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Das Hospital La Salpetrière in Paris

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
CCCCLXVIII. Liverpool Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band (1843) von Joseph Meyer
CCCCLXIX. Das Hospital La Salpetrière in Paris
CCCCLXX. Die grosse Moschee in Brussa
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LA SALPETRIÈRE IN PARIS

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CCCCLXIX. Das Hospital La Salpetrière in Paris.




Paris ist ein Januskopf. Auf dem einen Gesichte liegen die Züge der Verschwendung, der Ueppigkeit, des Leichtsinns, des Unglaubens, kurz aller Laster, welche die Menschheit erniedrigen; auf dem andern die der Großmuth, der Aufopferung, der Hingebung, der Wohltätigkeit und aller Tugenden, welche den Menschen ehrwürdig machen und den Christen zieren. So muß man in der That erstaunen, wenn man die unübersehliche Menge von Anstalten mustert, die hier für Arme, Kranke und Notleidende, Wittwen und Waisen, verlorene und ausgesetzte Kinder, Alte und Schwache, Stumme und Blinde, Arbeitslose und Arbeitslustige und für Liederliche, die sich bessern wollen, von der Wohlthätigkeit, oder dem frommen Sinn der Privaten gestiftet worden sind. – In einem ganz andern Lichte hingegen erscheinen die königlichen Anstalten aus der Epoche Ludwig XIV., der, nachdem er das Volk ausgesogen und zu Bettlern gemacht hatte, Bettlerhäuser erbauen mußte, um sich vor der Verzweiflung des Elends zu schützen. Der schlichteste Verstand begreift, daß, hätten der Monarch und seine Nachfolger die bürgerliche Ordnung Frankreichs auf Weisheit, Gerechtigkeit und Tugend gegründet, statt auf den Künsten des Volksbetrugs, sie nicht nöthig gehabt haben würden, in der Hauptstadt über hundert Millionen auf Asyle für das Elend zu verwenden, das sie selbst gemacht haben. Eine unverhältnißmäßig große Zahl von Spitälern, vom Staat gegründet, ist allwärts ein unverdächtiges Zeugniß von der Schlechtigkeit der Verwaltung; denn gutes Regiment hält die Nothwendigkeit so vieler Zufluchtsstätten der Armuth fern. Ein Zehntel der Pariser Bevölkerung lebt gegenwärtig von öffentlichem Almosen, oder in den Spitälern; in den Sterbesälen derselben haucht ein Fünftel die letzten Seufzer aus. –

Ludwig XIV. brachte den Krieg des Reichthums gegen die Armuth, der höhern Klassen gegen die niedern in ein System, welches fortwirkt bis auf den heutigen Lag. Die dichte Bevölkerung der vielen Armenhäuser und Hospitäler beweist, auf welcher Seite von jeher der Sieg, auf welcher die Niederlage war. Blos die Revolution hatte auf eine kurze Zeit das Kriegsglück gewendet: die Guillotine dezimirte damals die Reichen, wie der Tod in den Spitälern die Armen zehntet.

Traurige Betrachtung! – Könige und Dynastien haben gewechselt, Verfassungen und Regierungsformen haben andern Platz gemacht und doch blieb die alte Ungerechtigkeit am Steuer. Immer hat sich die Macht, welchen Namen sie auch angenommen, mit dem Reichthum und dem Besitz gegen die Armen und Besitzlosen verschworen [140] und das Helotenverhältniß im Volke zu befestigen gesucht. Wo Verfassungen mit Volksvertretung bestehen, da hat man schlau das Wahlrecht an den Besitz gebunden und den Völkern weiß gemacht, daß Menschen, welche nicht eignes Hab und Gut in Menge zu verlieren haben, am Landeswohl nie aufrichtig Theil nehmen könnten. Man schämt sich nicht, den Besitzlosen und Minderbegüterten auch noch das sittliche Gefühl abzusprechen, und macht sie ehrlos, indem man sie ihrer Rechte beraubt. Und doch ist nichts alltäglicher, als die Erscheinung, daß der Begüterte durch schnöde Künste und Bestechung sich in die Volksvertretung einschwärzt, daß ihn häufig die verächtlichsten Motive hineinführen, daß er, als Deputirter, nur egoistische Zwecke verfolgt und bereit ist, der Macht sein Gewissen zu verkaufen. Ich kenne ein Land, wo die Bauern vorzugsweise die Bänke der Volksvertretung füllen. In Norwegen hört man Nichts von einer Gesetzgebung, welche die untern Klassen zu Spitalbürgern oder Bettlern zu machen trachtet. In Frankreich hingegen und anderwärts, wo die reichen Leute, oder die Beamten der Regierung, allein als sogenannte Volksdeputirte die Auflagen vertheilen, werden wir stets das Bestreben erkennen, den größten und schwersten Theil derselben den Armen aufzubürden. Muß sich nicht das Herz empören, wenn man die Einnahmebudgets der meisten europäischen Staaten aufmerksam betrachtet? Welche Bedürfnisse zahlen die meisten Steuern? die unentbehrlichsten. Wer hat folglich die Lasten am schwersten zu tragen, unter welchen die Völker stöhnen? der arme Taglöhner, der Arbeiter, der Bauer, der geringe Handwerker. Der Landmann und der schlichte Bürger, die ihren Söhnen nicht das lernen lassen können, was sie vom Blutzehnt frei macht; sie müssen auch noch das Kind hergeben, den Ueberfluß des Reichen gegen ihre eigene Noth zu schützen. Salz und Brod, Bier und Fleisch werden durch Abgaben vertheuert, da doch der Luxus der Reichen entweder gar nicht, oder nur um so viel besteuert ist, um den Schein zu decken. Während die Quadratruthe Feld, auf welcher die arme Wittwe unter dem Schweiße ihres Angesichts einen Korb Kartoffeln baut, eingeschätzt ist, hat der Banguier Staatspapiere zu Hunderttausenden in der Truhe und sein Vermögen ist unbesteuert. Blutsauger unter allen Gestalten hängen am Geschäftsmann, der sich sorgt und plagt vom Morgen bis zum Abend, um ihm den Thaler zu entziehen, welchen sein Fleiß erwerben möchte: aber die kolossalen Vermögen unproduktiver, nutzloser, stolzer Geldkönige, deren ganze Jahres-Arbeit darin besteht, einen Haufen Coupons abzuschneiden, bleiben von allem Druck und Zwang befreit, und Einkünfte von Hunderttausenden helfen ungeschmälert Millionen zu Millionen häufen.

Wenn eine Regierung das thut, – wenn eine Regierung, welche Millionen der Armuth abpreßt, nachher Hunderttausende zur Verpflegung siecher Armen hergibt, dann klebt diesem Verfahren so wenig Verdienst an, als der Handlung des Diebs, welcher einen Thaler stiehlt und einen Groschen zurückschenkt. Oder geschieht es wirklich aus Zärtlichkeit für das Volk, daß man ihm das letzte Hemd auszieht, um ihm, nackt, nachher die Spitalthür zu öffnen? Man möchte es uns weiß machen; aber ich weiß es besser. Aus Furcht geschieht es, aus [141] Furcht vor der Verzweiflung und um der Ängstlichkeit der Reichen willen. Wer den Kopf schütteln möchte, der denke nur erst nach; ich werde Recht behalten.


Sämmtliche Pariser Hospitäler stehen gegenwärtig unter einer Centralverwaltung, haben Apotheke, Bäckerei und Keller gemeinschaftlich, und ein eigenes anatomisches Theater. Sie verpflegen jährlich über 100,000 Kranke mit 15 Millionen Franken Kosten. Ihre großen Einkünfte beziehen sie aus den Stiftungsfonds, weit mehr aber noch aus Antheilen an den städtischen Abgaben und dem zehnten Theil der Einnahmen aller Theater der Hauptstadt.

Mit dem Hotel Dieu wetteifert die Salpetrière an Größe und Zweckmäßigkeit der Einrichtung. Die Anstalt hat, auf dem Boulevard de l’Hospital, in der Nähe des botanischen Gartens, eine sehr gesunde Lage. Ihre Gebäude mit ihren Höfen und Gärten nehmen einen Raum von 16 Morgen ein. Sie bildet gleichsam eine Stadt für sich mit Straßen und freien Plätzen, Kirche, Friedhof und einer Bevölkerung von 6000 weiblichen Wesen. Armen- und Irrenanstalt zugleich, ist sie ein Asyl für Frauen, welche Alter und Krankheit gebrochen haben, und die letzte irdische Wohnung für die Unglücklichen, welche kein Band mehr mit der übrigen Welt zusammenknüpft, — für jene Aermsten unter Allen, denen

„Ein Gott, der Alles gibt und Alles nehmen darf,
„Die Mitgift nahm, die sie zum Menschen adelt.“

Die alten Frauen haben 2000 Zellen und mehre gemeinschaftliche Speise- und Unterhaltungssäle, auch einen Krankensaal mit 500 Betten. Viele beschäftigen sich mit leichten weiblichen Arbeiten, mit Spinnen und Spitzenklöppeln, deren Ertrag in die Kasse für gemeinschaftliche Rekreation fließt. Die hintersten Reihen der Gebäude bewohnen die Irren. 1500 Frauen und Mädchen jeden Alters zeigen hier die unerklärlichen Proteusverwandlungen des menschlichen Geistes in jeglicher Mannichfaltigkeit.

Wenn du je in einem Tollhause warst, war es dir nicht auch, als trätest du in ein Allerheiligstes? Rieselten dir nicht Schauer durch Mark und Gebein, als du die Nachtgestalten, als du in die Gesichter schautest, aus deren Augen und deren Zügen andere Zustände zu dir sprachen, als die gewöhnlichen der Menschen? War es nicht mehr Ehrfurcht, als Mitleid, was dich anwandelte, und schien es dir nicht erklärlich, daß die Welt so manche Wahnsinnige als Heilige verehrt hat? Unsere nüchterne Gegenwart ist freilich sicher davor, daß die Irrenhäuser Kanonisationsbullen bekommen, obschon so mancher tüchtige Canditat des Bedlam noch immer dann und wann, wäre es auch nur als Philosoph oder Meinungsapostel, der Welt eine Nase dreht.

[142] Die Irren sind nach dem Grade ihres Wahnsinns in verschiedene Klassen getheilt und jeder sind eigene Gebäude und Höfe angewiesen. Die Närrinnen der ersten Klasse füllen die vorderen Gallerieen. Jede hat ihre Zelle; dabei haben je 40 bis 50 einen gemeinschaftlichen Saal zu Spiel, Arbeit und Conversation. Es sind größtentheils junge, schüchterne Wesen, viele von ausgezeichneter Geistes- und Körperbildung, deren Leiden sich selbst bei längerer Unterhaltung kaum verräth. Sie haben zu ihrem Gebrauche eine gemeinschaftliche Bibliothek, führen Conzerte auf und werden von den Damen, die sie beaufsichtigen, zu Zeiten selbst in’s Freie geführt. – Der Wurm nagt aber Allen am Herzen, und gerade von diesen sanften, in sich gekehrten Wesen genesen gar selten welche.

Die zweite Klasse besteht aus ausgemachteren Närrinnen. Auch sie sind frei, arbeiten und conversiren in gemeinschaftlichen Sälen. Doch ist ihre Unterhaltung schon viel bunter und ihre Reizbarkeit gegen äußere Eindrücke viel größer. Ein an sich geringfügiger Umstand, das Läuten einer Glocke, das Rollen des Donners, der Anblick eines fremden Gesichts erregt bei ihnen nicht selten die heftigsten Szenen. Schnell steigt dann in diesen anscheinend ruhigen, vernünftigen, ihren Beschäftigungen hingegebenen Wesen die Gewitterwolke des Wahnsinns auf, hüllt den klaren Horizont des Geistes in nächtliches Dunkel und Blitze und Donnerschläge der Raserei jagen Entsetzen ein, ehe man sich dessen versehen mag. Andere sind plötzlich zu lauter Herzoginnen, Prinzessinnen, Königinnen geworden; zerlumpte, groteske Frauengestalten verfügen mit dem Anstande einer Semiramis über Schlösser, Städte und Provinzen, oder sie halten Conseil mit ihren Ministern über das Wohl ihrer Reiche. Die eine erzählt dir von Staatsangelegenheiten, die andere unterhält dich mit dem Plane einer Vermählung mit dem oder jenem großen Monarchen zum Frommen ihrer Macht und Herrschaft. Stolz und Ehrsucht äußern sich, als Quellen der Narrheit, auf die pittoreskeste Weise. Ein Mädchen wirft sich zur Braut längst verstorbener literarischer oder historischer Berühmtheiten auf; eine andere drückt vermessen den ganzen Himmel, als dessen Verlobte, an die Brust, oder feiert ein Incarnationsfest mit dem Allmächtigen. Sehr viele von diesen unglücklichen, bedauernswerthen Geschöpfen sind Opfer der Liebe, welche die eiskalte Welt und ein eiskaltes Herz in’s Irrenhaus gebracht.

Wer beschreibt aber den Jammer in den Wohnungen für die untern Klassen der Wahnsinnigen? Wer das Leben der alleruntersten, gegen die das Leben des Mörders im Bagno noch wie Licht gegen tiefe Schlagschatten erscheint? Das Kainsgesicht auf dem Antlitz eines Galeerensträflings erfüllt uns mit Abscheu; allein der Ausdruck des Tigers in der Brüllenden, welche, nackt, ihre blutigen Hände an dem Gitter ihres Käfichs zerschlägt, oder in der Zwangsjacke mit aufgesträubtem Haare und blitzenden Augen am Boden sich wälzt, erfüllt mit Entsetzen. Und das sind noch nicht die ärgsten Szenen in diesen Höhlen des Grauens. Wo der Wahnsinn als Strafe wüster Ausschweifung erscheint, als Folge moralischer Fäulniß, – da ist auch oft die leibliche Fäulniß hinzugetreten, das Geschöpf wälzt sich im stinkenden Pfuhle, den es sich geschaffen; ein [143] Anblick, nicht zu ertragen. Und doch wohnt in diesen Unglücklichen eine Seele, unsterblich wie deine eigene. – Ich verstehe die Thräne in deinem Auge und lege die Feder nieder.