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Der Piratenschoner

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Textdaten
Autor: Walther Kabel
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Titel: Der Piratenschoner
Untertitel: Der Spangenschuh der Lady Broog
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1921
Verlag: Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.
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Erscheinungsort: Berlin
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Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung: Zwei Detektiv-/Kriminalerzählungen. Handlungsort ist Indien.
Band 50 der Romanheftreihe Der Detektiv (später: Harald Harst. Aus meinem Leben.)
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[1]
Der Detektiv


Kriminalerzählungen


von


Walther Kabel.


Band: 50


Der Piratenschoner.


[2]

[3]
1. Kapitel.
Bei Mutter Flepp.

Lord Percy Blackmoore, einer der reichsten Kohlenmagnaten Englands, hatte uns telegraphisch nach Madras gerufen. Wir hatten ihn und seine Gemahlin vor kurzem bei dem Maharadscha von Dschaipur kennengelernt, wo Harald Harst, wie ich im „goldenen Gongong“ berichtet habe, die überaus kostbare schwarze Perlenkette der Lady Blackmoore dem Juwelendiebe Daniel Blooce wieder abnehmen konnte.

Wir trafen abends um 7 Uhr in der Hafenstadt Madras ein, die bekanntlich an der Ostküste Vorderindiens liegt.

Der Lord, ein schlanker Mann von dreißig Jahren, holte uns vom Bahnhof ab. Er befand sich mit seiner jungen Gattin auf einer Weltreise, hatte seine Motorjacht Atlanta in Madras verlassen und mehrere Städte im Innern besucht. Diese elegante, große Jacht war dann plötzlich aus dem Hafen von Madras, wo sie am Westkai nun schon drei Wochen gelegen hatte, eines Nachts verschwunden, und Harst sollte diesen Vorfall, dessen Einzelheiten wir nun erst erfuhren, aufzuklären suchen.

Blackmoore hatte uns vom Bahnhof in sein Hotel gebracht. Im Salon begrüßten wir die Lady und den Privatsekretär des Lords Marc Tousam, den wir ebenfalls schon kannten. Außerdem war der Chef der Hafenpolizei Inspektor Davis anwesend.

Mr. Davis, ein früherer Kapitän der Handelsmarine, hatte bereits die eingehendsten Nachforschungen nach dem Verbleib der Atlanta angestellt, deren Verschwinden jetzt drei Tage zurücklag.

Davis schilderte den Sachverhalt folgendermaßen.

Am Montag nachmittag hatte er noch mit dem Kapitän [4] der Atlanta, Master Braxler, im Cafee Westminster eine Partie Schach gespielt. Braxler war ein alter Bekannter von ihm. Er hatte ihm erzählt, daß der Lord nun bald nach Kalkutta in See zu gehen gedenke. Um 7 Uhr abends hatten sie sich getrennt.

Am Dienstag früh drei Uhr hatte eine Barkasse der Hafenpolizei bei strömendem Regen die Atlanta etwa 500 Meter nach Osten zu auf der Reede getroffen. Die Jacht fuhr mit vorschriftsmäßigen Lichtern und mit halber Kraft zwischen den ankernden Schiffen hindurch. Da Kapitän Braxler die Jacht bei der Hafenpolizei nicht abgemeldet hatte, wie der auf der Barkasse befindliche Polizeibeamte wußte, nahm dieser an, es handele sich nur um eine Maschinenprobe, und ließ die Atlanta ungehindert passieren.

Aber – die Jacht kehrte nicht zurück. Der Dienstag und der Mittwoch vergingen. Davis telegraphierte Mittwoch abend an den Lord, der sich in Dehli befand. Der Lord depeschierte zurück, daß er Kapitän Braxler keinen Befehl zum Verlassen des Hafens von Madras gegeben hatte, und reiste sofort mit seiner Gattin ab, weil er bereits argwöhnte, daß sich irgend etwas Besonderes zugetragen haben müsse.

Davis hatte nach Eintreffen der Antwort Blackmoores sofort die Polizei mobil gemacht, um zunächst einmal festzustellen, ob die ganze Besatzung sich auf der Atlanta befände. Einschließlich Kapitän Braxlers zählte diese Besatzung vierzehn Köpfe. All die vierzehn Leute waren mit verschwunden.

Davis konnte nur annehmen, daß hier irgend ein Schurkenstreich vorlag und daß die Atlanta von einer Bande von Verbrechern in der regnerischen Nacht entführt worden war.

Diese Ansicht äußerte er jetzt auch Harst gegenüber, der ihn bisher durch keine Zwischenfragen unterbrochen hatte.

Wir saßen um einen großen Tisch herum in kostbaren Brokatsesseln. Das Hotel Imperial, in dem der Lord abgestiegen war, hätte jeder europäischen Weltstadt Ehre gemacht. Es war das erste in Madras.

„Haben Sie denn hier in Madras Verbrecher, denen Sie einen so großzügigen Streich zutrauen, Master Davis?“ fragte Harald nun. „Die Entführung einer Jacht muß doch sehr sorgfältig vorbereitet werden. Ein solcher Plan erfordert genaueste Abwägung aller Einzelheiten.“

„Hm – eigentlich gibt es hier kaum so intelligente Schurken,“ [5] meinte Davis. „Wir sehen dem Gesindel verdammt scharf auf die Finger. Ich gebe zu, Master Harst, ich stehe hier vor einem Rätsel, da es ja ausgeschlossen ist, daß etwa ein Teil der Besatzung gemeutert hat und mit der Atlanta davongefahren ist.“

„Ganz ausgeschlossen!“ bestätigte der Lord. „Die Besatzung ist schon viele Jahre in meinen Diensten. Die Leute haben keinen Grund zur Unzufriedenheit. Ich bezahle sie gut, und zwischen mir und dem letzten Mann der Atlanta herrscht ein beinahe kameradschaftliches Verhältnis.“

„Dann kann nur eine Entführung vorliegen,“ meinte Harst. „Ich möchte vorschlagen, daß wir getrennt arbeiten, Master Davis. Setzen Sie Ihre Ermittlungen fort, während Schraut und ich auf eigene Faust uns bemühen werden, die Sache aufzuklären. Ich kann damit jedoch erst übermorgen beginnen. Ich muß noch nach Bangalore reisen, wo ich etwas zu erledigen habe. Sonntag früh bin ich wieder hier.“

Lord Percy machte ein sehr enttäuschtes Gesicht.

„Ist das, was Sie in Bangalore vorhaben, Master Harst, denn wirklich so dringend?“ fragte er.

„Überaus dringend, Mylord. Ich reise sogar noch heute wieder ab. Wenn ich mich nicht irre, geht um 10 Uhr ein Zug nach Bangalore.“

„Nur ein Personenzug, kein Eilzug,“ erklärte Davis. –

Wir blieben noch eine halbe Stunde zusammen. Dann verabschiedeten wir uns. Davis kam mit. Es war jetzt 1/29 abends.

„Ist es Ihnen recht, wenn wir mal nach dem Hafen fahren, Master Davis?“ meinte Harald. „Ich möchte mir die Stelle am Kai ansehen, wo die Atlanta gelegen hat.“

„Gewiß. Obwohl dort nicht viel zu holen ist, Master Harst. Der Westkai ist ein Kai wie jeder andere.“

Wir nahmen einen Wagen und waren in zehn Minuten mitten zwischen Lagerspeichern, Hafenkneipen und düsteren alten Häusern, die noch aus der Entwicklungszeit von Madras stammten.

„Lassen Sie den Wagen etwas vor der Liegestelle halten,“ bat Harald den Polizeiinspektor.

Wir fuhren jetzt am Bollwerk auf den Schienen der Hafenbahn entlang.

Dann stiegen wir aus. Der Wagen sollte auf uns warten.

[6] Wir gingen nun dicht am Wasser entlang. Schiff an Schiff lag hier vertäut. Ziehharmonikaklänge und Gesang umtönten uns. Halb trunkene Matrosen aller Nationen schwärmten umher. Händler schrien ihre Waren aus. Schlanke Inderinnen lauerten im Schatten von haushohen Stapeln von Fässern und Kisten. Dampfwinden kreischten. Von der Reede her klang das Heulen von Schiffssirenen herüber.

„Hier fühle ich mich wohl,“ sagte Davis und sog an seiner kurzen Pfeife. „Das ist für mich die schönste Musik: Ziehharmonika, Dampfpfeifen[1], Ankerkettenklirren und das Quietschen der ausschwingenden Kranbalken.“

Wir blieben stehen.

Harst schaute sich um, schaute hierhin und dorthin.

„Das da drüben ist eine Kneipe, nicht wahr?“ fragte er dann.

„Ja – die anständigste Hafenkneipe von Madras. Gleichzeitig Logierhaus. Gehört einem in ganz Indien bekannten Original, der Mutter Flepp. Hat jetzt Kummer, die Mutter Flepp. Ihre Tochter ist durchgebrannt.“

„Seit wann denn?“

„Hm – warten Sie mal. Richtig, seit Montag. Mutter Flepp ist wütend. Die Bessie war ein patentes Mädel, hatte Bildung und war so eine „Rühr’ mich nicht an“! Niemand weiß, mit wem sie auf und davon gegangen ist.“

„So – so,“ sagte Harald nur.

Wir gingen noch ein Stück weiter. Die Stelle am Kai, wo die Atlanta gelegen hatte, war noch nicht wieder besetzt worden. Die Jacht hatte hier zwischen zwei kleineren Seglern ihren Platz gehabt.

„Da liegt ja noch eine Jacht,“ meinte Harald, als wir an dem einen Segelschiff, einer Bark, vorüber waren.

„Ganz recht. Sie gehört einem Franzosen, der sich jetzt im Innern herumtreibt. Es ist nur eine Wache von drei Mann an Bord.“

„Gut, kehren wir zu unserem Wagen zurück.“

„Na sehen Sie, Master Harst,“ sagte Inspektor Davis lachend, „das war nun ziemlich zwecklos, diese Fahrt hierher.“

„Scheint so,“ erwiderte Harst zerstreut.

Ich merkte: es war nicht zwecklos gewesen! Irgend etwas hatte Harst entdeckt.

Davis fuhr nur bis zur Stuart Street mit. Wir verabschiedeten [7] uns von ihm mit einem „Sonntag auf Wiedersehen.“ – Uns beide brachte der Wagen nach dem Bahnhof. Wir lösten Fahrkarten bis Bangalore, obwohl wir gar nicht die Absicht hatten, dorthin zu reisen.

Am Fahrkartenschalter hatte mir Harald leise zugeflüstert, die anderen Leute zu beobachten, die nach ihm an den Schalter herantreten würden.

Ich studierte zum Schein die aushängenden Plakate.

Bald fiel mir ein Matrose auf, der, den leicht Angetrunkenen spielend, sich am Schalter dicht hinter Harst drängte. Der Matrose war fraglos ganz nüchtern. Das erkannte ich an dem gespannten Gesichtsausdruck, mit dem er hinhorchte, als Harald die Karten nach Bangalore forderte.

Ich wußte genug. Harald hatte mit Spionen gerechnet. Und er hatte richtig vermutet: wir wurden beobachtet. –

Zwei Stationen hinter Madras verließen wir den Zug. Der Matrose, ein kleiner Kerl mit goldenen Ohrringen, hatte auf dem Bahnsteig in Madras aufgepaßt, ob wir wirklich abfuhren. Den Zug hatte er nicht bestiegen. Wir waren also sicher vor ihm.

Ein Mietauto brachte uns nach Madras zurück. Wir langten gegen elf Uhr abends vor einem kleinen Hotel an, belegten zwei Zimmer im Erdgeschoß nach dem Garten hinaus, zahlten für acht Tage voraus und sagten dem Hotelbesitzer, wir würden frühmorgens auf ein paar Tage nach einer Plantage ins Innere reisen, er möchte unsere Koffer in Verwahrung nehmen. –

Um 12 Uhr nachts verließen zwei ältere, bärtige Seeleute, jeder mit einem Bündel in der Hand, das Hotel durch das Fenster und wandten sich dann dem Hafen und dem Westkai zu. –

Bei Mutter Flepp war noch großer Betrieb.

Die Kneipe bestand aus einem einzigen Raum, der an den Wänden durch Efeukästen in einzelne Boxen abgeteilt war. Der Schanktisch lag dem Eingang gegenüber.

Und hinter diesem Schanktisch thronte auf einem hohen Schemel die Besitzerin dieses[2] Seemannsheims, die in ganz Vorderindien berühmte Mutter Flepp.

Das große, hagere Weib trug ein schwarzes Seidenkleid, dazu einen weißen Spitzenkragen und so viel Brillanten an Händen, Hals und Ohren, daß diese Pracht jeden Gauner gereizt [8] hätte, wenn der Schmuck echt gewesen wäre. Wenigstens hielt ich ihn damals nicht für echt. Das hochfrisierte, zum Teil wohl falsche Haar Mutter Flepps machte das längliche, faltige und stark geschminkte Gesicht noch länger. Alles in allem wirkte sie etwa wie eine an der Kasse sitzende Jahrmarktbudenbesitzerin.

Zwei Mixter (Mischer), bedienten die Gäste, die direkt am Schanktisch saßen. Drei Chinesen spielten die Kellner.

Wir quetschten uns noch mit an den Schanktisch heran und bestellten nach der Karte einen recht teuren Mischtrunk und ebenso teure Zigarren.

Mutter Flepp musterte uns mit ihren schwarzen, stechenden Augen so durchdringend, daß ich schon fürchtete, sie durchschaue unsere Maske.

Aber ihr Gesicht wurde sofort freundlicher, als Harst für uns ein gutes Zimmer für drei Tage verlangte und dabei Mutter Flepp eine Zwanzigpfundnote nachlässig zuwarf.

Sie rutschte mit ihrem hohen Schemel mehr nach links und saß uns nun gegenüber.

„Wo kommt Ihr her, Jung’s ?“ fragte sie auf englisch und schob ein frisches Stück Kautabak in den Mund.

Harald spuckte auf den Fußboden, grinste und sagte:

„Geht Dich ’n Dreck an, Mutter Flepp. – Was können wir zu essen haben?“

Ihre Stirn zog sich kraus. „Nur Kaltes, Jung’s. Die Bessie, das verdammte –, ist ja ausgekniffen. Sie kochte für die Gäste. Hab’ noch keinen Ersatz für sie.“

Harald beugte sich weit über den Tisch und flüsterte:

„Mutter Flepp, hab’ die Bessie gesehen, gestern. Droben in Pulikat.“ (Pulikat ist eine kleine Hafenstadt nördlich von Madras).

„Wie?! Gesehen?! Jung, Du lügst. Du warst ja noch nie hier. Du kennst die Bessie gar nicht.“

Harald krümmte sich vor Lachen.

„Noch nie hier?! – Gewohnt hab’ ich bei Dir noch nicht, Mutter Flepp. Aber versoffen hab’ ich hier schon manche Heuer.“

Sie nickte zerstreut und rief dem einen Mixter zu, auf die Kellner aufzupassen. Sie schloß die Kasse ab und sagte. „Kommt mit, Jung’s –“

Wir tranken aus und gingen hinter ihr drein. Sie führte [9] uns in den Hinterflur und eine Treppe hinauf in die Logierräume.

Es war nur noch ein einziges Vorderzimmer frei. Die Fenster hatten Aussicht über den ganzen Hafen. Wir nahmen dieses Zimmer, warfen unsere Bündel auf den Tisch und setzten uns.

Mutter Flepp seufzte und schaute Harst fragend an.

Harald lächelte. „Du willst was über Bessie hören, Mutter Flepp. Ich weiß nichts, gar nichts. Ich hab’ gelogen,“ sagte er leise. „Inspektor Davis erzählte uns, daß man sich auf Dich verlassen könne. Du bist verschwiegen, und Du stehst mit der Polizei gut. Ich heiße Harald Harst –“

Mutter Flepp riß die Augen auf.

„Aha, Jung, – aha! Ahnt ich’s doch!“ flüsterte sie. „Harald Harst! – Jung, Du wirst mir die Bessie suchen.“

„Das werd’ ich, Mutter Flepp. Ich suche noch was anderes, die Atlanta.“

„Dacht ich mir schon, Harst, – dacht ich mir schon! Eine dolle Geschichte mit der Atlanta. Käpten Braxler war oft hier bei mir, auch der Steuermann und der Obermaschinist. Hatten Geld wie Heu, Jung. Der Lord bezahlt anständig.“

„Mutter Flepp, niemand darf wissen, wer wir sind,“ sagte Harald eindringlich. „Auch Davis nicht. Wir heißen Halper und Shmits.“

„Gut. Halper und Shmits. – Ich werd’ Euch was zum Essen bringen, Jung’s. Bin gleich wieder da.“

Sie eilte hinaus.

„Ein Original,“ meinte Harald. Dann sah er sich im Zimmer um.

Alles war peinlich sauber. Links führte eine Tür in das Nebenzimmer. Sie war durch einen Schrank verstellt und mit dicken Decken verhängt.

Gleich darauf kam Mutter Flepp mit einem Riesenteebrett, auf dem allerlei gute Sachen standen.

Wir hatten Hunger und machten uns sofort darüber her. Unsere Verbündete setzte sich zu uns.




[10]
2. Kapitel.
Der vielseitige Albemarle.

„Hast Du denn gar nichts bemerkt, Mutter Flepp?“ fragte Harald in vorsichtigem Flüsterton. „Bessie muß doch mit irgend jemand in letzter Zeit vertrauter gestanden haben. Hat ihr nicht dieser oder jener Deiner Gäste stärker den Hof gemacht?“

Sie schüttelte den Kopf, holte aus der Tasche eine Photographie hervor und hielt sie uns hin.

„Das ist meine Bessie, mein einziges Kind. Für sie hab’ ich als Witwe mich hier mit dem verfluchten Matrosenvolk herumgeärgert. Für sie habe ich gespart. Zweiundzwanzig ist sie alt, war in England zwei Jahre in Pension –“

„Halt,“ meinte Harst. „Sie war stets sehr ablehnend Männern gegenüber, erzählte Davis uns.“

„Das stimmt. Sie galt für hochmütig. In der Kneipe war sie nie zu sehen. Sie hatte die Küche unter sich, und sie war fleißig und kochte großartig.“

„Wann kehrte sie aus England zurück?“

„Vor acht Monaten.“

„Und sie hatte hier keinen Verehrer, Mutter Flepp?“

„Verehrer?! Jung’, bei der hätt’st Du nicht mal Glück gehabt.“

„Sie kann dann doch aber unmöglich mit einem Manne durchgebrannt sein, Mutter Flepp?!“

„Es ist so. Sie ist ja gesehen worden. Sie war Montag abend in das Gayty-Theater gegangen. Es gab so’n modernes Stück. Zufällig war Käp’ten Dobbler auch da.“

„Wer ist Dobbler?“

„Der Eigentümer und Kapitän des Motorschleppers „London“, ein Freund meines seligen Mannes. Und dieser Dobbler hat beobachtet, wie Bessie nach dem zweiten Akt mit einem Herrn, der neben ihr gesessen hatte, hinausging. Sie kam auch nicht wieder. Sie hat sich eben von diesem Unbekannten umgarnen lassen und – na, – seitdem ist sie eben weg.“

Harald schob den Teller beiseite und besichtigte die Photographie.

Diese Bessie Flepp war wirklich ein hübsches Mädchen. [11] Sie sah geradezu vornehm aus. In ihrem Gesicht war ein Zug von hochmütiger Verschlossenheit.

Harald steckte die Kabinettphotographie zu sich. „Du gestattest doch, Mutter Flepp. Ich werde das Bild brauchen,“ sagte er kurz. Dann fragte er: „Wer wohnt dort neben uns?“ Und er zeigte auf die verstellte Tür.

„Der Steuermann einer französischen Jacht.“

„Jacht?“ Etwa die, die unweit der Atlanta am Kai liegt?“

„Ja, die französische Jacht „Mohalla“, einem Monsieur James Goorb gehörig. Goorb, ein alter Herr, treibt sich im Lande herum. Die Besatzung hat er bis auf drei Mann beurlaubt. Zwei Leute sind als Wache an Bord, und der Steuermann Malcolm wohnt hier. – Weshalb fragst Du nach der Mohalla, Jung’?“

„Ich frage immer sehr viel, Mutter Flepp. Das liegt so bei uns im Beruf. – Ist einer der Leute von der Mohalla ein kleiner pockennarbiger, bärtiger Kerl mit goldenen Ringen in den Ohren?“

„Stimmt, Jung’. Das ist der eine Mann der Wache. Er heißt Brigham und ist Schotte.“

„So so – Ob der Steuermann Malcolm jetzt nebenan auf seinem Zimmer ist?“

„Nein, Harst, – da ist er nicht. Der Brigham holte ihn vor anderthalb Stunden aus der Kneipe unten weg. Sie hatten’s mächtig eilig, die beiden. Seitdem ist Malcolm noch nicht zurückgekehrt.“

„Mutter Flepp, hast Du Bessies Zimmer ordentlich durchsucht? Vielleicht könnte man dort etwas finden, das Aufschluß über den Herrn gibt, mit dem sie das Gayty-Theater verließ.“

„Dort findest auch Du nichts, Jung’. Ich hab’ alles um und um gekehrt. – Hm, nur etwas möchte ich Dir zeigen. Es lag auf Bessies Schreibtisch unter dem Marmorschreibzeug.“

Sie faßte in die Tasche und reichte Harst eine Spielkarte, und zwar eine Karo-Sieben.

„Es fiel mir auf,“ erklärte Mutter Flepp[3] weiter, „daß Bessie diese Karte dort versteckt hatte. Sonst hätte ich das Ding gar nicht beachtet. Ich habe die Karte auch Inspektor Davis schon gezeigt. Der lachte aber und wollte sie zerreißen.“

Harald erhob sich und trat unter die elektrische Hängelampe, [12] besichtigte die Karte und schob sie dann ebenfalls in die Tasche.

„Du hast doch nichts dagegen, Mutter Flepp?“ meinte er.

„Ne, Jung’, – wenn Du nur die Bessie wiederbringst. Ich hab’ doch nicht deshalb jeden Pfennig gespart, daß sie nun womöglich irgend einen hergelaufenen Kerl heiratet! Ich hab’ ihr immer gesagt: Bessie, ich bin reich, Du kannst ’ne feine Partie machen!“

„Du hattest wohl schon einen Schwiegersohn in Aussicht, Mutter Flepp?“

„Und ob, Harst, und ob! Schon seit vier Jahren. Ein feiner Mann, ein Lord!“

„Was Du sagst – ein Lord!“

Sie lächelte geschmeichelt. „Ja, Lord Albemarle, früher Oberst in der Kolonialarmee.“

„Wohnt er hier in Madras?“

„Ja, seit fünf Jahren. Er ist in Bessie sehr verliebt. Sie könnte längst seine Frau sein. Schon bevor ich sie nach England in das Pensionat schickte, hätte sie sich mit dem Lord verloben können. Er ist sehr reich. Freilich, mit dem Alter paßt das nicht ganz. Er ist um die Fünfzig herum.“

Harald hatte sich eine Zigarette angezündet.

„Wo war Bessie in Pension, Mutter Flepp?“

„In Liverpool bei Miß Allins. Das vornehmste Töchterpensionat in Liverpool.“

„Gut, Mutter Flepp. Vorläufig weiß ich genug. Wir werden jetzt noch ausgehen. Gibt es eine Möglichkeit, unbemerkt ins Haus zu gelangen?“

„Ja, folgt mir nur.“

Wir schlossen das Zimmer ab. Wir ahnten nicht, daß wir es nicht wieder betreten sollten.

Mutter Flepp brachte uns über eine Seitentreppe auf den Hof und von hier durch einen überdachten Gang zwischen Grenzmauer und Haus an eine kleine Eisentür, die durch die Mauer auf eine Seitengasse führte. Sie gab uns den Schlüssel zu der Eisentür und zeigte uns, wo wir ihn draußen verbergen sollten. – Wir verabschiedeten uns von ihr mit kräftigem Händedruck. Sie rief uns noch leise nach: „Auf Geld kommt’s nicht an, Jung’s! Bringt mir nur die Bessie wieder!“

Die Hafengasse hier war völlig finster. Wir tappten nach dem Kai hinab.

[13] „Ich fürchte, die Bessie wird nicht zurückkehren und erst recht nicht den Lord heiraten,“ meinte Harst. „In Liverpool war sie in Pension. Da kann sie so leicht einen schmucken Seemann kennengelernt haben! – Mutter Flepp ist nicht so harmlos, wie sie scheint. Sie hat Bessie offenbar zu diesem Schritt gezwungen. Sie will, daß das junge Mädchen den Lord um jeden Preis heiratet –“

Er schwieg plötzlich. Er hatte noch mehr sagen wollen. Seine Hand krallte sich um meinen Arm.

„Da – da – der Mann mit den Ohrringen,“ flüsterte er. „Und – neben ihm –“

„Ja – was gibt’s denn? So sprich doch!“

Ich sah die beiden Gestalten, die dort an einem Haufen Fässer im Lichtschein einer der Bogenlampen standen. Gewiß – einer der beiden Leute war der Matrose Brigham, war der Spion, der uns auf dem Bahnhof beobachtet hatte.

Den anderen kannte ich nicht. Es war ein Herr mit grauem Spitzbart, der einen weißen Flanellanzug von etwas sehr jugendlichem Schnitt trug, dazu Lackschuhe mit weißen Gamaschen, einen Panamahut und – einen Kragen von beängstigender Höhe. – Kurz – es war der Typ des Lebegreises, der unbedingt noch jugendlich wirken will.

Die beiden waren keine zwanzig Schritt von uns entfernt. Wir befanden uns im Schatten. Sie standen in strahlender Helle.

„Lord Albemarle,“ flüsterte Harst. „Kein Zweifel, es ist Albemarle. Ich besinne mich jetzt genau auf sein Gesicht. Sehr genau. Man findet ihn jede Woche in indischen Sportzeitungen abgebildet. Der Mann macht alles. Es gibt keinen vielseitigeren Menschen wie Albemarle.“

Nun erinnerte auch ich mich an den Namen Albemarle.

Robert Albemarle, der Pferdezüchter, der Rennstallbesitzer und Autofex, – ich weiß Bescheid!“ meinte ich.

„Da – er zieht sein Portefeuille,“ flüsterte Harald wieder.

„Brigham lehnt das Geld ab –“

„Sie treten in den Schatten des Fässerstapels. Warte hier auf mich –“

Im selben Moment begann Harst auch schon ein bekanntes Matrosenlied zu gröhlen und torkelte, scheinbar schwer trunken, um die Ecke und den Weg an den Häusern entlang.

Sein Gesang wurde bald schwächer, verstummte ganz.

[14] Ich ahnte, was er vorhatte. Er wollte die beiden belauschen.

Zehn Minuten verstrichen. Albemarle und Brigham standen noch immer dort hinter den Fässern. Ich war aufs höchste gespannt, was Harald ausrichten würde. Ich konnte mir gar nicht denken, daß es ihm gelingen sollte, so nahe an die beiden heranzukommen, um auch ganze Sätze ihres doch fraglos sehr leise geführten Gesprächs mit anhören zu können.

Jetzt löste sich dort aus dem Dunkel die helle Gestalt des Lords heraus. Er ging sehr eilig davon. Brigham entfernte sich nach der anderen Seite – dorthin, wo die Jacht Mohalla am Kai lag.

Gleich darauf taumelte Harald leise singend auf mich zu.

„Ihm nach – aber einzeln!“ rief er halblaut. „Jetzt wird die Sache interessant –“

Er schritt weiter, torkelte immer weniger, setzte sich in Trab.

An der Ecke der Bond-Street hielt ein Auto. Lord Albemarle wollte gerade einsteigen, als Harst neben ihm auftauchte. Ich war nur drei Schritte zurück.

„Mylord, ein armer Seemann bittet um eine milde Gabe,“ grunzte Harald, noch ganz atemlos.

Der Lord musterte ihn, griff in die Tasche und gab ihm eine Münze.

„Schicken Sie das Auto weg,“ flüsterte Harst. „Wir wissen, wo Bessie Flepp ist –“

Der Chauffeur, ein Inder, konnte nicht verstehen, was sein Herr und der Seemann verhandelten.

„Wer sind Sie?“ fragte Albemarle ebenso leise.

„Harald Harst –“

Der Lord fuhr zusammen.

„Harald Harst?! – Ach – Sie sind der Atlanta wegen hier –“

Dann befahl er dem Chauffeur, ihn vor dem Hotel Imperial zu erwarten. Das Auto schoß davon.

Wir drei bogen in die Anlagen ein.

„Setzen wir uns,“ meinte Harald und wies auf eine Bank, die von einer der Laternen nur halb beleuchtet wurde.

Albemarle hatte die rechte Hand in der Jackentasche.

„Beweisen Sie mir, daß Sie Harst sind,“ sagte er kurz. Er war mißtrauisch. In der Tasche steckte sicherlich eine Waffe.

[15] „Mylord, meine Muttersprache mag Ihren Argwohn zerstreuen.“ Er hatte deutsch gesprochen.

Albemarle reichte ihm die Hand. „Das genügt mir, Master Harst.“ Dann gab er auch mir die Hand.

Wir setzten uns.

„Ich habe von Ihrem Gespräch mit Brigham genug verstanden, Mylord,“ begann Harald sofort, „um daraus den Schluß ziehen zu können, daß Sie die Jacht Mohalla mit Bessie Flepps Verschwinden in Zusammenhang bringen. Sie haben Brigham schließlich 5000 Pfund geboten, wenn er Ihnen alles mitteilen[4] würde. Er behauptete, er wüßte nichts, und er blieb dabei, obwohl 5000 Pfund doch ein Vermögen sind. Sie gingen dann auseinander, indem Sie Brigham drohten, die Mohalla polizeilich durchsuchen zu lassen. Der Matrose lachte dazu.“

„So war’s,“ meinte Albemarle. „Ich will Ihnen auch kurz berichten, wie die Dinge liegen, Master Harst. Ich gebe zu, daß ich Bessie Flepp über alles liebe. Man spöttelt hier in Madras über diese meine Leidenschaft. Ich bin aber anderseits auch kein so blinder Narr, daß ich Bessie gegen ihren Willen zu einer Ehe zwingen würde. Vielleicht haben Sie den Verdacht gehabt oder haben ihn noch, daß ich Bessie entführen ließ.“

„Ich hatte ihn, Mylord –“

„Nun gut. Sie werden Ihren Irrtum eingesehen haben. Die Sache ist die. Ich habe Bessie beobachten lassen, schon als sie in Liverpool war. Sie hat dort einen Steuermann kennengelernt, der zu der Besatzung der Atlanta Lord Blackmoores gehört. Der Mann heißt Melkope – Thomas Melkope. Ein hübscher Bursche, ohne Frage. Ich weiß weiter, daß dieser Melkope hier in Madras mit Bessie heimlich Briefe wechselte. Die beiden waren stets sehr vorsichtig, denn mit Mutter Flepp ist nicht zu spaßen. Sie hätte Bessie eine Verlobung mit dem Steuermann nie erlaubt und sie sofort enterbt. Am Montag abend beobachtete mein Beauftragter –“

„Also ein Privatdetektiv,“ warf Harst ein.

„Ja – ein Detektiv namens Britton im Gayty-Theater, wie Bessie von einem Fremden mit blondem Vollbart – also nicht von Melkope – angesprochen und hinausgeführt wurde. Sie gingen sehr hastig. Britton kam zu spät. Das Pärchen war im Auto schon davongefahren. Britton vermutete, daß [16] Bessie und der Fremde, den der Detektiv noch nie in Madras gesehen hatte, die Atlanta aufsuchen würden. Er eilte zum Westkai hinab und verbarg sich dort, um die Atlanta nicht aus den Augen zu lassen. Es regnete stark. Gegen Mitternacht tauchte dicht am Bollwerk der Matrose Brigham auf und unterhielt sich mit der Deckwache der Atlanta. Die beiden Matrosen, die auf der Atlanta die Wache hatten, lehnten an der Reeling. Brigham trank wiederholt aus einer Flasche, ließ dann auch die beiden anderen trinken. Nach einer Weile entfernte er sich. Britton war auf ihn argwöhnisch geworden und folgte ihm. Er kannte Brigham damals noch nicht. Er sah, daß der Mann mit den goldenen Ohrringen das Deck der Mohalla betrat und im Niedergang des Achterschiffes verschwand. Da auf der Mohalla keine Wache aufgestellt war, kroch der Detektiv an Bord and versuchte, durch das Oberlichtfenster des Kajütaufbaus in den Salon der Jacht hinabzusehen, der hell erleuchtet war. Die Oberlichtfenster waren zum Teil offen. Britton hörte, wie jemand sagte:

„Master Goorb, Sie können überzeugt sein, daß sie’s waren. Alles ist in Ordnung. Die Atlanta geht sofort in See.“

Britton wußte nun, daß der Besitzer der Mohalla, ein Franzose James Goorb aus Marseille, angeblich im Innern irgendwo weilte. Nun hatte er den Beweis, daß dies nicht stimmte. Goorb befand sich auf der Mohalla. – Er hörte noch, wie Goorb befahl: „Haltet den Motorkutter bereit!“

Dann mußte Britton seinen Lauscherposten verlassen. Eine halbe Stunde später fuhr die Atlanta bei strömendem Regen davon. Von der Mohalla aber entfernte sich der zu dieser Jacht gehörige gedeckte Motorkutter. Wer drin war. konnte Britton nicht feststellen.“




3. Kapitel.
Wir lernen James Goorb kennen.

Albemarle schwieg eine Weile und fügte hinzu: „Das ist alles, Master Harst.“

„Weshalb haben Sie Ihre Kenntnis dieser Einzelheiten der Hafenpolizei gegenüber verschwiegen, Mylord?“ fragte Harald nun.

[17] „Weil ich mich nicht noch lächerlicher machen wollte! Nur deshalb. Sollte ich der Polizei verraten, daß ich Britton Bessies wegen beschäftigte?!“

„Nun gut, Mylord. Es schadet jetzt nichts, daß Sie schwiegen. – Wo befindet sich Britton?“

„Er beobachtet die Mohalla.“

„Hat er Neues in Erfahrung gebracht?“

„Nichts. Nur das eine, daß tatsächlich nur drei Mann die Jacht bewachen, der Steuermann Malcolm und Brigham und noch ein Matrose.“

„Aus der Geschichte wird kein Mensch klug,“ meinte Harald.

„Das sagt Britton auch, Master Harst.“

Harald begann zu rauchen. Der Lord bot mir eine Zigarre an. Als ich ihm das Feuerzeug hinhielt, fragte er:

„Was nun, Master Harst.“

Harald blieb stumm. – Ich flüsterte Albemarle zu: „Stören Sie ihn nicht, Mylord –“

Harst sprang plötzlich auf. „Ich muß Britton sprechen. Wo ist er zu finden?“

„Er steckt in einer leeren Kiste gegenüber dem Liegeplatz der Mohalla.“

„Mylord, besitzen Sie eine Jacht?“

„Welche Frage! Natürlich! Die schnellste Motorjacht der ganzen Ostküste. Mein Meteor ist berühmt.“

„Geben Sie sofort Befehl, daß die Jacht jeder Zeit reisefertig ist.“

„Oh – das ist sie, Master Harst. Sie liegt im Jachthafen des hiesigen Jachtklubs.“

„Dann gehen Sie an Bord und erwarten Sie uns dort. Lord Blackmoore nebst Gattin wohnen im Imperial. Wecken Sie sie und nehmen Sie sie mit auf den Meteor. Aber ohne jedes Aufsehen. Am besten geschieht das alles heimlich. Ich vermute, daß die Mohalla sehr bald in See stechen wird. Wir müssen ihr dann auf den Fersen bleiben.“

Wir trennten uns nun.

Eine Viertelstunde später umschlichen wir einen Stapel leere Kisten, der auf dem Kai gegenüber der Mohalla lag. Unterwegs zum Hafen hatte ich Harald gefragt, ob er nun bereits eine Lösung all dieser seltsamen Ereignisse gefunden hätte, worauf er erwiderte: „Du verlangst zu viel, mein Alter. Wenn Du Dir das, was wir jetzt wissen, genau überlegst, stößt Du [18] überall auf Widersprüche. Ich hoffe aber, daß die Karo-Sieben einiges klären wird.“ –

Harald pochte hin und wieder an eine der Kisten an und rief leise: „Britton – Albemarle schickt uns.“

Niemand meldete sich. Dann kamen wir an eine ganz große Kiste, die etwas abseits lag. Wieder rief Harst. Und jetzt erhielten wir Antwort.

„Was gibt’s?“

Zu unserem Erstaunen hob sich dann der eine Seitenteil der Kiste, der oben Scharniere haben mußte.

„Schnell hinein zu mir,“ flüsterte der Detektiv.

Harald versetzte mir einen leichten Stoß in die Rippen. Das hieß: „Achtung!“

Die Kiste war sehr lang und vielleicht 11/4 Meter hoch.

Harald kroch voran. Ich hielt den Seitendeckel hoch. Dann folgte ich Harst – mit recht gemischten Gefühlen. Ich ahnte schon, daß hier etwas nicht stimmte.

Es war auch so. Kaum war der Deckel hinter mir zugefallen, als der andere Seitenteil gelüftet wurde und blitzschnell ein Mensch hinausschoß. Dann kippte die Kiste um, stand nun auf dem einen Deckel. Wir beide rutschten übereinander, lagen nun mit den Köpfen nach unten in dem großen Kasten.

Hammerschläge dröhnten über uns. Und abermals kantete man die Kiste um, so daß wir auf die Füße zu stehen kamen.

„Schießen!“ raunte ich Harst zu. „Schießen! – Da – die Kerle nageln auch den anderen Deckel zu –“

„Meinetwegen. Dann schieße aber bitte in die Erde. Tu’s nur. Es sieht auch echter aus.“

„Was heißt das?“

„Daß ich ganz einverstanden bin, auf die Mohalla geschleppt zu werden, mein Alter –“

Ich holte die Clementpistole hervor, drückte zweimal ab.

Die Kiste wurde schon angehoben. Man rannte im Trab mit uns davon. Mit einem Male ein harter Stoß, noch einer. Wir flogen mit den Köpfen gegeneinander.

Dann stand unser Gefängnis still. Und eine Stimme sagt sehr laut in tadellosem Englisch:

„Wenn Sie nochmals schießen, haben Sie auf Schonung nicht zu rechnen!“

„Sie auch nicht,“ erwiderte Harst. „Ich möchte Ihnen [19] nur erklären, daß die Mohalla sofort von der Hafenpolizei durchsucht werden wird.“

Ein helles Lachen folgte. Es war fast, als ob eine Frau lachte.

„Die Polizei kommt zu spät. Die Mohalla geht in See,“ sagte eine andere Stimme, die sehr rauh und sehr verstellt klang. „Wir wissen, wer Sie beide sind. Mit Leuten Ihres Schlages werden wir noch jederzeit fertig. Werfen Sie die Pistolen aus der Kiste. Ich werde den Deckel etwas lüften lassen. Gehorchen Sie nicht, dann gießen wir Chloroform in den Kasten.“

Harald drückte mir den Arm.

„Ein Weib!“ hauchte er. „Sollte das Bessie sein?!“

Er rief dann ganz laut:

„Gut, wir gehorchen –“

Als wir unsere Waffen auf dieser Weise losgeworden waren, hob sich der eine Deckel vollends, und dieselbe unnatürlich rauhe Stimme befahl:

„Kommen Sie heraus!“

Wir krochen hervor, richteten uns auf. Wir befanden uns in einem Salon, wie er eleganter kaum eingerichtet sein konnte. Uns gegenüber saß in einem Lederklubsessel ein älterer Herr in blauem Jackenanzug. Sein grauer Spitzbart und das graue, gescheitelte Haar paßten nicht recht zu dem schmalen, tiefgebräunten, aber faltenlosen Gesicht.

Der Herr hielt in der Rechten eine unserer Pistolen, winkte uns zu und deutete auf die Kiste.

„Setzen Sie sich dort hinauf. Ich schieße sofort, wenn einer von Ihnen sich mir nähert,“ sagte er drohend.

Wir taten wie befohlen. Wir waren mit diesem etwas merkwürdigen Herrn ganz allein im Salon.

„Master Harst,“ begann er dann, „Sie hätten besser getan, sich nicht in diese Sache einzumischen. Sie werden es bereuen.“

Wir merkten, daß die Jacht bereits auf der offenen Reede sein mußte. Sie schwankte immer stärker. Wir hörten auf Deck mehrere Leute hin und her laufen.

Harst musterte den Unbekannten eine Weile.

„Miß Bessie Flepp,“ sagte er dann lächelnd, „Sie werden doch einen Harald Harst nicht über Ihr wahres Geschlecht täuschen wollen?!“

[20] Die Verkleidete stampfte sehr temperamentvoll mit dem Fuße auf.

„Ich bin nicht Bessie Flepp!“ rief sie, immer noch die Stimme verstellend. „Ich bin der Besitzer der Mohalla, bin James Goorb!“

„Angenehm!“ meinte Harst mit ironischer Verbeugung. „Also James Goorb! Ganz interessant, die Geschichte wird immer verzwickter. Daß noch eine zweite Frau hier mit im Spiel ist, macht die Sache weit komplizierter. Auf den Vornamen James haben Sie jedenfalls keinen Anspruch, Miß oder Mistreß Goorb. James müßte ein Mann sein, und Sie sind kein Mann.“

Die Verkleidete sprang auf und legte auf Harst an.

„Sie sind verrückt! Noch niemand hat –“ – Sie schwieg plötzlich.

Eine der vier Türen des Salons war aufgerissen worden. Der Matrose Brigham steckte den Kopf herein.

„Master Goorb – einen Augenblick!“

Die maskierte Frau winkte ihm. Sie behielt uns scharf im Auge, während sie mit Brigham nun erregt flüsterte. Dann gab sie Brigham die Pistole und ging eilends hinaus. Der Matrose setzte sich in denselben Sessel. Sein pockennarbiges Gesicht suchte zuerst eine höhnisch-triumphierende Miene anzunehmen. Aber unter Harsts dringendem Blick wurde Brigham immer unruhiger.

„Brigham, das kostet verschiedene Jahre Zuchthaus,“ sagte Harald dann sehr langsam. „Sorgen Sie dafür, daß wir nachher in eine Kabine gebracht werden, in der man uns nur so bewacht, wie es Gentlemen zukommt. Ich werde dann später für Sie ein gutes Wort einlegen.“

Der alte Matrose probierte ein ironisches Auflachen. Aber es geriet ihm nicht. Sein Gesicht wurde zur Fratze, aus der man als stärkste Seelenempfindung Angst herauslesen konnte. Er schaute zu Boden.

Es wäre ein leichtes gewesen, ihn zu überrumpeln. Aber Harst verfolgte offenbar andere Absichten.

Gleich darauf trat James Goorb wieder ein. Abermals flüsterte diese verkleidete Frau, die unmöglich alt sein konnte, mit Brigham ebenso leise wie vertraulich. Der Matrose schien ihr einen Vorschlag zu machen. Sie sträubte sich erst. Dann nickte sie widerwillig, gab Brigham die andere Clementpistole, [21] die sie in der Jackentasche hatte, und rief uns mit derselben rauhen Stimme zu: „Wir werden Sie beide in einer Kabine unterbringen. Gehen Sie voraus durch jene Tür. Sie deutete auf dieselbe Tür, durch die Brigham vorhin erschienen war.

Hinter dieser Tür lag ein Gang, der ebenfalls durch elektrische Deckenlampen erleuchtet war. An der Seite befanden sich drei Kabinentüren. Wir mußten in die letzte rechter Hand hinein.

Die Tür schlug hinter uns zu. Ein Schlüssel wurde umgedreht. Der Knall der zufallenden Tür hatte einen ganz besonderen Klang. – Wir standen im Dunkeln. Harald fand dann den Lichtschalter. Die Deckenlampe flammte auf.

Rechts und links an der Wand je ein Kojenbett. Geradeaus an der Schiffswand ein Schrank und ein einfacher Schreibtisch. Neben der Tür ein Waschtisch und ein kleinerer Schrank. Dazu drei kleine, weißlackierte Rohrsessel. In der Schiffswand zwei runde Fenster, sogenannte Bullaugen. – Das war unser Kerker auf der Mohalla.

Harald untersuchte die Tür. „Eisen!“ sagte er kurz. Dann setzte er sich an den Schreibtisch, holte sein Zigarettenetui hervor und hielt es mir hin.

„Bediene Dich. Wir müssen uns darüber schlüssig werden, wie wir uns zu diesem merkwürdigen James stellen wollen.“

Ich nahm neben ihm Platz. Er rauchte eine Weile und starrte vor sich hin. Inzwischen hatte ich mir über Lord Robert Albemarle bereits mein Urteil gebildet.

„Albemarle hat uns hineingelegt!“ platzte ich jetzt heraus. „Er hat Bessie doch entführen lassen. Er schickte uns zu dem Stapel Kisten, damit man uns dort festnehmen konnte. Vielleicht gibt es gar keinen Detektiv Britton.“

„Hm – ich glaube doch, mein Alter. Wenn Du genau hingesehen hättest, wäre Dir aufgefallen, daß von den sechs Türen des Kabinenganges draußen zwei einen besonderen, frischeren Anstrich hatten und daß nur in diesen Türen die Schlüssel von außen steckten. Die eine dieser Türen ist die unsrige, und die zweite die der Nachbarkabine. – Gib mal acht –“

Er pochte leise an die Verbindungswand. Diese bestand aus dunkelgebeiztem Mahagoniholz, das durch Leisten und Rillen in Felder geteilt und verziert war. – Er pochte in ganz bestimmten Zwischenräumen. Dann erfolgte Antwort – drei Klopftöne. Nun dauerte es nicht lange, bis Harst mit [22] dem Mann drüben sich durch diese Klopfzeichen verständigen konnte. Als er den Namen Britton hinübertelegraphierte, erfolgte als Antwort ein „Ja“. Dann depeschierte Harst unsere Namen:

„Schraut und Harst.“

„Erfreut. Mohalla Piratenschoner,“ war die Antwort.

„James Goorb Weib,“ fragte Harald an.

„Ja. Im übrigen keine Ahnung.“

„Wir nicht viel mehr. Schluß vorläufig.“ –

„Na,“ meinte Harst, „nun wirst Du wohl einsehen, daß Lord Albemarle harmlos ist. Ich wußte es gleich. Ich habe ja Albemarle und Brighams Gespräch belauscht. Diese Unterhaltung hätte sonst ja Komödie sein müssen. Und – das war sie nicht. Das merkte ich. – Nein, Albemarle hat uns in nichts betrogen.“

Harald hatte am Schreibtisch Platz genommen. Ich saß neben ihm. Er zog jetzt die Spielkarte, die Karo Sieben, aus der Tasche und legte sie vor sich hin.

Das Kartenblatt war nur wenig zerknüllt, obwohl Mutter Flepp es doch frei in der Tasche getragen hatte.

„Bitte,“ sagte Harald. – Das hieß, ich solle es[5] mir ansehen.

„Du hast es ja selbst kaum erst flüchtig betrachtet,“ meinte ich.

„Es genügte,“ erklärte er und kniff lächelnd die Augen etwas zusammen. „Mutter Flepp fehlen die Detektivblicke. Du bist ja Detektiv, mein Alter. Also – los!“

Ich nahm die Karo-Sieben und tat mit ihr alles, was ein Mann vom Fach in solchen Fällen zu tun pflegt. Ich mühte mich zehn Minuten ab. Ich fand nichts.

„Rückseite!“ half Harald mir da.

Rückseite?! – Die hatte ein grün und braun gestreiftes Muster. Ich hatte auch dieses Muster sehr genau besichtigt.

„Halte die Karte schräg gegen das Licht,“ meinte Harst. – Auch das hatte ich getan.

„Du glaubst, daß die Reihen von Punkten, die sich durch das Muster ziehen, mit dazu gehören,“ fügte Harald hinzu. „Das ist nicht der Fall. Die Punkte sind nachträglich mit einer Feder und brauner und grüner Tusche hergestellt. Ihnen fehlt der Glanz des übrigen Musters. Sie heben sich als matte Pünktchen ab. Schau’ sie nur genau an, und Du merkst, daß [23] sehr oft ein grüner Punkt auf den braunen Streifen und umgekehrt steht. Wenn die Punkte eine Geheimschrift darstellen, so kann es nur eine solche sein, die etwa durch die Morsezeichen zu lösen ist. Probieren wir, ob etwa der grüne Punkt soviel wie Strich und der braune soviel wie „Punkt“ des Morsealphabets bedeutet –“

Er nahm Papier und Bleistift aus seiner Brieftasche und sah sich nach einer Schreibunterlage um. Links auf dem Schreibtisch lagen mehrere englische Zeitungen, – Morning Post, Standard, Times, und als einzige französische die Gazette de Marseille.

Er legte die Morning Post unter das Blatt Papier und begann die Geheimschrift zu dechiffrieren. Währenddessen hatte ich die Zeitungen zur Hand genommen. Die Nummern waren recht alt, einige über drei Jahre. Ich blätterte den Standard durch. Mit einem Male stutzte ich. Da war ein Artikel rot angestrichen:

„Die Hochzeitsfeier Lord Percy Blackmoores mit Lady Shairfield, die gestern auf dem Schlosse des Brautvaters in Schottland stattfand, erlitt eine unangenehme und peinliche Störung dadurch, daß sich eine Dame, die an Lord Blackmoore ältere Rechte zu haben glaubte, in die Schloßkapelle eingeschlichen hatte und während der Trauung plötzlich vom Chor herab dem Bräutigam eine furchtbare Drohung zurief. Fraglos hätte sie diese auch wahr gemacht, wenn nicht ein Zuschauer ihr den Revolver entrissen hätte. Die Dame ist im übrigen in ganz England als die exzentrischte Frau dieses Jahrhunderts geradezu berüchtigt. Ihr nach einigen Dutzend von Millionen zählendes Vermögen erlaubt ihr, jede ihrer tollen Launen –“

„Ich hab’s!“ rief Harald da. „Ich hab’s! Hör’ zu, was die Karo-Sieben verrät:

„Braxler will Montag bestimmt morgens zurück.“ Na, mein Alter, was sagst Du nun?“

„Ich – ich sage gar nichts, denn ich verstehe diese Mitteilung nicht,“ erklärte ich achselzuckend.

„Mitteilung – sehr richtig! Mutter Flepp wird Bessie sehr scharf überwacht haben. Deshalb hatte das Pärchen einen Briefwechsel mit Hilfe von Spielkarten ersonnen. Steuermann Melkope, der Verehrer Bessies, wird auf diese Idee gekommen sein. Solche Karten kann man irgendwo verstecken, etwa in der Kneipe, und der andere holt sie sich dann. Wird so eine Karte [24] zufällig gefunden, so ahnt niemand, was eigentlich dahinter steckt. Diese Karo-Sieben besagt folgendes. „Braxler will“, das heißt, der Kapitän der Atlanta ist mit irgend etwas einverstanden. „Montag bestimmt“, das heißt, Montag nacht (wie geschehen), handeln wir wie schon verabredet. „Morgens zurück“ kann nur bedeuten, daß die Atlanta ein Stück in See gehen wollte, womit Braxler einverstanden war, und morgens sollte die Atlanta wieder am Kai liegen.“

Ich schüttelte den Kopf. „Bitte – sie ist aber nicht zurückgekehrt,“ meinte ich zweifelnd.

„Von dem internationalen Seerecht hast Du wenig Ahnung, mein Alter. Jeder Kapitän eines Handels- oder sonstigen Fahrzeugs darf unter bestimmten Umständen den Standesbeamten spielen. Ich bin überzeugt, daß Thomas Melkope und Bessie Flepp sich auf See haben trauen lassen wollen. Kapitän Braxler mag sich erst gesträubt haben. Dann war er einverstanden. Und der blondbärtige Herr, der Bessie aus dem Gayty-Theater abholte, wird Melkope in einer Verkleidung gewesen sein. Ein blonder Bart ist schnell befestigt, wenn man es versteht.“

„Nun ja – die Atlanta kehrte doch aber nicht zurück!“ sagte ich hartnäckig.

„Nein – weil inzwischen etwas geschah, womit weder Braxler noch Melkope rechnen konnten. Mir ist jetzt nur noch ein einziger Punkt unklar: der Grund!“

„Welcher Grund?“

„Weißt Du das wirklich nicht?! Ich bitte Dich: Denke doch mal an Brittons Beobachtungen in der verhängnisvollen Nacht und an das, was er durch die Oberlichtfenster erlauschte.“

Ich sann nach.

„Ah – die Atlanta wurde entführt, und der Matrose Brigham hat den beiden Wachen auf der Atlanta mit dem Schnaps, den er ihnen spendete, ein Schlafmittel verabreicht –“

„Sehr richtig. Und dieser weibliche Jachtbesitzer James Goorb ist mit dem Motorboot hinter der Atlanta dreingefahren. Britton sagte ja auch durch Klopfzeichen: „Mohalla Piratenschoner“. – Also auch er nimmt an, daß die Leute der Mohalla nicht harmlos sind.“

„Ja – aber James Goorb ist jetzt doch wieder hier auf der Mohalla?!“

„Stimmt. Das hängt eben mit dem Grund zu der Entführung [25] der Atlanta zusammen. Und diesen Grund kenne ich noch nicht. Jedenfalls wissen wir jetzt schon recht viel. Die Schleier lüften sich. Und der ängstlich gewordene Brigham wird –“




4. Kapitel.
Die Frau mit den goldenen Schuhen.

Harst und ich fuhren gleichzeitig empor.

Ein überlauter Knall und eine starke Erschütterung des Schiffes hatten uns hochgetrieben.

„Ein Geschützschuß,“ meinte Harald. „Er dürfte dem Meteor Lord Albemarles gegolten haben, als Signal zum Stoppen.“

„Meteor?“

„Natürlich, mein Alter.“ Harst setzte sich wieder. Du sahst doch, wie erregt Brigham vorhin im Salon der Jacht mit dem Weibe flüsterte. Man wird den Meteor bemerkt haben, der der Mohalla gefolgt ist. Und weil der Meteor der Jacht folgte, muß Albemarle irgendwie erfahren haben, daß man uns beide gefangen genommen hat.“

Oben auf Deck liefen eine Menge Leute hin und her. Aber ein zweiter Schuß wurde nicht abgefeuert.

Und ich nahm wieder Platz. Mir war der Kopf ganz wirr von all den Eindrücken der letzten Stunden. Ich konnte gar nicht daran glauben, daß die Mohalla ein Piratenschiff sein sollte.

Überhaupt – Piraten?! Gewiß, in den malaiischen und in den chinesischen Gewässern gab es noch hin und wieder farbige Seeräuber. Aber die Mohalla war doch ein elegantes Schiff mit Schonertakelung und Hilfsmotor! –

Harald hatte die Zeitung jetzt in der Hand, die ich vorhin durchgeblättert hatte.

Ich sah, wie er nun den Artikel über die gestörte Trauung Lord Blackmoores überflog.

Er legte das Blatt weg, nahm die anderen Zeitungen vor und vertiefte sich hie und da in eine Notiz.

Seine Stirn lag in Falten. Seine Augen waren ganz klein geworden. Ich merkte: er las nicht, nein, – nur seine [26] Augen suchten einen beliebigen Ruhepunkt. Er starrte unverwandt auf dieselbe Stelle der Zeitung.

„Wenn’s das wäre!“ murmelte er nun.

Und dann schlug er sich mit der flachen Hand vor die Stirn.

„Goorb – Goorb! Ich hätte sofort daran denken müssen,“ rief er. „Man ist eben noch immer nicht sorgfältig genug! Es wird mir eine Lehre sein!“ – Er wollte noch mehr hinzufügen. Die Tür wurde jedoch plötzlich aufgestoßen, und herein traten zwei Farbige, die nur mit Leinenhosen bekleidet waren. In den um die Hüften geschnallten Riemen steckten lange Dolche und hingen Revolvertaschen.

„Ihr sollt gefesselt werden,“ sagte der eine in schlechtem Englisch. „Der Tuwan befiehlt es.“ (Tuwan, Herr. Malaiischer Ausdruck).

Harald nickte nur. Wir standen auf. Der andere Farbige, dem Gesichtsschnitt nach ebenfalls ein Malaie, hielt einen Revolver schußbereit, während der erste uns mit dünnen Büffelriemen die Hände vor der Brust in sehr raffinierter Art so zusammenband, daß wir die Knoten einer dem anderen unmöglich aufmachen konnten, anderseits dadurch aber auch nicht gepeinigt wurden. Das Bestreben des Malaien, uns Schmerzen zu ersparen, war deutlich herauszumerken. – Dann verband er uns die Augen und führte uns auf Deck und das Fallreep hinab in ein Boot. Wir wurden hier auf eine Bank gedrückt. Benzindüfte umwehten uns. Ein Motor sprang an. Das Boot schoß davon. Die See ging ziemlich hoch. – Nach etwa einer Stunde brachte man uns wieder auf ein größeres Schiff und über eine schmale Treppe in eine winzige Kammer. Hier wurden uns die Tücher von den Augen entfernt. Wieder standen die Malaien vor uns. Der eine hatte eine Petroleumlaterne in der Hand.

„Wenn Ihr nicht zu entfliehen gedenkt, nehme ich Euch die Fesseln ab,“ sagte derselbe Sprecher von vorhin.

Harald schien zu überlegen. Dann erwiderte er:

„Wie lange sollen wir hier gefangen gehalten werden?“

„Das bestimmt der Tuwan.“

„Dann bestelle dem Tuwan, daß er sich vor mir inachtnehmen soll. Ich werde die Rache vernichten.“

Ich horchte auf. – Die Rache vernichten?! Was hieß das?

Der Malaie stand unschlüssig in der Kammertür.

[27] „Der Tuwan würde Euch sofort freilassen,“ meinte er zögernd.

„Unter welchen Bedingungen?“

„Daß Ihr schwört, Euch nie mehr mit der Mohalla oder dem Tuwan oder sonst einem der Besatzung irgendwie zu beschäftigen.“

„Das lehnen wir ab. Geh’ und sage das dem Tuwan. Ich werde ihn finden – später! Ich heiße Harald Harst!“

Der Malaie drückte die Tür zu. Wir waren im Dunkeln. Die Laterne hatte er mitgenommen. Wir hörten, wie zwei Riegel vorgeschoben wurden.

Bisher hatte mich dieses Abenteuer nicht sonderlich erregt. Jetzt aber begann ich diese Haft doch mit ernsteren Augen anzusehen. Zunächst aber fragte ich Harald:

„Was hieß das vorhin: „Ich werde die Rache vernichten“?“

„Mohalla ist ein malaiisches Wort und bedeutet Rache oder Vergeltung.“

„Ach – das also ist’s!“

„Ja – es ist eben Rache, mein Alter. Und die Hauptsache: jetzt weiß ich alles! Jetzt werde ich James Goorb beweisen, daß man mich nicht ungestraft derart behandelt.“

„Wer ist dieses verkleidete Weib?“ – In demselben Moment, wo mir diese Frage über die Lippen kam, dachte ich an die Notiz in der alten Nummer der englischen Zeitung in der Kabine der Mohalla, an die Notiz über die gestörte Hochzeit Lord Blackmoores.

Man wendet so oft die Redensart an, daß einem „die Erleuchtung blitzartig kommt.“

So war es jetzt bei mir in dieser Phrase vollster Bedeutung: ich dachte an die millionenreiche, exzentrische Dame, die vom Chor herab aus verschmähter Liebe den Lord mit dem Revolver bedroht hatte. – Konnte nicht diese Frau James Goorb sein?! Konnte nicht die Atlanta von diesem Weibe aus Rache entführt worden sein?! Hieß nicht die Schonerjacht dieser Frau Mohalla – Rache?!

„Harald,“ flüsterte ich, „James Goorb ist die Dame, die Lord Blackmoore erschießen wollte, als –“

„Aha!“ rief er leise. „Es beginnt zu tagen –!“

„Diese Frau hatte die Atlanta in ihren Besitz gebracht, um sich an Blackmoore zu rächen,“ fuhr ich fort.

„Stopp, lieber Alter! Ein logischer Fehler! – Was macht [28] es einem so reichen Lord aus, wenn man ihm seine Jacht stiehlt und vielleicht vernichtet?! Wird sich so eine Frau rächen, die den Lord einmal geliebt hat und der er dann doch eine andere vorzog?! Nein – niemals!“

Ich schwieg und grübelte.

„Dann – dann ist mir die Sache rätselhaft,“ meinte ich schließlich. –

Harald und ich hatten uns nebeneinander an die Rückwand der Kammer gelehnt. Es folgte eine lange Pause tiefsten Schweigens. Wir merkten, daß wir auf einem durch Maschinenkraft angetriebenen Fahrzeug uns befanden. Der Schiffsrumpf zitterte leicht.

Ich hielt dieses Schweigen nicht länger aus.

„Wo mögen wir jetzt sein, Harald?“ fragte ich. „Vielleicht gar auf der Atlanta?“

„Dasselbe nehme ich an. Wir werden –

Die Riegel wurden zurückgeschoben. Man leuchtete in die Kammer hinein. Es war das grellweiße Licht einer Acetylenlaterne, das uns geradezu blendete.

„Folgen Sie uns!“ sagte eine rauhe Stimme. Sie gehörte dem Matrosen Brigham.

Wir standen auf. Brigham ging voraus. Hinterdrein kamen die beiden Malaien.

Gleich darauf waren wir in einem so luxuriös eingerichteten Schiffssalon, daß der Salon der Mohalla dagegen als recht bescheiden bezeichnet werden mußte.

Und – wir waren hier mit James Goorb allein. – Die Verkleidete winkte. Wir setzten uns ihr gegenüber in zwei weiche Saffianleder-Klubsessel.

„Master Harst,“ begann die Frau wieder mit verstellter Stimme, „wenn Sie nicht das Versprechen abgeben, das ich Ihnen dem Inhalt nach bereits durch den Malaien mitteilen ließ, werden Sie ein volles Jahr Ihren selbsterwählten Beruf nicht ausüben können, das heißt, ich werde Sie an einem Orte gefangen halten, von wo es kein Entrinnen gibt. Ich verlange sofort eine Antwort. Überlegen Sie sich diese aber genau. Ich drohe wirklich nicht zum Scherz.“

„Oh, das weiß ich, Mistreß, das weiß ich –“

Sie schnellte hoch. „Mistreß – Mistreß?! Seien Sie nicht albern! Ich bin kein Weib!“

Harald lachte leise auf. „Das stimmt: ein Weib wird nicht [29] so leicht zum Kapitän eines Piratenschoners werden. Ein solches Weib ist nur dem Namen nach –“

„Genug!“ rief sie. „Genug! Ich verlange Antwort!“

„Nein!“ erklärte Harald kurz.

Die Verkleidete stampfte mit dem Fuße auf. Auch diese Äußerung des Ärgers war echt weiblich, war die Angewohnheit einer verwöhnten, launischen Frau. – Dann verließ sie den Salon durch die Tür nach der Treppe zu. Sofort traten die beiden Malaien ein und bewachten uns.

Wir blieben nicht lange allein. Uns standen noch ganz ungeahnte Überraschungen bevor.

Die andere Tür des Salons ging auf. Als erster erschien Lord Robert Albemarle, hinter ihm kam Lord – Blackmoore. Zuletzt Lady Blackmoore.

Die drei sahen bleich und verstört aus. Albemarle hatte uns kaum erblickt, als er auch schon in einem Anfall ohnmächtiger Wut brüllte:

„Ah – auch Sie, meine Herren, hier, auch Sie! Daß Sie auf die Mohalla geschleppt wurden, beobachtete Master Tousam, der Privatsekretär Blackmoores, den ich vom Hotel Imperial aus Ihnen nachgeschickt hatte. – Ich wollte –“

Der eine Malaie hatte auf Albemarle angelegt und drohte:

„Der Tuwan hat zu schießen befohlen! Schweig’!“

Albemarle und Blackmoore, ebenso die Lady waren nicht gefesselt. Man hielt sie für harmlos. Albemarle machte Miene, sich auf den Malaien zu stürzen. Aber Blackmoore hielt ihn zurück und zerrte ihn nach dem Wandsofa hin, neben dem unsere Sessel standen. Die Lady folgte ihnen mit verängstigtem Gesicht. Ihre Augen waren vom Weinen stark gerötet.

Wir fünf saßen nun schweigend da und warteten. Worauf? – Keiner von uns ahnte es.

Eine Viertelstunde mochte verstrichen sein, als die andere Tür aufging und – eine verschleierte, schlanke Frau eintrat.

Sie trug eine Gesellschaftsrobe, mattlila, reich mit Spitzen garniert, dazu einen Spangenschuh aus mattgoldenem Stoff. Auf den Schuhen blitzten und sprühten Diamanten. Ihr Gesicht war durch einen jener silberdurchwirkten Kaschmirschleier verhüllt, wie sie höchst selten in den Handel kommen. Dieser Schleier aber befindet sich jetzt in Haralds Raritätensammlung.

Sie schritt langsam bis in die Mitte des Salons, winkte [30] den Malaien, die sofort verschwanden, und zog den Schleier vom Gesicht.

Es war ein pikantes Frauenantlitz von eigenartigem Liebreiz. Es waren aber James Goorbs Augen, die sich jetzt fest auf Lord Blackmoore richteten.

Blackmoore schrie leise auf, hatte die Hände wie abwehrend erhoben.

Die Frau machte ebenso plötzlich kehrt und ging wieder hinaus.

Diese kurze Szene war wie ein seltsamer Spuk. Leider aber war das, was nun folgte, desto eindrucksvoller durch die Gebärden und die Mienen der Beteiligten.

Lady Blackmoore weinte und rief mit halb erstickter Stimme:

„Percy, wer war diese Frau?!“

Und Albemarle brüllte wieder in neu erwachter Wut:

„Blackmoore, ich verlange Aufschluß über –“

Percy Blackmoore war mit einem Male wie in einer Ohnmachtsanwandlung zusammengesunken und hatte die Stirn auf die Tischkante gestützt. –

Die Malaien erschienen. „Folgt uns!“ rief der eine dem Ehepaar und Albemarle zu. Dieser jedoch hatte schon einen Sessel gepackt und wollte ihn auf den Malaien schleudern. Im selben Moment erlosch das Licht im Salon.

Harald und ich hörten Albemarle fluchen, hörten noch ein Röcheln, einen Aufschrei Lady Blackmoores und ihres Gatten matte Stimme: „Ich wehre mich nicht. Meinetwegen könnt Ihr mich ersäufen –“

Das Licht flammte wieder auf. Wir waren wieder im Salon mit den beiden Malaien allein, die uns nun zurück in unsere Kammer brachten.




5. Kapitel.
Lady Anna Broog.

Wir erhielten Essen und Trinken. Man hatte uns auch die Fesseln wieder abgenommen. Vor der Kammertür lagen auf einer Matte beständig die beiden Malaien. Wir durften nicht sprechen. Als Harald dieses Verbot mißachtend mit mir [31] zu flüstern begann, warf der eine Malaie seinen Dolch haarscharf an Harsts Kehle vorbei in die Wand, wo die lange Waffe stecken blieb.

Nein – dieses Abenteuer wurde jetzt wirklich ungemütlich. Die Tür blieb offen. Und die Acetylenlaterne umhüllte uns ständig mit ihrem grellen Licht.

Ich sah nach der Uhr. Es war jetzt genau Mittagszeit. Noch neun Stunden beließ man uns in der Kammer. Dann wurden wir wieder gefesselt und mit verbundenen Augen in ein Boot geführt. Es war ein Motorboot. Über eine Stunde, so schätzte ich, fuhren wir auf einem Flusse entlang. Ich hörte Bäume rauschen, hörte das Gekreisch von Affenherden, hörte auch das Brüllen von Wasserbüffeln und den heiseren Schrei von Vögeln.

Das Boot hielt an. Man brachte uns über eine Laufplanke an Land. Man führte uns offenbar durch eine felsige Wildnis, ließ uns klettern, half uns über Hindernisse hinweg.

Dann ging es eine endlose Steintreppe abwärts. Es mußte ein Tunnel, ein Schacht sein, in dem die Treppe abwärts lief. Die Luft wurde kühler und kühler, dann wieder wärmer. Wir schritten nun über kahlen, ebenen Felsboden hin. Und abermals ging es eine Steintreppe aufwärts. Dann schienen wir am Ziel zu sein. Man nahm uns die Tücher wieder ab.

Vor uns standen die beiden Malaien und der Matrose Brigham.

„Master Goorb läßt Ihnen sagen,“ erklärte Brigham „daß es ihm sehr leid tut, Ihnen gegenüber Zwang anwenden zu müssen. Er macht Ihnen nochmals den Vorschlag, daß Sie beide –“

Harst winkte kurz ab. „Lassen Sie, Brigham. Jedes weitere Wort ist zwecklos. Sie werden die Suppe ausessen müssen, die Sie sich hier eingerührt haben.“

Der Pockennarbige blickte zu Boden. Ihm war offenbar nicht ganz behaglich zu Mute. – „Ich habe Ihnen dann zu eröffnen,“ erklärte er darauf recht kleinlaut, „daß jeder Fluchtversuch Sie das Leben kostet. Sie haben hier zwei Räume zur Verfügung. Am Tage werden Sie ein paar Stunden im Tale auf und ab gehen dürfen.“

Er nahm uns die Handfesseln ab. „So – ich lasse Ihnen diese Petroleumlaterne hier. Gute Nacht.“

[32] Die schwere, dunkle Holztür fiel zu. Wir waren allein. Harald schaute mich an und lächelte.

„Spiegelfechterei, mein Alter!“ sagte er auf deutsch. „Diese exzentrische Dame hat bis zuletzt gehofft, wir würden nachgeben –“

Er beleuchtete dann mit der Laterne diesen kleinen Raum, der mit seinen kahlen Steinwänden und den dürftigen Möbeln nicht gerade wohnlich wirkte. Eine durch einen Vorhang verhüllte Türöffnung führte in ein noch kleineres Gemach, das so etwas wie ein Badezimmer ohne Badewanne vorstellen sollte. Auch hier gab es nur schießschartenähnliche Fenster, die für einen Mann zum Durchkriechen zu schmal waren.

Harst löschte die Laterne aus. Wir hatten ja unsere Feuerzeuge, konnten sie also jeden Augenblick wieder anzünden. Wir setzten uns auf das eine Bett, nachdem wir versucht hatten, durch die Schießscharten einen Blick ins Freie zu werfen. Es war draußen jedoch so dunkel, daß wir nichts sehen konnten.

„Lady Anna Broogs Absichten sind jetzt geklärt,“ begann Harald leise. „Sie will Lady Blackmoore aus Eifersucht verschwinden lassen.“

„Lady Anna Broog? Wer ist denn das?“ fragte ich erstaunt.

„Das ist James Goorb, mein Alter. In den Zeitungen, die auf dem Tische in der Kabine lagen, fand ich noch mehr recht interessante Notizen. Aus ihnen ging hervor, daß die „exzentrischsteDame dieses Jahrhunderts“ eine junge Witwe Anna Broog, Lady Broog, ist. Ihr Name war mir nicht fremd. Sie hat schon manchen tollen Streich sich geleistet und – Horch’, was war das eben?! Das klang wie Weinen und Schluchzen!“ Er sprang auf und eilte an das eine Fenster. Dort stand noch der Tisch, auf den wir vorhin gestiegen waren, um hinausschauen zu können. Harst war mit einem Satz oben und steckte den Kopf durch die schmale Maueröffnung, zog ihn wieder zurück und flüsterte: „Hilf mir! Vielleicht kann ich in der Seitenlage doch hindurch Hebe mir die Beine an. – Warte – so, nun los!“

Und wirklich: es glückte! Der schlanke Harst hing jetzt nur noch mit einem Fuß in der Öffnung, den Kopf nach abwärts. Dann verschwand auch dieser Fuß. – Unsere Zellen lagen im Erdgeschoß dieses Steingebäudes. Man hatte uns im Innern des Hauses keine Treppe hinaufgeführt. Harald [33] konnte sich also kaum beschädigt haben, als er sich aus dem Fenster auf den Boden fallen ließ. Trotzdem wartete ich auf ihn mit steigender Ungeduld und Sorge. – Das Weinen und Schluchzen war verstummt.

Mit einem Male ein Geräusch von der Tür her, dann eine Stimme: „Komm’, es sind nur die beiden Malaien als Wächter hier. Sie sitzen eine Treppe höher in einem Gemach und rauchen und schwatzen.“

Ich mußte die Stiefel ausziehen. Harald nahm mich bei der Hand. Es ging in tiefster Dunkelheit eine gewundene Steintreppe empor. Dann sah ich in dem etwas helleren Gange vor mir einen Lichtschimmer.

„Dort stecken sie,“ hauchte Harst. „Sie haben unsere Pistolen vor sich auf dem Fußboden liegen. Ich habe mir zwei Steine besorgt. Ich bin nicht gerade für Roheiten. In diesem Falle geht’s nicht anders –“

Er huschte weiter. Ich beobachtete, wie er den Arm zum Wurfe schwang. Ich wußte, wie tadellos er traf.

Drinnen ein Aufschrei. Harst schleuderte den zweiten Stein, sprang sofort hinterdrein.

Als ich nun selbst in das Gemach stürzte, war schon alles vorüber. Harald hatte unsere Pistolen in der Hand, und die Malaien lagen halb bewußtlos auf dem Steinplattenboden.

„Binden!“ sagte er kurz. Ich beeilte mich. Die Lederriemen, mit denen wir gefesselt gewesen waren, fand ich neben der Laterne, die auf einem Schemel stand. Die beiden Malaien wagten keine Gegenwehr. Wir nahmen ihnen die Waffen ab. Ich blieb dann als Wächter vor der Tür. Harst schritt mit der Laterne den Gang entlang, riegelte eine Tür auf, klopfte und trat ein.

Ein lauter Aufschrei: „Master Harst – also doch! Auf Sie hatte ich gehofft!“

Gleich darauf erschien Harald wieder im Gange und öffnete nun auch die andere verriegelte Tür, hatte sie aber kaum eine Handbreit aufgezogen, als Albemarle und Blackmoore, die offenbar neben der Tür gelauert hatten, sich in völliger Verkennung der Sachlage auf ihn stürzten und ihn zu Boden reißen wollten.

„Stopp!“ rief Harald und parierte einen Boxhieb des [34] grimmen Albemarle. „Belohnt man so den Befreier, meine Herren?!“

Auch Lady Blackmoore trat jetzt auf den Gang hinaus. – Harald gab sich mit langen Erklärungen nicht ab. Die beiden Malaien ließen sich einschüchtern und verrieten das, was sie wußten. Viel war es nicht. Vor vier Wochen hatte „James Goorb“ ihrer fünfzehn angeworben und durch glänzende Bezahlung gefügig gemacht. Zehn Malaien und zwei Europäer von der Mohalla hatten in jener Montagnacht die Atlanta entführt, nachdem die Besatzung ohne Blutvergießen und ohne Lärm überwältigt worden war. Diese beiden Malaien waren jedoch nicht dabei gewesen. Sie konnten nur noch angeben, daß der Tuwan Goorb der Atlanta im Motorkutter gefolgt, sehr bald aber wutschnaubend zurückgekehrt war, und daß dieses Gebäude hier eine alte Radschaburg sei, die in einem steilen Felsental unweit der Mündung des sehr sumpfigen Tamari-Flusses liege. Brigham sei jetzt an Bord der Mohalla geeilt, die auf dem Tamari ankere; er habe morgens wiederkommen wollen. –

Wir waren jetzt unserer fünf. Denn Lady Blackmoore konnten wir getrost als Mann rechnen. Sie schoß vorzüglich und brannte geradezu darauf, dieses verbrecherische Weib unschädlich zu machen, das, wie der Lord ihr offen anvertraut hatte, einst wohl Ansprüche auf ihn gehabt, diese aber durch ihr unweibliches Verhalten sich völlig verscherzt hatte.

Einer der Malaien sollte dann den Führer zum Flusse spielen. Der andere bat und flehte so lange, bis wir ihn ebenfalls mitnahmen. Beide versprachen, fortan treu zu uns zu halten. Unterwegs überredete Harald sie dann noch zu einem listigen Streich, der die Mohalla am bequemsten in unsere Gewalt bringen sollte. Lord Blackmoore sicherte ihnen hohe Belohnungen zu, wenn sie genau nach Harsts Anordnungen handeln würden. Sie sollten sich an Bord der Piratenjacht begeben und ihre Landsleute veranlassen, die nur aus 8 Mann bestehende weiße Besatzung zu überwältigen.

Ich gehe über diese Einzelheiten hinweg, da sie seiner Zeit in der Presse aller Länder bis ins kleinste geschildert worden sind. Der Plan gelang jedenfalls. Die beiden Malaien hatten sich sehr klug benommen.

Die Mohalla lag an einem halb verfallenen Landungssteg. [35] Der Morgen graute gerade, als wir auf das vereinbarte Signal hin an Bord gingen. –

Lady Anna Broog saß im Salon, von zwei Farbigen bewacht. Als wir eintraten, schnellte sie hoch und schoß auf Harst zu. – „Sie sind an allem schuld! Nur Sie!“ fauchte sie ihn wie eine Katze an. „Sie werden mich noch kennenlernen! Ich bin eine unversöhnliche Feindin!“

Dann ging sie – scheinbar zu ihrem Sessel zurück. Sie trug noch Männerkleidung. Plötzlich war sie mit zwei Sätzen an der getäfelten Wand, drückte eine verborgene Tür auf und verschwand. Ehe wir die Tür eingeschlagen hatten – ein Verschluß war nicht zu finden, – hörten wir schon den Motorkutter der Mohalla knatternd davonrasen. Wir stürzten an Deck. Am Steuer des Kutters stand Lady Broog und winkte uns höhnisch zu. –

Die Mohalla fuhr eine halbe Stunde später den Fluß hinab und nahm Kurs auf das nahe Madras.

Im Salon gab Harald uns die letzte Aufklärung über dieses einzig dastehende Piratenstückchen einer englischen Aristokratin. Und Brigham, in Wahrheit ein Franzose namens Tallien und Besitzer der Mohalla, die Lady Broog nur gemietet hatte, bestätigte alles. – Als Bessie Flepp und ihr Verlobter Melkope damals nachts an Bord der Atlanta gegangen waren, hatten die Spione Lady Broogs sie für Lord Blackmoore und seine Gattin gehalten, ein Irtum, der insofern leicht möglich war, da Melkope entfernte Ähnlichkeit infolge seines falschen Bartes mit Lord Blackmoore hatte und weil Lady Broog wußte, daß das Ehepaar sich demnächst wieder auf der Atlanta einschiffen wollte. – Nur deshalb war in jener Montagnacht die Atlanta entführt worden. Lady Broogs Spione beobachteten dann auch unsere Ankunft in Madras und ließen uns nicht mehr aus den Augen. – Die Atlanta, ebenso Lord Albemarles Meteor waren bereits wieder freigegeben worden. Wir fanden sie denn auch im Hafen von Madras vor. –

Lord Albemarle zog aus diesem Abenteuer die einzig richtige Lehre und – machte selbst bei Mutter Flepp den Freiwerber für seinen Rivalen Tom Melkope. Bessie und Tom sind längst ein glückliches Paar. Alles weitere erfährt der Leser in der folgenden Erzählung, in der einer der goldenen Spangenschuhe der Lady Broog eine nicht alltägliche Rolle spielt.




[36]
Der Spangenschuh der Lady Broog.
1. Kapitel.
Die schwarze Silhouette.

Ein so wahnwitziger Racheakt, wie ihn die Entführung der Atlanta und die Gefangennahme des Ehepaares Blackmoore darstellte, mußte notwendig ganz Indien und bald auch die übrige zivilisierte Welt in die hellste Aufregung versetzen.

Lord Blackmoore suchte es nach Kräften zu verhindern, daß all diese Dinge an die Öffentlichkeit kamen. Er hatte keinen Erfolg damit. Die Wahrheit sickerte schnell durch, und um allen lästigen Zeitungsreportern zu entgehen, verließen wir mit der Atlanta bereits drei Tage später den Hafen von Madras und verrieten niemand, wohin wir uns wenden wollten. Der Lord hatte uns eingeladen, mit ihm und seiner Gattin seine Tabakplantage auf der Insel Celebes zu besuchen. Angeblich gingen wir nach Kalkutta in See.

Wir waren in Madras noch mehrfach von der Hafenpolizei vernommen worden. Lord Blackmoore hatte gegen Lady Broog und die Besatzung der Schonerjacht Mohalla, die eigentlich L’Aigle (Adler) hieß, ebensowenig wie Albemarle und wir Strafantrag gestellt. Polizeiinspektor Davis war der Ansicht, daß hier nicht Seeraub, also nicht Piraterei, sondern einfache Freiheitsberaubung vorliege. Da bei diesen Gewaltstreichen des exzentrischen „James Goorb“ niemand verletzt worden war, gehörte nach englischem Recht zur Strafverfolgung ein Antrag der Betroffenen. Ein solcher wurde nicht gestellt. Mithin kamen Monsieur Tallien alias Brigham sowie die anderen von Lady Broog bestochenen Leute mit einer Verwarnung weg. Tallien zahlte für die Armen von Madras freiwillig 3000 Pfund. Damit war die Sache erledigt – für ihn, nicht für uns! –

Die Atlanta sollte am Montag früh sechs Uhr in See gehen. Monsieur Tallien, übrigens ein früherer Kapitän der Handelsmarine, erschien um ein halb sechs bei uns an Bord, überreichte Lady Blackmoore einen wundervollen Rosenstrauß und entschuldigte sich abermals bei uns wegen seiner Teilnahme [37] an diesem neuesten Streich Lady Broogs, wobei er betonte, daß diese ihm die ganzen Verhältnisse ganz anders dargestellt hätte, so daß er tatsächlich angenommen hatte, Lord Blackmoore wäre Lady Broog ohne Grund untreu geworden und hätte nur aus Berechnung seine jetzige Gattin geheiratet.

Dieser alte Charles Tallien war kein übler Mensch. Man merkte ihm an, wie unangenehm es ihm war, sich auf diese fragwürdige Sache eingelassen zu haben. Er betonte, daß Lady Broog ihm versichert hätte, sie würde die Gefangenen in kurzer Zeit wieder freigeben, es sei nur ihre Absicht, Lord Blackmoore, als dessen Braut sie sich seiner Zeit betrachtet hätte, öffentlich bloß zustellen. Gerade dieser Gewaltstreich, meinte sie, würde die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf den Mann lenken, der als Schurke an ihr gehandelt hätte.

Wir schieden von Tallien jedenfalls in Frieden. Er erzählte uns noch, daß er seine Jacht durch eine Maklerfirma bereits an einen Amerikaner für eine Kreuzfahrt in die Südsee auf drei Monate vermietet hätte.

Kaum war er gegangen, als ein indischer Dienstmann einen Brief brachte, der an Harst gerichtet war mit dem Zusatz:

„An Bord der Jacht Atlanta, Westkai.“

Wir saßen auf dem Achterdeck unter dem Sonnensegel. Der Koch trug gerade das Frühstück auf.

„Ich werde den Brief erst nach dem Frühstück öffnen,“ meinte Harald und schob ihn in die Tasche. „Ich möchte uns den Appetit nicht verderben.“

Lady Blackmoore schüttelte den Kopf. „Ich verstehe Sie nicht, Master Harst. Appetit verderben?“

„Ja, Mylady. Anna Broog ist keine wohlschmeckende Beigabe zu einem ersten Frühstück.“

„Ah – der Brief ist von ihr?“ meinte der Lord.

„Ich nehme es bestimmt an. Wir haben seit ihrer Flucht im Motorkutter nichts von ihr gehört. Daß sie sich melden würde, damit rechnete ich.“

„Dann wäre sie also in Madras?“

„Ja, Mylord. Ich habe sie gestern zweimal gesehen.“

„Gesehen?!“ stieß Lord Percy ungläubig hervor.

In demselben Moment kam ein kleiner, magerer Herr hastig über die Laufplanke. Ich erkannte ihn sofort. Es war der Privatdetektiv Britton. Harald hatte ihn ebenfalls bemerkt.

„Britton! Hierher!“ rief er und ging ihm entgegen.

[38] Ich sah, wie er mit Britton hastig ein paar Sätze austauschte. Sie flüsterten dabei. Mir erschien diese Geheimniskrämerei nicht ganz geheuer.

Dann näherten sie sich unserem Tische. Britton, den Lady Broog ebenso wie Bessie Flepp sofort mit der Atlanta hatte heimkehren lassen, verbeugte sich.

„Ich wollte mich nur von den Herrschaften verabschieden,“ sagte er. „Ich soll auch noch Grüße von Lord Albemarle ausrichten. Es geht ihm seit gestern abend nicht gut. Er fühlt sich plötzlich sehr schwach und fiebert leicht.“

„Wir waren doch aber gestern abend bis neun Uhr noch mit ihm zusammen,“ meinte Lady Blackmoore. „Vielleicht nur ein Malariaanfall, Master Britton. Es würde mir herzlich leidtun, wenn Albemarle ernstlich unpäßlich wäre.“

Britton nahm die Zigarre, die ihm der Lord anbot, schnitt bedächtig die Spitze ab und erwiderte:

„Ich war gestern um halb zehn abends bei Seiner Lordschaft. Er lag im Sessel und schalt auf die betrunkenen Matrosen, die ihn vorhin auf dem Heimweg angerempelt hatten. Er sah recht schlecht aus und suchte umsonst das körperliche Unbehagen durch Kognak zu bekämpfen.“

„Es wird Malaria sein,“ sagte Lord Blackmoore achselzuckend. „Albemarle schont sich auch zu wenig. Er ist kein Jüngling mehr. Er übertreibt die Sportausübung. Alles hat seine Grenzen. Mit zweiundfünfzig Jahren soll man mit seiner Kraft haushalten.“

Britton sagte uns dann sehr bald lebewohl und verließ die Atlanta. Punkt sechs Uhr wurden die Trossen von den Kaipfählen losgemacht, und die Motoren der Jacht begannen zu arbeiten. Wir saßen bequem in unseren Liegestühlen und genossen behaglich den frischen Morgen und den Anblick des immer ferner rückenden Landes.

„So – nun der Brief!“ sagte der Lord da und schaute Harst erwartungsvoll an.

Harald nickte ernst, zog den Brief aus der Tasche und hielt ihn Blackmoore hin. „Es ist doch Lady Broogs Schrift?“ meinte er.

„Ja. Nur sie malt so fingerlange Buchstaben.“

Harald schnitt den Umschlag auf. Dabei erklärte er bedächtig:

„Ich glaube nicht, daß es ein gewöhnlicher Brief ist. In [39] dem Umschlag kann dem Gewicht nach kaum ein ganzer Briefbogen enthalten sein.“

Und wirklich: er zog nur ein einzelnes Blatt schwarzes Papier heraus.

„Ah – ein Damenschuh!“ rief Lady Blackmoore.

Es war in der Tat die Silhouette eines Damenhalbschuhs mit sehr hohen Absätzen, eines Spangenschuhs.

Ich dachte unwillkürlich sofort an die goldenen, brillantbesetzten Schuhe, die Lady Broog zu der Gesellschaftsrobe hier im Salon getragen hatte.

Harst drehte die kaum 12 Zentimeter lange Silhouette in der Hand hin und her und hielt sie gegen das Licht. Dann reichte er sie mir und prüfte den Umschlag, während Lady Blackmoore und ich die Köpfe über die Silhouette beugten. Das schwarze Papier war ziemlich dick und beiderseits schwarz, fühlte sich auch recht hart an.

„Der Umschlag enthält nichts weiter,“ erklärte Harald. „Mithin steckt die Mitteilung in dem Schuh.“

Wir drei tauschten ungläubige Blicke aus.

Harst rief einen Matrosen herbei. „Bringen Sie mir bitte eine kleine Schüssel lauwarmes Wasser.“

„Die Silhouette besteht aus zwei Stücken Papier,“ sagte er dann zu uns. „Es ist schwarzes Glanzpapier, das man mit den weißen Seiten zusammengeklebt hat. Wenn man ganz scharf hinsieht, bemerkt man auf der einen Seite des[6] Silhouetten-Schuhs eine Reihe feiner Wölbungen. Ich nehme an, daß dort mit Bleistift etwas geschrieben steht. Natürlich auf der weißen Seite. Die Schrift hat sich etwas durchgedrückt. Bleistiftzeilen verlaufen nicht, wenn man sie mit Kleister überzieht.“

Der Matrose brachte die Schüssel, und Harald legte den papiernen Spangenschuh in das Wasser.

„Was wird wohl diese Mitteilung enthalten, Master Harst?“ fragte Lady Blackmoore interessiert.

„Es sind höchstens sechs Worte,“ erwiderte Harald. „Zu einer Drohung genügen sechs Worte, Mylady.“ Er lächelte etwas. „Lady Broog liebt die Effekthascherei. Dieser Schuh ist eine ganz nette Spielerei. Anna Broog rechnete damit, daß ich die Mitteilung finden werde.“

Er versuchte, ob die Teile der Silhouette sich bereits trennen ließen.

[40] „Ein guter Klebstoff,“ meinte er. „Es wird noch eine Weile dauern, bevor wir lesen können, was Lady Broog mir zu melden hat.“ Das klang wieder so gutmütig-ironisch.

Lord Percy erhob sich und sagte ablenkend:

„Die Küste ist verschwunden –“ Er stellte sein Fernglas ein. „Ah – es kommt ein weißer Dampfer hinter uns her. Nein – kein Dampfer. Das muß ebenfalls eine Motorjacht sein –“

Harald sprang auf.

„Bitte das Glas, Mylord –“

Blackmoore reichte es ihm. Harald trat an die Reling und schaute lange nach dem mit bloßem Auge nur schwer erkennbaren Schiffe aus.

„Es ist der Meteor Lord Albemarles,“ sagte er dann.

„Wie – der Meteor?!“ rief Blackmoore. „Ob man etwa –“

Er führte den Satz nicht zu Ende. Harst hatte die beiden Teile der Silhouette jetzt gelöst und hielt das eine Stück auf der flachen Hand.

Lord Percy bemerkte ebenso wie die Lady und ich auf Haralds Gesicht einen ganz besonderen Ausdruck, – den der Überraschung und einer gewissen Unruhe.

Da hob Harald den Kopf und sagte zu mir:

„Lieber Alter, packe unsere Koffer wieder. Wir werden nach einer halben Stunde die Atlanta verlassen.“

„Aber weshalb denn?!“ meinte Lord Percy etwas verletzt. „Ich denke, Sie haben keinen Grund –“

Vor Harsts ernstem Blick verstummte er.

„Wir haben Grund, die Atlanta zu verlassen,“ erklärte Harald noch immer etwas geistesabwesend. „Hier steht mit Bleistift geschrieben:

„Sie werden um 1/48 umkehren!“

Es ist dies die Mitteilung Lady Broogs an mich. Und Britton sprach von einer Unpäßlichkeit Albemarles. Und – dort hinten kommt Albemarles Jacht in voller Fahrt auf uns zu. Es ist etwas passiert in Madras, Mylord. Und daß etwas passieren würde, wußte Lady Broog. Sie wußte auch, daß dieses Etwas mich bestimmen würde, um 1/48 umzukehren –“

Er hatte seine Uhr gezogen.

„Bitte – es ist fünf Minuten nach sieben Uhr. In zehn Minuten hat uns der Meteor einholt. Lady Broog scheint [41] mit diesem Silhouetten-Schuh doch nicht lediglich eine Effekthascherei beabsichtigt zu haben. Sie zwingt mich, nach Madras umzukehren, wo sie sich in allerlei Verkleidungen aufhält. Gestern erkannte ich sie, wie ich schon erwähnte, zwei Mal: als junger Hindu und als ältere, grauhaarige Europäerin. Vielleicht wird ein drittes Wiedersehen mit ihr für beide Teile nicht ganz harmlos verlaufen.“

Lady Blackmoore wandte sich ihrem Gatten zu.

„Percy, wir setzen unsere Reise fort,“ meinte sie. „Ich möchte dieser Frau nicht nochmals begegnen. In meinen Augen ist sie nicht lediglich die exzentrische Lady Broog. Ich traue ihr alles Schlechte zu.“

Der Lord nickte. „Ganz einverstanden. Zunächst aber müssen wir abwarten, ob Master Harsts Voraussage eintrifft. Ich kann an diesen Zusammenhang nicht recht glauben. Wenn etwas in Madras passiert ist – etwas, also doch wohl ein Verbrechen! – und wenn Lady Broog dieses vorherwußte, dann – dann kann sie selbst an diesem Verbrechen beteiligt sein, mehr noch, – sie muß dabei die Hand mit im Spiel gehabt haben. Wäre dem so, dann müßte man sie anderseits für geistig nicht ganz normal halten, da sie ja ihren gefährlichsten Verfolger, eben Master Harst, durch die Silhouette und deren Aufschrift auf sich aufmerksam gemacht hat. – Nein, lieber Harst, diese Ihre Annahme kann nicht stimmen.“

Harald saß im Liegestuhl und starrte in die Ferne. Es schien, als hätte er Lord Percys Worte gar nicht gehört.

Wir schwiegen und schauten nach dem Meteor aus. Die weiße Jacht kam näher und näher.

Gleich darauf näherte sich der Atlanta in dem Motorkutter des Meteor ein kleiner, hagerer Herr, der uns schon von weitem eifrig zuwinkte.

Der Herr war der Privatdetektiv Britton aus Madras.




[42]
2. Kapitel.
Der Schlangenbiß.

Britton stand vor uns und sagte überhastet:

„Lord Albemarle ist tot. Der Arzt hat festgestellt, daß er vergiftet worden ist. Ich wollte Sie, Master Harst, bitten, umzukehren. Polizeiinspektor Davis riet mir, den Meteor zu benutzen.“

„Unglaublich!“ murmelte Blackmoore. „So haben Sie doch recht gehabt!“ Und er nickte Harst ganz verstört zu. –

Unsere Koffer wurden in den Motorkutter geschafft. Wir verabschiedeten uns von dem Ehepaare Blackmoore und waren fünf Minuten später an Bord des Meteor, der sofort wendete und der Küste wieder zujagte. –

Wir saßen im Salon der Jacht des toten Lords. Britton erstattete kurz Bericht.

„Als ich heute kurz vor sechs Uhr die Atlanta verlassen hatte, begab ich mich zu Lord Albemarle. Der Leibdiener Albemarles sagte, daß Mylord noch schliefen. Ich schaute dann von der Veranda aus in das Arbeitszimmer hinein und sah Albemarle in demselben hochlehnigen Sessel sitzen, in dem er gestern abend Platz genommen hatte. Der Leibdiener war erstaunt. Er hatte seinen Herrn im Schlafzimmer vermutet. – Meine dumpfe Ahnung bewahrheitete sich: der Lord war tot! – Während der Diener den Arzt Doktor Madferking benachrichtigte, schaute ich mir die Leiche genauer an. Das Gesicht war mit schwärzlichen Flecken besät; die Wangenmuskeln waren wie im Krampf gespannt. Dann entdeckte ich zwischen den Füßen des Toten einen nicht alltäglichen Gegenstand. Sie werden kaum raten, was es war, Master Harst, obwohl Sie nach den Vorgängen der letzten Stunden gerade auf –“

Harald hatte eine Bewegung mit der Hand gemacht.

„Der Gegenstand war ein goldener, mit Brillanten besetzter Spangenschuh,“ sagte er schnell.

„Tatsächlich – Sie haben’s erraten! Also wieder ein Spangenschuh, Master Harst! Sie erzählten mir ja von der Silhouette und von den Bleistiftworten –“

„Weiter!“ meinte Harald.

„Nun – es ist nicht mehr viel zu berichten. Doktor Madferking stellte fest, daß Albemarle durch Gift gestorben ist [43] und zwar ein Gift ähnlich dem der Giftschlangen. Er fand auch am linken Oberarm eine Stelle, die geschwollen und schwarz verfärbt war. Mit dem Vergrößerungsglase ließen sich auch die beiden Stiche erkennen, die offenbar von Schlangenzähnen herrührten. Sie liegen mitten in dem schwarz verfärbten Fleck. – Inzwischen hatte ich die Polizei herbeigerufen. Es kamen Davis und Detektivinspektor Marlan, denen ich sofort mitteilte, daß der Spangenschuh, den ich gefunden, Lady Broog gehöre und daß hier ein Verbrechen vorliegen müsse. – So, das wäre alles.“

Harald schaute vor sich hin. „Wie denkt sich Marlan die Ausführung dieses Mordes, Britton?“ fragte er zerstreut.

„Albemarle wird in dem Sessel nach dem überreichlichen Kognakgenuß eingeschlafen sein. Das eine Fenster des Arbeitszimmers war nur angelehnt. Der Mörder oder – die Mörderin stieg ins Zimmer. Sie hatte eine Kobra mit und ließ diese den Schlafenden beißen. Dann entwich der Täter wieder.“

„Und – der Spangenschuh?“

„Mag ihr vom Fuß geglitten sein –“

„Blödsinn, lieber Britton. Sie denken an Lady Broog als Mörderin. Wo wird die Frau für dieses nächtliche Unternehmen sich diese auffallenden Schuhe angezogen haben?!“

„Gestatten Sie, Master Harst: es handelt sich um Anna Broog! Die bekommt alles fertig.“

Jetzt mischte ich mich ein.

„Was hattest Du mit Master Britton zu flüstern, als Du ihm bei seinem heutigen Morgenbesuch auf der Atlanta entgegengingst?!“ fragte ich Harst.

„Britton berichtete mir, daß er Anna Broog in Madras aufgespürt hätte, mein Alter.“

„Ja,“ meinte[7] der Detektiv, „ich kam ja nur deshalb auf die Atlanta, um Master Harst dies mitzuteilen. Ihr Freund hatte aber kein besonderes Interesse für diese Nachricht, Master Schraut.“

„Gehen wir an Deck,“ sagte Harald da und erhob sich. „Über den Fall Albemarle sprechen wir an Ort und Stelle weiter.“ –

Lord Robert Albemarle wohnte etwas außerhalb der Stadt auf dem sogenannten Knoxword-Hügel, einer langgestreckten, [44] felsigen Anhöhe, deren flache Kuppe unter großen Kosten in einen Park umgewandelt war.

Als wir drei vor dem Bungalow anlangten kam uns der lange Inspektor Marlan entgegen und führte uns in das Arbeitszimmer des Toten.

Der Sessel, in dem die Leiche noch genau so belassen war, wie man sie aufgefunden hatte, stand rechts von dem Diplomatenschreibtisch an der Wand neben einem chinesischen Rauchtisch mit kupferner Platte.

Harst besichtigte die schwarze Bißstelle am linken Oberarm. Dann erklärte er, man möchte uns beide hier eine Weile allein lassen.

Detektivinspektor Marlan und Britton verließen auch sofort das Zimmer.

Harald stand neben dem Toten, dessen linker Rockärmel noch hoch aufgekrempelt war.

„Schau’ Dir den Biß genau an,“ sagte Harst. „Er sitzt etwa fünf Zentimeter über dem Ellenbogengelenk an der unteren Außenseite. Die Verfärbung der Haut hat einen Durchmesser von gut zehn Zentimeter und reicht bis zum Gelenk.“

Er nahm von Albemarles Schreibtisch ein Vergrößerungsglas und reichte es mir. Dann schaltete er seine Taschenlampe ein und beleuchtete die Bißstelle.

„So, mein Alter, nun beweise, daß Du sehen und denken kannst,“ meinte er. „Es gibt etwas zu sehen. Ich wundere mich, daß Marlan und der Arzt nicht stutzig wurden. Ob Britton ebenso blind war, weiß ich nicht genau. Ich glaube, ihm erscheint die Sache auch nicht ganz einwandfrei.“

Ich mußte ja das Vergrößerungsglas nehmen und den Eifrigen spielen. Daß ich nichts entdecken würde, war mir klar.

Nach einer Weile erklärte ich denn auch:

„Bedauere – ich finde nichts Besonderes.“

Harald sagte nichts, streifte den Ärmel herunter und deutete auf den Oberärmel. Dort, wo die Bißstelle sich befand, war der Stoff der bastseidenen Jacke leicht beschmutzt.

„Die Kobra scheint ein schmutziges Maul gehabt zu haben,“ meinte er.

Er zog sein Taschenmesser hervor und schabte mit der großen Klinge von dem beschmutzten Stoff winzige Stoffäserchen [45] auf ein Blatt Papier, das er dann zusammenfaltete und zu sich steckte.

Zwischen den Füßen des Toten lag noch der goldene Spangenschuh der Lady Broog. Harald hob ihn auf.

„Es ist derselbe Schuh, den Anna Broog im Salon der Jacht Atlanta trug,“ sagte er in grüblerischem Tone. „Auf der Atlanta, mein Alter! Vergiß das nicht. Es ist wichtig!“

„Darf ich fragen weshalb?“

„Frage lieber: woher? – Findest Du nicht auch,“ fuhr er in einem Atem fort, „daß dieser chinesische Rauchtisch eine überreiche Ausstattung für Opiumraucher enthält? – Es liegen hier sechs kostbare Opiumpfeifen, zwei goldene Büchschen für Opiumkugeln und eine Menge Elfenbeinstäbchen zum –“

Er schwieg und beugte sich tiefer über den Tisch.

„Wie gut es doch ist,“ meinte er leiser, „wenn man auf alles achtgibt. Der arme Albemarle hat vielleicht neben seiner Leidenschaft für allerlei Sportarten noch einer anderen Leidenschaft heimlich gefrönt – dem Opium! Als Reiseandenken oder dergleichen legt man sich doch nicht gleich sechs so überaus wertvolle Opiumpfeifen nebst Zubehör hin. Außerdem: Albemarles Augen zeigten jene Empfindlichkeit gegen grelles Licht, wie man es nur bei Opiumrauchern findet. Ich beobachtete ihn einige Male, maß damals jedoch dieser starken Reaktion seiner Augen keinerlei Wichtigkeit bei. Soeben erst dachte ich wieder daran. Und deshalb habe ich auch auf diesem Tische noch etwas anderes entdeckt. Bitte – in der Mitte zwischen der dritten und vierten Opiumpfeife wirst Du ein Stückchen Papier bemerken.“

Ich bückte mich tiefer.

„Allerdings – es liegt zwischen den erhabenen Verzierungen der getriebenen Kupferplatte des Rauchtischchens.“

„Ungenau, mein Alter, ungenau! Gewöhne Dich in unserem Liebhaberberuf an äußerste Sorgfalt! Bitte – rühre das Papierstückchen doch einmal an.“

Ich tat es.

„Ah – es ist in die Verzierungen eingeklemmt!“

„Ja – und es ist ein Blättchen Zigarettenpapier. Albemarle drehte sich seine Zigaretten selbst. Das Blättchen Papier beweist, daß dieser Rauchtisch noch ein kleines Geheimnis birgt und zwar in Gestalt eines Geheimfachs. Ich werde dieses [46] Stückchen Zigarettenpapier jetzt so abreißen, daß der untere eingeklemmte Teil des Blättchens nicht mehr sichtbar ist. Wir werden uns das Geheimfach später ansehen. Zu Marlan und Britton kein Wort davon. Wir wollen sie nicht zu lange warten lassen. Gehen wir –“

Marlan und Britton saßen auf der Veranda an einem Bambustisch und rauchten. Wir nahmen gleichfalls Platz.

„Nun?“ fragte Marlan gespannt. „Sie erkennen den Spangenschuh doch wieder, Master Harst?“

„Gewiß. Es ist der Schuh der Lady Broog.“

„Inzwischen hat mir Britton von dem anderen Schuh erzählt,“ meinte Marlan eifrig. „Von dem Silhouettenschuh und von der Aufschrift. Es ist ganz klar: Lady Broog ist die Mörderin! – Sie wußte von diesem Verbrechen. Daher konnte sie Ihnen auch die Silhouette mit der Mitteilung zusenden, daß Sie um 1/48 umkehren würden. Den Schuh hat sie absichtlich zurückgelassen. Sie will uns dadurch verhöhnen, will von vornherein zeigen: „Ich bin die Mörderin! Nun sucht mich!“ – Wir haben es hier eben mit der tollen Lady zu tun!“

Harald schwieg. Nach einer Weile schaute er den kleinen Britton an.

„Und Sie?“ fragte er.

„Meine Meinung kennen Sie ja, Master Harst.“

„Ist es Ihre wahre Meinung?“

Britton blickte zur Seite und sagte:

„Hm – ich werde mich doch nicht in Gegensatz zu Davis und Marlan stellen. Wenn ich ganz ehrlich sein will: mich stört der Spangenschuh! Ich kann mir nicht denken, daß diese Frau aus Rache einen Mord begehen und sich gleichzeitig selbst als Täterin sozusagen anzeigen wird.“

„Auf dem Meteor sprachen Sie anders, Britton.“

„Ja – um Ihren Widerspruch herauszufordern.“

Detektivinspektor Marlan beugte sich weit vor.

„Ihre Ansicht, Master Harst?“

„Ich habe noch keine. Jedenfalls zweifle ich sehr stark, daß Lady Broog hier in Betracht kommt. trotz des Silhouttenschuhs, dessen Aufschrift man freilich sehr zu ihren Ungunsten deuten kann.“

Marlan zuckte die Achseln. „Ich werde die Broog trotzdem verhaften lassen. Britton erzählte mir, daß er sie gestern [47] abend, als er von Albemarle kam, auf dem Bahnhofsplatze traf – als Hindu verkleidet. Er schlich ihr nach und stellte fest, daß sie im Eingeborenenviertel in einem Gasthause verschwand.“

„Das weiß ich bereits,“ nickte Harst. „Haben Sie Befehl gegeben, jenes Gasthaus zu bewachen?“

„Nicht nur das. Ich hoffe, Lady Broog wird bereits verhaftet sein. Ich erwarte jeden Augenblick eine Meldung.“

Harald rauchte eine seiner Mirakulum-Zigaretten.

„Sie stellen sich diesen Fall zu einfach vor, Master Marlan,“ sagte er, nachdem er einige Rauchringe geformt hatte. „Albemarle mußte doch geradezu sinnlos betrunken gewesen sein, wenn er den Biß der Kobra nicht gemerkt haben sollte.“

Auf der Verandatreppe erschien ein eingeborener Polizist. Der Mann näherte sich zögernd.

„Was gibt’s Sumru?“ rief Marlan. „Habt Ihr Erfolg gehabt?“

Der Inder zog einen Zettel aus der Tasche. Marlan riß ihm das Stück Papier aus der Hand:

„Suchen Sie Albemarles Mörder anderswo! Daß Britton mir folgte, merkte ich sehr wohl. Vielleicht hilft der große Harst Ihnen. – Anna Broog.“

Marlan hatte laut vorgelesen.

„Eine bodenlose Frechheit!“ rief er jetzt. „Sagte ich’s nicht: sie verhöhnt uns! Aber – ich werde sie fangen, so wahr ich Edward Marlan heiße.“

„Wette angenehm?“ fragte Harst.

„Wette? Worauf?“

„Daß Sie Anna Broog als Mörderin Albemarles nicht fangen werden!“

„Oho!“ Der lange Marlan ereiferte sich. „Oho – Sie unterschätzen uns, Master Harst! Ich habe fünfzig Detektivbeamte zur Verfügung und gegen zweihundert zuverlässige Spitzel. Gut – ich halte dagegen. Sind Ihnen fünfzig Pfund recht als Einsatz?“

„Natürlich. – Also der Wortlaut: Sie werden Lady Broog als Mörderin Albemarles nicht fangen.“

„Abgemacht!“ Marlan stand auf. „Ich fahre nach der Polizeidirektion. Auf Wiedersehen.“




[48]
3. Kapitel.
Der neue Mieter der Mohalla.

„Britton, kennen Sie Albemarle genauer?“ fragte Harald nun.

„Gewiß. Wir haben seiner Zeit zusammen im Kamelreiterkorps in Agra gestanden. Der Lord war Major, ich Leutnant. Ich hatte Schulden und mußte den Abschied nehmen. Ich wurde dann aus Neigung Detektiv.“

„War Albemarle Opiumraucher?“

„Hm – er war es. Aber mit Maßen.“

„Er ist sehr reich?“

„Man schätzt ihn auf fünfzehn Millionen. Außerdem besitzt er die berühmte Stoschra-Sammlung, das heißt, jene zwölf gelben Diamanten, die der seiner Zeit weltberühmte Edelsteindieb Stoschra aus dem Museum in Kalkutta stahl und die Albemarle ihm wieder abjagte. Ihnen dürfte die Geschichte bekannt sein. Stoschra war ein eleganter Pole, der vor sechs Jahren alle Hauptstädte unsicher machte, so ein zweiter Manolescu.“

„Hm – ich besinne mich. Und diese zwölf gelben Diamanten kaufte Albemarle dann dem Museum ab, nicht wahr?“

„Stimmt. Für anderthalb Millionen.“

„Wie fing er doch den Dieb?“

„Im Auto – oder per Auto besser. Die Jagd ging von Kalkutta bis zur Grenze von Nepal hinauf. Stoschra kam dabei ums Leben. Er stürzte in den Prilowa-Wasserfall.“

„Hat man die Leiche gefunden?“

„Ich bitte Sie – aus dem Prilowa-Wasserfall?! Die Prilowa verschwindet dort ja in einem Berge und tritt erst zwei Kilometer südlich wieder zu Tage.“

„Wo befindet sich diese seltene Sammlung?“

„Das weiß niemand. Man nimmt an, Albemarle hat sie im Tresor der India-Bank untergebracht. An die zwölf gelben [49] Edelsteine knüpft sich ein Aberglaube. Sie gehörten ursprünglich dem Nizam (Fürsten) von Haidarabad. Aber es klebte Unheil an den Steinen.“

„Hat Albemarle Verwandte?“

„Ja, einen Neffen, mit dem er aber sehr schlecht steht. Der junge Mann wäre der einzige Erbberechtigte. Er heißt James Kingsarl und ist Arzt in Bangalore. Ich habe ihm bereits eine Depesche geschickt.“

„Weshalb vertrugen Onkel und Neffe sich nicht?“

„Weil Kingsarl die Heiratsabsichten des Lords zu hintertreiben suchte.“

„Ah – die Heirat mit Bessie Flepp! Das Zerwürfnis besteht also noch nicht lange.“

„Zwei Jahre. Albemarle hatte seinem Neffen bis dahin jährlich 1000 Pfund als Zuschuß gegeben. Das hörte auf, nachdem Kingsarl ihm einen sehr wenig respektvollen Brief geschrieben hatte – Bessies wegen.“

Harald erhob sich. „Gehen wir nochmals zu dem Toten hinein,“ meinte er.

In dem Arbeitszimmer Albemarles räumte Harst den Rauchtisch ab und trug ihn ans Fenster, legte ihn auf die Seite und sagte: „Also auch die zweite Platte des Tisches ist aus Kupfer. Zwischen der oberen und der unteren muß sich ein Hohlraum von 12 Zentimeter Höhe befinden.“

Er hob den Tisch und schüttelte ihn.

„Hören Sie, Britton, – es klappert etwas zwischen den Platten.“

Er befühlte die erhabenen Figuren der eigentlichen Tischplatte. Ein äußerer Kranz von vier Drachen schloß ein Buddhabildnis ein. Die Drachen hatten rote Steinaugen. Als Harald nun diese Augen drückte zeigte es sich, daß zwei beweglich waren und zwar je eines zweier gegenüberliegender Drachen.

Mit einem Male schnellte das Buddhabildnis nach oben, und man konnte in den Hohlraum hineinsehen.

Zunächst fiel dort ein halbes Stückchen Zigarettenpapier auf. Es war der Rest des Blättchens, das Harald vorhin abgerissen hatte. Es lag auf einem schwarzen Ebenholzkasten von länglicher Form. Als Harst ihn herausgenommen und geöffnet hatte, rief Britton:

„Ah – die sogenannte Stoschra-Sammlung! Aber – die Steine fehlen!“

[50] Der Kasten war mit weißer Seide ausgeschlagen. Man sah noch genau, wo die Diamanten in diesem Seidenbett ihre Plätze gehabt hatten.

Harst trat mit dem Kasten ans Fenster und hielt ihn schräg gegen das Licht.

„Nein – es find keine Fingerabdrücke darauf,“ meinte er. Dann legte er ihn wieder in das Versteck zurück.

„Schweigen Sie hiervon, Britton,“ sagte er ernst. „Sie merken nun wohl: Marlan haut weit daneben, wenn er Lady Broog für die Mörderin hält. Ich behaupte: dieser Fall ist so kompliziert, daß er mir viel Arbeit bereiten wird. – Wer ist der Täter? Was war das Motiv zur Tat? Diese Fragen wollen wir zunächst mal prüfen. Lady Broog scheidet aus. Einen Mord wird diese exzentrische Frau nie begehen. Ausgeschlossen! – Dann der Pole Stoschra. Ist er wirklich tot? Niemand hat Beweise dafür. Er kann also sehr wohl seine Diebesbeute zurückgeholt haben. – Schließlich der Neffe James Kingsarl. Auch er kommt in Betracht. Ich rate Ihnen also, diese beiden Fährten zu verfolgen, Britton.“

„Und Sie, Master Harst?“

„Ich werde mit Schraut jetzt mal zum Hafen hinabfahren und Charles Tallien, den alten Kapitän, auf seiner Mohalla besuchen.“

Britton wollte noch etwas fragen, aber Harst verließ schon das Zimmer und sagte dann: „Schließen Sie es ab, Britton, und bringen Sie Marlan den Schlüssel. Auf Wiedersehen.“ –

Die Mohalla lag wieder an der alten Stelle am Westkai. Als wir über die Laufplanke schritten, kam uns Tallien entgegen, begrüßte uns sehr erstaunt und überschüttete uns mit Fragen. Er glaubte uns auf der Atlanta weit in See.

„Ich möchte einiges wissen,“ sagte Harst, nachdem er Tallien kurz den Grund unserer Rückkehr nach Madras mitgeteilt halte. „Es handelt sich darum, ob Lady Broog, als sie damals auf dem Tamari-Flusse im Motorkutter entfloh, ihre Spangenschuhe mitgenommen hat. Können Sie darüber etwas angeben?“

„Nur das eine, daß vorgestern nacht ein Dieb hier an Bord gewesen ist und die verschlossene Kabine Lady Broogs ausgeplündert hat. Ob die Spangenschuhe sich in der Kabine befanden, kann ich nicht sagen, Master Harst.“

[51] „Wer bemerkte den Dieb?“

„Der eine Mann der Nachtwache. Der Dieb war an die Jacht herangeschwommen. Wir bemerkten noch die nassen Spuren. Den Rückzug trat er mit einem Bündel auf dem Rücken sehr frech über die Laufplanke an und verschwand im Gewirr der Hafengassen. Es war jedenfalls ein Eingeborener.“

„Könnte ich mir die Kabine ansehen?“

„Master Troobler bewohnt sie jetzt. Es ist dies der Amerikaner, der die Jacht für drei Monate gemietet hat. Ich werde fragen, ob Sie sich in der Kabine mal umschaun dürfen. Einen Augenblick, ich bin sofort wieder da.“

Tallien kam nach kaum zwei Minuten zurück.

„Troobler läßt bitten. Er schreibt Briefe.“

Wir stiegen die Achterschifftreppe hinab. Die Kabine lag nach dem Steuer zu, gegenüber dem Eingang in den Salon.

Harst klopfte an. Tallien kehrte an Deck zurück.

„Bitte!“ rief der Amerikaner. Bei unserem Eintritt erhob er sich vom Schreibtisch. Es war ein sehr dicker, rotbärtiger Herr mit einer verdächtig blauen Nase.

Wir stellten uns vor.

„Freut mich, Sie kennenzulernen,“ meinte der gemütliche Yankee. „Tun Sie, als ob Sie hier zu Hause wären.“

Er setzte sich wieder und kramte in seinen Papieren.

„Einen Moment noch,“ bat Harald.

Troobler drehte sich um.

„Sie wünschen?“

Harst zog einen Sessel herbei und nahm Platz. Dann sagte er leise:

„Mylady, ich bewundere Sie!“

Ich zuckte zusammen. – Mylady! Etwa Anna Broog?!

„Ihre Maske ist vorzüglich,“ fuhr Harst fort. „Besonders die Nase muß man loben. Auch die Stimme verstellen Sie besser als in der Rolle des Master Goorb.“

Der angebliche Troobler hatte plötzlich unter einer Zeilung vom Schreibtisch eine Pistole hervorgerissen.

„Sitzen Sie still!“ rief jetzt Lady Broog mit ihrer hellen Frauenstimme. „Diese Waffe macht keinen Lärm. Die beiden Läufe sind mit Pfeilen geladen, die vergiftet sind.“

Harald lachte heiter auf.

„Mylady, ich werde Ihnen den Gefallen tun und mich so [52] verhalten als wären wir in Ihrer Gewalt. Ich glaube Sie zu kennen. Sie würden niemals abdrücken. Und die Giftpfeile sind nur hübsch erfunden. Ich ahnte, daß Sie die Jacht gemietet hätten. Tallien erzählte uns heute früh von einem Amerikaner. Ich wollte diesen mir gern ansehen, außerdem aber auch feststellen, wo die Spangenschuhe geblieben sind. Der Dieb waren Sie, nicht wahr?“

„Ja, Master Harst.“ Ein überlegener Hohn tränkte diese Antwort.

„Weshalb haben Sie sich als Dieb hier eingeschlichen?“

„Weil ich meine Requisiten zum Verkleiden brauchte. Außerdem wollte ich den einen Spangenschuh so verwenden, wie ich es dann auch getan habe.“

„Bei Albemarle?“

„Ja.“

„Sie geben zu, den Lord ermordet zu haben?“

„Wer sonst, Master Harst?“

Harald schaute sie fest an. „Sie lügen, Mylady. Mich täuschen Sie nicht. Sie haben Albemarle nicht auf dem Gewissen. Ich bin mir über den Zweck des gefährlichen Spiels, das Sie hier treiben, noch nicht klar. Aber ich werde dieses Spiel aufdecken.“

Jetzt lachte Anna Broog ironisch auf.

„Aha – der berühmte Harst wittert ein großartiges Problem! Die Sachlage ist ihm zu einfach!“

„Da haben Sie ganz recht. Die Diamanten habe ich nämlich mitberücksichtigt.“

„Diamanten?!“ – Man merkte, daß Lady Broog von den Steinen keine Ahnung hatte.

„Ach so – meinte sie dann schnell. „Die Diamanten! Die sind für mich sehr nebensächlich.“

Harald lachte jetzt ehrlich erheitert und sagte darauf kopfschüttelnd:

„Mylady, Sie vergessen, wer Ihnen gegenüber sitzt. Wann wollen Sie in See gehen?“

„Morgen früh.“

„Das genügt mir. Ich meine, die Zeit genügt mir.“

Er wollte aufstehen.

„Sitzen bleiben!“ zischte das tolle Weib. Gleichzeitig ein schwacher, ganz schwacher Knall, und hinter Harst zersplitterte ein an der Wand hängender Spiegel.

[53] Trotzdem erhob sich Harald. Lady Broog war aufgesprungen, zielte wieder, zielte und drückte nicht ab.

„Wozu die Komödie, Mylady?“ meinte Harst achselzuckend.

„Gut, – verhaften Sie mich!“ rief sie zornbebend. „Sie – Sie – sollen –“

Sie war in den Schreibsessel gesunken.

„Verhaften?! Nein. Dazu liegt kein Grund vor,“ sagte Harald höflich. „Ich durchschaue Sie jetzt, Mylady. Werden Sie morgen früh ehrlich sein, wenn ich Ihnen beweise, daß ich – Ihnen nichts beweisen kann?“

Sie blickte starr zu Boden. Widerwillig erklärte sie dann:

„Gut, es sei!“

Harald verbeugte sich. „Auf Wiedersehen, Mylady –“

Dann gingen wir hinaus.




[54]
4. Kapitel.
Eine vornehme Opiumhöhle.

Wir fuhren nach dem Hafenpolizeiamt. Harald wollte Inspektor Davis sprechen. Wir trafen ihn dort auch an.

„Lieber Davis,“ begann Harst. „Ich möchte Sie etwas im Vertrauen fragen. Sie haben Albemarle doch auch genauer gekannt. Er war Opiumraucher. Huldigte er diesem Laster daheim oder in einer geheimen Opiumhöhle?“

Davis runzelte die Stirn. „Hm – Albemarle ist jetzt tot. Da kann man ja wohl indiskret sein, zumal ich annehme, daß Sie einen sehr triftigen Grund für diese Frage haben.“

„Sie irren sich, Davis. Ich habe keinen besonderen Grund.“

„So, so. Nun, Albemarle war Stammgast bei dem Chinesen Tschodri. Wir dulden dessen Opiumhöhle stillschweigend. Wir müssen es, da hier in Madras eine ganze Menge Zugehörige der sogenannten besten Gesellschaft dort verkehren. Das ist nun mal nicht anders hier in Indien, lieber Harst.“

Harald nickte. „Ich weiß Bescheid. – Eine Bitte, lieber Davis. Ich möchte gern dort bei Tschodri mich etwas umsehen, natürlich verkleidet. Lassen Sie doch unsere Koffer herholen. Braucht man für Tschodri eine Empfehlung oder dergleichen?“

„Und ob! In seinem Gasthause in der Barklay-Street an der Grenze des Eingeborenenviertels befindet sich im Erdgeschoß eine recht elegante Teestube und daneben ein Verkaufsraum für echten chinesischen Tee. Wer Opium rauchen will, verlangt von der Verkäuferin im Teegeschäft drei Pfund allerfeinsten Hongkong-Tee. Die Verkäuferin ist Tschodris Frau. Sie führt den Betreffenden dann durch den Laden über einen engen Hof in Tschodris Wohnhaus, das in einem Garten steht. Das Erdgeschoß ist auf raffinierteste Art in eine Opiumhöhle umgewandelt. Na – Sie werden ja selbst sehen, wie’s dort zugeht.“ –

Gegen fünf Uhr nachmittags erschienen wir einzeln bei [55] Madame Tschodri im Teegeschäft. Erst betrat ich den Laden. Harald kam zehn Minuten später.

Davis hatte nicht zu viel gesagt: diese Opiumhöhle war wirklich „erstklassig“. Das war keine „Höhle“, das war ein luxuriöses Cafee mit fein abgetönter künstlicher Beleuchtung, mit seidenen, gemalten Tapeten, mit kostbaren Teppichen und einer Musikkapelle, die stets nur gedämpft und dazu unsichtbar spielte. Die vier Räume waren nur durch Perlvorhänge voneinander getrennt. Lautlos huschten kleine, zierliche Chinesinnen auf ihren Stöckelschuhen hin und her und bedienten die Gäste. Ein würdiger Inder mit langem schwarzen Bart führte die Oberaufsicht. An den Wänden zogen sich die kleinen, durch Seidenvorhänge abgeteilten Kabinen hin. In jeder stand ein Diwan und daneben ein niedriges Tischchen.

Ich hatte mit Harst alles genau verabredet. Ich wählte eine Kabine zwischen zwei unbesetzten. Als Harald kam, nahm er die Box links von mir.

Eine der Chinesen-Püppchen setzte sich zu mir und plapperte in schlechtem Englisch so allerlei. – Nun gut – ich bestellte zunächst Sekt. Diese Opiumhöhle war das richtige Nepplokal.

Auch Haralds Chinesin kam mit einem Sektkühler angetänzelt. Dann erschien der würdige Herr „Oberkellner“, der einen schneeweißen Leinenanzug trug und offenbar sehr eitel war.

In Harsts Kabine wurde es bald recht lebhaft. All das war zwischen uns vereinbart. Ich sollte den „Sparsamen“ spielen. Als meine schlitzäugige Holde mir noch eine zweite Flasche Sekt abschmeicheln wollte, lehnte ich grob ab und ließ mir eine Opiumpfeife geben und die Vorhänge der Box schließen.

Ich konnte genau hören, was nebenan bei Harst gesprochen wurde. Die fidele Gesellschaft war bereits bei der vierten Flasche Sekt. Ich schnitt ein winziges Loch in den Zwischenvorhang und sah nun auch Freund Harst in seiner Rolle als lebenslustigen, splendiden Engländer.

Er spielte den ganz leicht Bezechten und den renommierlustigen Sportfex, erzählte von seinen Autowettfahrten, von Segelregatten und Tennistournieren und behauptete immer wieder, so einen „Kerl“ wie ihn gebe es nicht wieder auf der Welt.

[56] Ah – es klappte! Die eine Chinesin, die hübscheste, widersprach jetzt. Auch sie war nicht mehr ganz nüchtern. Sie sagte mit einem gewissen vertraulichen Stolz, sie kenne hier in Madras einen englischen Lord, der als Sportsmann geradezu berühmt sei.

Harald änderte die Taktik, ließ noch zwei Flaschen Sekt bringen und jagte die anderen Dämchen davon, zog die Vorhänge zu und war nun mit seinem „Opfer“ allein.

Was die beiden dann flüsterten, verstand ich nicht. Ich tat jetzt, als wäre ich auf meinem Diwan eingeschlafen, hatte die Augen geschlossen und gab trotzdem auf alles genau acht – sehr genau.

Mit einem Male hörte ich draußen eine energische, ziemlich helle Stimme, die nach Tokaru rief. So hieß der patente braune „Oberkellner“. Das Englisch dieses Mannes verriet den Nichtbriten.

Ich wurde neugierig, richtete mich auf und lugte durch die Vorhänge hindurch. Inmitten dieses Raumes standen ein paar Korbsessel um ein Tischchen gruppiert. In dem einen Sessel saß ein magerer, blonder Europäer mit tiefgebräuntem Gesicht und einer scharfen, leicht gekrümmten Nase. Drei der Chinesinnen schauten ihn aus einiger Entfernung fast ängstlich an. Dann erschien Tokaru, dienerte vielmals und fragte nach den Befehlen des Sahib.

Der Fremde deutete mit einer kurzen Handbewegung auf die schlitzäugigen Püppchen. Tokaru schickte sie weg. Sie trippelten in den Nebenraum.

Tokaru beugte sich tief zu dem mageren, bartlosen Herrn herab. Sie flüsterten miteinander. Dann bemerkte ich, wie beider Augen gleichzeitig erst über Haralds und darauf über meine Kabine mit besonderem Ausdruck hinwegglitten.

Mir war sofort klar, daß Tokaru und der blonde Fremde, dessen Kinnpartie geradezu brutal in ihrer Breite und mit ihren tiefen Falten wirkte, etwas besprachen, das uns beide irgendwie anging. Von dieser Überzeugung bis zu dem Verdacht, der magere Blonde könnte wissen, wer wir in Wirklichkeit waren, gehörte nur ein kurzer Gedankensprung.

Sie flüsterten jetzt abermals miteinander.

Drüben bei Harst war es ganz still geworden.

Dann sagte der Fremde laut:

„Also eine Pfeife und die doppelte Portion Gift.“

[57] Er stand auf und schritt auf die Kabine rechts von mir zu.

Ich legte mich schnell auf den Diwan.

Eine halbe Stunde verging. Der Fremde hatte seine Opiumpfeife erhalten und regte sich nicht mehr.

Allmählich wurde mir das Warten doch langweilig. Der Opiumdunst, der den ganzen Raum durchzog, machte müde. Um nicht einzuschlafen, strengte ich mein Hirn durch scharfes Nachdenken an. Harald hatte mir zwar für den Besuch in Tschodris Opiumhöhle genaue Verhaltungsmaßregeln gegeben, mir aber nicht gesagt, weshalb er diesen Besuch für zweckdienlich halte. Er folgte eben wieder seiner alten Gewohnheit, mich nur halb einzuweihen. Er hatte lediglich erklärt: „Vielleicht finden wir den Schlüssel dieses Geheimnisses bei Tschodri.“

Ich gab mir die größte Mühe, alles das, was wir über des Lords Tod wußten, logisch zu vereinen[8] und das zu konstruieren, was man eine „Theorie“ nennt. Es wollte mir nicht glücken. Immerhin – ich blieb munter dabei.

Wieder war eine Stunde vergangen.

Da – aus Harsts Kabine eine matte, schlaftrunkene Stimme:

„Kaffee! Kaffee! Mio-Ka, – Kaffee!“

Mio-Ka war das hübsche Püppchen.

Ein anderes Püppchen betrat Harsts Kabine.

„Kaffee!“ stöhnte Harst, indem er den vom Opiumkater gepeinigten spielte.

Dann Tokarus Stimme:

„Sahib, es sind heute so sehr viel Gäste hier. Würdest Du den Kaffee nicht drüben in einem anderen Zimmer einnehmen?“

„Meinetwegen – nur Kaffee!“ stöhnte Harald wieder.

Ich hörte, wie Tokaru ihm auf die Beine half, wie beide hinausgingen.

Ich wartete noch eine Viertelstunde. Dann rief auch ich nach Kaffee, spielte ebenfalls den durch den Opiumkater schwer Leidenden.

Es wiederholte sich genau dasselbe wie bei Harst. Tokaru bat mich, im Zimmer drüben den Kaffee zu trinken. Ich nickte nur, stützte mich auf den Inder und ließ mich über den Flur in ein kleines Gemach bringen, wo Harald bereits in einem Korbsessel saß und – schlief, – das heißt, scheinbar schlief.

[58] Er wurde durch unseren Eintritt munter. Wir saßen uns gegenüber. Tokaru versprach, den Kaffee sofort zu holen.

Als wir allein waren, sagte Harald gähnend: „Das verdammte Gift! Wie lange sind Sie ihm schon verfallen, Master?“

„Drei Jahre,“ erwiderte ich.

„Wie – erst drei Jahren!“ Und Harst beugte sich über den kleinen Tisch, der uns trennte. „Erst drei Jahre?! Master, dann beneide ich Sie!“

Und wie ein Hauch folgten die Worte: „Trinke den Kaffee nicht! Halte Dich bereit!“

Ich verstand: Tokaru war zu fürchten!

Da öffnete sich auch schon die Tür dieses bescheiden möblierten Zimmers und an Tokarus Arm schwankte der blonde, magere Fremde herein, ließ sich schwer in den dritten Korbsessel fallen und murmelte:

„Kaffee, – nur Kaffee! Schnell!“

Er starrte uns blöde an und lallte weiter: „Man sollte alle Opiumhöhlen polizeilich schließen. Es ist ein Elend, wie schlapp man sich nach dem Gift fühlt!“

Tokaru war wieder gegangen, kam sofort mit einem Tablett und drei Kännchen und drei Tassen zurück.

„Bitte!“ dienerte er unterwürfig. „Echter Mokka, ganz stark!“

Er stellte die Kännchen und Tassen vor jeden von uns hin und verschwand wieder.

Der Magere, dessen Gesicht von vielen Falten durchfurcht war, griff nach seinem Kännchen und wollte sich einschenken.

„Halt!“ sagte Harald da und legte dem Fremden die Hand auf den Arm. „Halt, Master, das ist mein Mokkakännchen. Dies ist das Ihrige –“

Er nahm das vor ihm stehende Kännchen und tauschte es gegen das des Fremden aus.

„He – was soll das? meinte dieser ärgerlich. „Ich verbitte mir diese Eigenmächtigkeit, Master! Her mit meinem Kännchen!“

Harald hatte die Hand schützend über den Deckel gebreitet.

„Master – es ist mein Kännchen!“ rief er wütend. „Verstehen Sie – mein Kännchen! Das da war für Sie bestimmt.“

Der Magere lehnte sich zurück und lachte.

[59] „Master, nun gut! Fragen wir den Inder, der die Kännchen brachte –“

Auch Harald hatte sich zurückgelehnt und lachte ebenfalls.

„Master, Kännchen ist Kännchen und Mokka ist Mokka! Trinken wir!“

Er füllte sich die Tasse.

Der Blonde wollte aufstehen.

„Halt – wohin, Master?“ sagte Harst.

„Ihre Gesellschaft paßt mir nicht!“

Mit einem Male fuhr Haralds Rechte aus der Jackentasche. Die Clementpistole richtete sich auf den Mageren.

„Behalten Sie Platz!“ befahl Harst kurz. „Ich schieße – darauf können Sie Kobragift nehmen!“

Der Magere stierte Harald mit plötzlich sehr klaren Augen an.

„Ihre Scherze sind etwas eigentümlich,“ sagte er unsicher.

„Meine Scherze sind der Sachlage angepaßt, Master. Nochmals, setzen sich, oder ich drücke ab!“

Der Fremde ließ sich wieder in den Sessel gleiten.

„So,“ meinte Harst, „nun schenken Sie sich die Tasse voll und trinken Sie!“

Der Magere lachte recht gezwungen.

„Der Mensch hat den Opiumkoller,“ flüsterte er mir zu.

Aber – er gehorchte! Er füllte sich die Tasse und trank sie in einem Zuge leer.

„Jetzt haben Sie Ihren Willen, Master,“ sagte er zu Harald. „Und jetzt darf ich mich wohl verabschieden.“

„Nein – bleiben Sie!“

Da sprang der Magere auf. „Sie sind verrückt. Ich werde um Hilfe rufen! Sie werden im Polizeigefängnis schon zur Vernunft kommen!“

Harald hatte mir einen Wink gegeben. Ich war mit einem Satz an der Tür, hielt dem Blonden nun auch meine Clementpistole vor das Gesicht.




[60]
5. Kapitel.
Freund Kasi.

Der Blonde hatte plötzlich dicke Schweißperlen auf der Stirn.

„Hinsetzen!“ befahl Harst wieder.

Der Mensch sank in den Sessel.

„Ah – der Mokka wirkt schon,“ meinte Harst. „Sie kämpfen umsonst gegen die Müdigkeit an. Unsere Kännchen enthielten Mokka und einen Schlaftrunk. Ihr Kännchen nur Mokka! Sie haben sich jetzt in der eigenen Schlinge gefangen –“

Der Magere schloß die Augen. Sein Kopf fiel ihm auf die Brust.

„Einen hätten wir,“ sagte Harald. „Der zweite wird sehr bald erscheinen. Schlafen wir ebenfalls, aber – mit der rechten Hand in der Jackentasche.“

Wir brauchten nicht lange zu warten.

Es trat jemand ein.

Dieser Jemand murmelte:

„Alle drei?! Was bedeutet das?“

Ich blinzelte zwischen den Lidern hindurch.

Tokaru beugte sich gerade über den Fremden und rüttelte ihn.

„He, Kasi, – schläfst Du auch?!“

Kasi schlief wirklich. Und er schlief wie ein Toter.

Tokaru stand da und überlegte. Dann schüttelte er mich.

„Ich werde nicht daraus klug!“ murmelte er wieder.

Diesmal erhielt er Antwort.

„Aber ich!“ rief Harst.

Ich öffnete die Augen. Harald stand aufrecht und zielte auf den patenten Inder.

Tokaru war zurückgeprallt. Ich war ebenso schnell an der Tür und versperrte ihm den Weg.

„Fülle die Tasse da aus dem Kännchen!“ befahl Harst dem [61] Inder. „Vorwärts! Du weißt, mit wem Du es zu tun hast!“

Tokaru zitterte am ganzen Leibe.

„Sahib, ich – ich –“

„Gehorche!“ rief Harst unerbittlich.

Und auch Tokaru trank eine Tasse Mokka nebst Schlaftrunk.

„Setz’ Dich!“ verlangte Harald weiter.

Der Inder tat’s – Er wollte noch etwas sagen. Harst gebot ihm Schweigen.

Nach drei Minuten schlief Tokaru in dem Sessel dem Blonden gegenüber.

„Mein Alter, ich telephoniere von der Teestube vorn an Marlan, Davis und Britton. Sie sollen herkommen. Es hat aber keine Eile damit.“

Ich erledigte den Auftrag. Der Chinese Tschodri beobachtete mich, als ich am Telephon stand. Der dicke Gelbe kam herbeigeschlichen. Er hörte, wie ich Davis noch zurief: „Gut, bringen Sie den Polizeiarzt mit.“ – In dem feisten Gesicht Tschodris zeigte sich eine wachsende Unruhe. Ich beachtete ihn nicht. Er trippelte hinter mir drein. So betrat er gleich nach mir das kleine Gemach. Hier hatte Harald bereits seine Perücke und den falschen Bart entfernt und beides vor sich auf den Tisch gelegt.

Tschodri stierte sprachlos auf „Kasi“ und Tokaru.

„Nur näher heran,“ meinte Harald. „Ich möchte Dich einiges fragen, würdiger Tschodri. Mein Name ist Harald Harst, um dies vorauszuschicken. – Kennst Du jenen Mann da?“ Er deutete auf den mageren Blonden.

Tschodri nickte eifrig. Jetzt machte er durchaus nicht den Eindruck, als ob er ein böses Gewissen hätte.

„Er verkehrt viel mit Tokaru. Seit einem halben Jahr ist er häufig im Salon.“ Er meinte die Opiumhöhle. „Was ist aber mit ihm und Tokaru geschehen?“

„Oh – nichts Besonderes. Sie schlafen. Und wenn sie erwachen, werden sie wegen Raubmordes verhaftet werden.“

Der dicke Tschodri machte vor Schreck einen Satz nach rückwärts und keuchte dann:

„Haben die Schufte etwa hier bei mir jemand umgebracht?“

„Nein. Beruhige Dich. Anderswo. Du kannst jetzt gehen. Sobald die Herren von der Polizei kommen, führe sie hierher.“

[62] Tschodri watschelte ab. – Harald faßte dem schlafenden „Kasi“ in die Brusttasche und holte ein Portefeuille heraus. Es enthielt Ausweispapiere für den Artisten Andrew Bourton und etwa 8000 Rupien an Geld.

„Wer ist dieser Mensch nun eigentlich?“ fragte ich.

Harald hatte sich gesetzt und rauchte. „Weißt Du es wirklich nicht?“ meinte er. „Tokaru nannte ihn „Kasi“. Das sagt genug, denke ich.“

Ich mußte mich gedulden. Wenn die Herren von der Polizei erst hier waren, würde auch ich alles erfahren.

Und die drei Erwarteten erschienen auch bald und brachten den Polizeiarzt mit.

„He – was ist’s mit den Beiden?“ fragte Marlan kopfschüttelnd.

„Es sind Albemarles Mörder, Master Marlan,“ erwiderte Harst. „Der Doktor ist wohl so liebenswürdig und bringt sie wieder zur Besinnung. Sie haben den Schlaftrunk trinken müssen, der uns zugedacht war.“

Die Auferweckungsmethode des Polizeiarztes war recht einfach und recht wirkungsvoll. Es genügt, wenn ich den Namen „Brechweinstein“ erwähne.

Kasi und Tokaru wurden von je zwei Polizisten wieder in das kleine Zimmer geleitet, nachdem sie im Garten Seekrankheitsstudien gemacht hatten. Sie waren mehr tot als lebendig. Trotzdem hatten sie noch die Frechheit, die Empörten zu spielen, als Harst ihnen den Raubmord an Albemarle mit den Worten vorhielt: „Geben Sie die sogenannte Stoschra-Sammlung heraus! Die Beweise, die ich gegen Sie habe, genügen zu Ihrer Überführung.“

Die beiden Verbrecher leugneten, und Kasi rief Inspektor Marlan zu: „Dieser Mensch (dabei zeigte er auf Harst) hat uns durch irgend ein Mittel betäubt. Ich bin Amerikaner und werde mich unter den Schutz meines Konsuls stellen.“

Harst schaute den Hageren durchdringend an. „Sie wissen recht gut, wer ich bin,“ sagte er ruhigen Tones. „Sie sind uns ja hier in die Opiumhöhle gefolgt, nachdem Sie uns schon vor dem Bungalow Albemarles aufgelauert hatten. Sie sind der Dieb der gelben Diamanten und heißen in Wahrheit Kasimir Stoschra, der anscheinend in jenem Wasserfall ums Leben kam. – Sie wollten diese Diamanten um jeden Preis wieder an sich bringen. Zu diesem Zweck verbündeten Sie sich mit Tokaru. [63] Dieser sollte Lord Albemarle das Geheimnis entlocken, wo die Edelsteine versteckt waren. Es ist eine bekannte Tatsache, daß man Leute, die nach einem Opiumrausch noch im halben Dämmerzustand daliegen, zum Ausplaudern von allerlei Dingen veranlassen kann, indem man ihnen Fragen ins Ohr flüstert. Ich habe die Chinesin Mio-Ka vorhin betrunken gemacht. Sie hat mir erzählt, daß Tokaru so und so oft, wenn Albemarle opiumberauscht auf dem Diwan lag, neben ihm kniete und zu ihm sprach. Der Lord hat dann auch eines Tages das Geheimnis des chinesischen Rauchtisches unbewußt preisgegeben. Sie und Tokaru ermordeten ihn dann, indem Sie ihm auf der Straße als er in eine Rotte trunkener Matrosen geriet, zwei am Ende eines Spazierstocks angebrachte vergiftete Nadeln in den linken Oberarm stießen. So sollte ein Schlangenbiß vorgetäuscht werden. Albemarle spürte die Wirkungen des Giftes sehr bald. Britton war bei ihm. Und Britton erzählte mir, daß der Lord von Matrosen angerempelt worden war. Auf dem Ärmel der Jacke des Lords fand ich an der Stelle, wo die Stiche saßen, Straßenschmutz. Die Straßen waren abends gesprengt worden, und wahrscheinlich ist irgend wie etwas Schmutz an den Spazierstock gespritzt. Daß die Stiche von keinem Schlangenbiß herrührten, sah ich sofort. Sie lagen viel zu weit auseinander. Die Giftzähne einer ausgewachsenen Kobra, der größten Giftschlange Indiens, liegen allerhöchstens 2 Zentimeter auseinander. Die Stiche im Oberarm des Lords hatten einen Zwischenraum von 21/2 Zentimeter. – Ich fand das Geheimfach im Rauchtisch, weil Sie aus Unachtsamkeit ein Blättchen Zigarettenpapier in die Verschlußplatte eingeklemmt hatten, als Sie die Diamanten aus dem Zimmer holten, in dem der tote Lord saß. Er hatte zu niemandem über dies Versteck gesprochen. Ich überlegte mir, daß man ihm als Opiumraucher dies Geheimnis dort entlockt haben könnte, wo er diesem Laster frönte. Deshalb besuchte ich Tschodris Opiumhöhle, deshalb fragte ich die Chinesin aus. Und als Sie, Kasimir Stoschra, dann hier erschienen und mit Tokaru allerhand zu flüstern hatten, erkannte ich in Ihnen Tokarus Spießgesellen.“

Harald ging jetzt in eine Ecke des Zimmers. Dort stand ein reichgeschnitzter, sehr dicker Spazierstock aus Bambusrohr. Er hielt Marlan das untere Ende des Stockes hin. „Bitte, – dort sind noch die Löcher zu sehen, in denen die vergifteten [64] Nadeln saßen!“ sagte er nur. Dann winkte er mir zu. „Gehen wir, mein Alter. Wir haben noch anderswo etwas zu erledigen.“

In demselben Moment trat ein indischer Dienstmann ein. „Hier – ein Brief für Sahib Harald Harst!“

Harald steckte den Brief in die Tasche. Wir beide gingen in Tschodris Garten. Harst öffnete den Brief und ließ mich mitlesen. Da stand in Lady Broogs großer Schrift: „Master Harst! Ich weiß, Sie haben mich durchschaut. Ich habe Tokaru und den Blonden bei Tschodri belauscht. Ich konnte nicht alles hören. Ich wollte Albemarle vor diesem Anschlag schützen. Aber ich kam zu spät. Als ich durch das Fenster einstieg, war er schon tot. Ich holte den einen Spangenschuh und legte ihn dem Toten zwischen die Füße. Ich wollte dieses Mordes wegen verhaftet werden – von Ihnen! Und Sie wollte ich später dadurch blamieren, daß ich die wahren Mörder nannte. Diese Rache ist mir nicht geglückt. – Leben Sie wohl. Ich bin fortan Ihre begeisterte Verehrerin. – Anna Broog.“

„So, mein Alter,“ meinte Harst, „nun weißt Du alles. Dieser Fall war ganz interessant.“ –

Tokaru legte ein Geständnis ab und verriet auch den Ort, wo er und Stoschra die Diamanten verborgen hatten. Beide wurden zum Tode verurteilt. –

Eine Woche später sollten wir nochmals mit der tollen Lady zusammentreffen. Hierüber berichte ich im nächsten Bande, in

Die Büchse der Pandora.



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Kabels Kriminalbücher


Wir gestatten uns, alle Freunde der Harald Harst-Erzählungen darauf hinzuweisen, dass weitere Harst-Abenteuer in Kabels Kriminalbücher erschienen sind. Sie tragen die Titel:


Harst-Bände aus der Serie „Kabels Kriminalbücher“


Band 13: Der Klub der Toten.
19: Die roten Briefe.
22: Die eiserne Frau.
26: Der Saal ohne Fenster.
27: Als Harst verschwand.
28: Die Hand aus Holz.
29: Der Geistersucher.
30: Schraut gegen Harst.
31: Die Yacht mit den 3 Mumien.
32: Die Antenne im 5. Stock.
33: Das Gespenst von Kap Tschi-Lao.
34: Der weiße Tiger.
35: Fünf Finger am Fenster.


In den vorstehenden Bänden werden einen Anzahl der besten und spannendsten Abenteuer Harald Harsts veröffentlicht. Wir können die Freunde unserer „Detektiv“-Erzählungen nur raten, sich diese Bände zu besorgen. Preis des 96 Seiten starken Bandes nur 40 Pfennige.

Die vorstehenden Bände aus „Kabels Kriminalbücher“ sind durch jede Buchhandlung zu beziehen, bei Voreinsendung des Betrages (zuzüglich 5 Pfg. für Porto) liefert dieselben auch der

Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 26, Elisabethufer 44.



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  1. Vorlage: Dampffeifen
  2. Vorlage: diess
  3. Vorlage: Fleppe
  4. Vorlage: miteilen
  5. Die Vorlage ist hier unleserlich.
  6. Vorlage: die
  7. Vorlage: meine
  8. Vorlage: verneinen