„Hast Du denn gar nichts bemerkt, Mutter Flepp?“ fragte Harald in vorsichtigem Flüsterton. „Bessie muß doch mit irgend jemand in letzter Zeit vertrauter gestanden haben. Hat ihr nicht dieser oder jener Deiner Gäste stärker den Hof gemacht?“
Sie schüttelte den Kopf, holte aus der Tasche eine Photographie hervor und hielt sie uns hin.
„Das ist meine Bessie, mein einziges Kind. Für sie hab’ ich als Witwe mich hier mit dem verfluchten Matrosenvolk herumgeärgert. Für sie habe ich gespart. Zweiundzwanzig ist sie alt, war in England zwei Jahre in Pension –“
„Halt,“ meinte Harst. „Sie war stets sehr ablehnend Männern gegenüber, erzählte Davis uns.“
„Das stimmt. Sie galt für hochmütig. In der Kneipe war sie nie zu sehen. Sie hatte die Küche unter sich, und sie war fleißig und kochte großartig.“
„Wann kehrte sie aus England zurück?“
„Vor acht Monaten.“
„Und sie hatte hier keinen Verehrer, Mutter Flepp?“
„Verehrer?! Jung’, bei der hätt’st Du nicht mal Glück gehabt.“
„Sie kann dann doch aber unmöglich mit einem Manne durchgebrannt sein, Mutter Flepp?!“
„Es ist so. Sie ist ja gesehen worden. Sie war Montag abend in das Gayty-Theater gegangen. Es gab so’n modernes Stück. Zufällig war Käp’ten Dobbler auch da.“
„Wer ist Dobbler?“
„Der Eigentümer und Kapitän des Motorschleppers „London“, ein Freund meines seligen Mannes. Und dieser Dobbler hat beobachtet, wie Bessie nach dem zweiten Akt mit einem Herrn, der neben ihr gesessen hatte, hinausging. Sie kam auch nicht wieder. Sie hat sich eben von diesem Unbekannten umgarnen lassen und – na, – seitdem ist sie eben weg.“
Harald schob den Teller beiseite und besichtigte die Photographie.
Diese Bessie Flepp war wirklich ein hübsches Mädchen.
Walther Kabel: Der Piratenschoner. Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 1921, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Piratenschoner.pdf/10&oldid=- (Version vom 31.7.2018)