Der rätselhafte Gast
Wir waren Ende März nach monatelangem Aufenthalt in Indien wieder heimgekehrt, und Harald hatte sich mit Feuereifer an die Bestellung unseres großen Gemüsegartens herangemacht, hatte der dicken Köchin Mathilde den strikten Befehl erteilt, immer noch auf telephonische oder persönliche Anfrage zu erklären, daß wir noch im Auslande weilten.
Vier Tage ging denn auch alles gut, das heißt, niemand störte uns. Wir hatten in Indien auch pekuniär so tadellos abgeschnitten, daß wir bequem ein ganzes Jahr hätten faulenzen können.
Wie gesagt: wir hätten unseren geliebten Detektivberuf getrost vorläufig an den Nagel hängen können …
Vier Tage hing er nur an dem bewußten Nagel … Dann ging der Tanz schon wieder los …
Und das kam so …
Ein großer Komposthaufen ist die Freude jedes Gartenbesitzers …
In diesen Komposthaufen schlug ich mit einer sogenannten Mistforke vormittags neun Uhr am 31. März eine gewaltige Bresche, das heißt, ich füllte die Kompostmasse in eine Karre, die Harald dann nach den Beeten schob, um dort die Verteilung vorzunehmen.
[2] Mit einem Male spürte ich, daß die Zinken der Forke sich in etwas Hartes einbohrten … etwas Metallisches, das ein wenig nachgab, – vielleicht eine große leere Konservenbüchse, dachte ich … Wie allerdings eine solche Büchse hier in den „Stolz“ unseres Gemüsegartens hineingelangt sein könnte, war mir unklar, denn wir hatten den Kompost mit Liebe und Sorgfalt gesammelt, und selbst die Köchin Mathilde würde niemals gewagt haben, ausrangierte Wirtschaftsgegenstände hier unterzubringen.
Ich zerrte mit aller Macht …
Und der Kompost wölbte sich, barst … öffnete sich zum Loche, aus dem … ein Marmeladeneimer zum Vorschein kam … Meine Forke hatte gerade den Deckel durchbohrt, der offenbar sehr fest saß.
Harald kehrte gerade mit der leeren Karre zurück …
„Na nu?!“ rief er. „Das ist ja ein Marmeladeneimer für zwanzig Pfund Inhalt!“
„Allerdings! Wie mag das Ding nur …“
Und schwieg …
Hatte meine Forke von dem Anhängsel befreien wollen …
Hatte tüchtig geschüttelt …
Und da war der Deckel an den Zinken haften geblieben, und der Eimer rollte Harald vor die Füße – – und aus dem Eimer ein in braunes Leder gehülltes rundliches Paket …
„Hallo – – die Sache erscheint doch nicht so ganz harmlos!“ meinte Harald und bückte sich … schnupperte, als ob er etwas Unangenehmes röche …
Auch ich roch’s …
Der Komposthaufen duftete ja fraglos kräftig …
Aber – dies hier war Verwesungsgeruch …
Harst kniete schon nieder …
Betrachtete die Lederhülle, die mit Bindfaden umschnürt war …
Meinte:
„Das ist ein Stück von einer Lederjacke … Und der Bindfaden – hm, das ist keine gewöhnliche Hanfschnur, sondern [3] eine ganz dünne Leine, wie man sie bei Wasserfahrzeugen braucht …“
Ich beugte mich tiefer …
„Harald, da muß ein Kadaver eingewickelt sein … Vielleicht eine Katze …“
Er schlug die Lederhülle schon auseinander …
Und – wir beide fuhren zurück, als ob zwischen uns eine Bombe geplatzt wäre …
Da lag auf dem braunen Leder nun im hellen Lichte des Vorfrühlingstages ein bereits stark in Verwesung übergegangener menschlicher Kopf …
Ein Kopf eines jüngeren blonden Mannes mit schmalem Gesicht – bartlos, – im übrigen schon so entstellt, daß man von Gesichtszügen nicht mehr sprechen konnte.
Nicht genug hiermit …
Da war noch neben dem Kopfe aus dem Leder ein großer gelber Umschlag zu sehen – ein Brief mit Aufschrift …
Harst nahm den leeren Marmeladeneimer, stülpte ihn über den unheimlichen Fund und hob den Brief empor, dem natürlich schon der Leichengeruch äußerst stark anhaftete …
Ich schaute mit hin, las mit:
So lautete die Aufschrift auf dem gelben Umschlag.
In dem Umschlag selbst steckte nur eine Zeitung: die „Berliner Mittagspost“, deren genaue Berichterstattung über alles Sensationelle bekannt ist!
Und in dem Blatte war ein Artikel rot angestrichen:
„Der rätselhafte Gast. Wir sind heute in der Lage, über den mysteriösen Gast des Schwedischen Pavillons in Wannsee unseren Lesern mit weiteren Einzelheiten dienen zu können.
[4] Um diese seltsamen Tatsachen nochmals von Beginn an nach Tagen zu ordnen:
Am 4. März landete an der Bootsbrücke des bekannten Restaurants ein Kanufahrer, ein jüngerer Herr in Lederjacke und Ledermütze. Er traf bei Dunkelwerden ein, übergab sein grün gestrichenes Zweisitzerkanu dem Hausdiener und ließ sich ein Zimmer geben, wo er sich eine Mahlzeit servieren ließ. Kurz vor acht Uhr entfernte er sich zu Fuß, kehrte um neun zurück und ging zu Bett, nachdem er dem Hausdiener befohlen hatte, ihn um sieben zu wecken und ihm gleichzeitig das Frühstück zu bringen. Morgens halb acht ruderte er in seinem Kanu davon.
Am 6. März erschien er zu derselben Zeit. Ließ sich dasselbe Zimmer geben und entfernte sich wieder gegen acht Uhr, kehrte diesmal aber erst um zehn Uhr sehr aufgeregt zurück, bestellte eine Flasche Rotwein und bedeutete dem Hausdiener, ihn um sechs zu wecken. – Der Hausdiener tat es auch pünktlich, – das heißt, er pochte an die Tür. Niemand meldete sich jedoch, und als der Hausdiener die Tür öffnete, fand er das Zimmer leer und auf dem Tische einen Fünfzigmarkschein, den der Gast offenbar dort zur Begleichung seiner Rechnung hingelegt hatte. Das eine Fenster stand offen, und der Kanufahrer war von hier fraglos an dem einen Verandapfeiler hinabgeklettert, hatte sein Fahrzeug geholt und war in aller Stille davongerudert.
Am 8. März erschien er wieder bei Anbruch der Dunkelheit zum dritten und letzten Male im Schwedischen Pavillon, entschuldigte sich bei dem Wirt wegen seines eigentümlichen Verhaltens beim vorigen Besuch und erklärte, er habe nicht einschlafen können und sei daher schon morgens zwei Uhr aufgebrochen. – Auch diesmal verlief alles wie bisher. Der junge Mann aß, trank und ging um acht zu Fuß davon. Inzwischen hatte jedoch einer der jüngeren Kellner sich vorgenommen, ihm heimlich zu folgen. – Der Kanufahrer begab sich in den nahen Wald und [5] erkletterte hier, wie der Kellner beobachten konnte, eine verkrüppelte Kiefer,[1] blieb eine Weile oben in der Krone und kletterte wieder herab. Dann ging er bis zum Seeufer, setzte sich hier in den Sand und … weinte und schluchzte so kläglich, daß der Kellner ganz weich gestimmt wurde. Gegen neun kehrte der rätselhafte Gast, der sich übrigens Kaufmann Fritz Schmidt nannte, in den Schwedischen Pavillon zurück, trank wieder eine Flasche Rotwein und wollte um sieben geweckt sein. – Der Kellner hatte sich derweil in das Nebenzimmer geschlichen und von hier aus durch ein vorbereitetes Loch in der Verbindungtür seine Beobachtungen fortgesetzt.
Viel zu sehen gab es nicht. Der junge Herr Schmidt lief im Zimmer nervös hin und her und trank zuweilen einen Schluck Wein … Seine Armbewegungen und seine lauten Seufzer deuteten auf eine verzweifelte Stimmung hin. Mitunter trat er an das Fenster, schlug den Vorhang zurück und reckte die gefalteten Hände zum ausgestirnten Nachthimmel empor.
Dann warf er sich in Kleidern auf das Bett und schlief ein. – Der Kellner verließ seinen Beobachtungsposten.
Und doch wäre es besser gewesen, er hätte noch einige Geduld bewiesen, denn … morgens war Herr Schmidt mit seinem Kanu verschwunden. –
Und jetzt das Unbegreifliche, das Rätselhafteste: an demselben Morgen, also am 9. März gegen acht Uhr, fanden Frauen, die im Walde Holz gesammelt hatten, am Seeufer etwa an derselben Stelle, wo Schmidt am Abend vorher so jämmerlich geweint hatte, das durch Beilhiebe unbrauchbar gemachte Kanu und darin die hellgelbe elegante Reisetasche Schmidts, die dieser stets mit nach dem schwedischen Pavillon gebracht hatte. Die Tasche enthielt nichts als ein Päckchen Banknoten – zweiundzwanzigtausend Mark genau! –
Alle Nachforschungen nach diesem Fritz Schmidt sind [6] bis heute erfolglos geblieben. Man weiß weder, woher er kam noch wohin er ging …
So weit hatten Harald und ich gelesen …
Da kam die dicke Köchin Mathilde den Hauptweg entlang und rief:
„Hier – – ein Brief … Eben war der Postbote da!“
Ein Brief …
Gelber Umschlag … mit Haralds Adresse …
Und: es war genau dieselbe Schrift wie auf dem anderen gelben Umschlag, der dem abgeschnittenen Kopf beigelegen hatte!
Dieselbe schmucklose energische Männerhandschrift …
Der Inhalt aber – – nur eine Karte mit den Worten:
„Suchen Sie im Komposthaufen!“
Nichts weiter …! –
Nun, wir brauchten nicht mehr zu suchen …
Ein Zufall hatte uns finden lassen, was dem Rätsel „Fritz Schmidt“ eine neue Wendung gab: den Kopf des mysteriösen Gastes aus dem Schwedischen Pavillon!!
Denn daß es Fritz Schmidts Kopf war, bezweifelte ich keinen Augenblick.
Die dicke Mathilde war ahnungslos wieder davongewatschelt …
Harald wandte sich mir zu, nachdem er eine Weile sinnend über den Zaun hinweg auf die jenseits des Feldweges liegende Laubenkolonie geschaut hatte …
„Geh’ und hole den großen Ballon Spiritus aus meinem Laboratorium und auch ein Einmacheglas, in das der Kopf hineinpaßt …
Im Gebüsch wurde dann der Kopf in das Glas getan und Spiritus eingefüllt.
Dann stellte Harald das Glas in den Eimer, deckte die [7] zerschnittene Lederjacke über den Marmeladeneimer und schritt mir voran dem Hause zu.
In seinem Arbeitszimmer, das ich abriegeln mußte, besichtigte er den Kopf dann genauer …
Meinte: „Ein Mädchen!!“
Ich fuhr ordentlich zusammen …
„Ein Mädchen?!“
„Ja … Fritz Schmidt war ein verkleidetes Weib … Ein Mann hätte auch kaum so laut geweint und geschluchzt und die Hände zum Himmel emporgereckt …“
„Entschuldige, – woraus schließt du auf ein Mädchen? Das Haar ist doch …“
„… zu weich und fein für Männerhaar … Außerdem fehlt jedes Anzeichen von Bartwuchs … Und schließlich noch die Zähne – das sind Frauenzähne, ganz abgesehen von den Löchern in den Ohrläppchen, den Löchern zu Ohrringen …“
Ich war nun selbst überzeugt, daß Schmidt weiblichen Geschlechtes gewesen.
Ich fragte weiter:
„Was hältst du von alledem?“
„Keine Ahnung … vorläufig …“
„Wirst du der Polizei Mitteilung machen?“
„Heute noch nicht … – Gib mal das Stück Lederjacke her …“
Während er es prüfte (es roch noch unangenehm nach Verwesung), beschaute ich mir den grausigen Inhalt des Einmacheglases.
„Der Hals war offenbar mit einem Beil durchgeschlagen und zwar sehr ungeschickt.
Im übrigen wies der Kopf keinerlei Verletzungen auf.
Harst meinte unvermittelt:
„Dieses Jackenstück wird uns ebenfalls nicht weiterhelfen.“
Er langte nach dem Zigarettenkasten …
Die ersten Rauchwölkchen seiner Mirakulum begleitete er mit den Worten:
„Auch die beiden Schriftproben des Mannes, der … [8] „die Angelegenheit nicht verfolgen kann“, dürften zunächst wenig nützen … Packen wir also alles, was den Fall „rätselhafter Gast“ betrifft, unten in den Tresor, damit nicht etwa Mathilde beim Reinemachen womöglich den Kopf bemerkt … Dann würde sie meine Zimmer nicht mehr betreten …“
„Was ich ihr nicht verdenken kann,“ nickte ich und war froh, als die Panzertür hinter dem grauenvollen Inhalt des Einmacheglases zuschlug.
Harst nahm seine Mütze …
„Sehen wir uns also mal den Komposthaufen an, mein Alter …“
„Komposthaufen?!“
„Nun ja … Der Unbekannte mit der energischen schlichten Handschrift hat offenbar doch gestern erst erfahren, daß wir wieder in Berlin sind … Daraufhin vergrub er nachts den Marmeladeneimer in dem Komposthaufen und schrieb den Brief. Er wird also Spuren hinterlassen haben …“
Und das stimmte – stimmte jedoch auch wieder insofern nicht, als der Mann, wie wir deutlich erkannten, seine Fährten vorsichtig verwischt hatte, indem er mit einem Stock jeden einzelnen Eindruck seiner Schuhe zerkratzt hatte. Diese Spur führte zur linken Zaunecke des Gemüsegartens. Hier war der Mensch über den Zaun geklettert.
Wir standen jetzt ebenfalls dicht am Zaun … Harald sagte achselzuckend:
„Ein schlauer Bursche …! Schlau und unverständlich … Wenn er uns den Kopf der Ermordeten übermitteln konnte, muß er doch gewußt haben, wo der oder die Täter die ganze Leiche verscharrt haben, muß sie vielleicht kennen …“
Ich blickte ihn forschend an …
„Harald, du vermutest, daß …“
„… daß der Mann vielleicht gar der Mörder selbst ist, – allerdings das vermute ich … Ob es stimmt, weiß ich nicht … Was wissen wir denn überhaupt?! Betrachtet man die Einzelheiten dieses Problems, so könnte man tausend Fragen stellen … Alles hängt haltlos in der Luft … Und [9] das mysteriöseste ist doch nun diese unsere Entdeckung des Kopfes hier auf unserem Grund und Boden. Ich habe ja schon vieles erlebt: dies setzt allem die Krone auf!“
Er bückte sich plötzlich …
Der Zaun war ein ziemlich hoher Staketenzaun …
Und – Harst deutete jetzt auf den oberen Querbalken des Zaunes …
„Da – hier ist der Mann mit der Stiefelspitze auf den bestaubten Balken getreten, mein Alter … Was sagst du zu dieser Spur, die er zu verwischen vergaß?!“
„Das … kann nur der Abdruck der Spitze eines Damenschuhes sein, Harald …“
„Ganz recht … Ein winziger Schuh … Mithin ein neues Rätsel!! – Ah – und hier … hier ein zweiter Abdruck – der eines Schuhabsatzes … Hier an dieser Stelle ist der Betreffende in den Garten eingestiegen, dort hinausgeklettert … Der Absatz ist noch wichtiger als die Schuhspitze …, der Abdruck noch klarer … Du siehst, es ist ein Gummiabsatz gewesen, mit drei Nägeln befestigt. Die Nägelköpfe bilden ein Dreieck. Messen wir die Abstände der Nägelköpfe voneinander … – – So, das wäre gemacht … Zeichnen wir nun auch die Form der Schuhspitze genau nach … – – Fertig …!“
Dann schwang er sich elegant über den Zaun auf den Feldweg …
Kniete dicht am Zaun nieder …
„Dummkopf!!“ rief er triumphierend …
Ich argloses Gemüt bezog diese grobe Injurie auf meine Person und sagte gereizt:
„Gestatte mal!! – Weshalb?!“
Weil der Mensch hier beim Abspringen von der Zaunhöhe gefallen ist … Da sind seine Hände im Sande zu erkennen, hier die Knie, hier die Schuhspitzen …“
Ich beugte mich über den Zaun …
„Der Dummkopf hat diesen prachtvollen Steckbrief nicht verwischt …!“ fügte Harald schon hinzu … Und ich war wieder [10] versöhnt … „Schau’ mal, lieber Alter, – die Entfernung von den Knien zu den Fußspitzen ist kaum fünfundzwanzig Zentimeter lang … Mithin …“ – und er warf mir einen Blick zu, der mich zu einer Äußerung aufforderte …
„… mithin muß die Person sehr klein gewesen sein,“ ergänzte ich prompt, – was ja auch keine besondere Geistesproduktion war.
„Sehr klein – – ein Zwerg,“ – und Harst kam wieder zu mir in den Garten zurückgeklettert. „Ein Zwerg, mein Alter … Kein Weib! Wäre es ein Weib gewesen, hätten die Röcke, als die Person sich erhob, die Spuren der Knie verwischt. Außerdem würden sich auch bei einer Frau die Knie nicht so scharf abgezeichnet haben –, – auch der Röcke wegen …“
Er strahlte jetzt …
„Max Schraut, die Sache macht sich …! Wir werden den Zwerg finden … Komm’ nur … Wir verändern uns ein wenig, und dann besuchen wir unter einem guten Vorwand den Luna-Park, der freilich erst am 1. Mai eröffnet wird …“
Jeder Berliner kennt den Luna-Park, den großen eleganten „Rummelplatz“ dort draußen in Halensee – – am Halensee.
Ich hatte gegen den Luna-Park an sich nichts einzuwenden. Nur – was wir dort sollten, war mir unklar.
Während wir im Ankleidezimmer vor den hohen Stehspiegeln aus Harst und Schraut zwei künstlermäßig-reduziert aussehende neue Gestalten entstehen ließen, erlaubte ich mir die bescheidene Frage:
„Glaubst du, daß unser Zwerg zu einer Schaubude des Luna-Parks gehört?“
„Wenn du dir die Briefmarke des heute früh eingetroffenen Briefes des Unbekannten angesehen hättest, würdest du den Stempel „Halensee“ bemerkt haben,“ erwiderte er mit jener leichten Ironie, die er leider nur zu häufig bereit hat. „Und wenn du wie ich die Zeitungen genau lesen würdest, hättest du in der Voranzeige der Luna-Attraktionen auch [11] „Schäfers Zwergenheim“ gefunden … – Ich denke also, es lohnt schon, dort hinauszufahren …“
Wir fuhren … Straßenbahn bis zum Henriettenplatz in Halensee, gingen zu Fuß über die Brücke und bogen dann rechts in die Bornimer Straße ein, wo sich der Zugang zu den Bureaus des vornehmen „Rummels“ befindet …
Im Bureau redete nur Harst …
Ob noch Platz für eine Bude sei … Wir wollten uns als Schnellzeichner bewundern lassen – und so weiter …
Der Herr im Bureau lachte uns aus …
„Alles besetzt … Und Schnellzeichner?! Noch besser!!“
Harst zog ein enttäuschtes Gesicht …
Ob wir uns denn wenigstens mal den Park anschauen dürften? Wir seien extra aus Frankfurt a. O. herübergekommen …
Wir durften …
Schlenderten überall umher …
In der großen Halle war die Zwergenstadt bereits aufgebaut …
Und die winzigen Menschlein hausten hier schon jetzt in ihren Miniaturgebäuden …
Da war es denn nicht weiter schwer, den Gesuchten herauszufinden …
Harst hat ja für solche Fälle dank seiner unerschöpflichen Phantasie stets einen „Trick“ bereit …
Wir freundeten uns als „Kollegen vom Varieté“ mit den kleinen Herrschaften an, und Harald bat, ob er nicht, da er nebenbei auch mal für Zeitungen schreibe, genaueres über die Größenverhältnisse der Liliputaner feststellen dürfe: Hand- und Fußlänge – und so weiter … Solch’ ein Artikel sei doch auch gleichzeitig eine gute Reklame …
So maß er denn Händchen und Füßchen, diktierte mir Namen und Straße, und konnte so in aller Bequemlichkeit Herrn Siegfried Orlik mit den Gummiabsätzen ermitteln …
Es stimmte: Orliks Schuhabsätze waren fraglos die richtigen!!
[12] Dann luden wir Herrn Liliputaner Orlik, ein Männlein mit greisenhaftem Kürbiskopf und schlauen Äuglein, sowie noch drei andere von den Gnomen zum Frühschoppen ein, gingen in das nahe Café Grunewald und spendeten den kleinen Leutchen, die ziemlich im Dalles waren, alles, was sie nur haben wollten …
Der Erfolg blieb nicht aus. Um halb zwölf waren sie voll des süßen Weines und tranken mit uns Brüderschaft …
Siegfried Orlik jedoch bewies hier, daß er trotz des überreichen Alkoholgenusses seine fünf Sinne hübsch beisammen behielt.
Als Harst auf Umwegen zuerst auf Wannsee, auf den Schwedischen Pavillon und dann auch auf den rätselhasten Gast zu sprechen kam, wurde der Zwerg plötzlich nüchtern und … stumm …
Die anderen redeten desto mehr.
Aber das half uns nichts …
Und um halb eins blies Harald dann zum Rückzug, bezahlte die Zeche und verabschiedete sich von den kleinen Leutchen …
Wir wanderten dem Kurfürstendamm zu …
Wanderten Arm in Arm, die leicht Benebelten markierend …
Und … auf der anderen Seite … wanderte Herr Orlik, der also ohne Frage Verdacht geschöpft hatte und uns nachspionieren wollte …
Harmlose Seele, das kleine Männchen!! Harmlos insofern, als er sich nicht gerade übermäßig begabt als „Verfolger“ benahm … In anderer Beziehung war er ja durchaus nicht harmlos: vergleiche seine Beziehungen zu dem geheimnisvollen Morde!
Harald meinte gutgelaunt:
„Wir werden den Kleinen abschütteln und auf die Probe stellen … Dort kommt ein Auto … – Hallo – – stopp!! Nach dem Luna-Park …!“
Wir stiegen ein …
[13] Das Auto gondelte davon, und Siegfried Orlik schaute uns traurig nach …
Denn auch er lebte zurzeit im tiefsten Dalles … Das hatte er vorhin im Café gelegentlich erwähnt … Er konnte sich kein Auto leisten … Außerdem war auch keins zur Hand.
In wenigen Minuten waren wir wieder in der Bornimer Straße. Hier rief Harald dem Fahrer das neue Ziel zu: Blücherstraße 6, Schmargendorf.
Wir waren nach zehn Minuten in der Blücherstraße, bogen nun aber zu Fuß in den Feldweg ein, der zwischen dem Laubengelände und der Hinterfront der Gärten entlangläuft.
Und – siehe da: als wir die erste Biegung hinter uns hatten, sahen wir Freund Orlik in seiner ganzen Winzigkeit links an einem Zaun lehnen und angestrengt nach unserem Gemüsegarten hinüberspähen …
Seine Aufmerksamkeit schien dem Komposthaufen zu gelten.
Er mußte deutlich erkennen, daß der Kompostberg den Marmeladeneimer mit dem unheimlichen Inhalt nicht mehr barg, und er war derart vertieft in den Anblick des zur Hälfte abgetragenen Komposthügels, daß er gar nicht hörte, wie wir uns – freilich sehr leise – auf dem sandigen Wege näherten …
Dann legte Harald dem Zwerge die Hand auf die Schulter.
„Was treibst du denn hier?!“ sagte er gemütlich … „Nee – ist das mal ’ne Überraschung!! Wirklich, der Orlik! Mensch, Kollege, – was in aller Welt willst du gerade hier?!“
Orlik war wie von einer Schlange gebissen, herumgefahren.
Stierte uns an …
Stotterte: „Ich … ich … gehe spazieren …“
Harald wurde ernst, änderte den Ton …
„Herr Orlik, geben wir die Komödie auf … Sie wissen, wer wir sind?“
Der Liliputaner nickte … Sein Gesicht war farblos …
„Ich … ich … merkte schon … im Café was … Als … [14] als Sie … von Wannsee anfingen … Da … da überlegte ich mir, daß Harald Harst einen Kopf größer als Schraut ist, und Schraut dafür dicker … Und da … kam ich auch … hinter … Ihren Trick mit den Maßen der Hände und Füße …“
„Nun, dann können wir ja deutsch miteinander reden, Herr Orlik … Begleiten Sie uns … In meinem Arbeitszimmer haben wir’s behaglicher …“
Der Kleine seufzte …
„Ich … merke, ich habe die Sache doch nicht schlau genug angefangen … Nun … nun habe ich mich übel hineingeritten … ganz übel … Aber schließlich: Sie werden Nachsicht mit mir haben, meine Herren …“
Er tat mir leid … Er machte ein so unglückliches Gesicht.
Harald beruhigte ihn …
„Daß Sie nicht der Mörder jener Frau sind, sehe ich Ihnen an, und daß Sie Ihre Gründe gehabt haben werden, weshalb Sie uns den Kopf übermittelten und selbst im Verborgenen bleiben wollten, glaube ich gleichfalls ohne weiteres … Kommen Sie also …“
In Harsts Arbeitszimmer …
Die Fenster weit offen … Draußen Frühlingssonnenschein …
Siegfried Orlik im Klubsessel … Beinahe darin versinkend …
Und leise erzählend:
„Am 11. März hatte ich abends in Wannsee zu tun … Ich bin, wie Sie wissen, Zauberkünstler … Ein Verein in Wannsee hatte mich für diesen Abend engagiert … Das Wetter war schön, und so fuhr ich schon mittags nach Wannsee und schlenderte noch durch den Wald … Ich hatte in den Zeitungen von dem rätselhaften Gast gelesen und begab mich daher in den Teil des Waldes, der der Insel Schwanenwerder [15] gegenüberliegt. Dort sollte ja die Kiefer stehen, die Fritz Schmidt erklettert hatte, und dort am Ufer hatte ihn der Kellner beobachtet und dort war auch das Kanu gefunden worden. Außer mir trieben sich noch andere Neugierige dort umher … Und da unsereiner ja überall … angeglotzt wird – die Menschen sind so sehr rücksichtslos! –, wandte ich mich sehr bald den tieferen Teilen des Waldes zu und bummelte ziellos umher, bis ich an eine Schonung gelangte, wo bereits an sonniger Stelle Anemonen blühten …“
„Und dieser Anemonen wegen drangen Sie in die Schonung ein,“ suchte Harald dem Tempo des Erzählers nachzuhelfen …
Siegfried Orlik schüttelte den Kopf …
„Nein, Herr Harst … Das heißt: eigentlich doch der Anemonen wegen … Denn mir fiel auf, daß da auf einem flachen, kleinen Hügel, der mit Moos sauber bedeckt war, mitten in dem Moose zwei bereits verwelkte Anemonensträuschen steckten … Der Hügel glich eben einem bescheidenen Kindergrabe …“
„Und – sie gruben mit den Händen nach und fanden …“
„… den Kopf, nur den Kopf, Herr Harst … Eingewickelt in ein Stück Lederjacke … – Sie können sich wohl mein Entsetzen vorstellen, als …“
„Gewiß, gewiß … Und Sie vermuteten sofort, daß dieser Kopf der des rätselhaften Gastes sein müsse …“
„Nicht nur vermuten, Herr Harst … Ich wußte es ganz bestimmt … Ich wußte es deshalb bestimmt, weil der kleine Hügel noch eine Schiefertafel enthielt, die mit in die Hälfte der Lederjacke eingewickelt war … Auf der Tafel stand mit einem Griffel in lateinischen Buchstaben:
Ja – so stand auf der Tafel …“
Harald und ich schauten uns verblüfft an …
[16] Dieses Geheimnis wurde immer dunkler …
„Haben Sie die Tafel noch?“ fragte Harst den Kleinen, der jetzt sehr nervös auf dem Sessel hin und her rutschte …
„Ja und nein, – denn ich habe die Tafel in eine Zeitung gewickelt und sie in den Hügel zurückgelegt … Den Kopf und das Jackenstück nahm ich mit, um beiden sofort bei der Polizei in Wannsee abzugeben … Aber unterwegs im Walde merke ich, daß in der Tasche, die mit zu dem Lederstück gehörte, etwas Schweres steckte. Ich faßte hinein und … holte …“
Er zauderte …
Schaute zu Boden …
Seufzte … fuhr fort:
„Ach, Herr Harst, die Verführung war so sehr groß … Ich … habe lange mit mir gekämpft, ehe ich …“
„Nun ja, – – und was fanden Sie in der Tasche?“
Siegfried Orlik druckste und druckste …
Das Geständnis wurde ihm sehr schwer …
„Einen … Beutel …!“ stieß er dann hervor …
„Mit Geld?“
„Ja – mit goldenen englischen Pfundmünzen …“
„Wieviel?“
„Für 10 000 Mark …“
„So … so … – Und den Beutel haben Sie behalten?“
„Nein, bewahre!!“ Der Kleine war tief empört. „Nein, ich habe ihn zu der Schiefertafel gelegt, nachdem ich mir eine der Münzen geliehen hatte, eine einzige nur …! Bei Gott, Herr Harst, das ist die Wahrheit … Nur eine einzige …“
„Ich glaube Ihnen ja … Sie waren eben schlecht bei Kasse, und …“
Orlik … weinte mit einem Male …
Die Reue packte ihn …
Eigentlich wirkte er jetzt unglaublich komisch … Dieses tränenüberströmte Greisengesicht, dazu der winzige Körper in dem großen Klubsessel: ein Bild für ein Witzblatt!
Und doch: wenn ich jemals gefühlt hatte, daß menschliche [17] Phantasie nicht hinreicht, Geschehnisse zu erfinden wie die Wirklichkeit, das Leben sie kunterbunt aneinanderreiht, dann war es hier, wo dieser Gnom mit dem uralten Antlitz uns das Rätsel des Gastes noch rätselvoller durch seine Angaben gestaltet hatte!
Nein, mir war nicht im entferntesten nach Lachen zumute! Im Gegenteil: die unfreiwillige Komik des weinenden Zwerges verstärkte nur noch durch ihren Kontrast zu dem grauenvollen Geheimnis den Eindruck, daß wir es diesmal mit einem Problem zu tun hatten, wie es uns verworrener, vielgestaltiger und dadurch interessanter kaum je geboten war!
Man denke: ein begrabener Frauenkopf, Blumen auf dem Grabe, im Grabe eine Schiefertafel mit einer Inschrift – – und in der Tasche des Lederjackenstücks 10 000 Mark in Gold!!
Man füge dies zu alledem, was der Zeitungsbericht besagte, und man wird mir recht geben: ein Problem, aus Widersprüchen, aus phantastischen Einzelheiten zusammengesetzt – – ein Chaos von Tatsachen, die scheinbar Chaos bleiben mußten!
Scheinbar!
Aber – es gibt eben einen Harald Harst, und wie dieser Harald das Chaos ordnete und mit zwingender Logik zu einem übersichtlichen Ganzen zusammenschweißte, das erfährt der Leser in den folgenden Seiten, nachdem er bereits gesehen, auf welche Weise Harst unseren kleinen Orlik herausfand.
Dieser kleine, von Reue gepackte, weinende Orlik faßte nun in die linke Westentasche, suchte lange darin umher und brachte endlich aus dem Futter der Westenkante … die eine Goldmünze zum Vorschein, die er dem Beutel entnommen hatte …
„Hier ist sie, Herr Harst,“ schluchzte er … „Ich habe nicht den Mut gehabt, sie zu wechseln … sie zu … verbrauchen … nehmen Sie sie, Herr Harst – – bitte, bitte … Dann … bin ich kein Leichenfledderer mehr … Dann bin ich wieder ehrlich wie zuvor …“
[18] Harst steckte die Münze zu sich und gab Orlik die Hand.
„Seien Sie nicht töricht,“ meinte er herzlich. „Ihr geringes Vergehen wird niemand erfahren …! – Können Sie uns genau beschreiben, wo das kleine Grab zu suchen ist?“
Das konnte Siegfried …
Und nachdem Harald ihm noch fünfzig Mark „geliehen“ hatte, zog der Kleine strahlend ab.
Wir beide aßen dann Mittag. Mathilde brummte, weil der Bratfisch aufgewärmt werden mußte … Auf der Veranda aßen wir und erzählten nun Haralds Mutter alles, was den Kopf Fritzi Schmidts betraf …
Frau Auguste Harst konnte nur immer wieder den Kopf schütteln …
„Glaubst du, daß die Frau oder das Mädchen wirklich verunglückt ist, Harald?“ fragte sie dann …
Und er antwortete zu meinem nicht geringen Erstaunen:
„Ja, sie ist verunglückt …“
Da meinte ich achselzuckend:
„Gestatte: und wer hat ihr den Kopf abgeschnitten? Wo ist der Rumpf geblieben?!“
Er lehnte sich zurück …
„Lieber Alter, das Rätsel des Todes dieser Person ist weit einfacher zu lösen als das ihrer Besuche im Schwedischen Pavillon … Ich werde dir hoffentlich noch heute den Namen des Mörders nennen können …“
„Mörders?! Du sprachst doch soeben von einem Unglücksfall!“
„Allerdings … Und doch gibt es hier einen Mörder … – So, jetzt wollen wir unsere Arbeit wieder aufnehmen. Gesegnete Mahlzeit, liebe Mutter … Vielleicht sehen wir uns ein paar Tage nicht. Schraut und ich werden als Ausländer in Wannsee zur Erholung Wohnung nehmen.“
– Nachmittags drei Uhr mieteten sich zwei Amerikaner im Schwedischen Pavillon ein …
Zwei ältere Herren, die von hier aus die Umgebung durchwandern wollten, wie sie in gebrochenem Deutsch betonten … [19] Zwei reiche Globetrotter anscheinend, die es vorzogen, ihre eigenen Wege zu gehen.
Diese Globetrotter tranken Kaffee und machten dann einen Spaziergang …
Nach der Schonung zunächst …
Es war noch hell genug, und wir fanden den Platz ohne Mühe … fanden alles so, wie Orlik es beschrieben hatte …
Mit einem ganz eigenartigen Gefühl schaute ich den kleinen unauffälligen Hügel an … Ein Grab – und doch kein Grab …
Wer mochte die Anemonensträuße gepflückt, wer den Hügel mit grünen Moospolstern belegt haben? Wer hatte überhaupt den Kopf hierher gebracht?! –
Harald bat mich, jetzt am Rande der Schonung Wache zu halten …
„Ich will mir die Schiefertafel und den Geldbeutel genauer ansehen und beides mitnehmen, mein Alter … Es sind wichtige Beweisstücke, die wir nicht hier dem blinden Zufall des Gefundenwerdens überlassen können … – Orlik hat den Hügel wieder sehr sauber in Ordnung gebracht … Ich glaube kaum, daß inzwischen jemand hier gewesen ist …“
So bezog ich denn meinen Wachtposten …
Die Dämmerung brach bereits herein …
In den Tiefen des Forstes lagerte Halbdunkel …
Harald war mit dem Ausgraben der beiden Gegenstände sehr bald fertig …
Gerade als er aus der Schonung heraustrat, gerade als er mir leise zurief: „Alles erledigt!“ – gerade da war es mir, als ob weit links zwischen den Kiefern eine Gestalt von Baum zu Baum huschte …
Ich war mir meiner Sache jedoch nicht ganz sicher und schwieg daher.
Wir kehrten in den Schwedischen Pavillon und in unsere Zimmer zurück.
Harst hängte aus Vorsicht ein Taschentuch über das [20] Schlüsselloch der Flurtür unseres gemeinsamen Wohnzimmers und riegelte auch ab. Dann setzten wir uns an den Sofatisch und prüften die beiden Gegenstände, den großen, prall mit Goldmünzen gefüllten starken Leinenbeutel und die einfache Schiefertafel.
An dem Beutel war nichts Besonderes zu sehen. Er war aus dunkelgrünem starken Stoff und mit einem Stück grüner Gardinenschnur zugebunden. Die von Orlik angegebene Summe stimmte. Außer den englischen Goldmünzen enthielt der Beutel nichts weiter.
Die Schiefertafel wieder war eine mittelgroße Tafel mit hellgelb lackiertem Holzrand – eine Tafel für kleine ABC-Schützen.
Die Inschrift stimmte.
Wichtig war die Schrift – lateinisch, mit einigen Schnörkeln – wie gedruckt.
Harst zuckte die Achseln …
„Das alles macht uns nicht klüger!“
Und er schloß Beutel und Tafel in seinen Handkoffer ein.
Dann läutete er.
Ein junger Kellner erschien und brachte uns die Speisekarte.
Wir wählten aus, bestellten, und der Kellner wollte die Speisekarte wieder mitnehmen …
„Nein, wir vielleicht ihr noch brauchen, weil mehr essen,“ meinte der Amerikaner Howard Hasting …
Der Kellner verschwand …
Howard Hasting flüsterte Mr. Maxwell zu (und das war ich):
„Bitte, sieh’ dir mal die Karte an!!“
Wenn Mr. Hasting-Harst in solchem Tone etwas sagte, tat Mr. Maxwell stets gut, die Augen aufzusperren …
Ich schaute mir also die Karte an …
Zunächst fiel mir nichts auf …
Dann aber stutzte ich …
[21] Die Karte war lila hektographiert. Der, der das Original geschrieben, hatte eine Handschrift wie gedruckt …
Und – diese lateinische Buchstaben hier hatten mit ihren schönen Schnörkeln eine verblüffende Ähnlichkeit mit der Tafelinschrift …
Verblüffend!!
Donnerwetter,“ meinte ich, „mir scheint, wir haben den Totengräber gefunden!!“
„Das haben wir …! Der Mann gehört doch wahrscheinlich hier zum Schwedischen Pavillon! Vielleicht einer der Kellner … Vielleicht gar derselbe Kellner, der Herrn Fritz Schmidt nachspionierte … vielleicht …“
Zehn Minuten drauf wurde uns das Abendessen serviert.
Mr. Hasting fragte dabei den jungen Kellner, der sehr gewandt war und ein frisches angenehmes Gesicht hatte:
„Wollen Sie mir sagen, wo werden gedruckt Ihre Speisekarten? Ich will dort lassen drucken mir Besuchskarten … Diese Drucktypen mir gefallen …“
Der Kellner dienerte lächelnd …
„Die Speisekarte ist nur hektographiert, Mr. Hasting … Die Originalkarte für die Abzüge schreibe ich …“ – Er war offenbar sehr stolz auf sein Werk …
Aber – eins gefiel mir nicht: sein Lächeln! Es sollte höflich-bescheiden sein, hatte aber doch einen Stich ins Ironische. – Täuschte ich mich?! – Wohl kaum …
Weshalb also lächelte dieser junge Mensch, der, wie nun erwiesen, den Kopf in der Schonung begraben hatte, in dieser Weise?! Weshalb also dieses fatale ironische Zucken um die Mundwinkel?! Weshalb …?!
Mr. Hasting-Harst meinte:
„Oh – das sein sehr schade … Aber es doch hier geben in Wannsee eine Druckerei?“
„Gewiß … In der Bergstraße …“
Dann zog er sich zurück.
Harald schaute mich ernst an …
„Also der ist’s! Und sicherlich ist’s derselbe, der „Fritz [22] Schmidt“ beobachtet hat … Auch das werden wir noch herausbekommen, hoffe …“ –
Nach dem Essen schlenderten wir noch durch den Ort, gingen in das Schultheiß-Restaurant, setzten uns an einen Fenstertisch und sahen, wie der Mond über den Uferwäldern des Sees emporstieg und sein Silberlicht über das stille Wasser streute, die ankernden Jachten beleuchtete und dem wundervollen Landschaftsbilde die poetischen Reize einer Mondnacht verlieh.
Gegen zehn Uhr waren Mr. Hasting und Mr. Maxwell wieder daheim an der anderen Seite des Sees im Schwedischen Pavillon und in ihren Zimmern.
Müde waren wir … Die Betten tadellos …
Ich schlief sofort ein …
Schlief nicht lange …
Harst rüttelte mich …
Ich fuhr hoch …
Harst saß auf meinem Bettrand …
Durch eine Spalte der Fenstervorhänge warf der Mond einen breiten hellen Streifen über die Dielen …
„Was gibt’s?“ fragte ich …
„Leise!! – – Der Mann ist ein Narr …“
„Wer?“
„Der Kellner …“
„Narr?“
„Ja …“
„Weshalb denn?!“
„Weil er beides gestohlen hat …“
Ich stutzte …
„Beides? Etwa den Beutel und die Tafel?“
„Ja … Er hat meinen Handkoffer mit einem Nachschlüssel geöffnet … Du sprachst doch von seinem ironischen Lächeln, mein Alter … Und das gab mir zu denken … Ich [23] bin vorhin aufgestanden und habe im Koffer nachgesehen … – – weg!! Beides!“
„Donnerwetter …!“ Und da – – fiel mir die Gestalt im Walde ein, die ich zu sehen geglaubt hatte …
Ich erzählte …
Harst wurde ungemütlich. „Das hättest du mir sofort mitteilen sollen!! Natürlich ist’s der Kellner gewesen, der uns offenbar von Anfang an mißtraut hat … Ich wette, er ahnt, daß unser Amerikanertum in Schmargendorf gewachsen ist. Kellner sind scharfe Beobachter und gute Menschenkenner … – Zieh’ dich an … Wir müssen hinaus … Aber kein Licht und kein Geräusch … Beeile dich … Es ist jetzt halb zwölf Uhr … Unten im Restaurant tagt noch ein Stammtisch … Der Kellner wird noch auf sein …“
In fünf Minuten war ich fertig …
Harald hatte schon am Fensterkreuz des Wohnzimmers die seidene Strickleiter befestigt. So stiegen wir denn in den Garten hinab …
Das Abenteuer wurde plötzlich etwas aufregend …
Wir legten uns auf die Lauer …
Der Stammtisch brach um Mitternacht auf … Unser Kellner räumte die Stammseidel weg, und im Restaurant erlosch das Licht …
Der Kellner wohnte nicht hier im Schwedischen Pavillon, wie wir nun merkten. Fünf Minuten nach den Gästen betrat auch er die Straße …
Er schritt in seinem grauen Ulster, in der Linken eine Handtasche, die Straße nach rechts hinab, also dem Walde zu.
Zum Glück sind dort die Laternen nur spärlich vertreten … Die Verfolgung war nicht weiter schwierig.
Unser Mann wanderte eilends dahin …
Als er erst den Hochwald erreicht hatte, wagten wir uns näher heran …
Der Mond malte auf den mit Kiefernnadeln bestreuten Boden überall helle Flecke …
[24] Die Nadelbäume rauschten leise, und in der Ferne schrie ein Käuzchen …
Die Nacht war kühl …
Rechter Hand blinkte der Seespiegel … Schwache Nebelschwaden zogen über das Wasser …
Unser Mann strebte dem Ufer zu …
Wir blieben weiter zurück, denn jetzt drehte er sich mehrmals um …
Irgend etwas schien seinen Verdacht erregt zu haben … Uns konnte er kaum bemerkt haben, und doch zeigte er nun eine mißtrauische Vorsicht, die irgendeine Ursache haben mußte.
Besonders oft starrte er nach links in den Wald hinein.
Stand minutenlang dicht hinter einer dicken Kiefer …
Dann eilte er weiter …
Erlenbüsche begrenzten den Uferstrich …
In diesen Büschen verschwand er …
Wir beide nun im Bogen im Laufschritt ihm nach …
Waren noch zehn Meter von der Stelle entfernt, als wir einen kurzen Aufschrei vernahmen …
Harst stürmte vorwärts …
Ich hinterdrein …
Und – ich sah nun, daß eine Strecke weiter zwei Männer ein Boot bestiegen – abstießen – davonruderten …
Harst kniete neben[2] dem am Boden liegenden Kellner.
Der Mann erholte sich rasch …
Seine Handtasche war verschwunden …
Und – seine erste Frage galt ihr …
„Mr. Hasting,“ meinte er mit schwerer Zunge, „wo … ist meine Handtasche … Ich … muß … sie … wiederhaben … Man hat mich hier hinterrücks niedergeschlagen, und …“
Ein neuer Schwächeanfall ließ ihn Harald in die Arme sinken …
Doch – er hatte Energie und eine robuste Natur … erholte sich wieder …
Der Mond beleuchtete die Uferstelle … Im Sande waren [25] Fährten zu erkennen. Ich sah die Spuren derjenigen, die den Kellner matt gesetzt hatten, – es waren die beiden Leute gewesen, die mit dem Boot davonruderten.
„Wie heißen Sie?“ fragte Harst nun unseren Mann, ohne sich noch Mühe zu geben, weiter den Amerikaner zu spielen.
„Schöller, Ernst Schöller, Mr. Hasting …“
„Lassen Sie dies „Mr. Hasting“ …! Sie wissen ganz gut, daß wir …“
„Verzeihung … Allerdings – ich weiß … Die Herren sind Detektive …“
Verblüffend war diese seine Aufrichtigkeit …
„Ja – Harst und Schraut, Herr Schöller …“
Ich mischte mich ein …
„Ich sah zwei Männer in einem Boot flüchten … Ob man sie nicht verfolgen sollte?“
Harald winkte ab. „Zwecklos – zu spät! – Setzen Sie sich hier auf die Böschung, Herr Schöller … So … Lehnen Sie sich an den Baum … Wie fühlen Sie sich?“
„Danke – es geht, Herr Harst …“
„Sie sind uns einige Aufschlüsse schuldig … – In der Handtasche lagen der Beutel und die Schiefertafel?“
„Ja, Herr Harst … Leugnen wäre Ihnen gegenüber eine Dummheit … Ich will alles offen eingestehen …“
„Sehr brav, Herr Schöller … – Sie sind doch der, der den rätselhaften Gast beobachtet hatte?“
„Leider …“
„Weshalb – – leider?“
„Nun, weil ich durch meinen Hang für alles Abenteuerliche jetzt in eine sehr peinliche Lage geraten bin … Das, was ich getan habe, kann mir sehr falsch ausgelegt werden …“
„Vielleicht – vielleicht auch nicht, Herr Schöller …“ Und Harald setzte sich neben ihn, zog sein Zigarettenetui und zündete sich eine Mirakulum an …
„Schraut, wir müssen Schöller eine Kompresse auf die Kopfbeule legen,“ wandte er sich an mich. „Geben Sie Ihr [26] Taschentuch, Herr Schöller … So … Feuchte es an, mein Alter … Man soll bei solchen Kopfhieben vorsichtig sein …“
Schöller war doch noch recht matt …
„Wollen wir die Aussprache auch nicht lieber bis morgen verschieben?“ fragte Harst ihn rücksichtsvoll.
„Nein, nein … Jetzt, wo die Dinge in Fluß geraten sind, will ich … reinen Tisch machen, Herr Harst … Ein Geständnis vor Ihnen fällt mir nicht schwer, denn Sie sind ja für Ihre Menschenfreundlichkeit bekannt … Sie werden nicht zu streng mit mir ins Gericht gehen …“
„Allerdings nicht … – Was wollten Sie hier am Seeufer?“
„Den Geldbeutel und die Tafel ins Wasser werfen …“
„So?!“
„Ja – ich wollte diese Beweisgegenstände verschwinden lassen. Ich hoffte, daß Sie als Mr. Hasting nicht mich als den ermitteln würden, der Ihren Koffer geöffnet hat. Hätte ich sofort gewußt, daß die beiden Amerikaner, die ich für Detektive hielt, Sie und Herr Schraut waren, würde ich … vorsichtiger gewesen sein …“
„Sie sind uns bis zur Schonung am Nachmittag nachgeschlichen?“
„Ja … Ich kroch so nahe heran, daß ich sah, wie Sie den Hügel öffneten, Herr Harst …“
„Und – wir sahen dann, daß die Speisekarte und die Schiefertafelinschrift von demselben Manne geschrieben war … – Jetzt erzählen Sie mal … Wie kamen Sie dazu, den jetzt wieder verschwundenen Kopf und den Beutel und die Tafel in der Schonung zu vergraben?“
Der Kellner machte eine Bewegung der Überraschung …
Bisher war ja der Kopf noch gar nicht erwähnt worden.
„Wie – – der Kopf ist nicht mehr vorhanden?“ rief Schöller ungläubig.
„Nein … Den hat jemand anders mir zugestellt …“
„Unmöglich, Herr Harst! Und – – und der Betreffende sollte Beutel und Tafel liegen gelassen haben?!“[3]
[27] „Gewiß …! Nur den Kopf und das Stück der Lederjacke nahm er mit … Das Gold lockte ihn nicht … Obwohl der Mann es sehr gut hätte gebrauchen können … – Jedenfalls: Kopf und Leder gelangten anonym in meinen Besitz. Ich ermittelte dann den Absender, der das Grab in der Schonung wirklich ganz zufällig gefunden hat …“
Schöller meinte staunend: „Wie konnte der Mooshügel nur jemandem auffallen?!“
„Durch die Anemonensträuße …“
„Ah – – also dadurch! – – Doch – nun hören Sie, Herr Harst … Sie haben ja sicherlich in den Zeitungen alles über den rätselhaften Gast gelesen, auch daß ich dem Herrn Fritz Schmidt nachgeschlichen bin und ihn auch vom Nebenzimmer aus beobachtet habe … – Ich muß nun eingestehen, daß ich bisher niemandem die volle Wahrheit anvertraut habe. Damals, als ich im Nebenzimmer versteckt war, habe ich gemerkt, daß … Schmidt ein Mädchen war, ein junges Weib … Sie legte nämlich Jacke und Weste ab, und da fielen mir die schlanke Taille und die Brustform auf … Vermutet hatte ich dies schon früher … – Und zweitens habe ich der Polizei unterschlagen, daß ich „Schmidt“ – den wahren Namen kenne ich nicht – auch am 9. März morgens vier Uhr „Schmidt“ gefolgt bin – in einem Boot … Er verließ damals den Pavillon ja wieder in aller Heimlichkeit mit seinem Kanu. Ich ließ ihm einen Vorsprung … Er ruderte – oder besser – sie ruderte dicht am Ufer nach Cladow zu … Die Nacht war dunkel und regnerisch … Mit einem Male hörte ich vor mir etwa dort, wo sich das Kanu befinden mußte, die Geräusche …“
„… eines Dampfers …“
„Ja … eines Dampfers, Herr Harst, – auch einen Schrei, laute Stimmen und Rufe … Ich belieb an derselben Stelle … Der Dampfer schien gestoppt zu haben … Dann fuhr er weiter … – Ich legte mich in die Riemen und stieß dann …“
„… auf das halb zertrümmerte Kanu …“
„So ist’s …“
[28] „Und in dem Kanu lagen der Kopf des Mädchen, die gelbe Reisetasche und die halbe Lederjacke …“
„Ja …“
„Sie haben das Kanu an Land geschleppt und den Kopf in das Leder gewickelt und im Morgengrauen beides in Schonung versteckt …“
„Und nachmittags in meiner Freizeit das Grab hergerichtet, Herr Harst … Inzwischen hatten die Frauen, die im Walde Holz sammelten, das Kanu und die Reisetasche mit dem Gelde bereits gefunden. Und da war’s für mich natürlich zu spät, zur Polizei zu gehen und alles zu melden, da ich fürchtete, man würde mich womöglich des Mordes verdächtigen. Gerade die Geldsumme, die ich schon nachts in der Reisetasche entdeckte und der Beutel mit Gold, der in der Tasche des Stückes Lederjacke steckte, ließen mich ja mit der Anzeige an die Polizei zögern und veranlaßten mich, erst einmal abzuwarten … Mein Gedankengang dabei war folgender: Die Polizei wird leicht auf den Verdacht kommen, daß du, der das Mädchen auch in ihrem Zimmer beobachtet hat, wußtest, sie verfüge über größere Summen, daß du ihr deshalb aufgelauert hast, nach verübter Tat aber nur einen Teil des Geldes an dich genommen hast – aus Schlauheit!
Harald nickte … „So unrichtig dieser Gedankengang an sich ist, Herr Schöller: Ihre Angst ist begreiflich! Sie als Laie in kriminellen Dingen überschauten die Sachlage eben nicht. Sie meinten und meinen noch, das Mädchen sei ermordet worden … Daß Sie auf die Schiefertafel „Verunglückt“ schrieben, taten Sie nur, um …“
„… ja, um, falls dieses grausige Erlebnis von mir doch preisgegeben werden müßte, mich meines Schweigens wegen darauf hinausreden zu können, ich hätte lediglich einen Unfall angenommen …“
„Unfall – welcher Art, Herr Schöller?“
„Das … das weiß ich nicht, Herr Harst, habe darüber auch nicht nachgedacht … Bedenken Sie, in welcher Gemütsverfassung ich mich damals befand …! Bedenken Sie, daß [29] ich in jener Nacht beim Anblick des in dem halb zertrümmerten Kanu liegenden Kopfes fast den Verstand verlor … Ich bin beinahe ohnmächtig geworden, handelte nachher wie ein Träumender – anders kann ich das nicht bezeichnen. Ich war nicht ich selbst … Und als ich den Kopf vergrub, da sollte ich eben die unterlassene Anzeige bei der Polizei dadurch wieder gutmachen – sozusagen gutmachen, daß ich das Grab schmückte … Ich wollte dem armen Mädchen etwas Liebes erweisen … So müssen Sie mein Tun einschätzen, Herr Harst, nicht anders …“
Der Kellner hatte sich jetzt in eine Erregung hineingesprochen, die seine Stimme zittern ließ …
Harald beruhigte ihn … Und ich erneuerte schleunigst die Kompresse, die dem durch den Hieb doch noch recht Mitgenommenen offenbar guttat.
Zu längerem Verweilen hier am Ufer war es doch zu kühl. Auch ich begann zu frieren. Wir nahmen Schöller daher unter die Arme und schritten mit ihm langsam davon.
Harald fragte noch allerlei, ohne daß der Kellner neues angeben konnte.
Der Fall blieb dunkel, blieb geradezu ein Labyrinth von Widersprüchen. Der Leser wird, wenn er sich die Einzelheiten einmal selbst überlegt, unschwer einsehen, daß ich nicht zuviel behaupte. Ich will nur auf etwas aufmerksam machen:[4] weshalb schleppte das Mädchen einen schweren Beutel Goldgeld mit sich?! Weshalb hatte sie noch deutsches Geld in so hohem Betrage bei sich?! –
Während wir so mit Schöller durch den nächtlichen Wald gingen, blieb er plötzlich stehen … Wir befanden uns gerade auf einer Lichtung, in deren Mitte eine sehr alte verkrüppelte Kiefer stand, deren Stamm erst schräg gewachsen war und dann wieder senkrecht verlief.
„Dies ist der Baum.“ sagte der Kellner …
„Den das Mädchen erkletterte …,“ fügte Harald hinzu.
„Ja … Und sie kletterte bis ganz nach oben, Herr Harst … Ich begreife nicht, was sie dort getrieben haben mag …“
[30] Harst deutete auf einen Haufen Reisig …
„Setzen Sie sich, Herr Schöller … Schraut, stütze ihn.“
Und dann … erstieg er selbst den Baum …
Ich konnte ihn genau mit den Augen verfolgen. Als er die Krone erreicht hatte (seinen Mantel hatte er unten gelassen und nur das Fernglas aus der Tasche genommen), stellte er das Glas ein und schaute nach Westen zu …
Er ließ sich Zeit …
Mir fiel es auf, daß er so lange oben aus der Kiefer blieb. Ich konnte mir nicht recht erklären, was es dort zu sehen gäbe.
Endlich kam er wieder herab …
„Nun?!“ fragte ich gespannt …
„Nichts,“ erwiderte er kurz … „Bringen wir Schöller heim …
Schweigend ging’s weiter …
Ich wußte: Harald hatte mit diesem „Nichts“ geschwindelt … Er hatte von der Baumkrone aus etwas gesehen. Aber was?! Etwa das Boot mit den beiden Männern, die den Kellner überfallen hatten?! –
Schöller wohnte unweit des Schwedischen Pavillons bei dem Pförtner einer Privatvilla. Er bedankte sich bei uns und schloß die Gittertür des Gartens auf. Harst hatte ihm noch erklärt, daß wir beide weiterhin die Amerikaner spielen würden und daß der Kellner sich danach richten solle.
Schöller winkte uns noch zu, bevor er in dem Pförtnerhäuschen verschwand … Dann machten wir kehrt …
Und Harald hakte mich unter …
Meinte: „Jetzt kann ich’s dir ja sagen, mein Alter … Ich habe etwas von der Kiefer aus beobachtet … Das Fernglas zeigte mir eine ziemlich große Privatjacht, die unweit von Schwanenwerder ankert … Der Mond beschien die Jacht … Ein Boot lag am Fallreep …“
Ich war enttäuscht. Auf dem Wannsee ankern Hundert von Jachten …
„Ich sah diese Jacht schon nachmittags, als wir hier [31] anlangten … Der Wind ließ die Flagge am Heck flattern,“ fügte Harald hinzu. „Und diese Flagge war – – die englische, mein Alter!“
„Ah – – ich besinne mich … Und im Schultheiß-Restaurant fragtest du abends den Kellner, ob auch mal fremde Jachten die Elbe hinabkämen und bis Berlin …“
„– ja – bis Berlin …! Und der alte Kellner erwiderte prompt: „Selten, sehr selten … Jetzt liegt hier allerdings eine englische Jacht in der Nähe … Sie gehört einem Lord … Den Namen weiß ich nicht …“ – So sagte er … Du hattest gerade ein Witzblatt vor … Du schienst für die öden Kalauer mehr Interesse zu haben …!“
Ich schluckte diese bittere Pille …
Sagte nur: „Du glaubst also, daß die Jacht mit Mädchen irgendwie etwas zu tun hat?“
„Sie hat mit ihr etwas zu tun … Ich behaupte: das Mädchen gehörte auf die Jacht! Sie kam von der Jacht als Gast zum Pavillon … Denn der alte Kellner im Schultheiß erklärte noch, daß die englische Luxusjacht seit dem 3. März hier ankere … Und am 4. März kam das Mädchen zum ersten Male zum Schwedischen Pavillon …“
Wir hatten diesen jetzt erreicht, aber Harald schritt vorüber …
Fuhr fort:
„Man soll das Eisen schmieden, so lange es heiß ist … Deshalb werden wir ein Boot leihen und mal auf den See hinausrudern …“
Nachts um drei Uhr ein Boot „leihen“, – das heißt auf deutsch: ein Boot heimlich entführen! Und das geschah denn auch …
Es war ein kleines Boot, und die Ruder hatte Harald gleichfalls „geliehen“, also aus dem verschlossenen Verschlag der Bootsbrücke herausgeholt …
Er ruderte … Ich steuerte …
Einzelne Nebelfetzen trieben über den See …
Harst blieb stumm. Mir paßte das wenig. Ich hatte so sehr viel zu fragen. Ob er antworten würde, war eine andere Sache …
Immerhin – ich wollte es versuchen …
„Harald …“
„Ja … ich höre …“
„Wie ist das Mädchen eigentlich zu Tode kommen?!“
„Durch den Dampfer …“
Diese drei Worte waren mir wie eine Offenbarung …
„Du meinst, daß der Dampfer das Kanu zertrümmert hat?“
„Ja, mein Alter … Der Dampfer rammte es in der dunklen regnerischen Nacht … Das Mädchen fiel ins Wasser … Die Dampferschraube traf sie, schlug ihr den Kopf ab und zerfetzte ihre Lederjacke, schleuderte Kopf und Jacke – ein Zufall – in das Kanu zurück … Der Rumpf versank und wird sich unten auf dem Seegrund im Kraut verfangen haben. Der Regen aber spülte die Blutspuren aus dem Kanu fort. Die Reisetasche war nicht herausgefallen. Schöller brachte das Kanu an Land. Die Besatzung des Dampfers – es wird ein Schlepper gewesen sein, hat wohl kaum recht bemerkt, was passiert war, und wenn, so hat sie eben geschwiegen, um den Scherereien zu entgehen … – Als ich dir gestern erklärte, ich würde dir den Namen des Mörders nennen, hieß das nichts anderes, als den Namen des Dampfers, denn der hat das Mädchen gemordet. – Die Polizei mußte notwendig darauf schließen, daß das Kanu [33] durch Beilhiebe beschädigt sei, denn es war halb aufs Ufer gezogen …“
„Allerdings – das greift alles tadellos ineinander,“ nickte ich …
„Es muß so gewesen sein, muß!!“
„Und – was wollte die Fremde im Schwedischen Pavillon?“
„Das ist doch sehr leicht zu beantworten … Sie wollte mit jemand zusammentreffen … Und der, mit dem sie sich treffen wollte, sollte natürlich das Geld erhalten. Deshalb führte sie diese Summen bei sich. Der Unbekannte kam jedoch nicht. Das Mädchen war verzweifelt. Sie weinte, schluchzte … Es lag ihr also ungeheuer viel an dieser[5] Zusammenkunft. Sie wollte den Unbekannten vielleicht durch das Geld zu irgend etwas bestimmen. Möglich auch, daß es sich um ein Weib handelte, das das Mädchen zum Stelldichein bestellt hatte, jedoch nicht erschien …“
Ich nicke wieder … „Auch das läßt sich hören … Auch das hat Hand und Fuß …“
„Fraglos, mein Alter … – Steuere jetzt mehr rechts, damit wir den Spaß inszenieren können …“
„Welchen Spaß …?“
„Warte ab …“
Die weiße elegante Jacht lag etwa hundert Meter links von uns …
Mit einem Male ließ Harst das eine Ruder aus der Dolle ins Wasser gleiten …
Sprang auf …
Rief:
„Das Ruder – – das Ruder!!“
Rief’s auf englisch …
Fischte nun mit dem anderen nach dem Flüchtling …
Ich sah, daß man uns von der Jacht aus beobachtete …
Und dann – ließ Harald auch das zweite Ruder seinen Händen entgleiten …
[34] Brüllte zur Jacht hinüber:
„Hallo – – helfen Sie uns!!“
Wieder auf englisch …
Und der „Spaß“ klappte …
Von der Jacht stieß ein Boot ab … Zwei Leute saßen darin …
Zwei Matrosen in sauberen Anzügen, jüngere Männer …
Sie halfen unsere Ruder suchen …
Harst markierte Mr. Hasting aus Neuyork …
Die Ruder wurden aufgefischt … Ein sehr anständiges Trinkgeld gab Mr. Hasting den beiden Leuten …
Eine Unterhaltung begann …
Harst-Hasting versteht es, harmlose Gemüter auszuhorchen … Und diese beiden waren harmlos …
Wem die Jacht gehöre?
Lord Salnavoor …
Ob man die Jacht nicht mal besichtigen dürfe?
Wohl kaum … Mylord erlaube das nicht …
Ob Seine Lordschaft denn mit Familie an Bord sei?
Nein, nur mit Schwester und Bruder … Die Schwester sei jedoch verreist, die Herren seien jetzt allein, aber schlechter Laune …
Wir dankten nochmals und ruderten weiter …
Waren bald wieder am Ufer, an der Landungsbrücke, von der wir unser Boot „geliehen“ hatten …
Und kehrten nun endlich auf dem Wege über die Strickleiter in unser Zimmer zurück …
Ein Teil des großen Rätsels war nun also gelöst …
Die Tote war Lord Salnavoors Schwester …! Der eine Matrose hatte auch den Vornamen genannt: Lydia – – Lydia Salnavoor! –
Harald trieb mich ins Bett …
„Ausschlafen, mein Alter … Morgen frisch sein! Morgen werden wir den Rest des Geheimnisses erledigen … Nein, nicht morgen … Heute – denn der neue Tag ist längst da …“
[35] Schlafen?! Einschlafen?! – ein Kunststück!! Ich hörte, daß auch Harald sich in seinem Bett dauernd umherwälzte …
Und ich?!
Ich grübelte darüber nach, weshalb der Lord und sein Bruder Lydias Verschwinden nicht gemeldet hatten, weshalb sie, da sie doch fraglos von dem Funde des zertrümmerten Kanus erfahren hatten, sich weiter in Schweigen hüllten?!
Und sagte mir ferner, daß sehr wahrscheinlich der Lord und sein Bruder diejenigen gewesen, die den Kellner hinterrücks niedergeschlagen hatten, ohne daß er die Angreifer zu Gesicht bekommen … Auch ich hatte ja nur zwei flüchtende Männergestalten gesehen – nur! Nichts von ihnen erkannt.
Ja – ein Teil des Problems war nun allerdings gelöst.
Es blieb die Hauptfrage übrig: Weshalb hatten die Brüder mit der Jacht sich bis hierher ins Binnenland verirrt, weshalb hatte ihre Schwester als Mann verkleidet sich mit irgend jemandem treffen wollen – – mit wem?!
Dann – von Haralds Bett eine Stimme …:
„Achtung!!“
Ganz leise dieser Alarmruf …
Ich richtete mich auf …
Sollte etwa …?!
Da war Harald schon an meinem Bett …
„Nebenan im Wohnzimmer … Geräusche … Es war mir, als würde eine Leiter an die Hauswand gelehnt … Der Mond ist verschwunden … Es scheint zu regnen … Eine Torheit, daß wir unsere Pistolen im Wohnzimmer ließen.“
Er schwieg …
Ich horchte …
Auch mir war’s jetzt, als ob nebenan die Dielen knarrten.
Dann – wurde plötzlich die Verbindungstür aufgerissen.
Greller Lichtschein einer elektrischen Lampe flutet über uns hin …
Zwei Männer in Sportanzügen …
Männer mit schwarzen Lappen vor den Gesichtern …
Männer?! Nein – – zwei Herren, zwei englische [36] Gentlemen … Es können ja nur die Brüder Salnavoor sein.
Englische Worte drohen …
Eine Stimme, der man es anhört, daß es bitterer Ernst ist.
Und dazu noch Pistolen – die infamste Art von Waffen: Luftdruckpistolen modernster Art, – die keinen Lärm machen.
Schlimme Situation für uns …
Jede verdächtige Bewegung wird durch eine Kugel bestraft, – so droht die englische Stimme abermals …
Trotz alledem: Harald schwebt über der peinlichen Lage, meint trocken:
„Mylord, Ihre Matrosen erzählten Ihnen von den beiden ungeschickten Ruderern … Und Sie, Mylord, waren mißtrauischer als Ihre Leute … – Nun gut: was wünschen Sie von uns?“
„Und das fragen Sie noch!!“ zischte Seine Lordschaft förmlich haßsprühend … „Das fragen Sie, der doch …“
„Verzeihung, Mylord … Ich glaube, Sie befinden sich in einem argen Irrtum, was unsere Personen betrifft …“ Auch er bediente sich der englischen Sprache, und er markierte weiter Mr. Howard Hasting und gab seinem Englisch den nötigen amerikanischen Akzent …
„Irrtum?!“ Der Lord lachte schneidend. „Zum letzten Male fordere ich Sie auf: Was haben Sie mit Lydia angestellt, Sie brutales Ungeheuer …!! Wo ist Lydia?! Keine Ausflüchte!! Eine klare Antwort …! Oder – bei Gott – man findet hier morgen früh zwei … tote Schurken!“
Harald blieb vollkommen ruhig …
„Mylord, gewiß kann ich Ihnen sagen, was aus Ihrer Schwester geworden … Mein Name ist Harald Harst … Ich bin der deutsche Privatdetektiv Harst, bin durch eine Verkettung besonderer Umstände mit dem Fall des rätselhaften Gastes betraut worden …“
Und – er löste den falschen Bart vom Gesicht, nahm die Perücke ab …
„Bitte, Mylord, so sehe ich in „Zivil“ aus …!“
Seine Lordschaft ließ die Pistole sinken …
[37] „Mein Gott, – – ich … ich wage … gar nicht zu fragen, was Sie über meiner Schwester Verbleib wissen … – Verzeihen Sie, Herr Harst … Gewiß erkenne ich Sie jetzt … Mein Bruder Percy und ich hatten ja schon die Absicht, Sie ins Vertrauen zu ziehen …“
„Setzen wir uns nebenan ins Wohnzimmer, Mylord,“ bat Harald höflich. „Wir dürften so manches zu besprechen haben, was …“
Er brach mitten im Satz ab …
Denn … die beiden Engländer schnellten plötzlich empor.
Schlugen der Länge nach hin …
Harst … sprang über sie hinweg …
Durch die offene Verbindungstür ins Wohnzimmer …
Ich ihm nach …
Zu spät …
Wir sahen nur noch einen Mann die an das eine Fenster gelehnte Leiter hinabrutschen – in der Finsternis des gerade einsetzenden Regens verschwinden …
Wir zurück zu den Opfern dieses Meuchelmörders …
Percy Salnavoor, der jüngere Bruder, war tot …
Der Lord hatte einen Schuß quer durch die Brust … lebte noch …
Minuten später war das Personal des Schwedischen Pavillons geweckt …
Ein Arzt wurde geholt, die Polizei benachrichtigt …
Jetzt konnten wir nichts mehr verheimlichen … durften es nicht mehr. Die Dinge hatten eine Wendung genommen, die es uns zur Pflicht machte, die Polizei einzuweihen …
Um sieben Uhr morgens saß der Berliner Kriminalkommissar Doktor Lüder in unserem Wohnzimmer, – Arnold Lüder, ein Mann von Weltruf, eine Zierde der tadellosen Berliner Kriminalpolizei …
Uns kein Fremder …
Und mit Dr. Arnold Lüders Besuch bei uns will ich den zweiten Teil dieses interessanten Problems einleiten …
Ein sonniger Apriltag …
In unserem Wohnzimmer waren versammelt:
Wir beide, jetzt ohne Masken. Dann Dr. Arnold Lüder, noch verblüffend jung aussehend, fast wie ein frischer, schneidiger Bruder Studio. Aber wer Menschenkenner war, der sah’s den Augen dieses Mannes an, daß man es hier mit keiner Durchschnittsnatur zu tun hatte. Als vierter dann der Kellner Ernst Schöller, den der Leser bereits zur Genüge kennt. Als fünfter der Kapitän der Jacht des Lords, ein waschechter älterer Engländer namens Picktorn. –
Vor dieser kleinen Versammlung begann Harald nun den Fall des rätselhaften Gastes zu schildern.
Dabei wurde dann nun auch der Zwerg Siegfried Orlik erwähnt …
Was nicht erwähnt wurde, war die Goldmünze, die Orlik dem grünen Beutel entnommen hatte …
Doktor Lüder machte sich eifrig Notizen …
Kapitän Picktorn von der Jacht Adelaide, der das Deutsche leidlich beherrschte, saß mit fahlem Antlitz da …
Als Harald von dem Kopf Lydia Salnavoors gesprochen hatte, als Picktorn so erfuhr, daß Miß Lydia nicht mehr unter den Lebenden weilte, da hatte der Kapitän, seit zwanzig Jahren in Diensten der Familie Salnavoor, die Augen mit der Hand bedeckt und sein kräftiger Körper war zusammengezuckt wie unter einem Schwertstreich.
Nun war Harald mit seinem Bericht fertig. Nun wandte Doktor Lüder sich an Picktorn …
„Herr Kapitän, was wissen Sie über Zweck und Ziel [39] dieser Reise der Jacht hierher? Hat Lord Austin Salnavoor, der ja nach Aussage der Ärzte bis auf weiteres vernehmungsunfähig ist, Sie irgendwie eingeweiht?“
„Nur zum geringsten Teil, Herr Kommissar … Wir verließen England am 23. Februar. Es hieß, Seine Lordschaft wolle Deutschland besuchen und die deutschen Flüsse kennen lernen. Erst, als wir hier unweit der Insel Schwanenwerder Anker warfen, hat Seine Lordschaft mich in seine Kabine gerufen und mir etwa folgendes gesagt: „Picktorn, ich weiß, daß Sie zuverlässig sind. Sie als einziger der Besatzung soll erfahren, daß diese Reise alles andere nur keine Vergnügungstour ist. Meine Schwester ist durch eine Verkettung besonderer Umstände in Dinge mit hineinverwickelt worden, die mit äußerster Vorsicht aus der Welt geschafft werden müssen. Seine Lordschaft hat dann nicht mehr viel hinzugefügt, Herr Harst … Er meinte nur noch, daß Miß Lydia mit dem Kanu, das wir an Bord hatten, allein Ausflüge unternehmen würde, und daß ich unseren Matrosen diese Ausflüge als nichts Besonderes hinstellen solle.“
„Wie alt war Lydia Salnavoor?“ fragte Lüder jetzt …
„Fünfundzwanzig, Herr Kommissar …“
„Verlobt?“ warf Harald ein …
Picktorn zuckte die Achseln …
„Man sprach von einer nicht standesgemäßen Verlobung, Herr Harst … Genaues weiß ich nicht … Es soll zwischen Miß Lydia und ihren Brüdern zu erregten Szenen gekommen sein – soll … Das liegt aber längere Zeit zurück …“
Lüder nahm dann wieder das Verhör auf …
„Fürchteten die Herren für das Leben ihrer Schwester?“
„Nein … Seine Lordschaft schien zunächst ganz unbesorgt. Er und Sir Percy waren viel unterwegs, auch nachts … Sie sprachen sich mir gegenüber nicht näher aus, aber ich merkte, daß sie die Schwester suchten. Dabei wurden sie immer verschlossener und zugeknöpfter. Ich fühlte deutlich, daß die Angst sie langsam zermürbte. – Ich hatte mir deutsche Zeitungen gekauft und las darin über den rätselhaften Gast [40] des schwedischen Pavillons … Erst so erfuhr ich, daß Miß Lydia dort gewohnt hatte.“
Doktor Lüder erklärte dem Kapitän nun, daß er an Bord zurückkehren könne … „Ich werde mich nachher mit Herrn Harst und Schraut auf der Adelaide einfinden … Auf Wiedersehen, Herr Kapitän …“
Nun kam Schöller an die Reihe, der bei seiner Aussage blieb und dann gleichfalls entlassen wurde.
Inzwischen war die Leiche Sir Percys fortgeschafft und auch der schwerverletzte Lord, der noch immer ohne Bewußtsein gewesen, mit aller Vorsicht im Krankenauto nach einem Sanatorium in Wannsee gebracht worden.
Als wir drei so gegen zehn Uhr vormittags über den See ruderten, fragte der Kommissar:
„Bester Herr Harst, Sie haben sich doch ohne Zweifel schon irgendeine Theorie zusammengestellt, was Lydias Ausflüge und was die späteren traurigen Ereignisse betrifft … Ob nicht dieses Gerücht von ihrer Verlobung stimmen kann und ob nicht gar ihr Verlobter oder ihr gewesener Verlobter der Mörder Sir Percys sein mag? Erkannten Sie irgendeine Einzelheit von dem Manne, der die Leiter hinabrutschte?“
„Nichts – nur daß es ein Mann mit dunkler Schlappmütze war. – Warten wir ab … Vielleicht finden wir in Lydias Kabine etwas …“
Wir drei haben damals in dieser Kabine nichts gefunden, auch nicht einen Fetzen Papier, der wichtig gewesen …
Und genau so erging es uns in den Kabinen der Brüder Salnavoor …
Nichts … nichts …
Wir kehrten also gegen zwölf Uhr zum Schwedischen Pavillon zurück. Dort hatte ein großes Aufgebot der Kriminalpolizei die Nachforschungen nach dem Täter aufgenommen, wobei es den Beamten darauf ankam, festzustellen, ob sich in Wannsee selbst oder einem der benachbarten Vororte ein Ausländer seit[6] Anfang März aufhielte.
[41] Auch Lüder verabschiedete sich nun, da er nach Berlin zurück mußte.
Wir ließen uns draußen im Freien den Mittagstisch decken …
Harald war still und in sich gekehrt.
Schöller bediente uns …
Mit einem Male fragte Harald den Kellner:
„Sagen Sie mal, Schöller, ist eigentlich das Zimmer, in dem Miß Salnavoor regelmäßig abstieg, von der Polizei damals versiegelt worden, oder kann man hinein?“
„Es war versiegelt, Herr Harst … Jetzt ist es zur Benutzung wieder freigegeben – seit fünf Tagen … Und so lange wohnt dort jetzt ein altes Fräulein …“
„Deutsche?“
„Ja, eine Schriftstellerin aus Leipzig – oder Redakteurin … Jedenfalls ein kränkliches Geschöpf, Herr Harst … Sie liegt zumeist im Walde in der Hängematte, dicht in Decken gehüllt …“
„Name?“
Charlotte Gulber …“
„Ob das alte Fräulein jetzt auf ihrem Zimmer ist?“
„Ich denke, Herr Harst …“
„Dann fragen Sie mal, ob wir die Dame einen Moment sprechen könnten …“
Schöller eilte davon …
Kam zurück …
„Fräulein Gulber läßt bitten …“ –
Sie stand mitten im Zimmer, das alte verhutzelte Geschöpfchen …
Sie begrüßte uns herzlich …
Und dann folgte nach einem Schwall von Worten – so recht typisch für ein altes Fräulein, das gern über sein Leiden spricht …
Nerven … Schlaflosigkeit … Jeden Abend Tabletten – – Schlafmittel … Aber etwas besser sei es doch schon geworden – etwas besser …“
[42] Harald ging gutmütig auf das Thema ein und meinte, es sei gut, wenn man bei nervöser Schlaflosigkeit einen Fensterflügel etwas offen ließe …
„Oh – das tat ich auch die ersten drei Nächte, Herr Harst,“ nickte das Fräulein …
„Und weshalb nachher nicht mehr?!“
„Weil … weil, – – oh, Sie werden mich auslachen …“
Und dann kam das, was ich schon erwartet hatte … Der Umschwung – – das Neue …
Fräulein Charlotte Gulber wiederholte … „Ja auslachen, meine Herren! Denn – vor dem offenen Fenster hatte ich Angst bekommen …“
„Und – weshalb?“ fragte Harald begierig …
„Weil … weil ich in der dritten Nacht trotz meines Schlafpulvers aufwachte … Ich hatte das Gefühl, als ob jemand im Zimmer sei … Aber – es war eine Täuschung … Nur vor dem Fenster auf den Dielen fand ich ein paar feuchte Stellen … Und die kamen mir wie Spuren vor … Natürlich Unsinn …! Es regnete in jener Nacht, und ich selbst werde, da es etwas eingeregnet hatte, diese Spuren mit meinen Pantoffeln hervorgerufen haben …“
Harst sagte freundlich: „Wir lachen durchaus nicht über Ihre Ängstlichkeit, Fräulein Gulber. Es war jemand im Zimmer … – Wie hatten Sie den offenen Fensterflügel befestigt?“
„Offen – nur drei Finger breit, Herr Harst … Papier hatte ich dazwischen geklemmt und die Fensterknöpfe mit Bindfaden umwickelt … So konnte der Flügel sich nicht bewegen …“
„Konnte aber bewegt werden, wenn jemand von draußen den Bindfaden lockerte … – Inwiefern hatten Sie nun das Gefühl, daß jemand im Zimmer sei …?“
[43] „Hm – – Gefühl allein war’s nicht … Ich glaubte im Finstern einen Schatten nach dem Fenster gleiten zu sehen …“
„Von wo aus …“
„Dort vom Ofen her …“
Und Sie hielten diesen Schatten für Einbildung?“
„Ja … Es war also wirklich jemand im Zimmer, Herr Harst?“
„Natürlich, Fräulein Gulber … – Wissen Sie, daß dieses Zimmer dasjenige ist, das der vielbesprochene rätselhafte Gast stets innehatte?“
„Nein, – – keine Ahnung …“
„Dieser rätselhafte Gast war, wie nun feststeht, eine junge Engländerin namens Lydia Salnavoor … War – – denn sie ist tot …“
„Oh – – ermordet?!“
„Nein, verunglückt durch einen Dampfer … Dieser Engländerin wegen hat sich jemand hier in Ihr Zimmer eingeschlichen … Er vermutete, daß Miß Salnavoor hier vielleicht etwas versteckt haben könnte … Deshalb wagte er’s, nachdem ihm der Zugang durch den offenen Fensterflügel erleichtert war …“
„Entsetzlich …!! Der Kerl hätte mich abschlachten können …!!“
„Er würde sich gehütet haben …! – Gestatten Sie nun, daß Schraut und ich uns hier einmal umsehen?“
Harald wandte sich dann an mich … „Eigentlich wäre es höflicher, wenn du Fräulein Gulber unterhieltest, mein Alter … Ich besorge hier das Nötige auch allein …“ – Und er zwinkerte mir verstohlen zu … Ich verstand: ich sollte Fräulein Gulbers Aufmerksamkeit ablenken!!
Nun – das war nicht schwer …
Charlotte Gulber war wie eine Sprechmaschine. Man brauchte nur ein ihr genehmes Thema antippen, und schon schnurrte der Apparat ohne Pause …
Dieses Thema, das ich ihr mundgerecht machte, war ihre Krankheit …
[44] Inzwischen konnte ich meinen Harald still beobachten …
Der hatte den Ofen untersucht … Der hatte Stühle aufgebaut und war auf den Ofen geklettert … Der hatte die Tapeten um den Ofen herum abgeklopft … Und jetzt lag er vor dem Ofen lang auf den Dielen …
Mir schien’s so, als ob er das Ofenblech von den Dielen losmachte …
Harst erhob sich dann …
„Leider umsonst,“ meinte er lächelnd. „Das ist, wie wenn Kinder nach Ostereiern suchen und die Eltern haben keine versteckt. Das ist nur eine Störung Ihrer Ruhe gewesen, Fräulein Gulber … Verzeihen Sie … Jetzt werden wir uns zurückziehen …“
Sie protestierte …
„Nein, nein, sehr verehrter Herr Harst … Mit Ihnen habe ich ja bisher fast gar nicht gesprochen … Nein, Sie müssen noch bleiben …“
Harald meinte liebenswürdig: „Wir werden uns ja noch häufiger sehen, Fräulein Gulber … Heute müssen wir uns leider der Angelegenheit Salnavoor widmen …“
Wir zogen ab … hinüber in unsere Zimmer …
Wo Harst dann schmunzelnd flüsterte:
„Ich habe doch ein Osterei gefunden!!“
„Dachte ich mir … – Her damit! Unter dem Ofenblech?“
„Ja …“
„Also kann’s nur ein Zettel oder ein dünnes Papier sein.“
„Bitte …“
Wir standen am Fenster … Er breitete einen Bogen tadellosen Briefpapiers auseinander. Oben links das Wappen der Salnavoors, darunter in lila ein
Ich, Lydia Ellinor Bessy Salnavoor, jüngstes Kind Lord Austin Salnavoors, bestimme für den Fall meines Ablebens folgendes:
[45] Ich besitze von meiner Großmutter mütterlicherseits her ein Vermögen von achtundvierzigtausend Pfund Sterling. Dieses Vermögen wird von der Bank von England verwaltet. Es soll nun die gesamte Summe zur Errichtung eines Heims für Kinder von im Weltkriege gefallenen deutschen Soldaten verwendet werden, und zwar soll der frühere preußische Rittmeister Karl v. Selchow, wohnhaft Berlin N., Kleine Auguststraße 10, die freie Verfügung über meine Hinterlassenschaft erhalten, da ich mit Herrn v. Selchow hinsichtlich des erwähnten Kinderheims alles genau vereinbart habe. Karl v. Selchow besitzt nach wie vor mein volles Vertrauen, und alles, was ich, dem Willen meiner Brüder gehorchend, gegen ihn unternahm, geschah nur zum Schein. – Da ich weiß, daß meine Brüder mein erstes gleichlautendes Testament heimlich vernichtet haben, werde ich diese Urkunde, die ich eigenhändig und im Vollbesitz meiner Geisteskräfte niederschreibe, unter dem Schutzblech des Ofens hier in meinem Zimmer im Schwedischen Pavillon verbergen und dafür sorgen, daß Herr v. Selchow sie für mich in Verwahrung nimmt.
Nach dem Deutschen[7] Bürgerlichen Gesetzbuch und auch nach englischem Recht ist dieses Testament gültig.
Ich hoffe, daß mein Vermächtnis so segensreich wirken wird, wie ich es erwarte.
Harald und ich hatten die Urkunde gleichzeitig überflogen …
Kopfschüttelnd meinte Harst nun:
„In der Tat ein seltsames Vermächtnis!“
„Erscheint dir etwas an diesem Testament nicht einwandfrei?“
„Hm … Ich möchte darüber vorläufig noch nicht sprechen … Wir werden jedenfalls sofort nach Berlin fahren und Herrn v. Selchow aufsuchen …“
Er steckte das Testament in seine Brieftasche und setzte hinzu:
[46] „Dieser Selchow wird einen schweren Stand haben …“
„Inwiefern?!“
„Nun – es liegt so nahe, daß man ihn des Mordanschlags auf die Brüder Salnavoor bezichtigen wird, und es erscheint des weiteren durchaus möglich, daß er in das Zimmer drüben eindringen wollte und auch eingedrungen ist … – um nach dem Testament zu suchen … – Doch – – sehen geht vor sagen …! Schauen wir uns diesen Rittmeister an …“ –
Der Vorortzug brachte uns gegen drei Uhr nach Berlin hinein, und um halb vier standen wir vor dem Hause Nr. 10 in der Kleinen Auguststraße.
Herr v. Selchow wohnte vorn eine Treppe, möbliert. Seine Karte hing an der Tür …
Eine jüngere Dame in Schwesterntracht öffnete …
Harst stellte sich vor …
„Ich bin der Privatdetektiv Harald Harst … Ich möchte den Herrn Rittmeister sprechen und ihm eine für ihn sehr wichtige Urkunde persönlich übergeben …“
Die Schwester erwiderte flüsternd:
„Das wird kaum möglich sein, Herr Harst … Herr von Selchow liegt seit zwei Wochen an Grippe schwer darnieder … – Wenn die Sache Herrn v. Selchow nicht aufregen würde, könnte ich es vielleicht gestatten, daß die Herren für ein paar Minuten das Schlafzimmer betreten …“ Sie zeigte die Tür … „Herr v. Selchow liegt noch fest zu Bett … Der Arzt kommt jeden dritten Tag. Vielleicht kann der Patient Ende der Woche aufstehen. Sie werden also begreifen, meine Herren, daß ich sehr vorsichtig sein muß, besonders da der Kranke zuweilen sehr unruhig ist … Ich kenne seine persönlichen Verhältnisse nicht näher, es muß da aber irgendeine Erbschaftssache ihn dauernd beschäftigen …“
Diese blonde schlanke Krankenpflegerin machte auf mich einen ganz vorzüglichen Eindruck. Sie hatte etwas sehr Ruhiges, Bestimmtes an sich, und ihr ganzes Benehmen bewies, daß sie aus besseren Kreisen stammte.
[47] Harald erwiderte jetzt:
„Vielleicht kommen wir gar derselben Erbschaftsangelegenheit wegen, Schwester … Ich glaube sogar bestimmt, daß …, – doch das läßt sich ja unschwer feststellen … Wir haben in Wannsee im Schwedischen Pavillon in einem Fremdenzimmer …“
Die Pflegerin rief erstaunt – freilich auch jetzt mit vorsichtig gedämpfter Stimme:
„Wannsee – – Schwedischer Pavillon?! Ist es das Testament einer englischen Dame …? – Herr Rittmeister hat im Fieber so oft eine Miß Lydia erwähnt …“
„Dann stimmt die Sache, Schwester … Miß Lydia Salnavoor …“
Die Pflegerin erhob sich rasch … „Unter diesen Umständen – es handelt sich ja um eine freudige Botschaft – werde ich den Herrn Rittmeister vorbereiten, und dann rufe ich Sie herein, meine Herren …“
Wir … waren allein … Harald schaute mich sinnend an.
Flüsterte: „Eine falsche Fährte, mein Alter … Wenn Selchow krank ist, dann kann er nicht der …“
Ich verstand: „Nicht der Mörder sein …“
Wir brauchten nicht allzu lange zu warten.
Die Pflegerin öffnete die Tür und winkte …
Wir traten ein …
In dem halb verdunkelten, nur einfenstrigen Zimmer lag linker Hand in einem schlichten eisernen Feldbett ein blasser, magerer Herr mit sehr dünnem blonden Scheitel und kurz gestutztem Bärtchen …
Er begrüßte uns mit matter, zitteriger Stimme …
„Setzen Sie sich … setzen Sie sich … Bitte – – Schwester, Sie … Sie lassen uns wohl allein …“
Herr v. Selchow flüsterte dann:
„Spannen Sie mich nicht auf die Folter … Haben Sie das Testament wirklich?“
„Ja, Herr Rittmeister … Hier ist es …“
Selchow legte es vor sich auf die Steppdecke …
[48] „Oh – – dann … dann ist alles gut … Dann hätte ich gar nicht zu diesem abscheulichen Mittel zu greifen brauchen und … und … einen Menschen zu einer strafbaren Handlung anstiften …“
„Sie haben jemand nach Wannsee geschickt, der in dem Zimmer nach dem Testament suchen sollte?“
„Ja – leider … Es war ein Bettler, der hier bei uns gerade an der Tür klingelte, als niemand außer mir in der Wohnung war … Das heißt – eigentlich kein Bettler, Herr Harst … Ein Gelegenheitsdieb … Als auf sein Klingeln niemand öffnete, kam der Mann mit Hilfe eines Dietrichs herein … Ich habe ihn dann überrascht …“
Er faßte unter das Kopfkissen und brachte eine Mauserpistole zum Vorschein … „Ich … überredete ihn, für mich … dieses dunkle Geschäft zu besorgen … Er sollte in Lydias Zimmer suchen … Der Mensch hat mir zweihundert Mark für nichts abgenommen – – für nichts!“
Er schwieg erschöpft und lag eine Weile mit halb geschlossenen Augen still und murmelte: „Für die Kriegerwaisen … ja, ja … Lydias gutes Herz!!“
„Sind Sie mit Lydia verlobt gewesen, Herr Rittmeister?“
Er nickte … „Ich … bin ihr Verlobter, Herr Harst … Ich will Ihnen erzählen, wie freventlich die beiden Brüder Salnavoor an mir gesündigt haben …“
Also er war der nicht standesgemäße Verlobte – er – – als Deutscher!
Was er erzählte war ein Roman … Zu lang, um ihn hier wiederzugeben …
In München vor zwei Jahren hatte er Lydia kennen gelernt. Sie hatten sich ineinander verliebt, und schriftlich erbat Lydia dann von ihrem ältesten Bruder als Familienoberhaupt die Einwilligung zur Eheschließung.
[49] Jede Antwort blieb aus …
Lydia schrieb nochmals …
Dann wurde Selchow plötzlich verhaftet. Er sollte im Theaterfoyer einem Herrn die Brieftasche gestohlen haben. Der Herr war Percy Salnavoor …
Die Polizei fand die Brieftasche nebst Inhalt in Selchows Zimmer hinter der Sofalehne. Trotz Lydias energischem Eintreten für ihren Verlobten wurde der Rittmeister vom Schöffengericht zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, aber bedingt begnadigt. Das Gericht glaubte an keine so gemeine Intrige, wie sie hier doch ganz offenbar vorlag. – Miß Lydia wurde von den Brüdern damals halb gewaltsam nach England gebracht und dauernd bewacht.
„… Sie sehen, Herr Harst, – es war ein Ränkespiel, wie es schlimmer kaum sein konnte … Aber Lydia war schlau … Sie schrieb mir einen Brief, den ihre Brüder nicht abfassen konnten. Sie wies mich an, gleiches mit gleichem zu vergelten … Und so schickte ich ihr denn, nachdem sie sich in einem zweiten Brief scheinbar von mir losgesagt hatte, ein Schreiben, in dem ich sie – alles verabredungsgemäß – daran erinnerte, daß sie mir Briefe gesandt habe, die sie aufs schwerste kompromittierten … – Die Komödie ging weiter … Lord Salnavoor willigte ein, daß Lydia mir die Briefe … abkaufen solle … Die Brüder und Lydia kamen mit der Jacht Adelaide nach Deutschland. In Wannsee sollte der Handel perfekt gemacht werden, – – wie gesagt – – alles Komödie! Aber – – Lydia wurde ständig belauert … Unsere Hoffnung, daß sie entschlüpfen könnte, blieb eitel. Außerdem hatte ich auch beständig mit einem neuen hinterlistigen Anschlag zu rechnen und mußte vorsichtig sein. Kurz – unser Plan mißlang nicht nur, sondern … Lydia wurde sogar, und das behaupte ich mit aller Bestimmtheit – von ihren Brüdern … beseitigt! Sie ist tot, Herr Harst …! Glauben Sie mir: sie ist ermordet worden! Sie war der „rätselhafte Gast“! Sie ist die Person, die man nun seit vielen Tagen sucht …!“
[50] Er schwieg abermals …
Dann trat die Pflegerin auch schon ein …
„Meine Herren, – ich muß Sie höflichst bitten, die Rücksprache nunmehr zu beenden …,“ sagte sie sehr bestimmt. „Ich bin dem Herrn Sanitätsrat Gottlepp gegenüber für den Kranken verantwortlich …“
Harald sah wohl selbst ein, daß wir nicht länger bleiben durften …
Wir verabschiedeten uns von Selchow und erklärten, morgen vormittag wiederkommen zu wollen. –
Draußen im Flur flüsterte Harald:
„Also Sanitätsrat Gottlepp … Suchen wir seine Wohnung im Adreßbuch … Ich möchte ihn sprechen …“
Der Sanitätsrat wohnte in der Linienstraße – ein alter, schon recht klapperiger Herr …
War sehr liebenswürdig … Sagte uns feierlich: Der Rittmeister ist so schwach, daß er schon nach zehn Schritten ohnmächtig werden würde.“
Wir verabschiedeten uns dankend, und auf der Treppe meinte ich:
„Nun bist du wohl zufrieden, Harald?!“
„Wie man’s nimmt, lieber Alter … Ja – ich bin zufrieden … Würdest du dir den alten, halb blinden Sanitätsrat wählen, wenn du so schwer krank bist?! Wohl kaum!!“
Ich mußte ihm recht geben …
Er winkte ein Auto herbei …
Wir stiegen ein, fuhren heim – nach Schmargendorf …
Und abends neun Uhr bezogen dann zwei Leute, die wie rechtschaffene Arbeiter aussahen, in der Kleinen Auguststraße vor Nr. 10 ihren Beobachtungsposten am Fenster einer Kneipe schräg gegenüber … Aßen dort Eisbein mit Sauerkohl, tranken Weißbier und lugten durch die Spalte der Vorhänge nach der Haustür von Nr. 10 hinüber …
Es wurde halb elf …
Wir hatten vorsichtigerweise stets sofort bezahlt, was wir verzehrt hatten …
[51] Und – – jetzt sagte Harald hastig:
„Aufbruch!! Selchow in Damenbegleitung!!“
Wir verließen die Kneipe …
Das Paar merkte nichts von uns Verfolgern …
Bahnhof Friedrichstraße sahen wir Selchow im hellen Licht: blonder Spitzbart – – sehr gesund – – sehr anständig angezogen!
Und – – die Pflegerin trug zwar einen Schleier, konnte trotzdem uns nicht täuschen, war jetzt ganz moderne junge Dame ohne Schwesternhäubchen …
„Zwei zweiter Wannsee,“ verlangte der „Patient“ am Fahrkartenschalter …
Und die beiden Arbeiter stiegen dann dritter Klasse ein. –
„Wannsee!!“
Stiegen wieder aus … – Vor uns das Paar …
Harald, mich unterfassend: „Ich kann dir genau sagen, wohin sie sich wenden werden: nach dem Sanatorium, wo Lord Salnavoor untergebracht ist … – Wir tun am besten, ihnen vorauszueilen …“
Wir taten’s …
So kamen wir denn sehr bald im Sanatorium an …
Harald sprach mit dem Chefarzt …
Und sofort wurde Lord Salnavoors Bett aus dem Erdgeschoßzimmer Nr. 2 in ein anderes gerollt …
Und in das neue Bett legte man ebenso flink auf Haralds Geheiß eine Art Puppe hinein, die von draußen durch die Fenster bei der schwachen Nachtlampenbeleuchtung wohl für einen Schlafenden gehalten werden konnte.
Harst selbst nahm im Kittel eines Krankenwärters am Fußende des neuen Bettes Platz, während ich in den Schrank schlüpfte … –
Und – es kam, wie Harald vermutet hatte …
Genau um halb zwölf klirrte die eine Fensterscheibe …
Klirrte nochmals – nochmals …
Harst als Krankenwärter schien den Schlaf des Gerechten zu schlafen …
[52] Dann – eine vierte Kugel – aus einer Luftpistole …
Dann – nichts mehr …
Nun war Lord Austin nach Ansicht der beiden Verbrecher bestimmt erledigt …
Und – diese Verbrecher durften unbelästigt den Garten wieder verlassen …
Unbelästigt nach Berlin heimkehren – so war’s mit dem Chefarzt vereinbart.
In der Puppe im Bett aber fanden wir vier Schußlöcher in der Brustgegend. Hätte der Lord in dem Bett gelegen, wäre er unbedingt von den Kugeln sofort getötet worden. –
Der Chefarzt teilte uns dann noch mit, daß abends eine Dame angeblich von der Englischen Botschaft das Sanatorium angerufen und sich nach dem Befinden des Lords erkundigt habe, auch wissen wollte, ob Seine Lordschaft gut untergebracht sei, wo das Zimmer läge, ob es Sonne habe – und so weiter.
Diese Dame war natürlich „die Pflegerin“ gewesen …!!
Der Chefarzt erhielt dann noch von Harst verschiedene Instruktionen, die er genau zu befolgen versprach, und gerade noch mit dem letzten Zuge fuhren wir nach Berlin zurück, da wir ja den Herrn Rittmeister am Vormittag wieder besuchen wollten. –
Und gegen halb elf vormittags fand dieser Besuch denn auch statt …
Der Herr Rittmeister lag tadellos blaß geschminkt im halb verdunkelten Zimmer …
Ein glänzender Komödiant war dieser Selchow … Falls er so hieß, was wir stark bezweifelten …
Er drückte uns die Hand … Seine Stimme war ein halbes Schluchzen …
„Meine Herren, ich … ich weiß alles … Lydia ist tot … Die Pflegerin hat es mir vorsichtig beigebracht … – Oh – ich ahnte ja, daß meine Braut nicht mehr unter den Lebenden weilte … Aber – man klammert sich an die geringste Hoffnung …“
[53] Harst kondolierte herzlich … Auch ich redete etwas von „schwerem Verlust“ – und so weiter …
Dann holte Harald einen Brief hervor …
„Hier – diesen Rohrpostbrief schickte mir Doktor Lüder heute früh – der Kriminalkommissar Doktor Lüder … Denken Sie nur, Herr Rittmeister, der Lord ist in der verflossenen Nacht in seinem Krankenzimmer im Sanatorium Seeheim vom Garten aus erschossen worden …!“
Selchow runzelte die Stirn …
Herr Harst, verlangen Sie nicht, daß ich mit dem Manne Mitleid haben soll! Unmöglich! Er hat … zu viel Unheil angerichtet! – Trotzdem regt mich die Nachricht auf … Bitte – reichen Sie mir den Portwein … Ich habe auch für Sie zwei Gläser bereitstellen lassen … Bitte – schenken Sie ein, Herr Schraut … Ich möchte auf Ihr Wohl trinken, meine Herren …“
Harst winkte ab …
„Wir sind vormittags stets strikte Abstinenzler, Herr Rittmeister … Entschuldigen Sie schon … Aber wir …“
Selchow lachte schrill …
„He … he, – – Sie werden trotzdem trinken …!! Trinken müssen, meine Herren … Hilft Ihnen nichts … Gefangene Füchse saufen das, was sie vorgestellt bekommen!!“
Und – im Nu hatte er unter der Steppdecke in jeder Hand eine … Luftpistole zum Vorschein gebracht …
Und – – hinter dem Türvorhang zeigte sich nun die Pflegerin – – gleichfalls bewaffnet …
Der Herr Rittmeister saß jetzt aufrecht im Bett …
Sagte mit eisigem Hohn:
„Falls Sie noch ein paar Stunden zu leben wünschen, rate ich Ihnen dringend, den Mund zu halten und die Arme vorzustrecken … Das Lustspiel hier ist zu Ende … Die Tragödie beginnt – – für Sie beide!! – – Bitte!!“
Die Lage für uns war zu ungünstig, als daß wir irgendwie an Gegenwehr hätten denken können …
Und – – die Pflegerin legte uns dann fein säuberlich [54] Stricke um die Handgelenke, bog uns die Arme nach hinten, band unsere Hände an die Stuhllehnen …
Nun hatte der Herr Rittmeister die Oberhand …!!
„Meine Herren,“ begann er nun ganz geschäftsmäßig, „wir müssen uns zu einigen versuchen … Der Anschlag auf den Lord ist mißglückt – durch Ihr Eingreifen … Zu spät erhielt ich von meinen Leuten Nachricht, daß Sie beide hinter uns her waren. Meine Leute sahen Sie das Sanatorium verlassen … Meine Leute wissen, daß Sie dem Chefarzt nicht mitgeteilt haben, wer den Anschlag auf den Lord versucht hat … Es handelt sich nun darum, ob Sie beide dieses Haus lebend verlassen wollen. Legen Sie Wert darauf, noch einige Zeit sich des Daseins zu freuen, so müssen Sie sich verpflichten …“
Hier fiel Harald ihm ins Wort …
„All diese Reden sind zwecklos, Selchow … Mögen Ihre Spione Sie auch noch so gut bedienen: Telephongespräche können sie nicht abfangen! Und ich habe telephoniert, bevor wir hierher gingen. Ich wollte sicher sein. Bei einem Manne wie Ihnen muß man auf alles gefaßt sein!!“
Selchow schüttelte den Kopf …
„Herr Harst, wir wollen hier nicht mit derartigen Mätzchen operieren … Sie wollen andeuten, daß Sie etwa den Kommissar Doktor Lüder telephonisch auf mich aufmerksam gemacht haben … daß also dieses Haus überwacht wird. Wenn dem so wäre, Herr Harst, würde ich längst Nachricht erhalten haben, längst … Ich verfüge über Verbündete, die gleichsam im Kampfe mit den Behörden aufgewachsen sind.“
Er lächelte stolz …
Harald schwieg …
Der Herr Rittmeister fuhr fort:
„Für mich unterliegt es keinem Zweifel, Herr Harst, daß [55] Sie mein Spiel bereits durchschaut haben …“
„Zum größten Teil wohl ja,“ nickte Harst kühl.
„Nun also … Es handelt sich hier um eine Summe von rund 50 000 Pfund Sterling, also etwa einer Million Mark … Dieser Million jage ich seit zwei Jahren nach. Das Geschäft war zeitraubend, gefährlich und kostspielig. Ich bin nun am Ziel …“
„Ein Irrtum!“ warf Harald sehr kühl ein …
„Durchaus kein Irrtum, Herr Harst. Es gibt nur drei Menschen, die mir das Geschäft verderben könnten …: Sie, Ihr Freund Schraut und Lord Salnavoor. Letzterer scheidet als Hindernis vorläufig aus, da er vernehmungsunfähig ist und da ich durchaus noch nicht verzichtet habe, ihn völlig matt zu setzen. – Hier handelt es sich jetzt um Sie beide … Sie beide müssen verschwinden – mindestens für acht Wochen … Ich würde Sie schonen, wenn Sie mir versprechen, noch heute ins Ausland zu reisen und sich um die Dinge hier nicht weiter zu kümmern …“
Harst meinte verächtlich: „Wofür halten Sie uns?!“
„Oh – auf diese Antwort war ich vorbereitet … – Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als den zweiten Weg zu wählen … Es gibt noch einen dritten, den ich aber gern vermeiden möchte.“
Fülle die Gläser, Anna …!“
Und wieder zu uns … „Fürchten Sie nicht, daß ich Sie vergiften will … Nur wenn Sie den Wein verweigern, müßte ich den dritten Weg wählen …“[8] Und er streckte seine Pistolen in nicht mißzuverstehender Weise vor …
Anna, die schlanke „Schwester“, hatte die Gläser schon gefüllt …
Harald kniff die Augen ein wenig zusammen und schaute Selchow prüfend an …
Sagte unvermittelt:
„Ersparen Sie uns den Schlaftrunk … Ich verderbe mir nicht gern den Magen … Wir versprechen Ihnen, Ihre Befehle genau zu befolgen …“
[56] „Gut, es sei …! Sie werden also von hier aus sofort im Auto nach Potsdam fahren, werden sich dort an einen Mann wenden, der vor dem Bahnhof mit einem Handwagen steht – einem zweiräderigen Karren, wie ihn die Gepäckträger benutzen. Der Mann trägt eine blaue Seglermütze, an der vorn ein auf Messing gestanztes S befestigt ist – nur der eine Buchstabe S. Ich werde Ihnen für den Mann einen Zettel mitgeben. Das genügt dann … – Anna, Papier und Bleistift …“
Er schrieb …
Als er fertig war fragte er nochmals:
„Herr Harst, wir sind also einig … Keinerlei Verrat Ihrerseits, bis Sie beide an Ort und Stelle sind … Fluchtversuche sind dann gestattet … Aber – – ich warne Sie! Sollten Sie Hintergedanken haben, sollten Sie nicht direkt bis Potsdam fahren, so … kann es geschehen, daß … Sie im Auto umkommen … – Anna, telephoniere …“
Die „Schwester“ verschwand …
Wir drei schwiegen …
Dann kehrte Anna zurück und nahm uns die Fesseln ab.
Selchow reichte Harald den Zettel … „Der Chauffeur weiß Bescheid … Auf Wiedersehen, meine Herren …“
Und Anna begleitete uns die Treppe hinab …
Ein Taxameterauto hielt vor der Tür … Der Chauffeur war ein graubärtiger Mann … Der graue Bart erschien mir nicht ganz echt.
Wir stiegen ein … Anna warf die Tür zu …
Und da erst sahen wir, daß den Türen von innen die Drücker fehlten.
So … fuhren wir beide zum ersten Male in unserem Leben freiwillig in die Gefangenschaft. –
Wir konnten getrost zur Beruhigung unserer immerhin etwas mitgenommenen Nerven eine Zigarette rauchen, und ich wieder hatte Gelegenheit, Harald einiges zu fragen …
Die Hauptfrage:
„Das Testament ist eine Fälschung?“
[57] „Ja …“
„Und Selchow hat es unter das Ofenblech gelegt?“
„Ja … Es sollte dort gefunden werden – von uns … Dann sah die Sache „echter“ aus …“
„Allerdings … – Und Selchow ist der Mörder Percy Salnavoors?“
„Natürlich, mein Alter …“
„Selchow war mit Lydia verlobt?“
„Ohne Frage … Dann kam heraus, daß er ein internationaler Gauner war … Während der Verlobungszeit mag Lydia tatsachlich ein gleichlautendes Testament aufgesetzt haben. Sie vernichtete es dann. Selchow behielt noch Briefe von ihr. Diese mögen, wie er selbst zugab, sehr kompromittierend gewesen sein, und es wird auch stimmen, daß die drei Geschwister Salnavoor nur deshalb nach Deutschland kamen, um die Briefe Selchow abzukaufen. – Er aber hatte derweil einen Plan entworfen, dessen raffinierte Schändlichkeit alles bis jetzt Dagewesene übertrifft. Er wollte Lydias Vermögen an sich bringen. Lydia kam hier ums Leben, – vielleicht auch durch Selchow … Das werden wir noch feststellen … Dann wollte er die beiden Brüder beseitigen, die doch das Haupthindernis waren, das Vermächtnis an sich zu reißen. Ihm selbst, hoffte er, würde man nichts am Zeuge flicken können … Er war ja krank … – Wenn du dir die Einzelheiten dieses teuflisch-genialen Planes vor Augen führst, wirst du zugeben müssen: einzig in seiner Art! – Und am genialsten der Passus im Testament, daß der Rittmeister frei über die Riesensumme verfügen sollte …!! – Einem graut, wenn man in diese Abgründe menschlicher Verworfenheit hinabblickt!!“
Wieder fragte ich:
„Harald, wie hoffst du dem Kerker zu entfliehen, den Selchow uns zugedacht hat?“
Er rauchte zwei Züge …
Seine Stimme klang verändert, als er erwiderte:
„Ich habe jetzt die zweite Mirakulum im Munde … Und – [58] außer der Zigarette noch mein winziges Federmesser, mein Alter, das uns schon oft gute Dienste geleistet hat …“ – –
Potsdam – – Bahnhof …
Der Chauffeur kletterte herab, öffnete die Tür …
„Bitte, meine Herren … Es macht dreizehn Mark …“
Harst zahlte …
Frechheit, – – auch bezahlen mußten wir noch …!
Den Mann mit dem Handkarren hatten wir sofort gefunden.
Harald gab ihm den Zettel, auf dem lediglich stand:
„Die beiden Herren sind an Bord zu bringen. S.“
Der Mann mit der Seglermütze zerriß den Zettel und streute die Fetzen über das Pflaster … Der Wind entführte sie nach allen Seiten …
„Kommen Sie …,“ sagte der Mann nur …
Wir folgten ihm …
Sehr bald merkten wir, daß wir beobachtet wurden, daß noch zwei Leute hinter uns her waren …
Ein weiter Weg war’s bis zum Havelufer, wo an einer einsamen Landungsbrücke ein Schleppdampfer lag …
So ein kleiner, verräucherter Schlepper …
„Anna“ hieß er … Anna – wie die „Schwester“ …
Auf dem Achterdeck vor dem Kajüteneingang saß ein kleiner dicker Kerl mit rotem Gesicht … Erhob sich …
Seine Schweinsäuglein musterten uns …
„Kommen Sie,“ sagte er nur …
Kajüten in Schleppern sind winzig … Und hier in dieser Kajüte verlangte der Dicke, daß wir unsere Taschen entleeren sollten …
„Unser Kerker?“ fragte Harst …
Und er legte seine Uhr und seine Brieftasche auf den Tisch, faßte in die Schlüsseltasche der Beinkleider …
„Ja …,“ brummte der Dicke … „Ihre Zelle!!“
„Kennen Sie unsere Vereinbarung mit Selchow?“ fragte Harst von neuem …
„Natürlich …“
[59] „Daß uns also gestattet ist, Fluchtversuche zu unternehmen, sobald wir in unserem Kerker sind …“
„Ja …“
„Wir sind jetzt an Ort und Stelle … Und deshalb …“
Er hatte mit einem Male die Clement in der Hand …
Der Dicke wurde käsig im Gesicht …
Harst hielt ihm die Pistole vor die Stirn …
„Ich halte mich wörtlich an die Vereinbarung, Mann! Hätten Sie uns draußen unsere Sachen abverlangt, so würde ich gehorcht haben … Aber jetzt sind wir in der Zelle, Mann …! Sie haben die Sache etwas unbegabt angefangen, wie Sie zugeben müssen … – Schraut, binde ihm die Hände mit deinem Taschentuch …“
Der Dicke hatte glasige Augen …
Ich konnte nicht anders – ich mußte grinsen … Dieser Schlepperkapitän – denn offenbar war er’s – sah zum Erbarmen vertattert aus …
Und – – ließ alles mit sich geschehen …
Wir waren Herren des Schleppers …
Oben an Deck hörten wir sprechen …
Harst winkte mir, flüsterte:
„Sie müssen einzeln herab zu uns … Du hältst sie in Schach … Ich besorge das übrige …“
Wir schlichen die Treppe empor …
Tatsächlich: die drei Kerle lehnten links an der Reling! Rauchten Pfeife, unterhielten sich …
Ihr behagliches Beieinander zerplatzte …
„Sie – der Karrenschieber, kommen Sie mal her – die Treppe hinab!“ befahl Harst …
Der Mann zauderte erst … Aber dann gehorchte er achselzuckend … Er sah wohl ein, daß hier doch nichts zu ändern war.
[60] Harald nahm ihn in Empfang …
Und wenige Minuten später hatten wir die drei Leute ebenfalls in der Kajüte untergebracht und so sicher festgebunden, daß sie unmöglich sich selbst befreien konnten.
Harst begann ein kurzes Verhör …
Die vier hatten Angst …
Der Dicke schwitzte vor Aufregung, als ob’s im Hochsommer wäre …
Er rückte denn auch als erster mit der Sprache heraus.
Der Schlepper sei sein Eigentum, und die drei dort seine Leute … Vor sechs Wochen habe sich Selchow an ihn herangemacht … Es sei gerade faule Zeit gewesen – Winter, nichts zu verdienen … Und da hätten sie sich denn mit ihm eingelassen … In einer regnerischen Nacht war dann der Anschlag auf das Kanu geglückt … Selchow habe den Schlepper selbst gesteuert … Habe vorher immer betont, er wolle die Miß nur gefangen nehmen … Durch Zufall sei die Engländerin in die Schraube geraten … Der Rumpf sei noch einmal aufgetaucht … Der Kopf sei in das Kanu geflogen … – Ja, Selchow habe noch drei andere Leute an der Hand, die stets fein gekleidet gingen … Das seien so seine eigentlichen Helfershelfer … –
Der Kapitän beteuerte zum Schluß, daß er im übrigen über den Rittmeister und dessen Anhang so gut wie gar nichts wisse … „Mein Schlepper sollte für die Bande gleichsam den letzten Zufluchtsort im Augenblick höchster Not bilden … Drüben die Badeanstalt hat Telephonanschluß, und von dort haben wir uns mit Selchow verständigt … In der Badeanstalt wohnt ein Wächter, und der läßt uns jederzeit an den Apparat heran …“
„Sollten Sie Selchow unser Eintreffen melden?“
„Ja, Herr Harst … Nur durch den Satz: „Die Ware ist besorgt“ … Wenn Sie es wünschen, werde ich telephonieren gehen, sonst wird Selchow mißtrauisch … Sie können mich ja begleiten …“
„Schraut wird es tun … – Vorwärts, mein Alter … [61] Nachher kommt dann der Hauptschlag … Oder …“ – er überlegte – „eigentlich könntest du das ebenfalls gleich einleiten … Wenn die Meldung erledigt ist, rufe Lüder an … Er soll das Haus Nr. 10 durch zwei Leute, die sich etwas auffällig benehmen sollen, bewachen, dabei sonst nichts weiter tun. Nur mag er uns hierher vielleicht noch fünf Beamte senden, die die Herrschaften dann mit uns zusammen feierlichst empfangen …“
Ich verstand, was er beabsichtigte: durch die Bewachung von Nr. 10, Kleine Auguststraße, sollte Selchow zur Flucht getrieben werden … – zur Flucht hier nach dem Schlepper … Und voraussichtlich würde er dann seine Verbündeten mitbringen … –
Wir nahmen dem Dicken also die Fesseln ab, und ich begleitete ihn zur Badestelle.
Alles ging nach Wunsch. Lüder war sehr erstaunt, als ich mich meldete … Und ihm dann Haralds Wünsche mitteilte, ohne Selchows Namen zu nennen.
Ich kehrte dann mit dem Dicken auf den Schlepper zurück.
Unsere Gefangenen wurden mit Ausnahme des Kapitäns, den wir nicht wieder fesselten, in einen anderen Raum gebracht[9]. Sie versprachen hoch und heilig, sich ganz still zu verhalten.
Wir beide aber konnten dann nichts Besseres tun, als die nächsten Stunden irgendwie totzuschlagen. Wir setzten uns mit dem Kapitän in die Kajüte, wo wir die Bretter von den Fenstern entfernt hatten, und aßen und tranken, was der Dicke uns vorsetzte, beobachteten durch das Fenster das Ufer und den Zugangsweg zur Anlegebrücke und unterhielten uns. Der Kapitän war kein so übler Bursche, und Harald versprach ihm, daß er für ihn nachher ein gutes Wort bei der Polizei einlegen würde.
Es war knapp eine Stunde verstrichen, als wir auch schon Lüder und vier Beamte, alle als Arbeiter verkleidet, anrücken sahen …
Lüder ließ sich erzählen … Als er den Namen von Selchow hörte, rief er sofort:
[62] „Das ist ja der Rittmeister, der in München wegen Taschendiebstahls verurteilt wurde und der seitdem alle Behörden mit seinen Gesuchen um Wiederaufnahme des Verfahrens in Atem hält … Man glaubt, daß er zu jener Sorte von harmloseren Entgleisten gehört, die einmal in einer schwachen Stunde vom Pfade der Ehrlichkeit abgewichen sind und die nachher sich auf jeden Fall rehabilitieren möchten. Der Herr ist sogar persönlich einmal bei mir gewesen … Er machte auf mich einen recht günstigen Eindruck. Nun freilich gewinnt seine „Leidensgeschichte“, wie er sich stets ausdrückte, ein ganz anderes Aussehen …“
„Allerdings!“ nickte Harst. „Der Mann ist fraglos sogar sehr gefährlich – sehr! Wir wollen nun alles Nötige zu seinem Empfang vorbereiten, lieber Lüder. Der Kapitän setzt sich an Deck … Wir beide, Schraut und ich, spielen die Gefangenen hier in der Kajüte. Der Kapitän ist zuverlässig.“
„Die Herren können sich unbedingt auf mich verlassen,“ bestätigte der Dicke treuherzig … „Ich werde Selchow schon einwickeln, genau wie er mich eingewickelt hat … Der Lump redete mir vor, es handele sich nur darum, die Miß gefangen zu nehmen, und …“
„Wissen wir alles …,“ unterbrach Harald ihn … „Stopfen Sie sich jetzt Ihre Pfeife und bleiben Sie als Lockvogel an Deck …“ –
Sechs Uhr nachmittags …
Harald und ich saßen in der Kajüte … Zum Schein waren die Bretter wieder lose vor die kleinen Fenster genagelt worden …
Die Kajütentür war verschlossen. Der Kapitän hatte den Schlüssel …
Soeben hatte ich eins der Fensterbretter gelüftet und sah über den Pfad, der die Wiesen durchquerte, sehr eilig sechs Leute nahen – voran der Rittmeister mit zwei Damen, von denen die eine die schlanke Pflegerin war, hinterdrein drei Herren …
„Harald!!“
[63] Er war schon neben mir …
„Sie sind’s – – geglückt!“ meinte ich …
Er atmete erleichtert auf …
„Ja – geglückt! So recht geglaubt habe ich doch nicht an einen vollen Erfolg! Nun freilich haben wir die ganze Bande mit einem Schlage dingfest! – Drücke das Brett wieder vor, mein Alter …“
Minuten nur noch …
Dann draußen auf der Treppe Stimmen …
Dann wurde unsere Tür aufgeschlossen …
In der Kajüte brannte die Pendellampe … Vor uns Selchow, blaß vor Ingrimm …
Brüllte uns an: „Sie haben mich verraten, Sie beide! Sie sollen es büßen … Ich …“
Ach – – seine Rolle war endgültig ausgespielt … Hinter ihm drängten sich seine Getreuen …
Und – – auf der Treppe erschienen jetzt Lüder und seine Leute …
Auch wir hatten mit einem Male die Pistolen in der Hand …
Selchow stieß einen lästerlichen Fluch aus …
Lüder drohte. „Hände hoch – – Kriminalpolizei …!!“
Doch der entgleiste frühere Offizier war nicht willens, sich lebend fangen zu lassen … Sprang den Kommissar an, suchte an Deck zu flüchten …
Schüsse knallten …
Der eine Kriminalassistent erhielt eine Kugel in die Schulter … Karl von Selchow taumelte zurück, brach zusammen … – mit Kopfschuß …
Die übrigen ließen sich ruhig Handschellen anlegen …
Es waren drei berüchtigte Einbrecher, Selchows Geliebte und deren Mutter … – –
Der Fall des rätselhaften Gastes war nun wirklich erledigt …
Drei Tage später konnte Lord Salnavoor zum ersten Male vernommen werden …
[64] Er bestätigte, was Harald aus den zum Teil erdichteten, zum Teil in raffiniertester Weise umgemodelten Angaben des „schwerkranken“ Selchow als Kern der Wahrheit bereits herausgeschält hatte. Lydia Salnavoor hatte sich in München von Selchow umgarnen lassen, und er war’s gewesen, der ihr den Gedanken an eine Stiftung zugunsten deutscher Kriegerwaisen gleichsam suggeriert hatte … Dann verübte er den Diebstahl, indem er Percy Salnavoor die Brieftasche entwendete, als dieser nach München gekommen war, um seine Schwester mit nach England zu nehmen. –
Alles stimmte – alles, – denn bei dem toten Selchow hatten wir schon vorher das Päckchen Briefe gefunden, das Lydia um jeden Preis zurückhaben wollte. –
Der Wannsee wurde dann mit Netzen abgesucht und so auch der Rumpf der Leiche Miß Lydias zutage gefördert. Lord Austin Salnavoor nahm nach seiner Genesung zwei Leichen in die Heimat mit: Bruder und Schwester, beides Opfer eines Verbrechers, dem es ohne Harsts Eingreifen doch wohl geglückt wäre, die Million an sich zu bringen, da die Testamentsfälschung so glänzend ausgeführt war, daß das Vermögen ihm fraglos ausgezahlt worden wäre. –
Wenn der Leser sich jetzt nochmals all die einzelnen Abschnitte dieses Ringens um die Lösung eines scheinbar völlig undurchsichtigen Rätsels vergegenwärtigt, wird er mir recht geben, daß dieses Problem geradezu ein Schulbeispiel dafür ist, wie ein begabter Detektiv Schritt für Schritt durch geistvolle Kombinationen und durch zähe Energie und kluge Entschlossenheit der Wahrheit näherzukommen vermag, bis dann unmerklich die Einkreisung der Schuldigen vollendet ist und die strafende Gerechtigkeit als Siegerin triumphieren darf …
Nächster Band:
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Olaf K. Abelsen:
Abseits vom Alltagswege
- Band 1: Das tote Hirn.
- Band 2: Das Geheimnis des Meeres.
- Band 3: Mein Freund Coy.
- Band 4: Das Paradies der Enterbten.
- Band 5: Das Kreuz in der Wüste.
- Band 6: Die Geisterburg.
Die Bändchen: „Abelsen, Abseits vom Alltagswege“ sind durch jede Zeitschriftenhandlung zu beziehen. Man erhält dieselben auch gegen Voreinsendung von 50 Pfg. für einen Band portofrei vom
Anmerkungen (Wikisource)