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Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band |
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Die Irren sind nach dem Grade ihres Wahnsinns in verschiedene Klassen getheilt und jeder sind eigene Gebäude und Höfe angewiesen. Die Närrinnen der ersten Klasse füllen die vorderen Gallerieen. Jede hat ihre Zelle; dabei haben je 40 bis 50 einen gemeinschaftlichen Saal zu Spiel, Arbeit und Conversation. Es sind größtentheils junge, schüchterne Wesen, viele von ausgezeichneter Geistes- und Körperbildung, deren Leiden sich selbst bei längerer Unterhaltung kaum verräth. Sie haben zu ihrem Gebrauche eine gemeinschaftliche Bibliothek, führen Conzerte auf und werden von den Damen, die sie beaufsichtigen, zu Zeiten selbst in’s Freie geführt. – Der Wurm nagt aber Allen am Herzen, und gerade von diesen sanften, in sich gekehrten Wesen genesen gar selten welche.
Die zweite Klasse besteht aus ausgemachteren Närrinnen. Auch sie sind frei, arbeiten und conversiren in gemeinschaftlichen Sälen. Doch ist ihre Unterhaltung schon viel bunter und ihre Reizbarkeit gegen äußere Eindrücke viel größer. Ein an sich geringfügiger Umstand, das Läuten einer Glocke, das Rollen des Donners, der Anblick eines fremden Gesichts erregt bei ihnen nicht selten die heftigsten Szenen. Schnell steigt dann in diesen anscheinend ruhigen, vernünftigen, ihren Beschäftigungen hingegebenen Wesen die Gewitterwolke des Wahnsinns auf, hüllt den klaren Horizont des Geistes in nächtliches Dunkel und Blitze und Donnerschläge der Raserei jagen Entsetzen ein, ehe man sich dessen versehen mag. Andere sind plötzlich zu lauter Herzoginnen, Prinzessinnen, Königinnen geworden; zerlumpte, groteske Frauengestalten verfügen mit dem Anstande einer Semiramis über Schlösser, Städte und Provinzen, oder sie halten Conseil mit ihren Ministern über das Wohl ihrer Reiche. Die eine erzählt dir von Staatsangelegenheiten, die andere unterhält dich mit dem Plane einer Vermählung mit dem oder jenem großen Monarchen zum Frommen ihrer Macht und Herrschaft. Stolz und Ehrsucht äußern sich, als Quellen der Narrheit, auf die pittoreskeste Weise. Ein Mädchen wirft sich zur Braut längst verstorbener literarischer oder historischer Berühmtheiten auf; eine andere drückt vermessen den ganzen Himmel, als dessen Verlobte, an die Brust, oder feiert ein Incarnationsfest mit dem Allmächtigen. Sehr viele von diesen unglücklichen, bedauernswerthen Geschöpfen sind Opfer der Liebe, welche die eiskalte Welt und ein eiskaltes Herz in’s Irrenhaus gebracht.
Wer beschreibt aber den Jammer in den Wohnungen für die untern Klassen der Wahnsinnigen? Wer das Leben der alleruntersten, gegen die das Leben des Mörders im Bagno noch wie Licht gegen tiefe Schlagschatten erscheint? Das Kainsgesicht auf dem Antlitz eines Galeerensträflings erfüllt uns mit Abscheu; allein der Ausdruck des Tigers in der Brüllenden, welche, nackt, ihre blutigen Hände an dem Gitter ihres Käfichs zerschlägt, oder in der Zwangsjacke mit aufgesträubtem Haare und blitzenden Augen am Boden sich wälzt, erfüllt mit Entsetzen. Und das sind noch nicht die ärgsten Szenen in diesen Höhlen des Grauens. Wo der Wahnsinn als Strafe wüster Ausschweifung erscheint, als Folge moralischer Fäulniß, – da ist auch oft die leibliche Fäulniß hinzugetreten, das Geschöpf wälzt sich im stinkenden Pfuhle, den es sich geschaffen; ein
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1843, Seite 230. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_10._Band_1843.djvu/240&oldid=- (Version vom 17.2.2025)