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Das Chamouni-Thal

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
CCCCLII. Arthursburg auf dem St. Michaelsberg in Cornwallis Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band (1843) von Joseph Meyer
CCCCLIII. Das Chamouni-Thal
CCCCLIV. Der Aetna und Catanea
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CHAMOUNI IN DER SCHWEIZ

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CCCCLIII. Das Chamouni-Thal.




Tief im Schooße der Alpenwelt verborgen und fern von fahrbaren Straßen liegt, an der Grenze von Savoyen, das Chamouni-Thal, aus welchem der König der europäischen Berge, der Montblanc, emporsteigt. Es ist 4 bis 5 Stunden lang, ¼ bis ½ Stunde breit, und wird seiner ganzen Länge nach von einem mächtigen Gletscherstrom, der Arve, durchrauscht. Mehre hundert Hirtenfamilien bewohnen es, welche in der Prieuré von Chamouni eine kleine Kirche haben. Den Boden des Thals bilden liebliche Wiesengründe, die mit den von allen Seiten herabhängenden Gletschern und Eisfeldern, den Staub- und Sturzbächen, den grotesken Felsbildungen und den auf den grünen Matten umherliegenden Steinkolossen einen reizenden Contrast machen. Im Winter und Frühjahr ist das Thal ein Bild der Abgeschiedenheit und Ruhe; im Sommer aber ist es stets mit Fremden aller Nationen angefüllt, zu deren Aufnahme vier große Hotels öfters nicht ausreichen. Die weibliche Jugend des Thals verdingt sich dann als Aufwärterinnen zur Bedienung der Fremden, die männliche als Führer, und beide haben eine reiche Erntezeit. Das Erworbene wird gespart und auf Verbesserung des Hauswesens verwendet. Nirgends sieht man schönere Heerden, und das freundliche Bild der Wohlhabenheit spiegelt sich an der schmucken Kleidung der Aelpner, an ihren Wohnungen und der Tüchtigkeit ihres Hausgeräthes wieder. Die geschicktesten und kühnsten Gemsjäger sind in dem Thale zu Hause.

Bis vor einem Jahrhundert war dieser interessante Punkt der Alpen der Reisewelt gänzlich unbekannt. Im Jahre 1741 verirrten sich zwei Engländer, Pocock und Windham, die den Montblanc zu besteigen trachteten, dahin, und indem sie die Entdeckung ihren reiselustigen Landsleuten mit den reizendsten Farben schilderten, leiteten sie den Zug der Touristen in diesen stillen Bergwinkel. Seitdem hat sich seine Bevölkerung verzehnfacht, prachtvolle Hotels stiegen empor, Pfade und Wege wurden angebahnt und von dem industriösen Aelpner die Natur-schönheiten in den Umgebungen des Thals zugänglich gemacht. Noch erhält sich das Andenken an die Entdecker in dem Namen eines ungeheuern Granitblockes auf dem Montavert. Er heißt der Stein der beiden Engländer.

Drei Saumpfade werden am gewöhnlichsten benutzt, um in das Thal von Chamouni zu gelangen. Der [89] eine führt von Evian am Genfersee über Samoens dahin; der zweite geht von Martinach (Martigny) über den Col de Balme; der dritte, bequemste, ist von Genf über Sallenches und Servoz. Diesen schlagen auch wir ein.

An einem heitern Julimorgen brechen wir in aller Frühe von Evian auf. Rosengewölk glänzt am Himmel; der See taugt sich in Purpurgluth; die Sonne steigt wie blitzendes Gold über den großen Saleve herauf und belebend, Bergluft fächelt Kühlung. Rüstig traben unsere Thiere durch Chesne, das letzte, freundliche Dorf im Cantonsgebiet; auf der Anhöhe verläßt uns die freie Schweiz und wir sind im Gebiete eines absoluten Königs, wir sind in Savoyen. Auch ohne den Wappenpfahl am Wege, auch ohne Barrière und Mauthhaus hätten wir es sogleich bemerkt. Auf der Genfer Seite blickte uns Intelligenz, Heiterkeit der Seele und Menschenwürde aus jedem Gesichte an, der Fleiß und seine Tochter, die Wohlhabenheit, sahen aus jedem Bauernhause, über jeden Gartenzaun; hier glotzt uns Dummheit entgegen, Armuth und Elend mit Kröpfen und Kretinismus im Bunde grinzen aus jeder Hütte. Ueberall ist Verfall und Versunkenheit bemerklich, und an den Früchten, die der Boden pfäffischer und administrativer Despotie unter jedem Himmelsstriche trägt, ist hier nirgends Mangel.

Aber die Natur, wie wunderschön, wie groß, wie erhaben, wie herrlich ist sie! Man erblickt die savoischen Alpenriesen in den glänzend-weißen Gewändern, und unter ihnen liegt, wie an der Pforte einer Zauberwelt, der Flecken Faucigny, eingeklemmt zwischen die starren Mauern einer Felsschlucht. Hier rasten wir zum ersten Male. Der Gasthof ist gut und groß; er wimmelt zu jeder Tageszeit von den Wanderschaaren vieler Völker.

Weiter geht’s nach Sallenches durch ein Land der großartigsten und zugleich lieblichsten Scenerie. Wie traulich und ruhig alle Thäler! welche Majestät in diesen Höhen! Die wilde, rauschende Arve, welche der mächtigen Rhone zueilt, ist unsere stete Begleiterin auf diesem Wege, von dem aus man bald Gletscher, bald Eismeere, bald sammtartige Alpen mit Sennhütten, bald hohe Wasserfälle vor Augen hat, bald erschüttert wird durch das ferne Donnern der Lawinen. Die Wolken säumen sich schon golden, als wir Sallenches erreichen. Aus den Fenstern des Gasthofs, wo wir unser Nachtquartier nehmen, sehen wir den Montblanc gerade vor uns. Noch strahlt sein Haupt in Purpurglanz, während in der Tiefe schon Abendnebel ziehen. Erst gegen Mitternacht erbleicht sein Haupt.

In Sallenches miethen wir frische Thiere. Diesen darf man sich viel sicherer anvertrauen, denn sie kennen jeden Tritt und Stein auf dem Wege. Wir steigen bergan. Man behält die Arve, die in großen Sätzen von Thalstufe zu Thalstufe springt, zur Rechten, Bergwände zur Linken; vor uns thürmt sich das Hochgebirg zum Himmel auf. Von einem Punkte des Saumpfades fällt der Blick durch eine Schlucht auf den Lac de Chede, an [90] dessen smaragdner Fluth Gemsen weiden. Bei Pont de Chevres strömt ein donnernder Wasserfall herab; weiter hin ragen die Ruinen des Chateau St. Michel, wo jetzt Adler und Geier horsten, oder der Bär sich aufhält; dann geht’s über die Pont de Pelissier, unter der die schäumende Arve in schauerlicher Tiefe hinbraußt; endlich ziehen wir in das Thal von Servoz ein, mit seinen Hütten und saftigen Wiesen. Es ist ein Bergkessel, der vor einigen Jahrhunderten noch ein See war. In Servoz machen wir Mittag, und treten in dem allen Schweizreisenden bekannten Hotel St. Louis ab, das auf das Vortrefflichste eingerichtet ist und jegliche Bequemlichkeit gewährt, wenn der Andrang der Fremden nicht allzu groß ist. Hier trinken wir auch zum ersten Male ächtes Gletscherwasser. Mit Burgunder gemengt, ist’s, bei großer Hitze, das beste Labsal.

Nach gehaltener Mahlzeit steuern wir auf Chamouni zu. Immer mehr erheben sich die Gebirge vor uns; immer größer tritt der Montblanc mit seinem Riesenkörper heraus. Blendende Gletscher hängen über die grünen Thalseiten, und da und dort thürmen sich eisbekleidete Felsblöcke auf, die in den Sonnenstrahlen wie buntes Edelgestein schimmern. Zwischen dieser Scenerie und dem Wege braust im tiefen Thal, die Arve, an deren Ufer fette Heerden weiden und deren Geläute melodisch und mit vielfachem Echo herauftönt. Eine reizende Idylle ruht hier im Schooße alpinischer Majestät.

So wird’s Abend, bis wir nach La Prieuré kommen, dem Hauptort des Thals und dem Ziele unserer Fahrt. Reinliche, gut eingerichtete Hotels und gefällige, zuvorkommende Wirthe empfangen den Reisenden; die Bedienung übertrifft jede Erwartung. Alle hiesigen Gasthöfe kehren ihre Fronten dem Montblanc zu, und im Angesicht seiner Herrlichkeit, bei untergehender Sonne, versammelt jedes Haus seine Reisegesellschaft bei Thee und Butterbrod auf den Balkonen. Es ist eine selige, kurze Stunde. Die Rosengipfel des Berges verglühen jeden Abend; aber wer sie gesehen hat, dem schimmert die Erinnerung durch’s ganze Leben. –