohnedies unter dem mitleidslosen Hohne eines verfolgungssüchtigen Nationalhasses seufzen.
Möge also Niemand bei uns diesem so edeln Zwecke sich entziehen, möge Jeder sein Scherflein beitragen und mögen auch die wohlhabenden Deutschen im Auslande, in England, Rußland, Amerika etc. der doppelt schweren Gebeugtheit ihrer armen Brüder und Schwestern in Paris gedenken! Eine Sammlung für den „Deutschen Hülfsverein“ daselbst ist am heutigen Tage von uns eröffnet. Wir zweifeln nicht, daß der Ertrag ein neues Zeugniß geben wird von der Humanität und Menschenliebe sowohl, wie von dem nationalen Ehr- und Pflichtgefühle unseres deutschen Volkes.
An Beitragen für den „Deutschen Hülfsverein“ gingen uns bis jetzt zu: Frau Harkort-Brenschedt 10 Thlr. – Von Afd., der vor Jahren in Paris war, 10 Thlr. – Redaction der Gartenlaube 50 Thlr.
Im Verlage von Ernst Keil in Leipzig ist so eben erschienen:
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Gemeint ist Paul von Eitzen