![]() |
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band |
|
Paris ist ein Januskopf. Auf dem einen Gesichte liegen die Züge der Verschwendung, der Ueppigkeit, des Leichtsinns, des Unglaubens, kurz aller Laster, welche die Menschheit erniedrigen; auf dem andern die der Großmuth, der Aufopferung, der Hingebung, der Wohltätigkeit und aller Tugenden, welche den Menschen ehrwürdig machen und den Christen zieren. So muß man in der That erstaunen, wenn man die unübersehliche Menge von Anstalten mustert, die hier für Arme, Kranke und Notleidende, Wittwen und Waisen, verlorene und ausgesetzte Kinder, Alte und Schwache, Stumme und Blinde, Arbeitslose und Arbeitslustige und für Liederliche, die sich bessern wollen, von der Wohlthätigkeit, oder dem frommen Sinn der Privaten gestiftet worden sind. – In einem ganz andern Lichte hingegen erscheinen die königlichen Anstalten aus der Epoche Ludwig XIV., der, nachdem er das Volk ausgesogen und zu Bettlern gemacht hatte, Bettlerhäuser erbauen mußte, um sich vor der Verzweiflung des Elends zu schützen. Der schlichteste Verstand begreift, daß, hätten der Monarch und seine Nachfolger die bürgerliche Ordnung Frankreichs auf Weisheit, Gerechtigkeit und Tugend gegründet, statt auf den Künsten des Volksbetrugs, sie nicht nöthig gehabt haben würden, in der Hauptstadt über hundert Millionen auf Asyle für das Elend zu verwenden, das sie selbst gemacht haben. Eine unverhältnißmäßig große Zahl von Spitälern, vom Staat gegründet, ist allwärts ein unverdächtiges Zeugniß von der Schlechtigkeit der Verwaltung; denn gutes Regiment hält die Nothwendigkeit so vieler Zufluchtsstätten der Armuth fern. Ein Zehntel der Pariser Bevölkerung lebt gegenwärtig von öffentlichem Almosen, oder in den Spitälern; in den Sterbesälen derselben haucht ein Fünftel die letzten Seufzer aus. –
Ludwig XIV. brachte den Krieg des Reichthums gegen die Armuth, der höhern Klassen gegen die niedern in ein System, welches fortwirkt bis auf den heutigen Lag. Die dichte Bevölkerung der vielen Armenhäuser und Hospitäler beweist, auf welcher Seite von jeher der Sieg, auf welcher die Niederlage war. Blos die Revolution hatte auf eine kurze Zeit das Kriegsglück gewendet: die Guillotine dezimirte damals die Reichen, wie der Tod in den Spitälern die Armen zehntet.
Traurige Betrachtung! – Könige und Dynastien haben gewechselt, Verfassungen und Regierungsformen haben andern Platz gemacht und doch blieb die alte Ungerechtigkeit am Steuer. Immer hat sich die Macht, welchen Namen sie auch angenommen, mit dem Reichthum und dem Besitz gegen die Armen und Besitzlosen verschworen
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1843, Seite 227. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_10._Band_1843.djvu/237&oldid=- (Version vom 17.2.2025)