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Seite:Meyers Universum 10. Band 1843.djvu/156

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dessen smaragdner Fluth Gemsen weiden. Bei Pont de Chevres strömt ein donnernder Wasserfall herab; weiter hin ragen die Ruinen des Chateau St. Michel, wo jetzt Adler und Geier horsten, oder der Bär sich aufhält; dann geht’s über die Pont de Pelissier, unter der die schäumende Arve in schauerlicher Tiefe hinbraußt; endlich ziehen wir in das Thal von Servoz ein, mit seinen Hütten und saftigen Wiesen. Es ist ein Bergkessel, der vor einigen Jahrhunderten noch ein See war. In Servoz machen wir Mittag, und treten in dem allen Schweizreisenden bekannten Hotel St. Louis ab, das auf das Vortrefflichste eingerichtet ist und jegliche Bequemlichkeit gewährt, wenn der Andrang der Fremden nicht allzu groß ist. Hier trinken wir auch zum ersten Male ächtes Gletscherwasser. Mit Burgunder gemengt, ist’s, bei großer Hitze, das beste Labsal.

Nach gehaltener Mahlzeit steuern wir auf Chamouni zu. Immer mehr erheben sich die Gebirge vor uns; immer größer tritt der Montblanc mit seinem Riesenkörper heraus. Blendende Gletscher hängen über die grünen Thalseiten, und da und dort thürmen sich eisbekleidete Felsblöcke auf, die in den Sonnenstrahlen wie buntes Edelgestein schimmern. Zwischen dieser Scenerie und dem Wege braust im tiefen Thal, die Arve, an deren Ufer fette Heerden weiden und deren Geläute melodisch und mit vielfachem Echo herauftönt. Eine reizende Idylle ruht hier im Schooße alpinischer Majestät.

So wird’s Abend, bis wir nach La Prieuré kommen, dem Hauptort des Thals und dem Ziele unserer Fahrt. Reinliche, gut eingerichtete Hotels und gefällige, zuvorkommende Wirthe empfangen den Reisenden; die Bedienung übertrifft jede Erwartung. Alle hiesigen Gasthöfe kehren ihre Fronten dem Montblanc zu, und im Angesicht seiner Herrlichkeit, bei untergehender Sonne, versammelt jedes Haus seine Reisegesellschaft bei Thee und Butterbrod auf den Balkonen. Es ist eine selige, kurze Stunde. Die Rosengipfel des Berges verglühen jeden Abend; aber wer sie gesehen hat, dem schimmert die Erinnerung durch’s ganze Leben. –